Medienspiegel 11. November 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++APPENZELL AUSSERRHODEN
Ein sicherer Turm in den Wirren der Flucht
Wenn Appenzell Ausserrhoden vom Bund unbegleitete minderjährige Asylsuchende zugewiesen werden, richten diese sich erst einmal bei Annette Wirth und Silvio Staub häuslich ein. Im Türmlihaus in Trogen bereiten sie den Jugendlichen ein Stück des Wegs in eine friedlichere Normalität.
https://www.saiten.ch/ein-sicherer-turm-in-den-wirren-der-flucht/


+++BASEL
Lieber Sans-Papiers als Nothilfe: so geht es den abgewiesenen Asylsuchenden in den beiden Basel
Mehr als zwei Drittel der abgewiesenen Asylsuchenden in Basel und mehr als die Hälfte in Baselland leben lieber als Sans-Papiers von Schwarzarbeit oder reisen in ein anderes Land aus, als Nothilfe zu beziehen.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/lieber-sans-papiers-als-nothilfe-so-geht-es-den-abgewiesenen-asylsuchenden-in-den-beiden-basel-139836841


+++ZÜRICH
Zürcher Sicherheitsdirektion entlastet: Strafanzeige gegen Mario Fehr bleibt folgenlos
Im Frühling warfen Juristen mehreren Personen aus der Sicherheitsdirektion vor, Vorgaben des BAG im Asylbereich nicht eingehalten zu haben. Anderer Meinung ist die Staatsanwaltschaft.
https://www.tagesanzeiger.ch/strafanzeige-gegen-mario-fehr-bleibt-folgenlos-877157267834
-> https://al-zh.ch/artikel/news/strafanzeige-gegen-mario-fehr-geschaeftsleitung-des-kantonsrates-verhindert-vertiefte-abklaerung/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/uni-zuerich-viele-studentinnen-wenig-professorinnen?id=11873727
-> https://www.zsz.ch/staatsanwaltschaft-entlastet-regierungsrat-mario-fehr-448642533508
-> https://www.landbote.ch/staatsanwaltschaft-entlastet-regierungsrat-mario-fehr-448642533508
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/strafanzeige-gegen-mario-fehr-bleibt-ohne-folgen-00144832/



nzz.ch 11.11.2020

Strafanzeige gegen Zürcher Regierungsrat Mario Fehr bleibt ohne Folgen

Der Sicherheitsdirektor Mario Fehr und fünf weitere Personen aus dem Asylwesen sollen gemäss einer Strafanzeige in Notunterkünften zu wenig für den Corona-Schutz unternommen haben. Die Staatsanwaltschaft sieht dies anders.

Alois Feusi

Es sind happige Vorwürfe, die in der Strafanzeige des Verbands «Demokratische Juristinnen und Juristen der Schweiz», des Vereins «Solidarité sans frontières» und einer Gruppe von Bewohnern von Notunterkünften vom 26. Mai bei der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft aufgelistet sind. Der Sicherheitsdirektor Mario Fehr (sp.), die Chefin des kantonalen Sozialamts Andrea Lübberstedt, die Asylkoordinatorin Esther Pfulg sowie der CEO und zwei Mitglieder der Geschäftsleitung von ORS, der Betreiberin von fünf Rückkehrzentren, sollen in den kantonalen Notunterkünften zu wenig für den Schutz der abgewiesenen Asylbewerber vor Corona unternommen haben.

Gemäss der 70-seitigen Strafanzeige sollen sich die sechs Beschuldigten nicht an die Vorgaben des Bundesamts für Gesundheit (BAG) gehalten haben. Damit hätten sie gegen Artikel 127 des Strafgesetzbuchs verstossen. Dieser sieht vor, dass, «wer einen Hilflosen, der unter seiner Obhut steht oder für den er zu sorgen hat, einer Gefahr für das Leben oder einer schweren unmittelbaren Gefahr für die Gesundheit aussetzt oder in einer solchen Gefahr im Stiche lässt», mit bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe oder einer Geldstrafe belegt werden kann.

«Missbrauch des Strafrechts»

In einer Medienmitteilung vom 27. Mai sprach der Sicherheitsdirektor Fehr von einem «Missbrauch des Strafrechts für politische Zwecke» und bezeichnete die Vorwürfe als haltlos. Sie dienten lediglich dazu, eine politische Auseinandersetzung zu führen. Der Schutz der Gesundheit aller Personen im Asylbereich habe für den Kanton Zürich hohe Priorität. «Das galt und gilt auch während der Corona-Pandemie. Der Kanton hat für die gesamte Asyl-Infrastruktur rechtzeitig Vorsorgemassnahmen getroffen.»

An einer Pressekonferenz am 11. Juni bezeichnete Fehr dann eine Reihe von Medienberichten, in denen seit Beginn der Corona-Krise wiederholt auf missliche Umstände in den Rückkehrzentren hingewiesen worden war, als «Fake-News». Die Behörden hätten rechtzeitig Schutzmassnahmen gegen die Ausbreitung von Covid-19 eingeleitet und sogar eine Corona-Klinik eigens für Asylbewerber eingerichtet. Er lasse sich durch die Strafanzeige nicht einschüchtern und werde die bisherige Asylpolitik unverändert fortsetzen. Diese sei nicht besonders streng, sondern vielmehr rechtsstaatlich. Wer nicht bleiben könne, müsse eben gehen.

Regierung stellt sich hinter Fehr

Den Vorwurf, dass die Berichte aus den Asylzentren «Fake-News» seien, wollten die Asylorganisationen nicht hinnehmen. Sie drohten mit aufsichtsrechtlichen Beschwerden, falls Fehr solche «tatsachenwidrigen Behauptungen» künftig nicht unterlasse. Die Gesamtregierung stellte sich allerdings hinter den Sicherheitsdirektor; dieser trat bei der betreffenden Beratung in den Ausstand. Mario Fehr habe mit seinen politischen Beurteilungen weder gegen das Recht verstossen noch öffentliche Interessen missachtet, befand die Regierung. Es gebe keinen Grund, ihn mit einer aufsichtsrechtlichen Massnahme zu bestrafen.

Auch die Staatsanwaltschaft II für besondere Untersuchungen sieht keinen Anlass für eine Bestrafung des Sicherheitsdirektors und seiner Mitbeschuldigten. In ihrer «Überweisung einer Anzeige gegen Magistratspersonen» vom 28. September, die der Redaktion vorliegt, hält sie fest, dass die Problematik um die Pandemie seit dem Auftreten des Coronavirus Ende Februar «ein fliessender dynamischer Prozess war und nach wie vor ist». Die Verantwortlichen der Sicherheitsdirektion und der Firma ORS hätten die diesbezüglichen Schutzmassnahmen während des inkriminierten Zeitraums stetig umgesetzt und angepasst.

Die Staatsanwaltschaft fasst zusammen, dass es keine Hinweise gebe, wonach «die Verantwortlichen der Sicherheitsdirektion des Kantons Zürich – zumindest eventualvorsätzlich – die Bewohner der Rückkehrzentren in Gefahr gebracht und an Körper und Gesundheit geschädigt haben, indem sie BAG-Schutzmassnahmen nicht umgesetzt haben». Das Dokument ging via Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich an die Geschäftsleitung des Kantonsrats. Diese hat beschlossen, dass auf die Klage nicht einzutreten sei.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zu-wenig-corona-schutz-strafanzeige-gegen-mario-fehr-ohne-folgen-ld.1586334)



Zürcher Stadtrat: Ja zur Züri City Card!
Nach zweijähriger Beratung zur Züri City Card hat der Stadtrat entschieden, die Lebensbedingungen von Sans-Papiers mit einem städtischen Ausweis zu verbessern. Die Züri City Card kommt!
https://www.zuericitycard.ch/stadtrat
-> Medienmitteilung Stadt Zürich: https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/ueber_das_departement/medien/medienmitteilungen/2020/november/201111a.html
-> https://www.nau.ch/ort/zurich/schritte-zur-verbesserung-der-lebenssituation-von-sans-papiers-65818445
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/zuercher-stadtrat-will-zueri-city-card-einfuehren-00144835/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/stadtzuercher-sans-papiers-erhalten-einen-ausweis?id=11874099
-> https://www.20min.ch/video/stadt-fuehrt-zueri-city-card-fuer-ueber-10000-sans-papiers-ein-442217871539



tagesanzeiger.ch 11.11.2020

Stadt führt Züri City Card ein: Der Ausweis für über 10’000 Sans-Papiers kommt

Zürich will ein Dokument schaffen, das die Identität aller Einwohnerinnen und Einwohner bestätigt. Die wichtigsten Antworten zur Züri City Card.

Liliane Minor

Sie sind mitten unter uns und doch versteckt: Sans-Papiers, Menschen ohne gültige Aufenthaltsrechte. Viele leben seit Jahren, teilweise unter prekären Bedingungen, hier. Von vielen öffentlichen Leistungen sind sie ausgeschlossen – obwohl sie ein Anrecht darauf hätten. In der Stadt Zürich soll ihr Leben in Zukunft wenigstens ein bisschen leichter werden. Das zumindest ist das Ziel eines Pakets von Massnahmen, das der Stadtrat heute Mittwoch vorgestellt hat.

Sichtbarster Teil dieses Pakets ist die sogenannte City Card, ein amtlicher Ausweis, der Identität und Wohnsitz aller Einwohnerinnen und Einwohner bestätigt, also auch von Sans-Papiers. Zürich will als erste Stadt in der Schweiz einen solchen Ausweis einführen. Wir beantworten die wichtigsten Fragen rund um die City Card.

Warum will der Stadtrat eine City Card einführen?

Der Stadtrat erfüllt damit einen Auftrag, den ihm der Gemeinderat vor zwei Jahren erteilt hat. Ursprünglich hatte die Regierung die Idee abgelehnt; sie begründete das vor allem damit, die Karte könne die Erwartung nicht erfüllen, Sans-Papiers besser vor polizeilichen Kontrollen oder gar einer Ausweisung zu schützen.

