Worte: Hanau-Gedenkdemo in Bern

Am Sonntag dem 23.2.20 haben sich rund 250 Menschen in Bern an der Demo aufgrund der Rassistischen Anschläge in Hanau und den weiteren Angriffen in Stuttgart und Döbeln beteiligt. An der Demo wurden Namen von Menschen, die in Hanau ermordet wurden, auf den Schildern getragen.

Wir möchten uns an Ferhat Ünvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtović, Said Nesar El Hashemi, Fatih Saraçoğlu, Kalojan Welkow, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Vili Viorel Pâun erinnern und ihren Angehörigen und Freund*innen Kraft wünschen.
Während der Demo wurden von Rassismus betroffenen Menschen drei Reden gehalten und die waren ein wichtiger und wertvoller Teil dieser Demonstration.
Leider gab es auch rassistische Strukturen innerhalb der Demo. Auf einige dieser möchten wir kurz eingehen und eine Kritik äussern:
Immer herrscht im Alltag und somit auch an dieser Demo eine weisse Dominanz. Dies zeigte sich z.B. auch gestern beim Rufen der Parolen. Nicht direkt von Rassismus betroffene Menschen nahmen sich wieder einmal zu viel Raum und übertönten mit ihren Parolen die Stimmen von Rassismus betroffenen Menschen. Wir finden es wichtig, die eigene Position zu reflektieren und das Verhalten anzupassen.
Obwohl das Thema der Demo klar der Antirassismus war, wurden immer wieder antikapitalistische Parolen gerufen, welche auch Antirassistische übertönten. Wir finden es wichtig, Kämpfe zu verbinden, aber auch zu erkennen, dass Rassismus nicht vom Kapitalismus bedingt ist. Deshalb war es fehl am Platz, an dieser Demo mit antikapitalistischen Parolen so viel Platz einzunehmen.
In diesen Momenten wurde antirassistische Arbeit nicht mit der Wichtigkeit behandelt, die sie haben sollte. Deshalb folgende Forderung an nicht direkt von Rassismus Betroffene: Rassismus ist Alltag, darum muss antirassistische Arbeit und die damit verbundene Kritik an weissen Privilegien zum Alltag werden.
Die Texte der Reden, die an der Demo gehalten wurden:

ZUSAMMEN TRAUERN, GEMEINSAM KÄMPFEN Es ist Zeit FÜR MIGRANTIFA!

Erneut reisst ein faschistischer Anschlag Menschen in den Tod. Am Mittwochabend 19. Februar 2020 ermordet in Hanau bei Frankfurt ein Neonazi zehn Menschen, neun davon mit Migrationshintergrund. Fünf weitere werden verletzt.
Doch Hanau ist kein Zufall und auch kein Einzelfall. Rassistische Angriffe und Gewalttaten geschehen täglich. Drei Tage nachdem Mordanschlag in Hanau wurde gestern Nacht in Stuttgart wieder eine Shisha-Bar mit Schusswaffen und in Döbeln in der Nacht auf Freitag eine Shisha Bar und ein Döner Imbiss mit einem Brandsatz angegriffen. Die Angriffe in Hanau, Stuttgart und Döbeln sind Ausdruck eines tiefen gesellschaftlichen Rassismus, gegen Türk*innen, Kurd*innen, Roma und andere People of Color.
Was in Hanau auf brutale und mörderische Weise geschehen ist, geschieht jeden Tag in der Schweiz, in Deutschland und anderswo:

  • In den Schulen, am Arbeitsplatz, bei der Wohnungssuche, wo Migrant*innen diskriminiert werden.
  • In den Migrationsbehörden, in den Gerichten und Parlamenten, wo Gesetze gegen Ausländer*innen erlassen werden.
  • In den Medien, Nachrichten und Analysen, in welchen BIPoC als Problem dargestellt werden, aber nie von der Mehrheitsgesellschaft als Problem gesprochen wird.
  • In einer Gesellschaft, in der Weiss-sein als Normalität definiert ist und wir, seitdem wir hier sind – als Minderheiten, Gastarbeiter*innen, Geflüchtete oder Migrant*innen – explizit oder implizit als minderwertig dargestellt werden.
    Wir sind heute auf der Strasse, weil wir den Rassismus satthaben. Politiker*innen, die unser Leben mit brennenden Mülltonnen gleichsetzen, sollen wissen, wir sind diejenigen, die das rassistische, sexistische, homo- und transphobe System und seine Politiker*innen in den Müll der Geschichte schicken werden.
    Liebe migrantische Personen, liebe geflüchtete Menschen, liebe Schwarze Menschen, liebe Roma und Sinti, liebe Geschwister, die aufgrund ihres vermeidlichen Ursprungs oder ihres anders Seins von der Mehrheitsgesellschaft ausgeschlossen werden, täglich rassistische Diskriminierung und Gewalt erleben, fühlt euch nicht alleine! Wir sind da für einander, wir unterstützen einander, wir organisieren uns selbst. Es ist Zeit für MIGRANTIFA!

