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+++BERN
derbund.ch 16.02.2020
Hilfswerk kritisiert den Kanton
Caritas nennt die Mandatsvergabe des Kantons Bern «fragwürdig» und hat
eine Beschwerde eingereicht. Zum Verhängnis wurde dem Hilfswerk wohl
auch das Tempo der Asylreform.
Andres Marti
Bei der Caritas Bern fühlt man sich unfair behandelt. Grund ist die
Reorganisation des bernischen Asylwesens. Bei der Neuvergabe der
Betreuungsmandate ging das katholische Hilfswerk leer aus, über hundert
Angestellte verlieren ihren Job.
Caritas-Bern-Direktorin Dalia Schipper äussert sich nun erstmals im
«Bund» zum Verfahren. Aus Sicht von Schipper ist die Vergabe
«fragwürdig» verlaufen. Die Caritas hat eine Beschwerde eingereicht.
Diese wurde allerdings bereits abgewiesen. Statt der Caritas wird nun ab
dem 1. Juli das Stadtberner Kompetenzzentrum Integration für die
Flüchtlingsbetreuung in der Stadt Bern und Umgebung verantwortlich sein.
So hat es die zuständige kantonale Gesundheits-, Sozial- und
Integrationsdirektion (GSI) beschlossen.
Was die Caritas-Direktorin nun aber besonders nervt: Während die Stadt
ihre Defizitgarantie fast ein Jahr nach der Vergabe vom Stadtparlament
absegnen lässt, musste Caritas ihre Defizitgarantie bereits mit ihrem
Angebot einreichen. Schipper: «Um überhaupt an der Ausschreibung
teilnehmen zu können, mussten wir dem Kanton eine Defizitgarantie
vorlegen.»
Die Millionenbeträge konnte das Hilfswerk nicht alleine stemmen und
gründete deshalb extra eine Stiftung. Schipper spricht von einer
«Feuerwehrübung» unter enormem Zeitdruck. Am Ende hat es nichts
gebracht.
Ungleiche Massstäbe?
Was die GSI von der Stadt verlangt habe, wisse man zwar nicht, so
Schipper. Was man aber wisse, sei, dass der Stadtrat erst letzten
Donnerstag die entsprechende Defizitgarantie im Umfang von knapp 3,4
Millionen Franken abgesegnet habe. «Hier kommt der Verdacht auf, dass
bei der GSI für die staatlichen Organisationen andere Massstäbe gelten.»
Schipper verweist dabei auch auf die Mandatsvergabe für die
Flüchtlingsbetreuung im Berner Oberland. Dort hat ebenfalls eine
öffentlich-rechtliche Organisation den Zuschlag erhalten: Der Verein
Asyl Berner Oberland (ABO) wurde von 13 regionalen und kommunalen
Sozialdiensten des Berner Oberlands gegründet. Laut einem internen
Dokument hat sich die GSI schon letzten Februar für ABO entschieden.
Auch hier ging Caritas leer aus. Einen Monat später segnete dann das
Thuner Stadtparlament die Defizitgarantie von 1,7 Millionen Franken ab.
Kantone im Zugzwang
ABO-Geschäftsführer Christian Rohr äussert auf Anfrage Verständnis, dass
dieses Vorgehen bei der Caritas für Unmut sorgt. Den Kanton treffe
dabei aber keine Schuld. Rohr verweist stattdessen auf das Tempo der
Asylreform. Der Bund setzte die beschleunigten Verfahren bereits im März
2019 um. Die Kantone stünden nun unter Zeitdruck bei der Umsetzung.
Dass man dabei die öffentlich-rechtlichen mitberücksichtigt habe, wird
von Rohr begrüsst. «Hätten die öffentlich-rechtlichen Organisationen
ihre Defizitgarantie schon vorher einreichen müssen, hätte der Kanton
sie vom Wettbewerb ausgeschlossen», sagt Rohr.
Müssen Entscheide demokratisch gefällt werden, dauert das seine Zeit. In
Bern hat der Gemeinderat die Defizitgarantie im Oktober 2019 zuhanden
des Stadtrats verabschiedet. «Eine noch schnellere Antragstellung an den
Stadtrat war kaum möglich», heisst es bei der zuständigen
Sozialdirektion. Am liebsten wäre der Stadt gewesen, wenn gar kein
Wettbewerb stattgefunden hätte. Wie der «Bund» publik machte, versuchte
die zuständige Gemeinderätin Franziska Teuscher (GB), den Auftrag von
der GSI per Direktvergabe zu erhalten.
Beim Kanton reagiert man mit einem kurzen schriftlichen Statement auf
die Vorwürfe der Caritas: «Die GSI weist die Vorwürfe von Caritas als
unzutreffend zurück», schreibt Pressesprecher Gundekar Giebel per Mail.
Das Amt für Integration und Soziales, das den Beschaffungsprozess
durchführte, habe im Vergabeverfahren grossen Wert auf Transparenz und
Gleichbehandlung aller Anbieter gelegt. «Der Nachweis der genügenden
wirtschaftlichen und finanziellen Leistungsfähigkeit» sei aufgrund eines
von den Anbietern auszuarbeitenden Finanzierungskonzepts erfolgt. «Die
Überprüfung der Erfüllung dieses Kriteriums erfolgte in allen Losen nach
einheitlichen Massstäben.»
(https://www.derbund.ch/bern/hilfswerk-kritisiert-den-kanton/story/14035398)
—
Kirchliche Kontaktstelle hilft Flüchtlingen auf dem Arbeitsmarkt
Die Kirchliche Kontaktstelle für Flüchtlingsfragen hat
„Jobs4Refugees.ch“ ins Leben gerufen. Dahinter steckt ein Infoportal für
Arbeitgeber rund um die Erwerbstätigkeit von Flüchtlingen. Verschiedene
Unternehmen in ganz Bern nutzen die Plattform bereits.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/kirchliche-kontaktstelle-hilft-fluechtlingen-auf-dem-arbeitsmarkt-136379007
-> https://jobs4refugees.ch/
+++ST. GALLEN
St.Galler Regierung will Flüchtlingsrechte nicht einschränken und lehnt Standesbegehren ab
Flüchtlinge können ihren Wohnort im Kanton wählen. Ein Standesbegehren,
das an der Februarsession des Kantonsrats behandelt wird, will das
ändern. Die Regierung hält es für völkerrechtswidrig.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgaller-regierung-will-fluechtlingsrechte-nicht-einschraenken-und-lehnt-standesbegehren-ab-ld.1195424
+++LIBYEN
Prekäre Sicherheitslage für Flüchtlinge – Tausende in Internierungslagern
Folter, Menschenhandel und Krankheiten in Internierungslagern – seit
Beginn der Tripolis-Offensive des Generals Haftar im April 2019 hat sich
die Sicherheitslage für Flüchtlinge in Libyen noch verschlechtert. Laut
UNHCR werden mehr als 3000 Menschen in solchen Haftzentren willkürlich
gefangen gehalten.
https://www.deutschlandfunk.de/libyen-prekaere-sicherheitslage-fuer-fluechtlinge-tausende.1939.de.html?drn:news_id=1101708
+++GASSE
Zürcher Drogenpolitik – «Der Staat soll alle Drogen regulieren»
Vor 25 Jahren verschwand die offene Drogenszene aus Zürich. Suchtexperte Thilo Beck will die Drogenpolitik weiterdenken.
https://www.srf.ch/news/regional/zuerich-schaffhausen/zuercher-drogenpolitik-der-staat-soll-alle-drogen-regulieren
Zum Coiffeur gehen? «Praktisch unmöglich»: Erster Einsatz der «Barber Angels» im Kanton Solothurn
Rund 50 Menschen am Rande der Armut erhielten am Sonntag einen gratis Haarschnitt.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/zum-coiffeur-gehen-praktisch-unmoeglich-erster-einsatz-der-barber-angels-im-kanton-solothurn-136378301
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Auto wird am Valentinstag rot versprayt
In der Nacht auf Samstag wurde im Berner Lorraine-Quartier ein Auto
komplett mit roter Farbe versprayt. Das Motiv der Täter ist unklar. Auf
Facebook spekuliert man über ein Liebes-Drama.
https://www.20min.ch/schweiz/bern/story/Wer-versprayt-in-Bern-Autos–26817309
Basler Klimastreik – Klimajugend verlangt mehr als den Klimanotstand
Am Samstagnachmittag demonstrierten mehrere Hundert jungen Menschen. Die Politik solle endlich handeln.
https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/basler-klimastreik-klimajugend-verlangt-mehr-als-den-klimanotstand
.-> https://telebasel.ch/2020/02/16/sonntaegliche-klimademo-in-basel-mit-rund-600-teilnehmenden/?utm_source=lead&utm_medium=carousel&utm_campaign=pos+2&channel=105100
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/sonntagliche-klimademonstration-in-basel-mit-rund-600-teilnehmenden-65663417
+++ARMEE GEGEN INNEN
Schutzmassnahme gegen Coronavirus: Krach um Armeeeinsatz am Flughafen
Geht es nach dem Bundesamt für Gesundheit, sollen Einreisende an
Schweizer Flughäfen von Soldaten kontrolliert werden. Doch das
Departement Berset zieht nun die Reissleine.
https://www.blick.ch/news/politik/schutzmassnahme-gegen-coronavirus-krach-um-armeeeinsatz-am-flughafen-id15750937.html
+++GRENZWACHTKORPS
NZZ am Sonntag 16.02.2020
Grenzwache muss lange ohne Drohnen auskommen
Die neuen Armeedrohnen sind frühestens Ende Jahr einsatzbereit. Wegen
der weiteren Verspätung muss der Zoll den Grenzschutz mit Helikoptern
gewährleisten.
Andreas Schmid
Für die Überwachung der Landesgrenze stellt die Luftwaffe der Grenzwache
die Drohnen der Armee zur Verfügung. Doch seit Ende November und bis
auf weiteres sind keine unbemannten Fluggeräte einsatzbereit: Die alten
des Typs Ranger wurden Ende November nach 20 Jahren ausgemustert, die
neuen des israelischen Herstellers Elbit vom Typ Hermes 900 sind von der
zuständigen zivilen Behörde in Israel noch nicht zugelassen worden. Der
Prozess im Herstellerland verzögerte sich wiederholt, so dass die
militärischen Instanzen hier mit der Systemabnahme zuwarten müssen.
Ursprünglich war die Inbetriebnahme der Drohnen für Ende 2019
vorgesehen. Das Bundesamt für Rüstung (Armasuisse) musste jedoch bereits
im vergangenen September gegenüber den Tamedia-Zeitungen eine erste
mehrmonatige Verspätung einräumen. Zwischen Juli und September 2020
werde die Grenzwache die Hermes-Drohne einsetzen können, prognostizierte
Armasuisse damals.
Daraus wird aber nichts. Bisher haben noch keine Flüge mit der Drohne in
der Schweiz durchgeführt werden können. Für den fliegerischen Teil der
Ausbildung reisen die Piloten laut Armasuisse-Sprecherin Jacqueline
Stampfli am 23. Februar nach Israel. Im zweiten Halbjahr sollen erste
Testflüge in der Schweiz stattfinden. Nachdem die militärischen Behörden
das System zertifiziert haben, übergeben sie die Fluggeräte dann der
Luftwaffe.
Andere Mittel für Grenzschutz
Die Grenzwache muss also noch länger warten, bis ihr wieder Drohnen zur
Verfügung stehen: «Frühestens Ende Jahr» werde es so weit sein, sagt
Stampfli nun. Armasuisse strebe eine schrittweise Zulassung an, um die
Folgen der verzögerten Zulassung durch die israelische Luftfahrtbehörde
zu minimieren.