Inzwischen steht der Stadtrat aber hinter dem Projekt. Die Karte habe Potenzial, schreibt er. «Bei genügend weiter Verbreitung kann sie die Stadtgesellschaft, die Solidarität und das Zusammenleben stärken und der ganzen Bevölkerung noch bessere Möglichkeiten bieten, um sich am sozialen, kulturellen und politischen Leben in Zürich zu beteiligen.» Die Karte könne das Leben von Sans-Papiers, aber auch aller anderen Zürcherinnen und Zürcher vereinfachen. Zürich wolle sich so als weltoffene, solidarische Stadt zeigen.

Was kann die City Card, und wer soll sie bekommen?

Alle Einwohnerinnen und Einwohner Zürichs sollen eine City Card beantragen können, egal ob sie legal oder versteckt hier leben. Die Karte ist ein amtliches Dokument, das die Identität und die Wohnadresse des Inhabers bestätigt. Sie wäre damit zum Beispiel überall dort nützlich, wo Stadtzürcherinnen und Stadtzürcher vergünstigt Eintritt bekommen. Aber sie soll auch als Ausweis reichen, um Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen wie die Verbilligung von Krankenkassenprämien (darauf haben auch Sans-Papiers ein Anrecht).

Dem Stadtrat schwebt aber noch mehr vor. So soll die Karte digital nutzbar sein. Denkbar wäre etwa, Abonnemente für kulturelle Angebote darauf zu laden. Die Karte soll in sämtlichen städtischen Angeboten und Dienstleistungen nutzbar sein. Ziel ist es aber auch, dass Private sie akzeptieren.

Bevor sie den Sans-Papiers offensteht, will die Stadt die Karte in der Gesamtbevölkerung möglichst weit verbreiten. So soll verhindert werden, dass die Karte unbeabsichtigt zum «Sans-Papiers-Ausweis» wird und damit den Betroffenen das Leben erschwert statt erleichtert.

Der Stadtrat warnt gleichzeitig: «Der direkte Nutzen wird beschränkt sein.» Leistungen und Angebote, für die ein geregelter Aufenthalt Voraussetzung ist, bleiben den Sans-Papiers verwehrt. Dazu gehören zum Beispiel die Eheschliessung, eine legale Arbeit oder auch der Bezug von Sozialleistungen.

Ist die City Card so etwas wie eine Aufenthaltsbewilligung?

Nein, das ist sie nicht. Sans-Papiers, die eine City Card beantragen, bleiben faktisch illegale Aufenthalter. Daran kann auch die Stadt nichts ändern. Der Stadtrat fordert aber seit langem, dass Bund und Kanton zumindest den langjährigen Aufenthaltern eine Bewilligung erteilen. Die heutige Härtefallregelung reicht nach Ansicht der Stadt nicht aus, denn Betroffene müssen unter anderem belegen können, dass sie arbeitstätig waren. Doch ohne Arbeitsvertrag ist das schwierig.

Wer sind die Sans-Papiers überhaupt, und wie viele leben in Zürich?

Als Sans-Papiers bezeichnet man Menschen, die ohne legales Aufenthaltsrecht in der Schweiz leben. Da sie in der Regel auch nirgends amtlich registriert werden, kann ihre Zahl nur geschätzt werden. Eine Studie des Kantons geht davon aus, dass zwischen 13’500 und 19’000 Sans-Papiers im ganzen Kanton leben; geschätzte 10’000 davon wohnen in der Stadt Zürich. Viele sind seit Jahren in der Schweiz. Sie lassen sich in drei Gruppen unterteilen.

Die wohl bekannteste, zahlenmässig aber kleinste Gruppe stellen die abgewiesenen Asylsuchenden. Sie kommen meist aus afrikanischen Ländern und sind eher jung. Etwa 600 sind amtlich bekannt, weil sie Nothilfe beziehen. Dazu kommen weitere etwa 1100 bis 2200 Abgewiesene, die sich anders über Wasser halten.

Ähnlich gross oder etwas grösser ist die Gruppe von Personen, die ihre Aufenthaltsbewilligung verloren haben. Sie kommen gemäss der Studie vor allem aus Südosteuropa, der Türkei und Asien. Manche sind weggewiesen worden, weil sie mit dem Gesetz in Konflikt kamen oder Sozialhilfe bezogen, andere haben wegen einer Scheidung ihr Aufenthaltsrecht verloren. Ihre Zahl wird auf 1100 bis 3300 geschätzt.

Mit 11’500 bis 19’500 Personen die grösste Gruppe bilden die primären Sans-Papiers, die nie eine Aufenthaltsbewilligung hatten, aber auch nie um Asyl ersuchten, weil sie aus sicheren Staaten stammen. Etwa die Hälfte der Betroffenen sind Frauen aus Lateinamerika, die vor allem in privaten Haushalten arbeiten. Hinzu kommen Männer aus europäischen Nicht-EU/EFTA-Staaten, die unter anderem auf dem Bau, im Reinigungswesen und in der Transportbranche tätig sind.

Wie leben diese Menschen?

Die meisten Sans-Papiers leben möglichst unauffällig, wie der Stadtrat in einem Bericht schreibt. Aus Angst, aufzufliegen, meiden sie unnötige Kontakte. Mangels Bewilligung arbeiten die Betroffenen in der Regel ohne Vertrag und ohne soziale Absicherung. Viele Dienstleistungen bleiben ihnen verwehrt, weil sie sich nicht ausweisen können: So können sie zum Beispiel kein Bankkonto eröffnen, keine Versicherung abschliessen, keinen Fahrausweis beantragen, keine eingeschriebenen Briefe abholen, nicht einmal eine eigene Wohnung mieten.

Geregelt ist hingegen der Schulbesuch: Auch Kinder von illegal anwesenden Eltern sind schulpflichtig, die Schulen sollen die Betroffenen explizit nicht bei den Behörden melden. So will man vermeiden, dass die Kinder unter dem ungeregelten Status ihrer Eltern leiden müssen. Nach der obligatorischen Schule bleibt den Jugendlichen aber eine weitere Ausbildung, etwa eine Berufslehre, verwehrt.

Sind Sans-Papiers nicht einfach Kriminelle?

Kaum. Zwar sind illegal Anwesende in der Kriminalstatistik zumindest bei gewissen Delikten, etwa bei Vermögensdelikten und im Betäubungsmittelhandel, überproportional vertreten. Das sagt aber wenig über die Sans-Papiers als gesamte Gruppe aus. Sieht man einmal vom illegalen Aufenthalt ab, der ja auch eine Straftat ist, achten die meisten Betroffenen im Gegenteil peinlich genau darauf, möglichst nicht aufzufallen und zum Beispiel keine Bussen zu riskieren.

Sans-Papiers haben im Gegenteil ein hohes Risiko, selbst Opfer zu werden. Wie der Stadtrat schreibt, sind Missbrauch und Ausbeutung «nicht selten», und es komme «regelmässig zur Verletzung der Würde und Integrität». Wehren können sich die Betroffenen kaum: «Sie können weder als Opfer noch als Zeuge einer Straftat eine Anzeige machen, ohne dass sie ein hohes Risiko eingehen, selbst angezeigt, verhaftet und des Landes verwiesen zu werden.»

Eine ganz andere Frage ist, inwieweit die Karte den Sans-Papiers bei den von ihnen gefürchteten Polizeikontrollen eine Hilfe ist. Ein Rechtsgutachten, das die Stadt in Auftrag gegeben hat, kommt zum Schluss, die Karte reiche als Beleg für die Identität eines Kontrollierten. Aber der Stadtrat schreibt auch: «Sie verhindert nicht, dass bei Polizeikontrollen je nach Sachlage der Aufenthaltsstatus abgeklärt werden muss.»

Ab wann wird die Karte erhältlich sein, und was kostet sie?

Die Stadt ist mit ihrer Planung erst am Anfang. Bis die Karte eingeführt werden kann, dürften vier bis fünf Jahre vergehen. Denn es gilt zahlreiche Fragen zu klären, angefangen von den Kosten über die Funktionen bis zur Frage, wie die Identität der Sans-Papiers überprüft werden kann. Zuerst aber muss der Gemeinderat einen Kredit von 3,2 Millionen Franken für die Planungsarbeiten sprechen.

Welche weiteren Massnahmen plant der Stadtrat?

Insgesamt, so schreibt der Stadtrat, hätten die Sans-Papiers trotz allem schon heute einen recht guten Zugang zu städtischen Leistungen. Handlungsbedarf sieht er aber im Gesundheitswesen. Viele Betroffene sind nicht versichert, und vor allem sind Spitäler und die auf Sans-Papiers spezialisierte Arztpraxis Meditrina finanziell nicht ausreichend abgesichert. Die Stadt will hier mit einer Leistungsvereinbarung nachbessern. Das soll rund 1,5 Millionen Franken pro Jahr kosten; vorerst ist eine dreijährige Pilotphase geplant.

Aus Sicht des Stadtrats «zentrale Verbesserungen» liegen hingegen in der Kompetenz von Bund und Kanton, wie es im Bericht heisst. Der Stadtrat fordert, «dass langjährige Sans-Papiers unter transparenten Bedingungen regularisiert und in den geregelten Arbeitsmarkt integriert werden und dass sie ihre zentralen Grund- und Menschenrechte ungefährdet wahrnehmen können».
(https://www.tagesanzeiger.ch/der-ausweis-fuer-ueber-10000-sans-papiers-kommt-244969317984)



nzz.ch 11.11.2020

Lucia Rodriguez lebt seit sieben Jahren illegal in Zürich. Mit der «Züri City Card» will ihr die Stadt nun das Leben erleichtern. Doch kann die ID die Situation der Sans-Papiers wirklich verbessern?

Die links-grüne Stadtregierung will eine städtische Identitätskarte einführen, um Papierlose besser vor Ausbeutung zu schützen. Kritiker sprechen von nutzloser und ideologischer Symbolpolitik.