Rede von der kurdischen Community

Nachdem am 19. Februar in Hanau der Faschismus und der Rassismus sich wieder in ihrer niederträchtigsten Seite gezeigt haben, sind wir uns mehr denn je bewusst, nur Vielfalt und Menschlichkeit bringen Leben, lassen Leben…
Wir sind traurig und wütend. Traurig in Gedanken an die Angehörigen dieses rechtsextremistischen Anschlags. Viele von ihnen sind Menschen, die vom türkischen Faschismus geflohen sind. Geflohen, und dort wo sie sich sicher fühlten, hat der Faschismus ihre Kinder ermordet. Es waren junge Menschen mit Familie, Freunden, Träumen und Leben. Es waren Menschen, deren Geschichten unbekannt bleiben, denn es wird mehr über die Psyche des rechtsextremen Täters gesprochen. Wieder sehen wir, die politische Verantwortung, sich rechten Netzwerken und dem Rechtsextremismus entschieden entgegenstellen. Die politische Rhetorik der Rechten, die Verharmlosung durch die Medien und durch die Politiklandschaft breiten den Nährboden für Rassismus und Faschismus.
Hanau kam, wie auch die anderen Anschläge, nicht aus dem Nichts. Rechte Extremist*innen nutzen sämtliche Kanäle zur Verbreitung. Sie rufen zur Gewalt auf und sie bewaffnen sich. Todeslisten waren angelegt und teilweise bestanden enge Beziehungen und Verbindungen zu Polizist*innen und Soldat*innen.
Die unaufgeklärte Rolle des deutschen Verfassungsschutzes bestätigt das Bild. Der Mörder von Hanau war kein Einzeltäter. Die deutsche Rechte arbeitet über die Grenzen hinaus. Sie sind vernetzt. Wir müssen uns bewusst sein, diese Taten passieren in dem gesellschaftlichen Klima, in dem brutalster Rassismus fähig geworden ist. Die bürgerliche Mitte zeigt immer wieder ihre Haltung in Richtung Rechts. Wir glauben, dass Hanau leider nicht der letzte Ort, in dem der Rassismus stattfand. Es hat angefangen und wir sind mittendrin.
Schauen wir nicht länger zu. Komm mit uns auf die Strasse. Stellen wir uns dem Rechtsextremismus entgegen. Faschismus ist kein lokales Problem. Ein solidarischer Zusammenhalt, der Widerstand ist unabdingbar. Sowie die Freiheitsbewegung in Kurdistan gegen rassistische Unterdrückung kämpft, haben wir die Verantwortung hier gegen Rassismus und Faschismus! Neonazis, türkische Faschist*innen, Dschihadist*innen und Nationalist*innen sind eine tödliche Gefahr. Wir schliessen uns zusammen, organisieren uns gegen Rassismus und Faschismus, gegen das Patriarchat, die Zerstörung und auch die Unterdrückung.
KAMPF DEM FASCHISMUS UND RASSISMUS IN JEDEM LAND!