Die Eidgenössische Zollverwaltung muss sich derweil für den Grenzschutz
anderer Mittel behelfen. «In dieser Zeit verwendet die Grenzwache
vermehrt Helikopter der Luftwaffe, um die Lücke zu schliessen», sagt
Sprecher Matthias Simmen. Allerdings könnten Helikopter Drohnen nur
teilweise ersetzen. Beide Systeme verfügten zwar über eine
Wärmebildkamera. «Doch Drohnen haben den Vorteil, dass sie grössere
Geländeabschnitte über einen längeren Zeitraum überwachen können.»
Mehrkosten entstehen durch die zusätzlichen Helikopterflüge laut Simmen
aber nicht. Die Zollverwaltung habe eine Leistungsvereinbarung mit der
Luftwaffe abgeschlossen, die keine zusätzliche finanzielle Belastung
entstehen lasse.
Die Armee bestellte die modernen Drohnen bereits vor über vier Jahren
beim Hersteller. Sechs Geräte für 250 Millionen Franken kauft die
Schweiz. Die neuen Drohnen haben einen Dieselmotor, können 24 Stunden in
der Luft bleiben und eine Geschwindigkeit von 260 Kilometern pro Stunde
erreichen. Sie weisen eine Flügelspannweite von 17 Metern auf. Vom
Militärflugplatz in Emmen im Kanton Luzern können sie an jeden Ort in
der Schweiz gesteuert werden.
Drohnen zur «Gefahrenabwehr»
Am häufigsten sind Drohneneinsätze für die «Gefahrenabwehr an der
Grenze». Mit den Aufklärungsflügen sollen Kriminaltouristen, Schlepper
und Schmuggler aufgespürt werden.
Ein verlängerter Einsatz der alten Drohnen zur Überbrückung war für die
Armee keine Option. Weil die Zulassung für einige Teile ablief, hätten
sie ersetzt werden müssen. Dies hätte unverhältnismässig hohe Kosten
verursacht, so die Begründung für die endgültige Ausmusterung der
letzten von anfänglich 28 Ranger-Drohnen.
Die Zulassung der neuen Hermes-Fluggeräte beanspruche auch deshalb so
viel Zeit, weil die Drohnen stark umgebaut würden, behaupten Kritiker.
Der Dieselmotor sei viel schwerer als die im hergebrachten System
benutzten Antriebe, die mit Flugbenzin funktionieren. Dieses
Zusatzgewicht erfordere eine Anpassung von Tragflächen und Spannweiten.
Die Finanzkontrolle widersprach in einem Prüfbericht von 2017 den
Vorbehalten: Es könne keine Rede von einer unnötigen Swissness sein.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/grenzwache-muss-lange-ohne-drohnen-auskommen-ld.1540784)
+++RECHTSPOPULISMUS
Die Vereinnahmung des Silone-Zitats zum Faschismus durch die Neue Rechte
Silones Warnung
Wie der linke Intellektuelle Ignazio Silone zum Kronzeugen der Anti-Antifa gemacht wurde.
https://jungle.world/artikel/2020/05/silones-warnung
Das Leidmedium
Meinungsdiktat, Genderhype – «Greta!» Die einst so nüchterne «Neue
Zürcher Zeitung» treibt unterdessen ihrem Publikum konstant den Puls
hoch. Und macht die Aufregung zu Geld – vor allem in Deutschland.
https://www.republik.ch/2020/02/11/das-leidmedium
+++FUNDIS
USA: Die geheime religiöse Gemeinschaft
Eine geheime Gruppe christlicher Fundamentalisten, die sich „die
Gemeinschaft“ nennt, beeinflusst die amerikanische Politik. Davon ist
der investigative Journalist Jeff Sharlet überzeugt. | mehr
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/usa-religioese-gemeinschaft-100.html
+++HOMOHASS
tagesanzeiger.ch 16.02.2020
Angriffe auf Schwule: Jetzt wollen Clubs ein Zeichen setzen
Unterstützung an der Urne, Hass auf der Strasse: Homosexuelle fühlen sich in Zürich verunsichert. Die Partyszene reagiert.
David Sarasin
Samstagabend, kurz nach 23 Uhr. Vor dem Club Hive ist die Schlange eine
Viertelstunde nach Türöffnung schon mehr als 50 Meter lang. Die Stimmung
pendelt irgendwo zwischen ungeduldig und vorfreudig. Boyahkasha heisst
die Partyreihe, für die sich diese Nachtschwärmer in die Reihe stellen.
Sie gehört seit vielen Jahren zum Fixpunkt des schwulen Zürcher
Nachtlebens und lockt jeweils Hunderte an.
Doch etwas ist anders an diesem Wochenende. Man konnte es tagsüber schon
an den grossen Lettern am Club Hive erkennen, die von den ein- und
ausfahrenden Zügen aus zu lesen sind: «Stop Homophobia». Die Stimmung in
der schwul-lesbischen Szene schwankt zwischen den Extremen.
Denn da war nicht nur das für die LGBTQI-Gemeinde wichtige, überraschend
deutliche Abstimmungsergebnis zugunsten der Ausweitung der
Anti-Rassismus-Strafnorm von Anfang Februar. Wenige Stunden vor
Bekanntgabe des Ergebnisses am Abstimmungssonntag wurden beim Zürcher
Club Heaven drei Menschen durch eine Messerattacke verletzt. Der Vorfall
reihte sich ein in eine Anhäufung von Hate Crimes im vergangenen Jahr
in der Stadt Zürich wie auch in der Schweiz oder im nahen Ausland.
«Ich nehme in meinem Umfeld derzeit eine Verunsicherung war», sagt Marco
Uhlig. Er ist Organisator der Boyahkasha-Partyreihe und Besitzer des
Zürcher Clubs Heaven. Auf der anderen Seite sehe er auch einen
erstarkten Zusammenhalt in der Community. Die fast hundert Meter lange
Schlange, die sich nach Mitternacht vor dem Hive bildete, deutet er als
Ausdruck davon. Ebenso die positiven Reaktionen, die er auf Social Media
erfahre. «Diese Woche war eine Achterbahnfahrt», sagt Uhlig.
Für ihn hiess das auch: viel Arbeit. Mit einigen in der Szene aktiven
Leuten hielt er Sitzungen ab. Dabei definierte das Gremium, wie es auf
die aktuellsten Gewaltvorfälle auf Zürichs Strassen reagieren könnte.
Als Sofortmassnahme hat er an diesem Wochenende in der Strasse vor dem
Heaven zum ersten Mal Leute aus seinem neu geschaffenen Awareness-Team
eingesetzt. Ein Mitarbeiter patrouillierte in der Freitagnacht vom
Eingang des Clubs an der Spitalgasse zum Hirschen- und wieder hoch zum
Zähringerplatz. Sein Job: aggressiv auftretende Männer per Funk dem
Sicherheitspersonal melden. Eine ähnliche Art von Selbstorganisation
prüfen derzeit auch Clubs in Berlin, wo die Zahl der Hate Crimes im
letzten Jahr ebenfalls in die Höhe geschnellt ist. Uhlig steht mit ihnen
in Kontakt.
Uhlig ist zufrieden mit dem ersten Einsatz seines
Awareness-Verantwortlichen. «Die Freitagnacht verlief ohne weitere
Zwischenfälle», sagt er. Die Gäste seien zahlreich aufgekreuzt und
hätten sich sicher gefühlt. Das sei auch der Präsenz der Stadtpolizei zu
verdanken, die nach den Attacken vom letzten Wochenende angekündigt
hatte, ein Augenmerk auf die Szenerie im Niederdorf zu richten.
Grobe Attacken häufen sich
Im Hive ist die Party gegen Mitternacht in vollem Gange. Die Gäste
wippen zu den House-Beats, die aus den Boxen dringen. Unter den
Tanzenden ist auch Bastian Baumann. Der Mittdreissiger ist Journalist
beim queeren Magazin «Mannschaft» und ehemaliger Geschäftsleiter von
Pink Cross, der grössten, privat organisierten Schweizer Bürgerrechts-
und Selbsthilfeorganisation für die Schweizer LGBTQI-Gemeinschaft.
Auch für ihn sei die Woche aussergewöhnlich gewesen, sagt er. Der
aktuellen Diskussion rund um das Thema gewinnt er etwas Positives ab.
«Die ansonsten sehr diverse Gemeinschaft wächst zusammen und kriegt
Aufmerksamkeit», sagt er. Viele aus der Community fühlten sich zudem
ermutigt, negative Erlebnisse, die sie aufgrund ihrer sexuellen
Orientierung erlebten, bei der Hotline von Pink Cross zu melden.
Roman Heggli, Geschäftsleiter von Pink Cross, bestätigt, dass sich die
Anzahl Meldungen seit der Messerattacke in Zürich in der Silvesternacht,
bei der eine Person schwer verletzt wurde, deutlich erhöht habe. Doch
habe das nicht nur mit der gesunkenen Hemmschwelle für die Betroffenen
zu tun. Heggli beobachtet auch eine Häufung von «groben Angriffen» in
jüngster Zeit. Zehn Meldungen zu schwerwiegenden Vorfällen seien alleine
im Januar bei Pink Cross eingegangen. Um kurzfristige Massnahmen gegen
eine in der Szene auftretende Verunsicherung zu definieren, hat Pink
Cross auf Ende Februar eine Tagung einberufen.
Vor dem Club Heaven ist in der Nacht auf Sonntag nichts von besagter
Verunsicherung zu spüren. Die Schlange reicht nachts um halb eins weit
auf die Spitalgasse hinaus. Die Gäste lachen und plaudern. Nur manchmal
rauscht ein «Pssst» durch die Gasse. Es kommt von Ramon Herzog, der
seinen ersten Abend im Awareness-Team des Heaven bestreitet. Mit oranger
Leuchtweste über der Jacke und Funkgerät im Ohr patrouilliert er durch
die Strassen – und sorgt sich dabei auch um die Nachtruhe.
Der 22-jährige Herzog arbeitet seit vielen Jahren im Heaven. «Ich kenne
viele Leute und sehe, ob jemand zur Community gehört oder nicht», sagt
er. Bisher sei der Abend ruhig verlaufen. Auf dem Hirschenplatz habe er
vor einer Stunde zwar eine Gruppe junger Männer beobachtet, die
ausfällig geworden sei. «Verbale Attacken aber kommen jedes Wochenende
vor. Ich muss einschätzen, wie gefährlich das ist.»
Vorsichtig nach Angriffen
Nach 2 Uhr ist die Strasse vor dem Heaven wie leer gefegt. Der Club
dagegen ist voll. Die Luft vibriert, an die 200 Gäste sind gekommen. Es
riecht nach Redbull und Schweiss, die Gäste tanzen zu den Pophits, die
aus den Lautsprechern schallen. «Im Club fühlen sich die Leute sicher»,
sagt der Besitzer Uhlig.
Dass das nicht für die ganze Stadt gelte, sei seinen Gästen bewusst.
Gegenden wie jene rund ums Lochergut, wo sich vergangenen Sommer ein
Angriff auf Aktivisten ereignete, oder am HB liessen viele Schwule
vorsichtig werden. Sie schauten auch in dieser Samstagnacht auf dem
Nachhauseweg zweimal hin, wenn ihnen auf der Strasse jemand entgegenkam.
–
Hate Crimes sollen in der Stadt Zürich erfasst werden
In Zürich sollen LGBTQI-feindliche Aggressionen künftig von der Polizei
erfasst werden. Ein entsprechendes dringliches Postulat überwies der
Gemeinderat Anfang Januar dem Stadtrat. Patrick Hadi Huber und Simone
Brander (beide SP) formulierten in dem Schreiben, dass die Polizei, die
bei einem Verbrechen ohnehin das Motiv erfasst, vermerken soll, ob ein
Angriff aus Hass gegenüber LGBTQI-Menschen verübt wurde. Eine
entsprechende Motion wurde vergangene Woche auch im Nationalrat
eingereicht. Der Präsident der kantonalen Polizeikommandanten lehnte
eine solche Regelung ab. Die Polizei könne Tatmotive wie Rassismus,
Sexismus oder Homophobie kaum verlässlich erfassen. Auch der Zürcher
Regierungsrat zeigte sich bislang nicht bereit, solche Hassverbrechen
statistisch zu erfassen. Ende August 2019 begründete er dies in einer
Antwort auf einen Vorstoss im Kantonsrat damit, dass es sich bei der
sexuellen Orientierung um besonders schützenswerte Personendaten handle.