Linda Koponen

Als Lucia Rodriguez* Costa Rica verlässt, ist sie voller Hoffnungen. Sie träumt von einer besseren Zukunft für ihre damals 12-jährige Tochter und vom grossen Geld, mit dem sie ihre Familie im Herkunftsland unterstützen will.

Mit einem Touristenvisum steigt Rodriguez in der Schweiz aus dem Flugzeug. Eine in Zürich wohnhafte deutsch-amerikanische Familie wirbt sie als Haushälterin an. Sie treffen laut Rodriguez eine Abmachung: Nach drei Monaten soll sie einen Arbeitsvertrag und eine Aufenthaltsbewilligung erhalten. Sie kümmert sich an sechs Tagen pro Woche um die Kinder und den Haushalt und bekommt im Gegenzug Kost, Logis und monatlich 1000 Franken – für mittelamerikanische Verhältnisse ein fürstlicher Lohn. In den ersten drei Monaten schickt sie 2500 Franken in ihre Heimat. Der Plan scheint aufzugehen.

Sieben Jahre später sitzt die mittlerweile 39-Jährige im Wohnzimmer von Salvatore Di Concilio und lässt ihre Geschichte Revue passieren. Di Concilio ist ein ehemaliger Stadtzürcher SP-Gemeinderat und Mitgründer der Zürcher Sans-Papiers-Anlaufstelle (Spaz). Es ist ein kühler Novemberabend, das Coronavirus hält die Welt weiterhin in Atem, und der Zürcher Stadtrat diskutiert einmal mehr über die Einführung einer «Züri City Card» – einer Art Stadt-ID, die auch jene Zürcherinnen und Zürcher beantragen können, die sich illegal im Land aufhalten.

Menschen wie Lucia Rodriguez. Sie ist eine von geschätzt 10 000 Sans-Papiers, die ohne Aufenthaltsbewilligung in der Stadt Zürich leben – wie viele es tatsächlich sind, lässt sich schwer sagen, weil sich die Personen unter dem Radar der Behörden bewegen. Viele von ihnen stammen aus Drittstaaten und halten sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Für sie bleibt die Arbeitsmarktzulassung in der Schweiz ein beinahe aussichtsloser Traum, denn bei Drittstaatenangehörigen ist diese hochqualifizierten Führungskräften und Spezialisten vorbehalten.

Nachdem das Touristenvisum von Rodriguez abgelaufen war, setzten ihre Arbeitgeber sie auf die Strasse – aus Angst, wegen der illegal Beschäftigten in Schwierigkeiten zu geraten. Seither gleicht ihr Leben in Zürich einem Spiessrutenlauf.

Eine Schutzmaske verdeckt ihre Gesichtszüge, doch der Blick verrät die Resignation. «In Costa Rica denken sie, ich sei reich», sagt sie in gebrochenem Deutsch. «Seit der Pandemie weiss ich nicht einmal, wie ich mein Zimmer und das Essen bezahlen soll.» Einer ihrer letzten Arbeitgeber schulde ihr 300 Franken. Um die Forderung geltend zu machen, fehlt ihr die rechtliche Handhabe. Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe hat sie nicht. Die Familie in der Heimat wartet derweil auf das Geld aus der Schweiz.

Rodriguez sagt, die «Züri City Card» gebe ihr neue Hoffnung auf ein sichereres Leben. Doch kann eine städtische Identitätskarte Sans-Papiers vor Ausbeutung und Missbrauch schützen? Und welchen Nutzen bringt sie der Stadt und ihren Steuerzahlern?

Kosten in Millionenhöhe

Am Mittwoch treten die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch (sp.), der Sozialvorsteher Raphael Golta (sp.) und der Gesundheitsvorsteher Andreas Hauri (glp.) im Stadthaus vor die Medien, um über die «weiteren Schritte zur Verbesserung der Lebenssituation der Sans-Papiers» zu informieren. Nach einem zweiten Gutachten – das erste vor zwei Jahren war ernüchternd ausgefallen – will die links-grüne Regierung die «Züri City Card» nun doch einführen. Aus rechtlicher Sicht spreche nichts dagegen.

Bea Schwager, Präsidentin des Vereins Züri City Card, freut sich über den Entscheid: «Die aktuelle Pandemie zeigt einmal mehr, wie prekär viele Sans-Papiers leben. Die Einführung der ‹Züri City Card› ist für Sans-Papiers ein grosser Schritt hin zu einem würdevolleren Leben.»

Kann die Karte die hohen Erwartungen erfüllen? Im Positionspapier des Stadtrates steht, dass der direkte Nutzen für die Sans-Papiers beschränkt bleibt. Damit könnten die Papierlosen ihre Identität und den Wohnsitz zwar auch gegenüber den Behörden nachweisen. Am illegalen Aufenthaltsstatus kann jedoch auch eine städtische Identitätskarte nichts ändern.

Anders als etwa New York, das sich als «Sanctuary City» versteht und seinen Mitarbeitern untersagt, die nationalen Immigrationsbehörden bei deren Aufgaben zu unterstützen, ist Zürich an das übergeordnete eidgenössische Ausländer- und Migrationsrecht gebunden. Konkret bedeutet das, dass etwa Polizisten je nach Sachlage weiterhin den Aufenthaltsstatus einer Person abklären müssten, auch wenn sich diese mit der städtischen ID ausweisen würde.

Auch der Zugang zu Recht und Justiz, also etwa die Möglichkeit, als Opfer eine Anzeige zu erstatten, bleibt für Sans-Papiers nur theoretisch offen, da sie mit dem Risiko einer Wegweisung verbunden ist. Auch heiraten, eine Wohnung mieten oder der Bezug von Sozialhilfe wären für die Papierlosen mit der «Züri City Card» nicht gestattet.

In der Pflicht sieht der Stadtrat denn auch den Bund und den Kanton. Langjährige Sans-Papiers müssten unter transparenten Bedingungen regularisiert und in den geregelten Arbeitsmarkt integriert werden, damit sie ihre zentralen Grund- und Menschenrechte ungefährdet wahrnehmen könnten, heisst es in der Medienmitteilung.

Bereits heute pflegt die Stadt in vielen Bereichen eine informelle Zusammenarbeit mit der Sans-Papiers-Anlaufstelle und unterstützt die Papierlosen indirekt. So haben Sans-Papiers Zugang zu subventionierten Krippen- oder Hortplätzen, zu Verbilligungen der Krankenkassenprämien oder zu Pflegeplätzen sowie einer stationären Behandlung im Stadtspital. Seit der Corona-Krise finanziert die Stadt Zürich der Spaz befristet eine Teilzeitstelle, um der grossen Nachfrage nach Beratungen besser gerecht zu werden.

Im kommenden Jahr will die Stadt die vom Schweizerischen Roten Kreuz betriebene Arztpraxis Meditrina zudem über eine Leistungsvereinbarung finanzieren und das Stadtspital Waid und Triemli offiziell zum Behandlungsspital für Sans-Papiers mit Lebensmittelpunkt in der Stadt Zürich erklären. Für die Finanzierung der medizinischen Behandlungen soll wie bisher eine Krankenversicherung abgeschlossen werden. Wenn dies nicht möglich ist, werden die Kosten von der Stadt Zürich übernommen. Die Massnahmen würden in einer dreijährigen Pilotphase getestet und kosteten rund 4,5 Millionen Franken, heisst es in der Medienmitteilung vom Mittwoch.

Trotz den Vorbehalten will der Stadtrat auch an der «Züri City Card» festhalten. Für die «umfangreichen organisatorischen, technischen und rechtlichen Vorbereitungen» beantragt er dem Gemeinderat einen Rahmenkredit von 3,2 Millionen Franken. Die tatsächlichen Kosten bei einer Einführung dürften weitaus höher liegen. Im Positionspapier des Stadtrates heisst es, nach der Einführung sei mit «erheblichen wiederkehrenden Personal- und Sachkosten» zu rechnen sowie mit «Ausgaben für die direkten und indirekten finanziellen Vergünstigungen, die die Nutzung der Karte für die Bevölkerung attraktiv machen sollen». Denn: Nur wenn die Karte auch von Zürcherinnen und Zürchern mit einem legalen Aufenthaltsstatus genutzt wird, kann sie auch den Sans-Papiers dienen.

«Ideologische Symbolpolitik»?

Der Stadtzürcher FDP-Gemeinderat und Rechtsanwalt Andreas Egli hatte die «Züri City Card» bereits im ersten Anlauf kritisiert. Dass die Stadtregierung die alte Idee nun erneut beleben will, bezeichnet er als «ideologische Symbolpolitik» und «Etikettenschwindel». Die Gemeinden könnten keine eigenen Ausländergesetze erlassen. Das gelte für die Stadt Zürich genauso wie etwa für Oberwil-Lieli, das für seine ausländerkritische Haltung bekannt ist. Die städtische ID erteile kein Recht auf Verbleib und ändere somit nichts an der Situation der Papierlosen.

«Statt künstliche Dokumente zu verteilen, muss man den Zustrom illegaler Einreisender effektiv unterbinden», ist Egli überzeugt. Ansetzen würde er bei Arbeitgebern, die von den Schwarzarbeitern profitierten, aber auch bei all jenen, die Sans-Papiers unterstützten, also zum Beispiel ein Zimmer an Papierlose vermieteten. «Sie gehören hart bestraft, nur so kann der Immigrationsindustrie ein Riegel geschoben werden.» Egli sagt aber auch: «Sans-Papiers sind in Zürich eine Realität, und wir müssen uns ernsthaft die Frage stellen, wie wir das Problem lösen wollen. Eine Amnestie zur Legalisierung der bestehenden Situation ist zu prüfen, wenn gleichzeitig die Massnahmen verschärft werden.»