Rede von Bla.Sh Aktivistinnen

“Solidaritätserklärung mit den Überlebenden, den Familien und Freund*innen der Ermordeten in Hanau“
Wir schreiben, um unsere Solidarität mit den Überlebenden, Familien und Freund*innen derer auszudrücken, die in der Nacht vom Mittwoch, dem 19. Februar 2020, in der Shisha-Bar Midnight im Stadtzentrum von Hanau, Deutschland, in der Nähe von Frankfurt am Main, und in einer anderen Shisha-Bar, der Arena Bar und dem Café, etwa 1,5 Meilen entfernt im Stadtteil Kesselstadt, von einem weiß-suprematistischen, anti-muslimischen Rassistinnen und Rechtsterroristinnen ermordet wurden. Mit den Angehörigen und Freund*innen trauern wir um Ferhat Ünvar, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovic, Said Nessar El Hashemi, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Fatih Saraçoğlu, Kalojan Welkow, und Vili Viorel Păun.
Der gezielte Angriff auf Shisha-Bars ist offensichtlich symbolisch, denn sie sind Treffpunkte für rassifizierte Menschen mit türkischen, kurdischen, maghrebinischen, Roma und anderen Migrationsbiographien. Unter den Toten sind in diesem Fall migrantisierte Menschen mit türkischen und kurdischen Migrationsbiographien sowie Roma.
Dieser rassistische Kollektivmord ist kein isoliertes Ereignis und auch nicht die einzige Form rassistischer, weiß-suprematistischer Gewalt in Deutschland und in Europa. Am 14. Februar 2020 wurden zwölf anti-muslimisch rassistische Rechtsterroristen in verschiedenen Teilen Deutschlands verhaftet, als sie einen mörderischen Christchurch- ähnlichen Anschlag auf Moscheen während muslimischer Gebete planten. In Hessen wurde am 2. Juni 2019 einem Politiker, der sich pro-migrantisch positionierte, in seinem Garten von einem Rechtsterroristen aus nächster Nähe in den Kopf geschossen. Am 9. Oktober 2019 griff ein weißer Suprematist und Rechtsterrorist eine Synagoge und einen Dönerimbiss in Halle an und ermordete zwei Menschen. Am 22. Juli 2016 erschoss ein anti-muslimischer Rassist und Rechtsterrorist neun Menschen in einem Einkaufszentrum in München. Die immer noch nicht aufgeklärte jahrzehntelange Mordserie des sogenannten „nationalsozialistischen Untergrunds“ macht deutlich, wie sehr Polizei und Politiker*innen mit rassistischen Logiken sympathisieren.
Diese mörderischen Ereignisse senden die Botschaft, dass Muslime und andere Menschen of Color nicht in Deutschland leben, arbeiten, sich nach der Arbeit entspannen oder beten sollten. Die Anschläge sind eine Folge des Erstarkens und der weiteren Normalisierung rechtsextremer Bewegungen in Europa, die gut organisiert und bewaffnet sind. Bei dem Anschlag in Hanau hatte der anti-muslimische, rassistische, rechtsterroristische Bewaffnete einen Waffenschein und ein rassistisches Manifest geschrieben, wie andere Rechtsterroristen an anderen Orten zuvor, unter anderem in Christchurch.
In Hanau jedoch, wie anderswo in Deutschland und an vielen Orten im Globalen Norden, werden anti-schwarze, anti-roma- und anti-muslimische rassistische Angriffe von Rechtsterrorist*innen oft als isolierte Vorfälle aufgrund „instabiler“ Individuen dargestellt, eine Vorstellung, die Menschen mit Behinderungen und Einschränkungen stigmatisiert, weiße und rassistische Gewalt als außergewöhnlich erscheinen lässt und sich weigert, die Lebensbedingungen von Migrant*innen und Menschen of Color unter rassistischen, islamfeindlichen Alltagsstrukturen anzuerkennen. Stattdessen sind die mörderischen Angriffe in Hanau und anderswo Teil einer breiteren Form tödlicher rassistischer Gewalt, die vom anti-muslimischen, anti-schwarzen, anti-arabischen „Sterben lassen“-im Mittelmeerraum bis hin zur wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Unterdrückung von Muslim*innen, Schwarzen Menschen, Roma und anderen Menschen of Color innerhalb der Grenzen jedes Landes reicht. Diese Angriffe sind eine Folge der rassistischen Migrationsregime und rassistischen Repräsentationen, die im öffentlichen Raum frei und alltäglich zirkulieren. Sie hängen mit der Weigerung der „wohlmeinenden“ Menschen der dominanten und legitimierten (weißen) Teile der sogenannten „rassen-blinden“ Gesellschaften zusammen, die brutalen rassistischen Bedingungen anzuerkennen, die für diese Gesellschaften konstitutiv sind und sie zusammenhalten. Sie sind ein Ergebnis der fortgesetzten „weißen Unschuld“, die sich von strukturellem Rassismus, der im Kolonialismus verwurzelt und für den globalen Kapitalismus wesentlich ist, unberührt sieht.
Wir stehen vereint mit Muslim*innen, Schwarzen und arabischen Menschen, Rom*nja und allen anderen Menschen of Color, sowohl Migrant*innen als auch deutschen Staatsbürger*innen, in Deutschland in ihrem Kampf um ihr Leben, ihre Würde, für Gerechtigkeit und für gesellschaftliche radikale Transformation. Wir senden Ihnen unsere Unterstützung und unsere volle Solidarität. Wir fordern ein Ende jeder Form mörderischer rassistischer Gewalt und der Bedingungen, die die Möglichkeit dieser überhaupt erst entstehen lassen.
Wir sind mit Ihnen im Geiste auf den Straßen, wenn Sie gegen diese Gewalt mobilisieren.