(dsa)
(https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/zwischen-mut-und-angst/story/16202849)
+++CRYPTO-LEAKS
Bundesämter sollen disziplinierter archivieren
Im Bundesarchiv sind Untersuchungsakten der Bundespolizei zum Fall
Crypto AG unauffindbar. Das machte die «Rundschau» publik. Es ist nicht
das erste Mal, dass in der Schweiz staatspolitisch heikle Akten
verschwinden.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/bundesaemter-sollen-disziplinierter-archivieren?id=aae683ff-dc5c-48bc-a575-1a6fe5629ac1
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/geheimdienstaffaere-cryptoleaks-wenn-dokumente-nicht-auffindbar-sind-ist-etwas-schief-gelaufen
Nach Versäumnissen des Bundes: Parlamentarier wollen Nachrichtendienst besser überwachen
Nationalräte mehrerer Parteien verlangen zusätzliche Ressourcen für die
Aufsicht über den NDB. Die heutigen Mittel seien ungenügend.
https://www.blick.ch/news/politik/nach-versaeumnissen-des-bundes-parlamentarier-wollen-nachrichtendienst-besser-ueberwachen-id15751048.html
—
Weitere Alt-Bundesräte aufgetaucht
Crypto-Affäre: Eine neue Spur führt zu weiteren Bundesräten. Dokumente
aus dem Justizdepartement deuten auf ein Mitwissen von Arnold Koller
hin.
https://www.bernerzeitung.ch/schweiz/standard/in-der-cryptoaffaere-tauchen-weitere-altbundesraete-auf/story/10908363
—
Sonntagszeitung 16.02.2020
Cryptoleaks: Alt-Bundesrat Koller gerät in den Fokus
Zweimal war der ehemalige Justizminister Thema im Bundesrat. Die problematischen Ermittlungen geschahen in seinem Departement.
Denis von Burg, Kurt Pelda
Neue Informationen aus dem Bundesrat werfen Fragen auf, ob auch
Alt-Bundesrat Arnold Koller schon in den 90er-Jahren Bescheid wusste
über die Verstrickung der Zuger Crypto AG in ein gross angelegte
US-amerikanisches Abhörprogramm.
Viola Amherd, Vorsteherin des Verteidigungsdepartements VBS, berichtete
am 17. Dezember dem Bundesrat, in ihrem Departement seien Dokumente
aufgetaucht. Diese «weisen darauf hin, dass der ehemalige EMD-Vorsteher
K. Villiger informiert war». So zitiert der «Tages-Anzeiger» gestern
Amherds Papier. Kaspar Villiger dementiert das. Zum damaligen
Justizminister Arnold Koller, CVP, gebe es hingegen keine Hinweise.
Das allerdings, so zeigen jetzt weitere Recherchen, wollte das
Justizdepartement unter der aktuellen FDP-Vorsteherin Karin
Keller-Sutter so nicht stehen lassen. Sie verlangte gemäss mehreren
Quellen eine Korrektur und hielt dabei fest: Der Hinweis, Arnold Koller
sei nicht erwähnt, gelte nur für die VBS-Quellen. Seither fragt man sich
im Bundeshaus, ob diese Präzisierung gemacht wurde, weil Akten aus
anderen Departementen mit dem Namen Kollers aufgetaucht sind. Amherd
jedenfalls schrieb gemäss Insidern in ihr eigenes Analysepapier die
Bemerkung, dass nicht nur Villiger, sondern auch Koller in der
Öffentlichkeit unter Druck geraten könnte.
Fakt ist: Koller spielte bei den Ereignissen eine zentrale Rolle. Im
Zentrum der politischen Kontroverse steht eine Ermittlung der
Bundespolizei aus dem Jahr 1994. Damals bereits trat der ehemalige
Crypto-AG-Mitarbeiter Hans Bühler vor die Presse und verkündete, dass
die Geräte der Firma manipuliert und für die CIA abhörbar seien. Der
Vorwurf wog schwer. Die Bundespolizei startete eine Untersuchung und
befragte eine ganze Reihe von Mitarbeitern der Crypto AG. Ausserdem
liess sie die Chiffriergeräte der Firma prüfen.
Kollers Ermittlungen waren mangelhaft
Diese Ermittlungen der Bundespolizei wurden damals im Justizdepartement
von Koller geführt. Und sein Abschlussbericht ist aus heutiger Sicht in
zweifacher Hinsicht problematisch. Erstens haben die Ermittler keine
Manipulationen an den Geräten feststellen können. Die Bundespolizei
hatte den Einfluss der CIA entweder tatsächlich nicht entdeckt, oder die
Ermittlungen wurden beeinflusst, wie die CIA im Cryptoleaks-Bericht
schreibt. Jedenfalls hat die Bundespolizei ihre Arbeit nicht gründlich
gemacht. Die CIA-Operation konnte ungestört weitergehen.
Zweitens war 1994 schon klar, dass die Crypto AG von einer Gesellschaft
in Liechtenstein kontrolliert wurde. Und in den Medien hiess es, hinter
dieser Gesellschaft stünden ausländische Geheimdienste wie die CIA oder
der deutsche Bundesnachrichtendienst (BND). Sie würden die Firma auf
diese Weise insgeheim steuern.
Doch Kollers Bundespolizei ist dem Vorwurf nur halbherzig nachgegangen
und hat sich mit der Feststellung begnügt, dass die Crypto AG einer
liechtensteinischen Gesellschaft gehört.
Dabei wäre es möglich gewesen, die wahren Besitzverhältnisse
auszuleuchten. «Die Schweiz hätte beispielsweise ein Strafverfahren
eröffnen können wegen eines gewöhnlichen Delikts wie Betrug», sagt David
Zollinger, Anwalt und Experte für internationale Rechtshilfe. Das hätte
man gut legitimieren können, da der Vorwurf im Raum stand, dass die
Geräte manipuliert waren. «Danach hätte man ein reguläres
Rechtshilfeersuchen an Liechtenstein senden können, um die Hintergründe
der Gesellschaft zu erfahren», sagt Zollinger. Solche Ersuchen habe man
damals regelmässig mit Liechtenstein ausgetauscht. «Solange es nicht um
politische Delikte geht, hatte man gute Chancen, eine Antwort zu
erhalten.»
Das alles hat man im Departement Koller verpasst. Und am Ende hat sogar
der Gesamtbundesrat die Untersuchung durchgewinkt. «Der Bericht wurde
dem Bundesrat vorgelegt», bestätigt Alt-Bundesrat Villiger jetzt. Am
Schluss hat also die gesamte Landesregierung der Crypto AG einen
Persilschein ausgestellt. Diesen Beschluss hat die Firma noch jahrelang
dafür verwendet, um alle Zweifel an ihren Chiffriergeräten aus der Welt
zu schaffen.
Weder VBS noch EJPD wollten die Angelegenheit kommentieren. Arnold
Koller sagt, er könne aus gesundheitlichen Gründen derzeit keine Fragen
beantworten. Den Behörden werde er aber «jede gewünschte Auskunft
erteilen».
(https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/cryptoleaks-altbundesrat-koller-geraet-in-den-fokus/story/28638058)
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Alt Bundesrat Villiger wehrt sich gegen Vorwurf der Mitwisserschaft
Alt FDP-Bundesrat Kaspar Villiger bestreitet weiterhin vehement, von der
Spionageaffäre rund um die Zuger Crypto AG gewusst zu haben. «Ich
bekräftige, dass ich in diese nachrichtendienstliche Operation in keiner
wie auch immer gearteten Form eingeweiht war.»
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/alt-bundesrat-villiger-wehrt-sich-gegen-vorwurf-der-mitwisserschaft-136374667
—
NZZ am Sonntag 16.02.2020
Crypto-Affäre: Brisanter Aktenfund im Bunker
Krisensitzungen, überraschende Aktenfunde, Politgezänk und
Erinnerungslücken: Wie die Affäre um die Crypto AG den Bundesrat
aufgeschreckt hat. Eine Rekonstruktion.
Stefan Bühler, Daniel Friedli und Andreas Schmid
Je heikler das Papier, desto besser das Versteck. Vielleicht ist Viola
Amherd ja dies durch den Kopf gegangen, als am 16. Dezember der Chef des
Nachrichtendienstes Kontakt mir ihr aufnahm. Jean-Philippe Gaudin hatte
einen solchen heiklen Fund gemacht. Nicht im Bundesarchiv, auch nicht
im Bundeshaus, nein, in einem alten Bunker hatten seine Spione mehrere
Dokumente zum Fall der Crypto AG gefunden, der seit dieser Woche das
ganze Land beschäftigt. Und diese Dokumente «weisen daraufhin, dass der
ehemalige EMD-Vorsteher K. Villiger informiert war». Dieser brisante
Satz steht in einem Aussprachepapier, das Amherd tags darauf an die
Bundesräte verteilen liess und das der «NZZ am Sonntag» vorliegt.
Wieso diese Papiere in einer alten Kommandoanlage auftauchten, das liess
Amherd offen. Klar ist aber, dass der Fall mit Gaudins Information noch
zusätzliche Brisanz bekam, wie der «Tages-Anzeiger» schon am Samstag
berichtete. Denn nun war klar, dass nicht nur die CIA alt Bundesrat
Kaspar Villiger (fdp.) als Mitwisser nennt – auch Schweizer Dokumente
deuten darauf hin.
Amherd tritt auf die Bremse
Amherds Aussprachepapier und weitere bundesrätliche Papiere lassen eine
exakte Rekonstruktion zu, die zeigt, welch grosse Bedeutung der
Bundesrat der Affäre beimisst.
Erstmals befasst sich die Landesregierung am 5. November mit dem Fall,
nachdem Gaudin Verteidigungsministerin Amherd zuvor über die Recherchen
der «Rundschau» und anderer Medien zu einer der grössten
Geheimdienstoperationen der Geschichte informiert hat.
Rasch stellt die Regierung eine hochrangige Arbeitsgruppe zusammen, mit
Generalsekretären von vier Departementen, hohen Beamten der
Bundeskanzlei, dem Nachrichtendienst und der Bundesanwaltschaft. Eine
Woche später wird die Geheimdienstaufsicht des Parlaments informiert.
Die Brisanz des Falles ist den Involvierten rasch klar. In drei
Sitzungen versuchen sie zunächst, selber Informationen über den Fall und
eine mögliche Beteiligung der offiziellen Schweiz an den Aktivitäten
der Crypto AG zu erlangen. Doch das erweist sich als schwierig. Damalige
Akteure aus Politik und Verwaltung werden angefragt, können sich aber
kaum an die Ereignisse erinnern. Dennoch warnt Amherd bereits im
Dezember: «Es ist wahrscheinlich, dass die Enthüllungen der Medien die
Rolle der damaligen politischen Behörden bis auf Stufe Bundesrat scharf
kritisieren und sogar dem Ansehen der neutralen Schweiz schaden»,
schreibt sie im Aussprachepapier.
Trotzdem tritt die Verteidigungsministerin zunächst auf die Bremse. Die
Arbeitsgruppe hat ihr drei Optionen für das weitere Vorgehen
vorgeschlagen: selber recherchieren, das Dossier der Aufsicht über den
Nachrichtendienst übertragen oder einen Historiker beziehungsweise eine
Forscherkommission einsetzen. Amherd entscheidet sich für Variante 3.
Doch damit dringt sie nicht durch. Denn im Bundesrat kommt man in der
Folge zum Schluss, die Sache sei politisch zu delikat, um sie einfach
Historikern zu überlassen. Diese Wendung hat auch damit zu tun, dass in
den zwei Tagen vor der Bundesratssitzung weitere Dokumente zutage
gefördert worden sind. In ihrem Aussprachepapier vom 17. Dezember
schreibt Amherd noch, es gebe keinen Hinweis auf ein Mitwissen des
ehemaligen Justizministers Arnold Koller.