Genf hat dies bereits im weiteren Sinn gemacht. Im Rahmen der «Opération Papyrus» hat die Stadt zusammen mit dem Staatssekretariat für Migration Arbeitskräften, die keine gültigen Aufenthaltspapiere besitzen, aber gut integriert sind und seit vielen Jahren im Kanton leben, die Aufenthaltsbewilligung erteilt. Im letzten Jahr hat der Kanton 951 Härtefallgesuche von Sans-Papiers und drei von Personen aus dem Asylbereich gutgeheissen. Das seien zu viele, sagt Egli. «Während der Corona-Krise standen auch in Genf trotz der Aktion Papyrus erneut Tausende Sans-Papiers für kostenloses Essen an. Allein das zeigt, dass die Aktion gescheitert ist.»

Zum Vergleich: 2019 erteilte der Kanton Zürich drei Härtefallbewilligungen an Sans-Papiers und 27 an Personen aus dem Asylbereich. Die tiefe Zahl hängt auch damit zusammen, dass sich viele Papierlose aus Angst vor der Abschiebung nicht bei den Behörden melden – auch wenn sie gute Chancen auf einen legalen Status hätten.

Der Traum von Europa

Eine von ihnen ist Maria Hernández*. Sie sitzt neben Lucia Rodriguez im Wohnzimmer von Salvatore Di Concilio und antwortet mit leiser Stimme in gebrochenem Deutsch. Seit 13 Jahren lebe sie ohne Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz, habe seit 10 Jahren denselben Arbeitgeber. Ein Härtefallgesuch kommt für sie dennoch nicht infrage. «Ich kann nicht riskieren, dass sie uns abschieben.»

Als Hernández ihre Heimat und ihre Familie verlassen hatte, war das jüngste ihrer drei Kinder erst sechs Monate alt. Sie hat es seither nicht mehr gesehen. Kurz nach ihrer Ankunft in der Schweiz kam ihre mittlerweile 12-jährige Tochter im Stadtspital Triemli auf die Welt. «Sie fühlt sich als Schweizerin und weiss bis heute nicht, dass sie illegal hier ist.» Zu gross sei die Gefahr, dass sie die Information an Freunde weitergebe. Doch je älter sie werde, desto mehr Fragen stelle sie. Und bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit sind es nur noch vier Jahre. Wie es dann weitergehen soll, weiss Hernández nicht. Öffentliche Schulen müssen alle Kinder unabhängig vom Aufenthaltsstatus unterrichten. Eine Lehrstelle zu finden, dürfte allerdings kaum möglich sein.

Trotz den widrigen Lebensumständen wollen weder Lucia Rodriguez noch Maria Hernández die Schweiz verlassen. Ob sie kein schlechtes Gewissen hätten, sich ohne Recht im Land aufzuhalten? «Klar habe ich das», sagt Hernández. Zurück in die alte Heimat zu gehen, sei für die beiden Frauen dennoch keine Option. Rodriguez sagt: «Die Leute in meiner Heimat träumen von Europa. Ich habe es geschafft.»

* Name geändert.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-stadtrat-fuehrt-zueri-city-card-fuer-sans-papiers-ein-ld.1586321)


+++SCHWEIZ
Medienmitteilung AUSSENPOLITISCHE KOMMISSION
„Sie hat der Petition 18.2020 «Grundrechte der Tibeterinnen und Tibeter schützen, auch in der Schweiz» mit 12 zu 12 Stimmen und Stichentscheid der Kommissionspräsidentin Folge gegeben und dabei zwei Postulate (20.4333 und 20.4334) verabschiedet.“
(https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-apk-n-2020-11-11.aspx)
-> Postulat Bericht über die Situation der Tibeterinnen und Tibeter in der Schweiz: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20204333
-> Postulat Bericht über die Umsetzung des bilateralen Menschenrechtsdialog Schweiz-China: https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20204334


+++GRIECHENLAND
Feuer in Asylregistrierungslager auf Samos: Brandstiftung vermutet
Laut dem Bürgermeister von Vathy sind Gasflaschen in mehreren Containerwohnungen explodiert. Die Regierung solle die Migranten aufs Festland bringen
https://www.derstandard.at/story/2000121614646/feuer-im-asyl-registrierlager-von-samos-brandstiftung-wird-vermutet?ref=rss
-> https://www.spiegel.de/politik/ausland/samos-erneuter-grossbrand-im-fluechtlingscamp-a-09a9d21f-01a5-4358-b5ce-2000e057f4a1
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144278.migrationspolitik-brand-in-griechischem-fluechtlingslager-auf-insel-samos.html


+++MITTELMEER
Mindestens fünf Tote bei Bootsunglück im Mittelmeer
Ein Schlauchboot mit rund 100 Menschen war gekippt. Das Rettungsschiff „Open Arms“ versucht zu bergen, die Zahl der Opfer könnte noch steigen
https://www.derstandard.at/story/2000121632527/mindestens-fuenf-tote-bei-bootsunglueck-im-mittelmeer?ref=rss


+++EUROPA
Pushback-Vorwürfe: EU-Kommission stellt Frontex-Chef Leggeri ein Ultimatum
Frontex ist nach SPIEGEL-Recherchen in illegale Pushbacks von Flüchtlingen involviert. Nun hat die EU-Kommission den Chef der Grenzschutzagentur in einer Dringlichkeitssitzung befragt.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/pushback-vorwuerfe-eu-kommission-stellt-frontex-chef-fabrice-leggeri-ultimatum-a-6218b87d-21ec-4788-b73a-2ac07a0257e9?sara_ecid=soci_upd_KsBF0AFjflf0DZCxpPYDCQgO1dEMph


+++GASSE
Genf will Obdachlose in Hotelzimmern unterbringen
Im Hotel statt auf der Strasse: Der Kanton Genf will seinen Obdachlosen über die Wintermonate helfen. Dafür will er 1,4 Millionen Franken aufwenden.
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/genf-will-obdachlose-in-hotelzimmern-unterbringen-139833746


La brigade de solidarité populaire genevoise se réactive
Face au nouveau semi-confinement en vigueur à Genève, la Brigade de Solidarité Populaire “Yvan Leyvraz” se réactive et organise à nouveau des récoltes pour les personnes précaires.
https://renverse.co/infos-locales/article/la-brigade-de-solidarite-populaire-genevoise-se-reactive-2816


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Basler Strafgericht: In dubio pro Gummischrot
Ein Teilnehmer der Nazifrei-Demo wird vom Strafgericht zu insgesamt 18’000 Franken bedingter Geldstrafe verurteilt. Die Staatsanwaltschaft hatte viel mehr gefordert und argumentierte unter anderem mit «Krawalltourismus».
https://bajour.ch/a/p5FTCP4cIPKvnEyD/in-dubio-pro-gummischrot


1312 Eclepens
Soweit ist es. Die Schweiz hat ihre erste ZAD – Zone à défendre (Zone zu verteidigen). Einen Bericht und Übersetzung für Barrikade.info
https://barrikade.info/article/4000


+++REPRESSION DE
Razzia in Freiburg war rechtswidrig
Drei Jahren nach dem Verbot von Indymedia erhält das Autonome Zentrum alle beschlagnahmten Gegenstände zurück
Das Autonome Zentrum KTS in Freiburg ist kein »Vereinsheim« von Indymedia. Das stellte jetzt der baden-württembergische Verwaltungsgerichtshof (VGH) fest. Die Durchsuchung im August 2017 im Zusammenhang mit dem Verbot der Internetplattform Indymedia Linksunten war deshalb rechtswidrig, urteilte der Erste Senat des Gerichts am 12. Oktober. Die Entscheidung (VGH 1 S 2679/19), die dieser Tage bekannt wurde, ist unanfechtbar.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144295.autonome-zentrum-kts-razzia-in-freiburg-war-rechtswidrig.html
-> Communiqué KTS Freiburg: https://www.kts-freiburg.org/?article3014


Linksextremismus in Deutschland: Lina E. kommandierte Überfälle auf Rechte
Auf Geheiss des deutschen Bundesanwalts wurde in Leipzig eine 25-jährige Studentin verhaftet, die brutale Angriffe auf Rechtsextremisten anführte. Ihr Fall steht für eine neue, gefährliche Tendenz.
https://www.derbund.ch/lina-e-kommandierte-ueberfaelle-auf-rechte-571080622636


Extremismus in Deutschland
Gefahr von rechts und links
Die Dokumentation spiegelt aus aktuellem Blickwinkel die Geschichte des Extremismus von rechts und links seit 1945 – mit Rückblick auf Traditionen bis in die Weimarer Republik.
https://www.zdf.de/dokumentation/dokumentation-sonstige/extremismus-in-deutschland-gefahr-von-rechts-und-links-102.html


Parkbank-Prozess: Rachejustiz gegen Anarchist:innen
Was ist die Verabredung zu einem Verbrechen, die auf einer Bank getroffen wird, gegen die Verabredung zu einem Verbrechen, die in einer Bank getroffen wird?! Diese leichte Abwandlung eines bekannten Zitats lässt sich als Kommentar zu dem Urteil lesen, das die Große Strafkammer 15 des Hamburger Landgerichts am 5. November im so genannten Parkbank-Prozess verhängte. Wie zu erwarten war, verknackte die Kammer die „Drei von der Parkbank“ zu Haftstrafen – natürlich ohne Bewährung, denn es handelte sich bei den Angeklagten ja um „böse Linke“. Also gab es mal eben 22, 20 und 19 Monate Haft für die beiden Genossen und die Genossin und zwar im Grunde genommen für nichts.
https://lowerclassmag.com/2020/11/11/parkbank-prozess-rachejustiz-gegen-anarchistinnen/


+++REPRESSION FR
Neue Angriffe auf die Pressefreiheit
In Frankreich wollen regierungsnahe Abgeordnete mit einem Gesetz Journalisten der Willkür aussetzen
Paris unterstützt einen Vorstoß zur Schaffung eines neuen Straftatbestands, der die Pressefreiheit in Gefahr bringt. Linke und Menschenrechtler protestieren.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144298.frankreich-neue-angriffe-auf-die-pressefreiheit.html