Am 19. Dezember korrigiert die Verteidigungsministerin diese Aussage:
Lediglich in Gaudins Papieren aus dem Bunker gebe es keine solchen
Hinweise, erklärt sie nun. Und am 20. Dezember präsentiert Karin
Keller-Sutter im Bundesrat Dokumente, die man in ihrem Justizdepartement
gefunden hat. Dort war Koller federführend, als in den 1990er Jahren
die Bundespolizei den ersten Verdächtigungen gegen die Crypto AG
nachging. Aus dem Dossier geht hervor, dass Koller und seine Entourage
über die Arbeiten im Bilde waren und auch von Villigers Kontakt zu
Nationalrat Georg Stucky wussten, einem Verwaltungsrat der Crypto AG.
Villiger dementiert
Vor diesem Hintergrund entscheidet sich der Bundesrat für eine externe
Untersuchung: Nicht für eine historische, sondern für eine juristische
Aufarbeitung mit mehr Gewicht. Am 15. Januar beauftragt er den
ehemaligen Bundesrichter Niklaus Oberholzer. Er soll bis im Juni einen
umfassenden Bericht zur Crypto AG abliefern, unterstützt von externen
Juristen und den involvierten Stellen des Bundes, namentlich auch der
vom Bundesrat eingesetzten Arbeitsgruppe. Bis dahin hat sich die
Regierung Schweigen auferlegt.
Doch nun übernehmen Parteien und Parlamentarier. Kaum hat die
«Rundschau» ihre Recherchen publik gemacht, erheben SP und SVP den
Vorwurf, in den Fall sei – angefangen bei Kaspar Villiger – vor allem
freisinnige Prominenz verwickelt. Mit den Fragen um die Rolle Kollers
ist nun aber auch ein ehemaliger CVP-Magistrat ins Visier geraten. Und
aus dem Freisinn hört man bereits den Vorwurf, Amherd habe ihren
Parteikollegen mit einem Persilschein reinwaschen wollen.
Kaspar Villiger wiederholte am Samstag, dass er «in diese
nachrichtendienstliche Operation in keiner wie auch immer gearteten Form
eingeweiht war». Sonst hätte er dies dem Bundesrat zur Kenntnis
gebracht. Weiter schreibt Villiger, er habe damals Kenntnis von der
Analyse der Bundespolizei gehabt. Doch habe es keinen Anlass gegeben, an
deren negativem Bericht zu zweifeln. Arnold Koller sagte diese Woche,
er habe wohl von der Existenz der Crypto AG gewusst. «Aber ich kann mich
sonst an nichts erinnern.»
Was wussten Cotti und Delamuraz?
Im Zuger Dokumentationszentrum ist die «NZZ am Sonntag» jetzt zudem auf
Briefe von Anfang 1994 gestossen, in denen der damalige
Wirtschaftsminister Jean-Pascal Delamuraz (fdp.) und Aussenminister
Flavio Cotti (cvp.) auf die Machenschaften der Crypto hingewiesen
wurden. Die Schreiben stammen von einem Geschäftsmann, der in Iran mit
dem Vertrieb der Crypto AG betraut war und 1992 mit dem Schweizer
Mitarbeiter Hans Bühler festgenommen wurde.
Der Mann schreibt direkt an Delamuraz und Cotti, er habe mit dem Label
«Swiss made» versehene Geräte der Firma Crypto verkauft, die der
Spionage gedient hätten. Zudem stünden deutsche Interessen hinter der
angeblich unabhängigen Firma. Ein Chefbeamter von Delamuraz beantwortete
den Brief und erklärte dem Gefangenen, er könne ihm nicht helfen.
–
Crypto AG
Manipulierte Chiffriergeräte
Während Jahrzehnten horchten der amerikanische und der deutsche
Geheimdienst über die Zuger Firma Crypto AG die Welt mittels
manipulierter Chiffriergeräte aus. Das ist im Wesentlichen die
Erkenntnis aus den Crypto-Leaks. Dank Dokumenten des US-Geheimdienstes
CIA konnten der deutsche Sender ZDF, die «Washington Post» und die
Sendung «Rundschau» des Schweizer Fernsehens die Operation nachzeichnen.
Aus den Papieren geht hervor, dass die Crypto AG ab den 1950er Jahren
mit den Amerikanern zusammenarbeitete. 1970 wurden die Geheimdienste CIA
und BND alleinige Inhaber der Firma. Nur wenige Staaten, darunter die
Schweiz, konnten Chiffriergeräte kaufen, die sich nicht knacken liessen.
Die meisten Crypto-Kunden erhielten manipuliertes Material. Die
Geheimdienste konnten somit die diplomatischen, vermeintlich
verschlüsselten Konversationen von über 100 Ländern mitlesen. 1993
stiegen die Deutschen aus, die CIA blieb womöglich bis 2018 Besitzerin
der Crypto AG. Für die neutrale Schweiz sind die Enthüllungen brisant:
Wusste der Schweizer Nachrichtendienst, wussten gar Bundesräte vom
verdeckten Spiel der Crypto AG? Bundesrat und Parlament haben
Untersuchungen eingeleitet, um diese Fragen zu klären. Andrea Kučera
–
Crypto-Affäre und Kampfjetbeschaffung: Linke schiessen gegen US-Hersteller
Finger weg von den F-35: Rot-grüne Politiker warnen aufgrund der
Crypto-Leaks vor dem Kauf des Kampfflugzeugs des US-Herstellers Lockheed
Martin. «Wenn die Amerikaner so dreist sind, über eine Schweizer Firma
weltweit Spionage zu betreiben, werden sie sicher bei ihren eigenen
Flugzeugen Abhör- und Kontrollmechanismen einbauen», sagt Roger
Nordmann.
Der SP-Fraktionschef ist mit seinen Bedenken nicht allein. «Man sollte
gut abwägen, wem man Vertrauen schenken will», sagt die Grüne Marionna
Schlatter, Mitglied der sicherheitspolitischen Kommission des
Nationalrats. «Das zeigt die Crypto-Affäre schonungslos.»
SP-Sicherheitspolitikerin Priska Seiler Graf ergänzt: «Wer ein
US-Flugzeug kauft, kauft den Geheimdienst mit ein. Spätestens jetzt
sollte auch allen anderen klar sein, dass die Befürchtungen der SP keine
Hirngespinste sind.»
Bürgerliche Sicherheitspolitiker halten die Bedenken der Linken für ein
taktisches Manöver. «Rot-Grün nimmt die Crypto-Leaks als Vorwand, um
gegen die Kampfjetbeschaffung Stimmung zu machen», sagt FDP-Ständerat
Thierry Burkart. Dabei stehe der Typenentscheid erst nach der
Volksabstimmung an. «Zudem verwenden auch andere Hersteller
US-Kommunikationstechnologie. Ein Eingriff von aussen ist aber nicht
möglich.»
Selbst im Mitte-rechts-Lager gibt es aber kritische Stimmen: «Ich bin
angesichts der neuen Enthüllungen kein Fan der Idee, amerikanische
Flugzeuge zu kaufen», sagt FDP-Nationalrätin Jacqueline de Quattro. Man
dürfe indes keine voreiligen Schlüsse ziehen: «Zunächst sollten wir die
Crypto-Untersuchungen abwarten.» Ähnlich äussert sich CVP-Politikerin
Ida Glanzmann: «Falls sich alle Verdachtsmomente bestätigen sollten,
kann man immer noch die Auswirkungen auf die Kampfjetbeschaffung
diskutieren.»
SVP-Nationalrat Jean-Luc Addor findet seinerseits, die Crypto-Leaks
seien eine Warnung, dass die Schweiz bei der Flugzeugbeschaffung die
Frage der Souveränität stärker gewichten sollte. «Alle Anbieter müssen
glaubhafte Garantien bieten, dass die Schweiz die totale Kontrolle hat
über die Schlüsseltechnologien des neuen Fliegers.»
Voraussichtlich im Herbst wird das Schweizervolk über den Kredit für den
Kauf neuer Kampfjets abstimmen, nicht aber über den Flugzeugtyp. Diesen
Entscheid will der Bundesrat nach der Abstimmung fällen. Vier Anbieter
sind im Rennen: Es sind dies neben Lockheed Martin ein zweites
US-Unternehmen, Boeing, sowie zwei europäische Anbieter. Lockheed Martin
liess auf Anfrage ausrichten, man kommentiere die Sache nicht. Andrea
Kučera
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/crypto-affaere-weitere-bundesraete-betroffen-ld.1540788)
—
Die Crypto-Affaire trifft die Partei ins Mark: Die FDP und ihr Swissair-Moment
Die Crypto-Affäre trifft den Freisinn ins Mark. Das hat viel mit der
Geschichte der Schweiz zu tun. Die Partei hat in den Abwehrmodus
geschaltet.
https://www.blick.ch/news/die-crypto-affaire-trifft-die-partei-ins-mark-die-fdp-und-ihr-swissair-moment-id15751037.html
FDP-Noser über die Cryptoleaks: «Der Feind kam aus dem Osten»
Die Amerikaner haben ein Problem mit der Glaubwürdigkeit, nicht die Schweiz, sagt Ständerat und IT-Unternehmer Ruedi Noser.
https://www.blick.ch/news/fdp-noser-ueber-die-cryptoleaks-der-feind-kam-aus-dem-osten-id15751075.html
Parlament untersucht Crypto-Affäre: Jetzt werden alt Bundesräte vorgeladen
Plötzlich kann es Bundesrat und Parlament nicht schnell genug gehen: Die
Aufsicht über den Nachrichtendienst führt eine Inspektion der
Crypto-Spionageaffäre durch. Auch die Landesregierung lässt sie
untersuchen. Doch wie ernsthaft ist das?
https://www.blick.ch/news/politik/parlament-untersucht-crypto-affaere-jetzt-werden-alt-bundesraete-vorgeladen-id15748186.html
—
Sonntagszeitung 16.02.2020
Chefinspektor Heer gerät in Bedrängnis
Die Untersuchung der Geheimdienstaffäre leiten und gleichzeitig SVP-Präsident werden: Geht das?
Adrian Schmid
SVP-Nationalrat Alfred Heer hat ein Problem: Als Präsident der
Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) leitet er die Inspektion der
Cryptoleaks-Affäre. Gleichzeitig ist er Kandidat fürs SVP-Präsidium.
«Beides geht nicht», sagt Grünen-Chefin Regula Rytz. «Wenn Heer
entscheidet, die Untersuchung zu leiten, kann er nicht Parteipräsident
werden.» In der GPDel müsse man sich von den Parteininteressen lösen,
als Parteichef funktioniere das nicht.
Zweifel hat auch SP-Nationalrat Fabian Molina, da die Untersuchung
zeitintensiv sei und Geheimhaltung erfordere. «Ich traue das Heer zu. Es
ist aber besser, wenn er nicht noch SVP-Präsident wird.» Spielraum für
politische Manöver gebe es auch in der GPDel.
Zudem wird Heer angegriffen, weil er und die GPDel erst jetzt tätig
werden, obwohl sie bereits im November vom Fall wussten. Molina stört
es, dass Heer und die GPDel erst auf medialen Druck hin die Untersuchung
eröffneten. Rytz fragt sich, ob die GPDel als Aufsicht des
Geheimdienstes kritisch genug sei für die Aufgabe. Beide sind der
Meinung, dass es besser wäre, eine parlamentarische
Untersuchungskommission (PUK) einzusetzen.
Heer will alles der Untersuchung unterordnen
Heer selbst sagt, im November sei er noch nicht Präsident der GPDel
gewesen. Diese habe sich nach den Wahlen zuerst konstituieren müssen.
«Bevor wir eine Inspektion beschliessen konnten, mussten wir zudem
wissen, was der Bundesrat unternehmen will.»