+++REPRESSION IT
»Menschen, die aufbegehren, werden kriminalisiert«
Italien: Linke Aktivistin kämpft vor Gericht um Beendigung ihrer »Sonderüberwachung«. Ein Gespräch mit Maria Edgarda Marcucci
https://www.jungewelt.de/artikel/390317.italien-menschen-die-aufbegehren-werden-kriminalisiert.html


+++ANTITERRORSTAAT
Terrorismusbekämfung in der Schweiz: Oberster Polizeikommandant bemängelt Datenaustausch der Kantone
Der Präsident der Konferenz der kantonalen Polizeikommandanten ortet Verbesserungsbedarf bei den inländischen Informatiksystemen. Einen Anschlag wie in Wien hält er in der Schweiz für durchaus möglich.
https://www.derbund.ch/oberster-polizeikommandant-bemaengelt-datenaustausch-der-kantone-223119133407
-> Interview: https://www.bzbasel.ch/basel/baselbiet/ein-baselbieter-an-der-schweizer-polizeispitze-mark-burkhard-ueber-terror-corona-und-polizeigewalt-139820230


+++KNAST
Insasse der Strafanstalt Saxerriet wirft Wärter neben Alkohol- auch Drogenschmuggel vor – Direktor wehrt sich: «Die Anschuldigungen sind völlig haltlos»
Ein als Aufseher und Koch angestellter Wärter der Strafanstalt Saxerriet soll während mehrerer Monate Alkohol für Insassen geschmuggelt haben. Auch illegale Rauschmittel und Mobiltelefone soll er angeblich an den Mann gebracht haben. Der Gefängnisdirektor Martin Vinzens dementiert die Vorfälle.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/insasse-der-strafanstalt-saxerriet-wirft-waerter-neben-alkohol-auch-drogenschmuggel-vor-direktor-wehrt-sich-die-anschuldigungen-sind-voellig-haltlos-ld.1278061


+++BIG BROTHER
EU-Angriff auf Verschlüsselung sorgt für heftige Kritik
Sicherheitsbehörden wollen mit Hintertüren Whatsapp, Signal und andere Messenger überwachen
https://www.derstandard.at/story/2000121615132/eu-angriff-auf-verschluesselung-sorgt-fuer-heftige-kritik?ref=rss
-> https://www.jungewelt.de/artikel/390306.%C3%BCberwachung-eu-im-kryptokrieg.html


+++POLIZEI CH
Ein Baselbieter an der Schweizer Polizeispitze: Mark Burkhard über Terror, Corona und Polizeigewalt
Mark Burkhard ist der neue Präsident der Kantonalen Polizeikommandanten. Der Anschlag von Wien beschäftigt auch ihn – persönlich und beruflich. Ausserdem spricht er im Interview über Einsätze in der Pandemie und Themen wie Polizeigewalt.
https://www.bzbasel.ch/basel/baselbiet/ein-baselbieter-an-der-schweizer-polizeispitze-mark-burkhard-ueber-terror-corona-und-polizeigewalt-139820230


+++POLIZEI DE
Racial Profiling: Polizei darf nicht mehr ohne Verdacht kontrollieren
Ein Mann aus Togo hat dagegen geklagt, dass er immer wieder auf St. Pauli von der Polizei kontrolliert wird. Das Hamburger Verwaltungsgericht gab ihm Recht.
https://www.zeit.de/hamburg/2020-11/racial-profiling-prozess-polizei-klage-schwarzer-hamburg


Studie zu Opfern mutmaßlicher Polizeigewalt: Der unerkannte Rassismus
Wie groß ist das Rassismusproblem bei der Polizei? Eine Studie geht dieser Frage nach, die Forscher warnen: Beamte verhielten sich oft nicht absichtlich falsch – sie wüssten es schlicht nicht besser.
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/studie-zu-polizeigewalt-polizei-erkennt-eigenen-rassismus-oft-nicht-forscher-warnen-a-8d7a05fc-d1f5-4a2a-a21c-14740011ed73
-> https://www.jungewelt.de/artikel/390295.rassismus-r%C3%BCck-lieber-gleich-die-drogen-raus.html
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144308.studie-zu-polizeigewalt-hautfarbe-entscheidend.html
-> https://www.dpolg.de/aktuelles/news/angebliche-studie-zu-rassismus-bei-der-polizei-ist-stimmungsmache/
-> https://www.nw.de/nachrichten/nachrichten/22897223_Studie-liefert-Hinweise-auf-rassistische-Polizisten.html
-> https://www.tagesspiegel.de/politik/diskriminierung-durch-die-deutschen-polizei-nicht-weisse-werden-doppelt-so-haeufig-kontrolliert-wie-weisse/26612150.html
-> https://taz.de/Studie-zu-Rassismus-in-der-Polizei/!5723836/


Bayern stattet Polizei mit Elektroschockern aus – Grüne warnen
Auf den Pilotversuch folgt der reguläre Einsatz: Rund 30 Einheiten der bayerischen Polizei werden ab Anfang 2021 mit Distanz-Elektroimpulsgeräten ausgestattet. Die Grünen-Fraktion sieht das skeptisch: „Der Taser ist keine harmlose Waffe.“
https://www.br.de/nachrichten/bayern/bayern-stattet-polizei-mit-elektroschockern-aus-gruene-warnen,SG1qiLn


+++HOMO-/TRANS-HASS
LGBT* in Ungarn: Orbán plant Verfassungsänderung, um Rechte von Homosexuellen und Transgender zu beschneiden
Ungarns rechtskonservativer Ministerpräsident will den gesellschaftlichen Ausschluss von LGBT* nun auch in der Verfassung verankern. Das Vorhaben dürfte den Konflikt mit der EU verschärfen.
https://www.spiegel.de/politik/ausland/ungarn-viktor-orban-plant-trans-und-homosexuellenfeindliche-verfassungsaenderung-a-b6ff084a-31d4-4832-89ff-2ca08f301db0


LGBT-Rechte: Ungarische Regierung plant queerfeindliche Verfassungsänderung
Das Geschlecht soll in Ungarn künftig bei der Geburt definiert werden. In der Verfassung soll es heißen, dass „die Mutter eine Frau ist und der Vater ein Mann“.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-11/lgbt-rechte-ungarn-verfassungsaenderung-homosexualitaet-trans-feindlich-regierung


+++RASSISMUS
antira-Wochenschau: Weisser Mann* gewählt, Kriegsprofiteur*innen angegriffen, antimuslimischer Rassismus geschürt
https://antira.org/2020/11/11/weisser-mann-gewaehlt-kriegsprofiteurinnen-angegriffen-antimuslimischer-rassismus-geschuert/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Aktivisten enttarnen neues Fake-News-Netzwerk von Steve Bannon
Ein weiteres Mal wurde der ehemalige Trump-Berater beim Verbreiten von Falschinformationen auf Facebook erwischt
https://www.derstandard.at/story/2000121615020/aktivisten-enttarnen-neues-fakenews-netzwerk-von-steve-bannon?ref=rss


Ecofascisme : la rhétorique du virus
L’histoire de l’écofascisme est assez obscure, mais son origine remonte au mouvement eugéniste, qui lui préexiste et se mêle à une sorte d’affreux déguisement écologiste visant à justifier ses éléments meurtriers. Les écofascistes sont plus ou moins les personnes que Murray Bookchin décrit comme « de soi-disant écologistes profonds qui pensent que les peuples du Tiers Monde peuvent bien mourir de faim et que les immigrants Natifs-Américains en provenance d’Amérique latine peuvent bien être refoulés par la police aux frontières américaines, à moins qu’ils ne portent le fardeau de « nos » ressources écologiques. » Malgré de grands efforts pour maquiller le mouvement, souvent par des appels vibrants au caractère sacré de la nature, à la beauté du monde naturel et à la hideur de la pollution industrielle, les racines de ce mouvement restent indéniables ; l’écofascisme est par essence l’idée que le Monde est malade, et que la maladie est l’humanité. C’est pourquoi l’écofascisme proclame que nous devons faire notre possible pour éliminer autant de gens que possible – ou au moins accepter leur mort – afin que le Monde « guérisse ».
https://renverse.co/analyses/article/ecofascisme-la-rhetorique-du-virus-2813


Un nouveau groupe de hooligans néo-nazis en Valais
Un nouveau groupe de hooligans néo-nazis a vu le jour ces derniers mois en Valais, « Radical Sion » ou « Swastiklan ».
https://renverse.co/infos-locales/article/un-nouveau-groupe-de-hooligans-neo-nazis-en-valais-2815


Gefährlich: Neonazis in der Kampfsportszene
Sie nennen sich „Baltik Korps“ – Kampfsportler aus Mecklenburg-Vorpommern. Doch dahinter verbergen sich Neonazis.
https://www.ndr.de/fernsehen/sendungen/panorama3/Gefaehrlich-Neonazis-in-der-Kampfsportszene,panoramadrei3668.html


Incels: Toxische Männlichkeit als Internetkult
Sie sind jung, wütend und verbreiten frauenverachtende Hetze im Netz: sogenannte Incels, unfreiwillig zölibatäre Männer. Autorin Veronika Kracher hat ein Buch über diese globale Online-Community geschrieben und berichtet im Dlf von dem, was man tun müsse, damit junge Männer nicht zu Incels würden.
https://www.deutschlandfunk.de/incels-toxische-maennlichkeit-als-internetkult.807.de.html?dram:article_id=487229


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Pressefreiheit bei der „Querdenken“-Demo: Bedroht, bespuckt und angegriffen
Am vergangenen Samstag in Leipzig ging es gewalttätig zu – vor allem Journalist:innen waren betroffen. Wir lassen einige zu Wort kommen.
https://taz.de/Pressefreiheit-bei-der-Querdenken-Demo/!5723803/


Angriffe auf Journalisten: Die Eskalation der Gewalt
Reporterinnen und Reporter hatten es am Wochenende schwer in Leipzig. Den einen stellten sich schwierige Fragen: Was bewegt 45.000 Menschen, mitten im Pandemie-Lockdown in die Messestadt zu fahren? Wieso demonstrieren Hippie-Familien zehn Meter neben dem NPD-Mann Udo Voigt? Wie berichtet man über eine Bewegung, die sich von Hooligans den Weg frei prügeln lässt – und größtenteils friedlich hinterher trottet?
https://uebermedien.de/54781/die-eskalation-der-gewalt/
-> https://www.zeit.de/2020/47/leipzig-demonstration-querdenken-corona-leugner-polizei/komplettansicht
-> https://www.sportschau.de/fussball/querdenken-hooligans-100.html
-> https://www.tagesspiegel.de/politik/nach-eskaliertem-corona-protest-berliner-verfassungsrechtler-fordert-obergrenze-fuer-demos/26611070.html


MASKENVERWEIGERUNG:
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/masken-kontroverse-an-zuercher-schule-jetzt-spricht-die-praesidentin-139836961
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/wenn-lehrer-die-maske-verweigern-sind-das-einzelfaelle?id=11873712
-> https://www.derstandard.at/story/2000121624792/sorge-wegen-maskenverweigerern-an-schulen?ref=rss
-> https://www.republik.ch/2020/11/10/besser-sterben


Jenseits vom Jammerossi
Der Soziologe Alexander Leistner erklärt, warum »Querdenken« das Erbe von 1989 für sich in Beschlag nehmen will
Die große Gefahr von Querdenken ist, dass sich dort ein neues politisch rechtes Milieu bildet, so der Soziologe Alexander Leistner.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1144309.querdenken-jenseits-vom-jammerossi.html


+++HISTORY
Die mysteriöse Schwester¬firma
Die Crypto AG war nicht allein im Dienst ausländischer Mächte. Erstmals lässt sich belegen, dass die CIA mithilfe der Firma Infoguard auch Schweizer Unternehmen abgehört hat.
https://www.republik.ch/2020/11/11/die-mysterioese-schwesterfirma


Kommentar: Crypto-Leaks: PUK!
Nach der Untersuchung der parlamentarischen Geschäftsprüfungsdelegation bleiben viele Fragen offen – es braucht eine lückenlose Aufarbeitung.
https://www.woz.ch/2046/kommentar/crypto-leaks-puk


#Afrika
Sklaverei und Kolonialismus erhalten derzeit eine nie gekannte Aufmerksamkeit in der deutschsprachigen Öffentlichkeit. Afrika rückt dabei in seiner historischen Dimension, aber nicht in seiner Vielfalt in den Blick. Aber was ist „Afrika“ überhaupt, wenn nicht ein durch und durch koloniales Konzept?
https://geschichtedergegenwart.ch/afrika/



derbund.ch 11.11.2020

Berns «Revolutionäre Jugend» gibt auf: Linksgruppierung stolpert über Machoverhalten

Die Revolutionäre Jugendgruppe Bern hat sich aufgelöst. Aktivistinnen werfen ihr Sexismus und Übergriffe vor.

Dario Greco

Bern ist  um eine politische Gruppierung ärmer: Anfang diese Woche gab die  Revolutionäre Jugendgruppe Bern (RJG) ihre Auflösung bekannt. Bei der  RJG handelte es sich um einen kaum greifbaren Verbund einiger junger Personen aus der linksextremen Szene.  Die Gruppe sorgte in den letzten Jahren mehrfach für Aufsehen, etwa als  Organisatorin von Anti-WEF-Demonstrationen und antifaschistischen  Abendspaziergängen, zudem war sie an den «Tanz dich frei»-Umzügen  beteiligt.

2017 hatte die RJG gar international für Schlagzeilen gesorgt, als sie an einer friedlichen Demonstration für «Freiheit und Menschenrechte» in der Türkei gegen den türkischen Machthaber Erdogan in Aktion trat. «Kill Erdogan – with his own weapons» stand auf einem Transparent. Die Aktion hatte mehrere Strafverfahren zur Folge –  es ermittelte sowohl die Schweizer Justiz als auch jene der Türkei –,  und der RJG war der Zorn der Demo-Organisatorin SP sicher.

Interne Querelen führten zum Aus

Die  Gründung der Revolutionären Jugendgruppe Bern geht auf das Jahr 2007  zurück. Eines der RJG-Kernthemen war der Antikapitalismus, im Verlauf  der Jahre seien «weit mehr als Hundert Menschen» Mitglied der Gruppe  gewesen, schreibt sie auf ihrer Website. Nun also ist sie Geschichte. Dem Entscheid vorausgegangen waren offenbar interne Auseinandersetzungen und Machtkämpfe. Die Auflösung gefordert hatte eine Gruppe von Frauen, Lesben, inter-, nonbinären- und Transpersonen. Die Gruppe prangert in ihrer Stellungnahme auf der Internetplattform Barrikade.info den in der RJG vorherrschenden «strukturellen Sexismus» an sowie «übergriffiges Verhalten» und «den Unwillen für feministische Bildung». Weiter schreibt die Gruppe, dass im Umfeld der RJG «mehrere Fälle von sexualisierter Gewalt» passiert seien. Eine Person, die im Frühjahr zur RJG gestossen sei, habe sich als Täter herausgestellt, sei intern allerdings gedeckt worden.

Daraus zog die RJG, die am Mittwoch für eine Stellungnahme nicht erreichbar war, offenbar die Konsequenzen und löste sich auf. «Wir sind all die Jahre massiv gescheitert, eine Basis für feministische Politik zu schaffen», bilanziert die RJG.

Einfluss war klein

Auf die gesamte Szene betrachtet habe das Aus der RJG keinen Einfluss, sagt Samuel Althof von der Fachstelle Extremismus- und Gewaltprävention (Fexx). «Die linksextreme Szene in Bern wird dadurch nicht kleiner. Die Leute werden sich einfach auf andere Gruppen verteilen.»  Die Auflösung der RJG zeige höchstens die internen Probleme, die es in  solchen Gruppierungen geben könne. «Weitere Auswirkungen hat das nicht.  Mir ist keine Spaltung der nationalen Szene bekannt», so Althof.

Einer, der sich der Gruppe immer wieder gegenüber sah, ist der Stadtberner Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP). «Die Behörden stuften die RJG als gewaltextremistisch ein», sagt er. «Die Erfahrungen, die wir mit ihr machten, waren meist negativ.» Was deren Auflösung für Bern bedeute, könne er noch nicht beurteilen. «Wir werden weiter beobachten, wie sich die Situation entwickelt.»
(https://www.derbund.ch/linksgruppierung-stolpert-ueber-machoverhalten-140507764926)



bernerzeitung.ch 11.11.2020

Sexismus unter Linksautonomen: Die Revolutionäre Jugendgruppe löst sich auf

Junge  Aktivistinnen prangerten jüngst lautstark den Sexismus innerhalb der  linksautonomen Szene an. Nun kommt es in der betroffenen Gruppe zum  Bruch.

Michael Bucher

Die  revolutionäre Linke in Bern wird gerade gehörig durchgeschüttelt. Die  tonangebende Revolutionäre Jugendgruppe Bern (RJG), die laut eigenen  Angaben seit 2007 besteht, hat sich aufgelöst. Dies teilt die Gruppe auf  ihrer Website mit. Die Gruppe ist bekannt für ihren teils militanten  Kampf gegen Kapitalismus, Unterdrückung und staatliche Repression. Für  Teile der Gruppe hat Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause (CVP) eigens  die Bezeichnung «gewaltextremistische Linke» kreiert.

Auch  das Engagement für Gleichstellung und feministische Anliegen zählt zum  Repertoire der RJG, in der laut eigenen Angaben in all den Jahren  insgesamt über 100 Personen vertreten waren. Doch offenbar ist man  innerhalb der Gruppe weit entfernt vom propagierten Ideal. Bereits  im Sommer prangerte eine Frauengruppe in einer Wutschrift den  strukturellen Sexismus innerhalb der linksautonomen Szene an.

Sexuelle Übergriffe

Weil  danach keine Besserung eingetreten war, drohten die jungen Frauen mit  dem Austritt und verlangten die Auflösung der RJG. Dieser Forderung kam  die Gruppe nun nach. «Wir sind all die Jahre massiv gescheitert, eine Basis für feministische Politik zu schaffen», schreibt die RJG selbstkritisch auf ihrer Website. Sexistische Verhaltensmuster seien intern kaum reflektiert worden.

Offenbar  kam es im Umfeld der Gruppe gar zu sexuellen Übergriffen gegenüber  Frauen. Einer der Täter habe es geschafft, dies zu verheimlichen – «mit klarer Mithilfe einzelner männlicher Gruppenmitglieder», heisst es im Schreiben. Dies und die mangelhafte Bereitschaft der Männer, die strukturellen Probleme aufzuarbeiten, «hat uns aufgezeigt, dass wir einen harten Bruch vollziehen müssen», hält die RJG fest.

Vorwurf der Heuchelei

Die  RJG-Frauen haben auf der Website der Gruppe zusätzlich eine eigene  Stellungnahme hochgeladen. Darin beklagen sie, dass sie abhängig von  Auftreten und Tonfall bei ihren männlichen Kollegen als «angenehme» oder  «mühsame» Feministinnen gegolten hätten. Weiter werfen die jungen  Frauen ihren Kollegen Heuchelei vor. So habe man zwar die feministische Revolution im kurdischen Rojava gefeiert, für die feministischen Forderungen in den eigenen Reihen jedoch habe das Gehör gefehlt.

Auch die Auseinandersetzung mit Sexismus im eigenen Umfeld sei von den Männern nicht als «cool» und «revolutionär» angesehen worden, weil es ja nicht «richtige Politik» sei, werfen die jungen Frauen ein. Ihr ernüchtertes Fazit: «Feminismus wird in der Theorie zwar gutgeheissen, jedoch nur, solange der Kampf weit weg von den eigenen Dunstkreisen bleibt.»