Im Weiteren betont Heer, in einem Milizsystem sei es üblich, dass
Parteichefs Kommissionspräsidien übernähmen. Im Moment sei er nicht
SVP-Präsident und deshalb sei die Kritik hypothetischer Natur. «Als
GPDel-Präsident ist mir klar, dass die Inspektion eine absolut ernst zu
nehmende Verpflichtung gegenüber der Bundesversammlung und der
Öffentlichkeit ist.» Er werde deshalb geschäftliche, private und
politische Tätigkeiten zugunsten der Inspektion unterordnen. Ob er immer
noch SVP-Chef werden will, lässt Heer trotzdem offen.
(https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/chefinspektor-heer-geraet-in-bedraengnis/story/10791618)
—
Geheimdienst-Experte erklärt, was an den Crypto-Leaks wirklich dran ist: US-Nachrichtendienst gab gezielt Dokumente frei
Der US-Nachrichtendienst NSA gab mit den Crypto-Dokumenten erstaunliche
Details über die Kunden der Chiffriermaschinen frei, wie
Geheimdienstkenner Wolfgang Krieger sagt. Allerdings fehlten
Originaldokumente und finale Beweise der Abhöraktionen.
https://www.blick.ch/news/wirtschaft/geheimdienst-experte-erklaert-was-an-den-crypto-leaks-wirklich-dran-ist-us-nachrichtendienst-gab-gezielt-dokumente-frei-id15748204.html
—
Sonntagszeitung 16.02.2020
«Alles wurde abgehört»
Die von der Crypto AG betrogenen Regierungen ziehen es heute mehrheitlich vor, zur Abhöraktion zu schweigen.
Kurt Pelda
«Die Hauptkunden von uns – es sei noch einmal in aller Deutlichkeit
gesagt, wir haben sie alle betrogen und ihnen dabei auch noch reichlich
Geld abgenommen . . .» So steht es wörtlich in den Papieren der
Cryptoleaks. Und weiter: «Ganz oben auf unserer
Prioritäten-Verkaufsliste waren (. . .) jene Staaten, die in späteren
Jahren als Schurkenstaaten (. . .) bezeichnet wurden.» Mit den
Hauptkunden der Zuger Crypto AG waren die mehrheitlich muslimischen
Länder Ägypten, Libyen, Iran, Irak, Saudiarabien, Algerien und Syrien
gemeint.
Obwohl zahlreiche Länder im Nahen Osten und in Nordafrika von der Crypto
AG und ihren Hintermännern in den Geheimdiensten CIA und BND über den
Tisch gezogen wurden, kommt aus den arabischen Staaten und dem Iran nur
dröhnendes Schweigen als Reaktion auf das sogenannte Minerva-Programm
der USA und Deutschlands.
Vor den Internationalen Gerichtshof?
Niemand kann stolz sein, von einer kleinen Schweizer Firma übertölpelt
worden zu sein, darum zieht man es im Nahen Osten vor zu schweigen.
Weder die gewöhnlich äusserst redselige amtliche Nachrichtenagentur des
Iran noch jene von Syrien äusserten sich zu den von ihren Ländern
verwendeten Crypto-Geräten. Eine hörbare Reaktion kam aus der
muslimischen Welt einzig aus Pakistan, und zwar von der Senatorin Sehar
Kamran, die zur oppositionellen Pakistan Peoples Party gehört. Sie
forderte die geschädigten Länder – Pakistan inklusive – auf, den
Internationalen Gerichtshof anzurufen. Das UNO-Gericht in Den Haag
beschäftigt sich mit zwischenstaatlichen Streitfällen.
Gelassen reagierte dagegen Irland, dessen Crypto-Chiffriermaschinen
ebenfalls systematisch ausgelesen wurden. Die Iren benutzten die
Schweizer «Qualitätsprodukte» in den frühen Achtzigerjahren für die
Kommunikation zwischen Dublin und den Botschaften im Ausland. Weil die
Amerikaner schon im Falklandkrieg von 1982 Grossbritannien via das
Minerva-Programm mit Informationen versorgt hatten, gehen die Iren davon
aus, dass die Briten auch bei ihnen ständig mitlasen. Heikel war das
vor allem in den Verhandlungen, die 1985 zum anglo-irischen Abkommen
führten. Dieser Vertrag ebnete den Weg zum 13 Jahre später
unterzeichneten Abkommen von Belfast, mit dem der Bürgerkrieg in
Nordirland beendet wurde. Michael Lillis, ein ehemaliger Diplomat, der
1985 für Irland am Verhandlungstisch sass, sagte der «Irish Times»
kürzlich, dass alles von den Briten abgehört worden sei – «jedes
einzelne Wort», das Regierungsmitglieder gesagt hätten. Für wirklich
geheime Nachrichten aus Nordirland habe man damals Kuriere benutzt.
Befreundete Briten hätten Dublin auch gewarnt, sich zu sehr auf
Verschlüsselungsgeräte zu verlassen, erinnert sich ein anderer irischer
Ex-Diplomat. Manchmal verabschiedeten sich irische Regierungsmitglieder
in ihrem Sitzungszimmer am späten Abend mit einem Gute-Nacht-Gruss an
das britische Government Communications Headquarters (GCHQ), weil sie
davon ausgingen, dass der Raum ohnehin verwanzt war.
Österreich hat es entdeckt
Laut den Cryptoleaks-Dokumenten schreckte die CIA auch nicht davor
zurück, andere Nato-Staaten abzuhören, darunter Italien, das ebenfalls
Crypto-Geräte verwendet hatte. In Belgien gelangte der
Militärgeheimdienst vor kurzem mit einer kryptischen Meldung an die
Öffentlichkeit, wonach man über das Minerva-Programm informiert sei und
nun den «mo?glichen Umfang der gemeldeten Abho?rpraktiken» untersuche.
Unklar blieb, ob Belgien auch Zuger Chiffriermaschinen verwendet hatte.
Im neutralen Österreich standen in den 70er-Jahren Crypto-Produkte im
Bundesheer und in der Telekommunikation zwischen dem Aussenministerium
und den Botschaften im Einsatz. Die Österreicher verwendeten zum Teil
denselben Typ wie Jugoslawien, doch entdeckten beide Staaten die
«Hintertür» in den Zuger Geräten. «Wir ko?nnen ausschliessen, dass in
den 1980er-Jahren und danach Verschlu?sselungsgera?te der Firma Crypto
eingesetzt wurden», zitierte die Wiener Tageszeitung «Die Presse» einen
Sprecher des Aussenministeriums. Die liberale Neos-Partei hat deshalb
Aufklärung durch die Regierung verlangt.
(https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/alles-wurde-abgehoert/story/31665997)
—
NZZ am Sonntag 16.02.2020
«Es war wie in einem Agentenfilm», erzählt der Kryptologe zur Crypto-Affäre
ETH-Professor Ueli Maurer erklärt, wie der US-Geheimdienst versuchte,
ihn anzuwerben, warum man überall abgehört werden kann und wieso es
absurd sei, dass die ETH im Crypto-Bericht auftauche.
Daniel Meier und Peter Hossli
NZZ am Sonntag: Herr Maurer, seit wann wissen Sie, dass hinter der
Crypto AG aus Zug die amerikanische CIA und der deutsche
Bundesnachrichtendienst BND stecken?
Ueli Maurer: Dass die Firma den Geheimdiensten gehört, habe ich nicht
gewusst. In den siebziger und achtziger Jahren gab es immer wieder
Gerüchte über eine Zusammenarbeit zwischen der Crypto und den
Amerikanern. Die Gerüchte waren glaubwürdig, kaum jemand zweifelte
damals daran, dass es so war – auch ich nicht. Mir ist aber von Leuten,
die bei der Crypto arbeiteten, versichert worden, dass das in den
neunziger Jahren nicht mehr der Fall war.
Und was denken Sie heute darüber?
Dass es so lange ging – offenbar bis 2018 – hat mich überrascht. Und das
Schicksal der Leute macht mich betroffen. Jene Mitarbeiter der Crypto,
die nicht eingeweiht waren, wurden belogen, ihr Leben wurde einfach
weggeworfen. Hans Bühler, der 1992 in Iran verhaftet worden war, kam
nach seiner Freilassung zu mir und bat mich um Hilfe. Er wollte
herausfinden, ob mit den Crypto-Geräten etwas nicht in Ordnung sei. Ich
musste ihm leider sagen, dass ich nicht helfen könne.
1995 berichteten US-Medien über Verbindungen der Crypto zum
amerikanischen Nachrichtendienst NSA und darüber, dass der
Crypto-Vizedirektor und ETH-Ingenieur Peter Frutiger sich in den
siebziger Jahren mit NSA-Spezialisten getroffen hatte. Wie hat die ETH
reagiert?
An der ETH war das kein Thema. Die ETH war nie involviert, sie ist es auch heute nicht.
Laut dem Minerva-Bericht, der jetzt zu reden gibt, soll ein Vertreter
des Schweizer Nachrichtendienstes der CIA gesagt haben, es sei
sichergestellt, dass allfällige Untersuchungen der Crypto-Geräte immer
bestätigen würden, dass es keine Manipulation gebe – selbst wenn das von
der ETH gemacht werde. Dort habe man «vier von fünf Kryptologen im
Griff».
Das ist absurd. Wer das aufgeschrieben hat, hat geblufft oder
phantasiert. Es gab in jener Zeit an der ETH zwei Kryptologen, James
Massey und mich. Massey war mein Doktorvater, ein Amerikaner und meines
Erachtens integer. Diese Bemerkung im Bericht zeigt mir, dass man
vorsichtig sein muss.
Zweifeln Sie das Dokument an?
Nein, aber ich kann es nicht wirklich beurteilen. Auch wenn der Bericht
authentisch ist, kann man einzelne Aussagen hinterfragen. Die Sache mit
der ETH zeigt, dass nicht alles korrekt ist. Es gibt in Geheimdiensten
Leute, die ihren Chefs imponieren wollen.
Sie wären einer dieser ETH-Experten gewesen.
Genau. Und mich würde interessieren, ob ich aus Sicht der
Nachrichtendienste einer der vier gewesen wäre, die man angeblich unter
Kontrolle hatte – oder aber der fünfte. Tatsache ist: Ich bin im Fall
Crypto nie kontaktiert worden. Es ist auch eine seltsame Vorstellung,
dass man die Geräte zur ETH gebracht hätte, um zu bestätigen, dass sie
nicht gezinkt seien – denn natürlich hätte man uns dafür ein Gerät ohne
Schwachstellen zur Verfügung gestellt. Damit wäre nichts bewiesen.
Wie oft haben Sie mit solchen Themen zu tun?
Fast nie! Wir sind Wissenschafter. Kryptologie ist enorm spannend, sie
fasziniert mich seit über 35 Jahren. In dieser Zeit sind in unserem
Gebiet mehrere revolutionäre Erfindungen gelungen – Dinge, die man zuvor
für absolut unmöglich hielt. Deshalb zieht die Kryptologie einige der
besten Forscher an. Wir entwickeln kryptografische Verfahren, zum
Beispiel die Grundlagen für sicheres digitales Geld und unter anderem
auch Verschlüsselungsverfahren. Nichts daran ist anrüchig. Im Alltag
haben wir eigentlich kaum je mit Geheimdiensten zu tun.
Sie bilden aber Leute aus, die später bei Firmen wie Crypto arbeiten.
Ich sehe da keinen Gewissenskonflikt. Genauso gut könnte man einem
Institut, das Programmierer ausbildet, vorwerfen, es sei dafür
verantwortlich, dass es Leute gibt, die Viren programmieren können. Wir
bauen keine Chiffriergeräte. Unsere Leute sind kompetent in der
Kryptologie. Richtig ist, dass Verschlüsselung im
militärisch-diplomatischen Bereich schon lange eine Rolle spielt. Erst
ab den siebziger Jahren kam der kommerziell-zivile Bereich hinzu, zuerst
im Bankensektor. Daraus wurde ein riesiges Geschäft, und das Thema wird
wichtiger. An der ETH haben wir bereits drei Professuren.