Die RJG hinterlässt ein Vakuum in der linksautonomen Szene, das jedoch bald wieder geschlossen werden dürfte. «Der Kampf geht weiter», schreibt die Vereinigung am Schluss des Beitrags, «aber ohne die Revolutionäre Jugendgruppe.»
(https://www.bernerzeitung.ch/die-revolutionaere-jugendgruppe-loest-sich-auf-834934984061)

-> Statement der FLINT Personen zur Auflösung der RJG: https://barrikade.info/article/3991
-> Statement der RJG Bern zur Auflösung der Gruppe: https://barrikade.info/article/3993


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN 2
derbund.ch 11.11.2020

Beleidigung, Bedrohung, Volksverhetzung: «Der Hildmann schmeisst einen doch mit Beweisen zu»

Der  ehemalige Grünen-Politiker Volker Beck ist Ziel öffentlicher  Morddrohungen des Verschwörungsideologen Attila Hildmann. Gegen den  Fleischlos-Koch gibt es Dutzende Anzeigen. Doch die Staatsanwaltschaft  macht fast nichts. Warum nicht?

Ulrike Nimz und Ronen Steinke

Volker  Beck sitzt in der Bibliothek des Bundestags, im kreisrunden Lesesaal.  Durch die Fensterfront schaut er auf die Spree. Er sitzt dort zwischen  dicken Gesetzbüchern, manche mit altdeutscher Aufschrift, «Bonner  Kommentar zum Grundgesetz», «Handbuch Staatsrecht». Vor drei Jahren ist  Beck, Grünen-Politiker und kein Jurist, unfreiwillig aus dem Bundestag  ausgeschieden, seine Partei hat ihn nicht mehr aufgestellt. Aber er  kommt noch immer hierher, um Strafanzeigen zu formulieren. Er wird bis  22 Uhr hier sitzen.

Volker  Beck bekommt gerade so viele Morddrohungen, so viele Beleidigungen über  Facebook oder Twitter, er kommt da kaum noch mit. Er klappt seinen  Laptop auf. Eine Frau, die ihren vollen Namen nennt, schreibt ihm. «Pfui  Teufel, in die Hölle sollen sie fahren, für den Dreck, der aus ihnen  rauskommt.» Und: «Ganz ehrlich für Leute wie sie wäre die Einführung der  Todesstrafe wieder angebracht.»

Ein  Mann, der sich hinter einem Pseudonym versteckt, schreibt: Nicht die  Corona-Demos solle man bei Verstössen gegen Hygiene-Auflagen auflösen,  so wie es Volker Beck gefordert hat. Sondern Männer wie Beck solle man  auflösen, «in Salzsäure». Zuvor aber solle man «dem Volker den Schwanz  absäbeln mit der Heckenschere».

Die  folgenreichsten Beleidigungen aber kommen von Attila Hildmann,  Vegankoch und Verschwörungsideologe. Seit Monaten hält er eine Art  wütende Ansprache an das Volk über den Messengerdienst Telegram, hat  einen ganzen Schwarm von Hetzern um sich versammelt, aktuell mehr als  113’000 Follower. «Für Beck würde ich als zukünftiger Reichskanzler  wieder die Todesstrafe durch Eier-Treten auf öffentlichem Platz  einführen», postet Hildmann am 12. Juli. Sofort greifen Dutzende das  auf, versuchen, ihn in ihren Gewaltfantasien noch zu übertreffen. Die  «Eier» von Volker Beck gehörten «zerquetscht» schreibt ein anonymer  Nutzer in einer E-Mail direkt an Beck, «Nicht durch Zertreten (viel zu schmerzarm) sondern mit der Hydraulikpresse»
.
Beck schreibt Anzeige um Anzeige

Volker  Beck hat inzwischen Übung darin, das alles an die Staatsanwaltschaft zu  schicken, er sucht, auch wenn das gar nicht nötig wäre, fleissig die  passenden Paragrafen des Strafgesetzbuchs heraus, Volksverhetzung,  Beleidigung, öffentliche Aufforderung zu Straftaten.

Aber  die zuständige Staatsanwaltschaft im brandenburgischen Cottbus, in der  Nähe von Attila Hildmanns Wohnort, hat sich noch in keinem einzigen Fall  für eine Anklage entschieden. «Ich erfahre nichts, ich bekomme auch  keine Akteneinsicht – aus ermittlungstechnischen Gründen», sagt Beck,  rückt seine Brille zurecht und lacht. Er wirkt nicht wie jemand, der  sich niederdrücken liesse. «Aber ich merke schon, wenn man mal in  ‹Enterprise‘-Bildern denkt, dass dieses Schild um das Raumschiff  manchmal löchrig wird.»

Als  Attila Hildmann Ende Oktober am Brandenburger Tor auf eine  Getränkekiste steigt, vermeldet das Robert-Koch-Institut 11’176  Corona-Neuinfektionen an einem Tag. In Jogginghose und Kapuzenpullover  spricht Hildmann von einem «beispiellosen Krieg gegen das deutsche  Volk», von einer «korrupten Politmafia», von «satanischen Spielereien».  Videos von diesem Tag sind noch immer abrufbar. Er braucht nur wenige  Sätze, um vom Tierschutz zu Menschenversuchen zu gelangen, denn nichts  anderes sei doch der geplante «genverändernde Impfstoff». Jens Spahn ist  für Hildmann nicht der deutsche Gesundheitsminister, sondern  «Bankkaufmann, Rotarier-Freimaurer, Jesuit, Bilderberger und  Pharmalobbyist». Alles auf einmal.

Mit  jeder Schmähung wird Attila Hildmann lauter, er pendelt auf seinem  Behelfspodest wie ein Boxer, dem das Adrenalin nicht aus dem Körper  weichen will. «Ihr seid alle Helden», ruft er in den Halbkreis, der sich  um ihn gebildet hat. Menschen mit Stirnbändern und Schiebermützen, die  jubeln und klatschen, als hätte soeben der Papst persönlich seinen Segen  erteilt. «Die Pandemie», schliesst Hildmann seine Rede, «ist dann  vorbei, wenn 83 Millionen Deutsche für ihre Freiheit aufstehen.»

Er  macht noch schnell ein Selfie mit einem Fan, betet ein bisschen mit  geschlossenen Augen. Dann singen sie alle gemeinsam die Nationalhymne.

Warum dauert das so lange, was gibt es zu ermitteln?

Man  muss sich gar nicht ans Brandenburger Tor zwischen Maskenverweigerer  stellen, um zu dokumentieren, was Attila Hildmann hasst und gegen wen er  hetzt. Man kann es bequem von der Couch aus tun. Jedes Wort wird live  gestreamt aus unzähligen Perspektiven. Anders als eine  Mund-Nase-Bedeckung gehören Handy und Stativ zur Grundausstattung der  selbsternannten «Corona-Rebellen». Sie filmen und feiern Attila  Hildmann, 39 Jahre alt, wie einen Popstar.

Was  also soll das bedeuten, wenn die Staatsanwaltschaft aus  «ermittlungstechnischen Gründen» schweigt? Was kann so schwierig sein,  was gibt es da zu ermitteln, dass es so lange dauern könnte? Müssen die  Ermittler erst Fingerabdrücke pudern? Müssen sie Schmauchspuren sichern?

Attila  Hildmann versteckt sich ja nicht. Er sagt die Dinge öffentlich. Man  braucht nur ein paar Minuten durch Telegram zu scrollen, durch den Strom  von bunten, schrillen Fotocollagen, Kotze-Emojis und Parolen, um auf  Aussagen zu stossen, die die Grenzen des Erlaubten zumindest austesten.  In den vergangenen Wochen hat Hildmann über Gedankenkontrolle mittels  Fernsehgeräten geschrieben. Er hat Angela Merkel eine «Oberhexe»  genannt, die «eiskalt eine kommunistische Militärdiktatur inklusive  Völkermord an 50 Mio. Deutschen» vorbereite. Aus einer Debatte über  Grenzschliessungen und die mögliche Isolierung von  Quarantäne-Verweigerern folgerte er, dass bald ganz Deutschland ein KZ  sei.

Er  hetzt oft im Konjunktiv, sagt zum Beispiel: «Wenn ich Reichskanzler  wäre.» Oder er stellt nur Fragen, besonders bei antisemitischen  Aussagen: «Gibt es eine jüdische Weltverschwörung?» Er lässt seine  Follower abstimmen und stellt ihnen exakt zwei Antworten zur Auswahl:  «Ja» oder «Nein, das ist ungenau! Es ist vor allem eine zionistische  Weltverschwörung.»

Volker  Beck sagt: Es mag ja sein, dass Attila Hildmann haarscharf an der  Grenze der Legalität formuliert. Dass er genau weiss, wie weit die  Meinungsfreiheit reicht. Attila Hildmann beschimpft Juden selten direkt.  Stattdessen schreibt er: «Einfach immer Weltbänker sagen, dann gibt’s  auch keine Anzeige wegen Volksverhetzung HA HA HAAAAAA.»

Für  Volker Beck macht das keinen Unterschied. «Wenn jemand augenzwinkernd  zu seinen Anhängern sagt: Ich meine eigentlich ihr-wisst-schon-was,  hähä, aber ich hülle mich hier in unverfängliche Worte, um den  Strafverfolgern ein Schnippchen zu schlagen – dann frage ich mich doch:  Wie sehr sollte sich der deutsche Staat doof stellen? Wie sehr soll man  sich verspotten lassen? Natürlich darf man nicht am rechtsstaatlichen  Prinzip herumsäbeln», sagt Beck, verschanzt zwischen all den  Gesetzbüchern. «Aber man muss sich den Kontext ansehen.»

Hildmann  ventiliert im Netz ein Best-of bestehender Narrative aus der  Verschwörungs- und Reichsbürgerszene, er verquickt sie mit homophoben  oder frauenfeindlichen Klischees und Angriffen gegen politische Gegner.  Seine Telegram-Präsenz ist ein Perpetuum paranoia, ein Strom aus  Abwertung, Angstlust und Gutscheinen für Bio-Matcha im Viererpack. Und  Hildmann ist Captain Capslock, der seine Anhänger mit Grossbuchstaben  durch eine feindliche Welt navigiert.