Leute wie Sie sind doch gefragt bei den Geheimdiensten. Ihr Wissen ist wertvoll.
Nein, wir haben keine Geheimnisse. Was wir wissen, publizieren wir. Aber
es trifft zu, dass die Geheimdienste in den neunziger Jahren begannen,
eigene Leute an Fachkongresse zu schicken. Man wusste das, auch wenn sie
inkognito auftraten. In Dokumenten, die vor einigen Jahren von der NSA
freigegeben wurden, sieht man, dass ich 1992 an der «Eurocrypt» in
Ungarn aufgetreten bin.
Sie haben offenbar Eindruck gemacht. In dem Papier heisst es, Ihr Vortrag sei «umwerfend brillant» gewesen.
Genau! Als ich das las, musste ich lachen.
Wurden Sie von der NSA auch kontaktiert?
Ja, in jener Zeit wurden einige Wissenschafter in unserem Bereich kontaktiert.
Wie muss man sich das vorstellen?
Wie in einem Agentenfilm. Man lernt jemanden kennen, es wirkt wie ein
normaler Kontakt im privaten Kontext. In meinem Fall war es ein Mann.
Ich dachte keine Sekunde daran, dass eine bestimmte Absicht
dahinterstehen könnte. Die Begegnung war interessant, es entwickelte
sich ein regelmässiger Kontakt daraus. Irgendwann sagte die Person dann,
sie wolle mich einem Bekannten vorstellen, der gerne mit mir reden
möchte. Da wurde klar, auf was es hinausläuft.
Wie ist das, wenn man feststellen muss, dass von Anfang an diese Absicht bestand?
Das ist menschlich speziell. Es hat mich beschäftigt, und ich habe nur mit sehr wenigen Menschen darüber gesprochen.
Sind Sie darauf eingestiegen?
Nein. Ich hätte nur verlieren können.
Kennen Sie weitere Fälle?
In den neunziger Jahren sind zwei oder drei von meinen Doktoranden auf
ähnliche Weise durch Leute von Geheimdiensten kontaktiert worden.
Doktoranden verfügen nur über Kenntnisse, die man auch anderswo
beschaffen könnte. Daher vermute ich, es ging darum, ein Netzwerk
aufzubauen mit Leuten, die später einmal in einer sensitive Position
tätig und deshalb hilfreich sein könnten.
Kommt das heute noch vor?
Das weiss ich nicht. Aber ich werde nun mit den Doktoranden darüber sprechen, dass diese Möglichkeit besteht.
Sie haben für eine Konkurrentin der Crypto AG gearbeitet, die Omnisec, ehemals Gretag.
Ich hatte von 1988 bis 2017 bei Omnisec ein Beratungsmandat. Das
erfolgte mit Wissen der ETH. Dabei ging es nicht darum,
Chiffrieralgorithmen zu entwickeln. Ich habe wissenschaftliche Studien
gemacht und auch neue Verfahren patentiert. Es gibt keinerlei Hinweise,
dass die Firma von einem Geheimdienst unterwandert war.
Die Crypto hat in ihre Verschlüsselungsgeräte eine Hintertüre eingebaut,
damit die amerikanischen und deutschen Geheimdienste mithören konnten.
Damit hat die Firma das Vertrauen ihrer Kunden massiv missbraucht – und
erst noch viel Geld dafür kassiert.
Das war wirklich dreist. Wenn ich ein Chiffriergerät benutze, muss ich
dem Hersteller vertrauen – anders geht es gar nicht. Deshalb war der
Schweizer Standort von Crypto für die Kunden so wichtig. Mich hat aber
immer erstaunt, dass Crypto trotz den Gerüchten um den amerikanischen
Einfluss weiterhin Geräte in viele Länder verkaufen konnte. Über die
Gründe kann man nur spekulieren. Sicher spielt in solchen Beschaffungen
Korruption eine Rolle. Sofern jemand bestochen wird, will er diese
Geräte kaufen – auch wenn es Hinweise gibt, dass daran etwas faul ist.
Um die Kommunikation dank der Hintertür in den Crypto-Geräten
entschlüsseln zu können, mussten die Amerikaner und die Deutschen zuerst
die Daten abfangen. Wie funktioniert das?
Die globale Kommunikation über Satelliten oder Glasfasern ist unsicher.
Die Amerikaner und andere Geheimdienste wenden enorme Ressourcen auf, um
das routinemässig abzuhören. Alles was unverschlüsselt ist, können sie
lesen oder hören. Es wird sicher viel mehr abgehört, als wir denken.
Hat es den Trick mit der Hintertür vor dem Fall Crypto schon gegeben?
Da ist mir nichts bekannt. Im Zweiten Weltkrieg wurde Enigma, die
Chiffriermaschine der Deutschen, geknackt, aber nicht, weil sie eine
Hintertüre hatte, sondern weil die Komplexität in diesen mechanischen
Geräten noch so beschränkt war, dass es noch möglich war, den Code zu
knacken.
Ist das heute nicht mehr möglich? Gibt es eine sichere Verschlüsselung?
Natürlich gibt es das. Aber ich meine damit nur den Algorithmus. Man
kann sich die Verschlüsselung wie einen Safe vorstellen, zu dem nur Sie
und ich einen Schlüssel haben. Wenn wir sicher kommunizieren wollen,
lege ich eine Nachricht in diesen Safe, und Sie können sie mit ihrem
Schlüssel dort abholen. Der Hersteller des Safes hat keinen
Schlüssel. Man kann einen Algorithmus herstellen, den kein Geheimdienst
knacken kann. Entscheidend ist – nebst der kryptografischen Komplexität
des Algorithmus – die Zahl der Möglichkeiten, die ausprobiert werden
müssen, um die Lösung zu finden. Selbst wenn wir die gesamte Energie der
Sonne und alle Computer der Welt dafür verwenden würden, würde es nicht
reichen, diesen Schlüssel zu finden.
Das klingt nach absoluter Sicherheit.
Ja, aber nur beim Algorithmus. Rundherum bestehen Schwachstellen, die
man infiltrieren kann, um die Verschlüsselung auszuspähen. Im
Betriebssystem, in der Hardware, der Software oder im Algorithmus selber
kann man Hintertüren einbauen.
In welchen Geräten geschieht das heute?
Grundsätzlich überall. Wir stehen am Anfang des Informationszeitalters,
niemand hat eine Ahnung, wohin das führt. Die Auswirkungen für die
Gesellschaft werden dramatisch. Offensichtlich sind enorme finanzielle
und nationale Interessen involviert.
Also kann man überall ausspioniert werden?
Das sage ich seit Jahrzehnten: Geheimdienste machen, was sie können –
und dazu gehört, dass sie versuchen, bei Infrastrukturfirmen
einzugreifen. Zu glauben, man könne Technologie einkaufen, ohne dass
Einfluss genommen werde, wäre naiv.
Sollte die Schweiz ihr Mobilfunknetz nicht mithilfe der chinesischen Firma Huawei bauen?
Man kann davon ausgehen, dass da Einfluss genommen wird. Aber ich will
nicht gegen die Chinesen sprechen, andere machen das auch. Spätestens
jetzt wissen wir, dass die Herkunft keine Rolle spielt – die
Crypto-Geräte kamen ja aus der Schweiz.
Stellt man am besten möglichst viel selber her?
Ja, sofern man das Wissen und das Geld dafür hat. Das ist sehr teuer.
Ausserdem kann man nicht alles selber machen, man ist immer auf
Komponenten angewiesen.
Auch die Enthüllungen von Edward Snowden haben gezeigt, dass fast überall ein Hintertürchen eingebaut sein könnte.
Natürlich, Snowden hat uns vor Augen geführt, was die NSA alles macht –
das ist dramatisch. In Zukunft wird das noch wichtiger sein. Da geht es
nicht nur darum, eine Verschlüsselung zu knacken und dann abzuhören,
sondern auch darum, etwas ausser Gefecht zu setzen. Man könnte zum
Beispiel an Kampfflugzeuge denken, die vom Herstellerland im Ernstfall
lahmgelegt werden.
Können wir uns überhaupt schützen?
Das ist hochkomplex. Wir müssten die ganze Infrastruktur einer
kompletten Überarbeitung unterziehen, alles müsste sicherer gemacht
werden. Wenn wir in 50 Jahren auf die heutige Zeit zurückblicken, werden
wir sagen: Das ist ja unglaublich, wie naiv wir damals waren. Ich denke
an alle Arten von Infrastruktur, zum Beispiel im Finanzsektor. Wir
dürfen uns nicht vorstellen, was geschehen würde, wenn solche Ziele
massiv angegriffen würden.
Das heisst, wir sind in höchstem Masse angreifbar – und der Grund,
weshalb doch recht wenig passiert, ist nur, dass es nicht mehr Böses auf
der Welt gibt?
Ja – noch nicht.
–
Zur Person
Ueli Maurer
Seit über 35 Jahren beschäftigt sich Ueli Maurer mit Kryptologie.
Geboren in Leimbach (AG), studierte er Elektrotechnik an der ETH Zürich.
Beim amerikanischen Kryptologen James Massey doktorierte er 1990.
Anschliessend verbrachte er einige Zeit an der Princeton-Universität in
den USA, bevor er an die ETH zurückkehrte, wo er heute als Professor für
Kryptologie tätig ist. Der 59-jährige Maurer forscht unter anderem zum
Thema Informationssicherheit. Er ist Mitbegründer der Stiftung
Concordium, die sich mit der Blockchain-Technologie befasst. In seiner
Freizeit spielt er Cello und sammelt Weine. Maurer hat drei erwachsene
Kinder und lebt in Wil (SG).
(https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/crypto-affaere-es-war-wie-in-einem-agentenfilm-ld.1540797)
—
tagesanzeiger.ch 16.02.2020
Cryptoleaks: Der Kronzeuge tritt aus dem Schatten
Laut dem Zürcher Ingenieur Peter Frutiger ist die Schweiz schon seit
mehr als vierzig Jahren über die Machenschaften seines früheren
Arbeitgebers informiert.
Res Strehle
Lange war er aus Sicherheitsgründen in Deckung geblieben. In der Sendung
«Rundschau» des Schweizer Fernsehens von 1994 wurden seine Zitate im
Gegenlicht verlesen, im Buch «Verschlüsselt» wird er als ehemaliger
Mitarbeiter erwähnt. Aber jetzt hat sich Peter Frutiger entschieden, als
Kronzeuge namentlich mit seinem Wissen gegen die Zuger
Chiffriergerätefirma aufzutreten.
Am Samstag meldete er sich per E-Mail bei dieser Zeitung: «Ich habe
diese Firma aus Protest verlassen, die Wahrheit wollte man damals nicht
preisgeben», schreibt Frutiger. Und: «Dass unser Staat darüber nichts
wusste, ist völlig falsch!» Kurz zuvor hatte der inzwischen 83-jährige
Ingenieur zwei Reporter der «NZZ am Sonntag» bei sich zu Hause zu einem
zweistündigen Gespräch empfangen.
Frutiger war Mitte der Neunzigerjahre schon der wichtigste
Belastungszeuge im Fall Bühler. Verkaufsingenieur Hans Bühler war
während einer Geschäftsreise im Iran verhaftet worden, blieb in einem
Teheraner Militärgefängnis neun Monate lang inhaftiert und wurde nach
seiner Rückkehr in die Schweiz von der Crypto entlassen. Auf seiner
unermüdlichen Suche nach Wahrheit half ihm der frühere
Crypto-Entwicklungschef Frutiger.
Er fand einen «roten Faden»
Peter Frutiger war der Erste, der Bühlers Vermutung von kompetenter
Seite bestätigte: Die Crypto hat ihre Chiffrierung seit der Gründung den
US-Geheimdiensten NSA und CIA zugänglich gemacht und dazu die Geräte
auch manipuliert. Als junger ETH-Mathematiker war Frutiger in die Firma
eingestiegen und wurde in den Siebzigerjahren von Gründer Boris Hagelin
damit beauftragt, für die Firma die erste Generation digitaler
Chiffriergeräte zu entwickeln.
Als Frutiger dazu die Algorithmen der mechanischen Geräte genauer
studierte, kam er dem Geheimnis auf die Spur: Die mathematische Prozess
zur Verschlüsselung hatte zwingend einem bestimmten Schema zu folgen,
der Mathematiker empfand es als «roten Faden». Diesen festgelegten Pfad
durfte er nicht umgehen, er ermöglichte es den westlichen
Geheimdiensten, die geheimen Meldungen über eine Hintertür zu
entschlüsseln. Auch die nun zu entwickelnde digitale Verschlüsselung
sollte knackbar bleiben, das war die Vorgabe, die er von den Kryptologen
aus den USA und Deutschland erhielt.
Frutiger wurde vom schwedischen Firmengründer ins Geheimnis der
mysteriösen Eigentümer eingeweiht, reiste rund zehnmal in die USA und
fünfzigmal nach Deutschland, traf Vertreter von CIA und des deutschen
Bundesnachrichtendiensts.
Der Entwicklungsingenieur schildert nun bei seinem Treffen mit den
Reportern der «NZZ am Sonntag» seine damalige Rolle deutlich
ausführlicher und präziser, als er dies noch in den Neunzigerjahren
getan hatte. Damals fühlten Frutiger und seine Frau sich stark bedroht,
es soll mehrere Anschläge gegen ihn gegeben haben. Diese Bedrohung soll
bis ins Jahr 2017 angehalten haben, damals drangen in der Nacht
Einbrecher in das Haus des Ehepaars ein.
Für Frutigers Frau war das ein traumatisches Erlebnis. Sie habe später
einen Nervenzusammenbruch erlitten und sei wenige Wochen darauf Anfang
dieses Jahres gestorben. Beim Einbruch schien es Frutiger, als würden
die Täter nicht nach Wertsachen suchen, sondern nach Dokumenten.
Frutiger deutet dies so, dass die CIA vor dem Verkauf der Crypto dafür
sorgen wollte, dass keine belastenden Unterlagen mehr da waren.
Im Auto mit dem Schah
Dass Frutiger anfänglich mit den westlichen Geheimdiensten kooperierte,
erklärt er mit seiner einstigen Überzeugung, dass es in der damaligen
Weltsicht um den Kampf von Gut gegen Böse ging. Firmengründer Boris
Hagelin hatte seine Geräte den USA im Kampf gegen Nazideutschland zur
Verfügung gestellt, im Kalten Krieg stand die westliche Aufklärung in
der weltweiten Auseinandersetzung mit dem totalitären Kommunismus der
Sowjetblocks.
Frutiger gibt an, er habe erst Skrupel bekommen, als er Mitte der
Siebzigerjahre den Schah von Persien verschiedene Male nach St. Moritz
gefahren habe. Dabei soll sich eine freundschaftliche Beziehung
entwickelt haben. Frutiger merkte beschämt, dass der Schah der Schweizer
Technologie gutgläubig vertraute.
Der Entwicklungsingenieur verliess 1977 die Zuger Firma aus Protest.
Sein Abgang verstärkte in der Firma über Jahrzehnte die Gerüchte, dass
die Algorithmen von US-Geheimdiensten und dem deutschen
Nachrichtendienst kontrolliert würden und die Firma nach Hagelins
Verkauf 1970 in deren Besitz übergegangen war. Die Firma diffamierte
Peter Frutiger in der Folge ähnlich wie danach Hans Bühler in den
Neunzigerjahren: Frutiger hätte den Übergang zur digitalen Generation
der Geräte nicht geschafft, hätte in der Firma schliesslich keine
Aufgabe mehr gehabt und sei deshalb entlassen worden.
Laut der «Washington Post» rekrutierte die CIA nach Frutigers Abgang den
berühmten schwedischen Kryptologen Kjell-Ove Widman für Crypto. Auch
Widman war ein Bewunderer der USA und ihrer Vision einer freien Welt. Er
soll nach einer Sitzung von zwei CIA-Agenten zur Seite genommen und
dabei über den Hintergrund der Firma aufgeklärt worden sein. Widman
wollte zu dieser Darstellung der «Washington Post» nicht Stellung
nehmen, von einem Protest wie jenem Frutigers ist von ihm nichts
bekannt.
Weitere Namen
Und was wusste die Schweiz über die Crypto AG? Frutiger sagte schon in
den Neunzigerjahren, dass er nach seinem Ausscheiden den mit ihm
befreundeten Chef der Flieger- und Flabtruppen Kurt Bolliger und auch
die Bundesanwaltschaft ausführlich über den nachrichtendienstlichen
Hintergrund der Firma informiert habe.
Im Gespräch mit der «NZZ am Sonntag» nennt er nun weitere Namen: Kurt
Bolliger und er hätten die Fakten danach auch gegenüber Rolf Lécher, dem
Chef der Flieger- und Flabnachrichtenabwehr, und Bundesanwalt Hans
Walder offengelegt. Lécher soll ihm aber beschieden haben, man könne
diese Informationen nicht «verarbeiten». Walder soll die Untätigkeit der
Bundesanwaltschaft damit begründet haben, dass man von der Crypto keine
Geräte erhalten habe.
Wer immer die Cryptoleaks im Jahr 2020 untersuchen wird: Die Geräte der
Firma aus den verschiedenen Jahrzehnten sollten jetzt zu erhalten sein.
Womöglich kann die Schweiz den Fall also heute «verarbeiten».
(https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/cryptoleaks-der-kronzeuge-tritt-aus-dem-schatten/story/20571924)
—
NZZ am Sonntag 16.02.2020
Der Informant, der aus der Deckung kommt
Als Entwicklungsleiter der Crypto AG zinkte Peter Frutiger
Chiffriergeräte. Die CIA wollte ihn rekrutieren. Nach Gewissensbissen
trat er aus der Firma aus und klärte die Schweizer Behörden auf. Jetzt
redet er.
Peter Hossli und Daniel Meier
Sein Büro sei abhörsicher, betont Peter Frutiger. «Um ein Handy zu
überwachen, muss einer schon vor dem Fenster zuhören.» Frutiger – grauer
Haarkranz, graublaue Augen – sitzt in einem kahlen Raum, mitten im
malerischen Dorfkern von Wangen bei Dübendorf, unweit des
Militärflugplatzes. Ein Tisch, drei Stühle, auf dem Boden Spannteppich.
Das Aufnahmegerät läuft. Frutiger erzählt, was er bei der Crypto AG
erlebt hat. Seine Aussagen sind bemerkenswert. Einiges lässt sich
überprüfen, anderes nicht.
Er war bis 1977 Entwicklungschef und Vizedirektor. Die Zuger Firma
verkaufte jahrelang gezinkte Chiffriergeräte. Die Apparate waren mit
Hintertüren versehen, damit der amerikanische Geheimdienst CIA und sein
deutsches Pendant BND mithören konnten.
Frutiger wusste Bescheid. Seit rund 25 Jahren spricht er aus der Deckung
heraus darüber. Jetzt erzählt er erstmals mit Namen und Bild. «Ich rede
wegen meiner Gemahlin», erklärt er. «Sie ist vor wenigen Wochen
verstorben, zerbrochen an der Angst vor der CIA.» Jetzt, nach dem Tod
der Frau – «wir waren 55 Jahre verheiratet» –, kann er offen sprechen.
Lange Zeit war Frutiger für Reporter eine anonymisierte Quelle. «Ich
weiss, dass deutsche und amerikanische Geheimdienste Crypto-Geräte so
manipulierten, dass sie für diese Dienste abhörbar wurden», zitierte ihn
1994 das Schweizer Fernsehen als «Mister X».
Im März wird Frutiger 84 Jahre alt. Er hört nicht mehr gut, was das
zweistündige Gespräch erschwert. Fragen liest er vom Bildschirm ab, er
beantwortet sie aber klar.
Frutigers Name erscheint mindestens auf einem CIA-Dokument, das
Historikern half, Bücher über die Geschichte der Spionage zu verfassen.
Darauf festgehalten ist ein Treffen im August 1975 in den USA. Frutiger
nahm teil, zwei weitere Mitarbeiter der Crypto AG, zwei Mitarbeiter des
US-Geheimdienstes NSA und drei Angestellte von Motorola. Der US-Konzern
und die US-Spione sollten der Crypto helfen, neuartige Geräte zu bauen.
Die «Baltimore Sun» belegte 1995 mit dem besagten Dokument den
«vielleicht verwegensten Spionagecoup». Die US-Journalisten erzählten
damals die Geschichte, die SRF, «Washington Post» und ZDF jetzt mit
vielen Aussagen bestätigen.
Die Einweihung
Schon als kleiner Bub ver- und entschlüsselte Frutiger gerne Texte. Nach
der Matura studierte er an der ETH Zürich zuerst Elektronik, später
Mathematik und Physik. Als er sich auf eine freie Stelle bei der Crypto
AG bewarb, war er bei der ETH als Forscher angestellt.
Nach seinem Stellenantritt stand in Zug ein Wandel an, den Frutiger
durchzuziehen hatte: Crypto stellte um, von mechanischen auf
elektronische Geräte, von Zahnrädern zu Schaltungen. Wobei die alten
Geräte mit den neuen kommunizieren mussten. Was nicht eben trivial war.
Um die komplexe Aufgabe zu meistern, musste Frutiger die bisherigen
Geräte bis ins hinterste Detail verstehen. Sonst hätte er die
mechanischen Verkettungen nicht elektronisch umsetzen können.
Der Gründer der Crypto AG, der Schwede Boris Hagelin, weihte den jungen
Schweizer ein. Er erzählte ihm, man verkaufe gesicherte und unsichere
Chiffriergeräte, je nach Kunde. Bei Letzteren könnten die CIA und der
BND verschlüsselte Texte entschlüsseln. Das Programm heisse Minerva.
Frutiger war an Herrschaftswissen geraten. «In der Crypto gab es neben
Hagelin und mir niemanden, der die Details so gut kannte», sagt er.
Der Schweizer beschreibt den Schweden als «nett und ehrlich». Die
Haltung Hagelins beeindruckte Frutiger. Er habe die Idee für Minerva aus
der Zeit des Zweiten Weltkriegs, als Codeknacker die verschlüsselten
Botschaften der Nazis dechiffrieren konnten. Das half den Alliierten,
die Nachrichten deutscher U-Boote abzuhören, was den Krieg entschied.
Der Mythos vom Kampf gegen das Böse band Frutiger an die CAG, wie die
Crypto AG im Jargon hiess. Er glaubte, auf der richtigen Seite der
Geschichte zu stehen. «Anfänglich entwickelte ich saubere Geräte, bis
der BND verlangte, die Sicherheit einzuschränken.»
Er reiste um die Welt, besuchte Kunden in 30 Ländern, in Afrika,
Südamerika, im Nahen Osten. Er traf sich mit Geheimdienstlern, die
hinter der CAG standen. Gegen 50-mal sei er im Hauptquartier des BND im
bayrischen Pullach gewesen, «vielleicht 10-mal» nach Amerika gereist,
meist allein. «Hagelin wollte verhindern, dass ich Kollegen mitnahm», so
Frutiger. «Damit niemand Verdacht schöpfte.»
Er besuchte Washington und reiste in die Wüste nach Arizona. «Die CIA
hat mir dort den hintersten und letzten Ort gezeigt, einmal führten sie
mich 10 Stockwerke unter Tag.» US-Spione bildeten ihn aus, brachten ihm
bei, wie er mit Kunden zu reden habe. Geheimdienstler hätten zudem seine
Frau instruiert, wie sie Gäste gesellschaftlich ausführen solle.
Mehrmals traf er sich mit Nora Mackabee, einer Mathematikerin des NSA.