Hildmann tanzte bei «Let’s dance» und sass bei Maischberger auf dem Sofa

Attila  Klaus Peter Hildmann hat sich entwickelt, radikalisiert. Er hat  erfolglos Physik studiert und erfolgreich vegane Kochbücher geschrieben.  In seinem Werk «Vegan for youth» von 2013 empfiehlt er unter anderem:  «Nutze das Netz gezielt … Du findest unzählige interessante Blogs,  Vlogs, Gruppen und Foren. Es ist cool, Teil einer aktiven Bewegung zu  sein, den Teamgeist mitzuerleben und dich mit anderen über Einkaufs-,  Rezept- und Sporttipps auszutauschen.»

Bevor  er sich in Verschwörungsideologien eingrub wie in Schützengräben,  absolvierte er zahlreiche TV-Auftritte. Er tanzte bei «Let’s dance» und  sass bei Sandra Maischberger auf dem Sofa. Attila Hildmann war eine  Medienfigur, und er ist es auch jetzt noch, da er über die «Lügenpresse»  schimpft. Der Spiegel spazierte mit ihm durch den Wandlitzer Wald in  Brandenburg, wo Hildmann wohnt. Sat 1 suchte ihn in seinem veganen  Imbiss auf, wo er vor laufender Kamera unwidersprochen behaupten konnte,  dass die oft gefalteten Hände der Bundeskanzlerin – im Volksmund  «Merkelraute» – ein Geheimzeichen der Illuminaten sei.

Natürlich  ist das alles auch grosses Spektakel. Etliche verfolgen Hildmanns  Ausraster nur, weil sie Klicks bringen, um den Wahnsinn zu recyceln, oft  in ironischer Überlegenheitspose, weil die eigene Blase vermeintlich  immun ist gegen Verschwörungsideologien.

«Lustig  ist das für mich alles nicht», schreibt Volker Beck in einer Anzeige an  die Cottbuser Staatsanwaltschaft. «Es gibt zahlreiche Personen, die  eine Vernichtung meines Lebens und meiner körperlichen Unversehrtheit  befürworten, planen und dazu auffordern.» Meist gelingt es ihm, sachlich  zu formulieren, als sei er sein eigener Anwalt.

Als  junger Mann hat Volker Beck, der sich seit den Achtzigerjahren für die  Rechte von Schwulen einsetzt, mal den Satz geschrieben, die «globale  Kriminalisierung» der Pädosexualität sei falsch. Heute bereut er das und  betont, er sei schon früh zum «Gegner der Pädos» geworden. Aber so ist  der Grüne heute ein besonders gutes Hassobjekt für Attila Hildmanns  Umfeld. Das Thema Kindesmissbrauch spielt eine grosse Rolle bei QAnon,  dieser bizarren Verschwörungserzählung, wonach die Schönen und Reichen  Kinder foltern würden, um deren Blut oder ein Stoffwechselprodukt namens  Adrenochrom zu trinken. «Da passe ich aus Sicht von Atilla Hildmann  halt rein.»

Beck  will nicht ausschliessen, dass sich Hildmanns Anhänger durch das Gerede  von verbrecherischen Eliten und einem drohenden Bürgerkrieg zu realer  Gewalt legitimiert sehen. Erst neulich haben Unbekannte Brandsätze auf  ein Gebäude des Robert-Koch-Instituts geschleudert. Den Chef des  Instituts hatte Hildmann bei Telegram einen «Hauptverbrecher in der BRD»  genannt.

Und  dann ist in Berlin-Mitte ein Sprengsatz explodiert, ganz in der Nähe  der Charité. Es gab eine Stichflamme, die Polizei fand ein  Bekennerschreiben am Tatort, einen A4-Zettel, der auf dem Gehweg lag.  Man fordere die sofortige Einstellung aller Corona-Beschränkungen, den  Rücktritt der Bundesregierung und, so wörtlich, «eine  Live-Pressekonferenz, ausgestrahlt durch alle TV-Sender und Neuwahlen».  Sonst würden weitere Aktionen folgen. Lesen Sie dazu: Mit Molotow-Cocktails gegen die Pandemie-Politik.

Staunen über die langsamen Kollegen in Cottbus

Warum gleich schweigt die Staatsanwaltschaft?

E-Mails  der Süddeutschen Zeitung, sowohl an den Pressesprecher als auch an den  Leiter der Staatsanwaltschaft Cottbus, bleiben wochenlang unbeantwortet.  Niemand geht ans Telefon. «Corona», sagt die Frau in der Vermittlung.  Und als man irgendwann doch den Sprecher in der Leitung hat,  Oberstaatsanwalt Detlef Hommes, bittet er noch mal um einen Rückruf eine  Stunde später.

Erst müsse man wasserdicht nachweisen, dass diese  Telegram-Nachrichten überhaupt von Attila Hildmann stammten, sagt er  dann. Das sei ganz wichtig, und das dauere eine Weile. «Es kann ja auch  sein, dass ein Beschuldigter behauptet: Mein Account ist gehackt worden  und irgendein böser Dritter mit Maske auf dem Kopf hat das in meinen  Account reingeschrieben.»

Hat Attila Hildmann so etwas je behauptet? Hildmann, der sich für seine Hetzparolen in aller Öffentlichkeit feiern lässt?

«Das kann ich Ihnen nicht sagen.»

Kann  man aus der Dauer, die diese juristische Bewertung der  Staatsanwaltschaft schon in Anspruch nimmt, den Schluss ziehen, dass  Attila Hildmann seine Worte recht geschickt wählt? Bewegt er sich genau  an der Grenze des legal Sagbaren?

«Das will ich so nicht sagen.»

Man  versucht es ja zu verstehen: Sicher möchte die Cottbuser  Staatsanwaltschaft vermeiden, dass sie Attila Hildmann anklagt, ihm vor  Gericht eine grosse Bühne baut – und er dann mit wehenden Fahnen einen  Freispruch feiert.

«Was wir möchten oder nicht möchten, das ist  nicht die Frage», sagt Oberstaatsanwalt Hommes. Sondern es gehe allein  um die schwierige Prognose, wie wohl das Gericht diese Äusserungen  bewerten würde. Was er nicht sagt: Solche Prozesse wegen Beleidigung  oder Volksverhetzung gibt es bislang sehr, sehr selten. Es ist  unbekanntes Terrain. Auch weil die Justiz die Delikte in der Online-Welt  in den vergangenen Jahren nicht sehr ernst genommen hat, die  Staatsanwaltschaften haben kaum mal etwas vor Gericht gebracht.

So  zieht es sich hin bei der Zentralstelle für Internetkriminalität in der  Staatsanwaltschaft Cottbus, einer Einheit aus sechs Staatsanwälten.  Etwa 30 Vorwürfe gegen Hildmann prüfen sie derzeit, darunter  Beleidigung, Bedrohung und Volksverhetzung. Akteneinsicht könne man aber  beim besten Willen nicht geben, sagt Oberstaatsanwalt Hommes, die Akten  seien «derzeit ausser Haus». Die für Hildmann zuständige Staatsanwältin  sei gerade auch nicht da, jedenfalls «nicht greifbar». Erst in zwei  Wochen wieder.

Auch in Leipzig: Hildmann wieder vorn dabei

Und  dann? Ach, dies und jenes sei noch zu tun, sagt der Oberstaatsanwalt.  Und beiläufig: «Man wird dann auch irgendwann den Beschuldigten zu hören  haben.» Das heisst: mit Attila Hildmann selbst sprechen. Auch das hat  noch keiner der Juristen getan. Staatsanwälte in anderen Bundesländern  staunen über den Langmut der Kollegen. «Der Hildmann schmeisst einen  doch mit Beweisen zu», heisst es.

Als am Wochenende in Leipzig  Zehntausende Kritiker der Corona-Massnahmen an der Seite von  rechtsextremen Hooligans demonstrieren, als sie die Absperrungen der  Polizei durchbrechen, entgegen den Auflagen einen Marsch um den  Innenstadtring erzwingen, Journalisten angreifen und Beamte mit  Pyrotechnik beschiessen, ist Attila Hildmann wieder ganz vorn mit dabei.  Vor dem Hauptbahnhof badet er in der Menge, neben ihm schwenkt jemand  ein Deutschlandfähnchen, ein anderer ein Bild des  SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach in Sträflingskleidung. Auch  davon gibt es ein Video.

Anders  als in Berlin steigt Attila Hildmann in Leipzig nicht selbst auf die  Bühne. Auf die «Querdenker», die diese Demo angemeldet haben, ist er  inzwischen nicht mehr gut zu sprechen, die sind ihm zu lasch, zu viel  «Wanderzirkus», zu wenig Widerstand. Stattdessen ergreift er nach  Sonnenuntergang selbst das Wort, der Scheinwerfer einer Fernsehkamera  strahlt in sein Gesicht.

Merkel, «diese Hochverräterin», ruft  Hildmann, unter der geöffneten Bomberjacke blitzt eine Halskette mit  Kruzifix. Die Kanzlerin mache Politik «nach dem Kalergi-Plan». Gemeint  ist ein Verschwörungsmythos, wonach der österreichische EU-Vordenker  Richard Graf Coudenhove-Kalergi einst geplant hätte, «die Völker in  Europa zu vermischen», wie Hildmann sagt, und alle nationalen  Identitäten zu zerstören, um den Kontinent dann von Juden regieren zu  lassen. Die Menge klatscht, setzt zum Sprechchor an. «Wir – sind – der  Sou-ve-rän! Wir – sind – der Sou-ve-rän!»

Attila Hildmann faltet  die Hände, neigt andächtig den Kopf. Am Tags danach meldet das  Robert-Koch-Institut 16’017 Corona-Neuinfektionen in Deutschland.
(https://www.derbund.ch/der-hildmann-schmeisst-einen-doch-mit-beweisen-zu-453125060832)