«Eine blitzgescheite Frau», sagt Frutiger. Einen anderen
NSA-Mitarbeiter, Bob Pfeifer, besuchte er auf dessen Ranch bei
Scottsdale in Arizona. Mackabee wie Pfeifer nahmen im August 1975 am
dokumentierten Treffen teil.
Das Angebot der CIA
«Die Leute bei der CIA haben mir alles gezeigt, weil sie mich behalten
wollten», sagt Frutiger. Der Schweizer scheint den Amerikanern zu
imponieren. Ein Ingenieur, sprachgewandt, der rechnen kann, Physik
kennt, ausgebildet an einer der besten Hochschulen der Welt. «Die CIA
wollte mich nach Amerika holen», sagt er.
Zu Beginn der siebziger Jahre habe der US-Geheimdienst ihm eine Stelle
angeboten: 100 000 Dollar Lohn, dazu ein Einfamilienhaus mit
Swimmingpool in einem geschlossenen Wohnkomplex nördlich von Boston.
«Das war viel Geld», sagt Frutiger. «Ein Dollar hatte damals vier
Franken wert.» Frutiger lehnte ab. Er hatte eben ein Haus in Wangen
gebaut. «Es kam für mich nicht infrage, die Familie mit drei kleinen
Knöpfen nach Amerika zu verpflanzen.» Freunde rieten ihm davon ab, in
die USA zu ziehen.
Stattdessen brachte er die Crypto zur Blüte. Als er anfing, hatte die
Firma erst wenig Angestellte. Als er 1977 austrat waren es 200. «Der
Umsatz vervielfachte sich», sagt Frutiger. Es schien ein Geschäft ohne
finanzielle Risiken zu sein. Schrieb die Firma Verluste, deckte sie die
CIA. Was vorkam, sagt Frutiger. «Unsere Entwicklungen waren kostspielig.
Fragten wir, wer das zahlen würde, hiess es: Das Geld ist da.» Wusste
er, woher es kam? «Die CIA zahlte.» Um sicherzugehen, dass sich gewisse
Länder die Geräte leisten konnten, hätten die USA sogar Militärkredite
gewährt.
Er beschreibt ein kollegiales Arbeitsverhältnis bei der Crypto. «Wir
haben uns alle geduzt, von der Sekretärin bis hin zum Direktor.» Es habe
ein «grosses gegenseitiges Vertrauen geherrscht». Frutiger genoss in
der Firma einen guten Ruf. «Sie schauten mich ein bisschen an wie den
‹Herrgott›, weil niemand ähnliche mathematische Kenntnisse hatte, ich
sagte immer: ‹Ich bin ein ganz normaler Mensch›.»
Einen Kunden mochte er besonders, den persischen Schah Reza Pahlavi. Die
Crypto verkaufte Verschlüsselungstechnologie nach Iran. Im Engadin
rüstete Frutiger die Villa des Persers damit aus. Da Pahlavi um seine
Sicherheit fürchtete, habe er Frutiger gebeten, ihn nach St. Moritz zu
chauffieren. Statt im iranischen Tross mitzufahren, sei der Schah in
Frutigers Mercedes gestiegen, getarnt mit Perücke. «Ich fuhr ihn
mehrmals ins Engadin.»
Freundschaft mit dem Schah
Es sei diese Freundschaft gewesen, die bei ihm Zweifel geschürt habe.
Bei einem Gespräch in der Villa in St. Moritz sagte der Schah zu
Frutiger, man müsse mittlerweile aufpassen bei Chiffriergeräten, es
seien gezinkte im Umlauf. Deshalb kaufe er bewusst bei der Crypto AG
ein, Schweizern können man vertrauen.
Das Gespräch verstärkte Frutigers Gewissensbisse. Weil der Schah wohl
die fingierten Geräte erhalten habe. «Da wurde ich skeptisch und fragte
mich, ob das moralisch tragbar sei.» Sein Schluss: «Das ist ein
Problem.»
Er konnte es nicht mehr verantworten, «Krämpfe in Geräte einzubauen»,
wie er sagt. Als er Bedenken anbrachte, stiess er beim neuen Chef, bei
Heinz Wagner, auf kein Gehör. Es kam zum Bruch. Per Brief verabschiedete
er sich am 28. April 1977: «Ich bin zutiefst enttäuscht von dieser
Direktion und deren mehrheitlich falschen Darstellungen von aktuellen
Problemen und natürlich über die verdrehte Darstellung meines Falles.
Sie begreifen sicherlich, dass ich mit dieser Direktion nicht wieder
zusammenarbeiten werden kann.»
Es gibt eine Darstellung, wonach er entlassen wurde. Diese Woche erzählt
Frutiger, die Amerikaner hätten ihn behalten wollen und ihm sogar einen
Bleibebonus von 1,5 Jahresgehältern angeboten. Überprüfen lässt sich
das nicht. Sicher ist: Frutiger ging. Nach dem Ausstieg hätten ihm
CIA-Agenten mit dem Tod gedroht, sollte er reden, fügt er an. Und: «Man
hat sechs Anschläge auf mich verübt.» Gleichwohl schwieg er nicht. Der
damalige Leiter der Flieger- und Fliegerabwehrtruppen Kurt Bolliger
fragte ihn, ob die Gerüchte um die Crypto AG stimmten. «Darauf habe ich
Bolliger alles erzählt», so Frutiger. «Wir hatten vor, es sofort
EMD-Chef Rudolf Gnägi zu melden, aber es kam nie dazu.» Ob Bolliger,
2008 verstorben, das nachholte, wisse er nicht.
Bolliger begleitete Frutiger zu einem Gespräch mit dem Chef des
Nachrichtendienstes der Flieger- und Fliegerabwehr, Rolf Lécher. Wieder
will Frutiger alles offengelegt haben. «Lécher sagte: ‹Wir können das
nicht verarbeiten.›» Gleichwohl ging Frutiger davon aus, man würde bei
der Crypto jetzt einschreiten. «Ich habe nie etwas gehört, null, es ist
nie etwas passiert.» Trotz drei eingeschriebenen Briefen nach Bern, in
denen er Antworten verlangt habe. «Es kam nie etwas zurück.»
Schliesslich nahm er mit dem ehemaligen Bundesanwalt Hans Walder Kontakt
auf. «Hier in Wangen habe ich ihm die gesamte Story erzählt», sagt
Frutiger. «Er versprach mir, sich der Sache anzunehmen, meinte aber, das
brauche Zeit, es sei halt nicht einfach, und er müsse schauen, mit wem
er das behandeln könne, zumal das eine sehr heikle Angelegenheit sei, es
mache nur Sinn, wenn man das seriös mache.»
Später habe Walder ausrichten lassen, man habe von der Crypto keine
Geräte erhalten, deshalb könne man es nicht untersuchen. «Die hätten das
ohnehin nicht verstanden», sagt Frutiger. Hagelin habe stets gesagt,
das komme nicht aus, weil es niemand verstehe. «Die Herren der CIA
beruhigten mich mit dem Argument, Komplexität sei die Tarnung. Anwälte
hätten keine Ahnung von Mathematik.»
Wussten Schweizer Politiker etwas über Crypto? Frutiger lacht. «Schweizer Politiker verstehen Chiffrierungen nicht.»
Frutiger redet über den tödlichen Autounfall 1970 von Bo Hagelin, dem
Sohn des Firmengründers. Er habe es als problematisch eingestuft,
manipulierte Geräte zu verkaufen. «Er sagte dem Vater, er dürfe das
nicht tun», erzählt Frutiger. «Die beiden sind mehrmals
aneinandergeraten.» Später mochte der Vater nicht glauben, dass sein
Sohn – «ein guter Autofahrer» – verunfallt sei. Vergebens versuchte er,
die Umstände herauszufinden.
Zuletzt schildert Frutiger einen aktenkundigen Überfall im Mai 2017,
mitten in der Nacht in Wangen. Bewaffnete Personen seien in sein Haus
eingedrungen, hätten seiner Frau den Schmuck vom Körper gezerrt, nach
Dokumenten gesucht. Er konnte die Polizei rufen, die Angreifer flohen
vor deren Ankunft.
Frutiger vermutet, er sei überfallen worden, weil die Crypto AG verkauft
werden sollte. Dahinter stünden Geheimdienste. «Man wollte versuchen,
Dokumente zu zerstören.» Die Kantonspolizei glaubt, es sei ein
Raubüberfall gewesen. «Gestohlen haben sie nichts Wichtiges», sagt
Frutiger. «Nur die Offizierspistole. Die Munition fanden sie nicht.»
Der Überfall setzte seiner Frau zu. Fortan dachte sie bei jedem Anruf,
die CIA stelle ihr nach. Sie erlitt einen Nervenzusammenbruch und
verstarb wenige Wochen danach. «Mein Leben ist nicht mehr mein Leben»,
sagt Frutiger. Der sonst kontrollierte Mann beginnt zu weinen. «Meine
Gemahlin hat immer gesagt, wenn es herauskommt, gibt das Probleme.»
–
Peter Frutiger
Der 83-jährige Elektroingenieur, Physiker und Mathematiker Peter
Frutiger war viele Jahre bei der Crypto AG tätig. Weil er keine
gezinkten Geräte mehr verkaufen wollte, verliess er die Zuger Firma
1977.
–
Wer schreibt ein solches Papier?
Alle reden über den Minerva-Bericht, doch gesehen haben ihn nur ganz
wenige Leute. Der deutsche Journalist Peter F. Müller hat das Papier
erhalten – laut eigenen Angaben aus Geheimdienstkreisen.
Selbstverständlich nennt er seine Quellen nicht. Müller gab den Bericht
an das ZDF, die «Washington Post» und die SRF-Sendung «Rundschau»
weiter. Diese Redaktionen konnten die Unterlagen zumindest teilweise
einsehen. Andere Medien erhalten keinen Zugang. Auf Anfrage erklärt
Müller, dass man «zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Dokumente
zugänglich machen» werde. Das hätten die drei ursprünglichen Empfänger
so ausgemacht. Sie wollten weitere Geschichten daraus erzählen. Selbst
ein beschränkter Einblick, etwa auf die Seite mit den Passagen zur Rolle
von alt Bundesrat Kaspar Villiger, wird verwehrt.
Die wenigen Passagen, die in den Medienberichten gezeigt wurden, werfen
Fragen auf. Die Sprache entspricht überhaupt nicht dem, was man in einem
Geheimdienstpapier erwarten würde. Der Text klingt salopp, schon fast
derb, wie der Satz «Evidently, Villiger had kept his mouth shut»
(«Offenkundig hatte Villiger den Mund gehalten») zeigt. So schreibt kaum
jemand, der einen Bericht für den internen Gebrauch verfasst. Eher
scheint sich der Autor an ein Publikum zu richten, er will die Leser in
den Bann ziehen.
Der Bericht ist in Englisch verfasst, doch er klingt stellenweise etwas
holprig, sogar so, als hätte kein Amerikaner, sondern eine
deutschsprachige Person ihn geschrieben. Der Titel des gezeigten Papiers
– «Minerva A History» – ist kein korrektes Englisch. Es müsste «A
History of Minerva» heissen. In einer der wenigen veröffentlichten
Stellen sind die Verben ensure und insure verwechselt.
Eine Person, die den Bericht gesehen haben will, spricht von einer
«Sprache, die in Groschenromanen zu lesen ist». Zudem seien auffällig
viele Ausrufezeichen verwendet worden. Beides sei ungewöhnlich in einem
Geheimdienstpapier.
Wer hat den Minerva-Bericht verfasst? Und wenn er den Medien zugespielt
wurde: Welches Ziel verfolgt der Autor? Wer sich umhört, erfährt ganz
unterschiedliche Thesen. Ein Kenner der Geheimdienste sagt, es sei ein
ehemaliger Mitarbeiter des deutschen Bundesnachrichtendienstes gewesen.
Dieser habe den Text auf Deutsch verfasst, danach sei er ins Englische
übersetzt worden. Stimmt das, lag das Papier nicht in CIA-Archiven, wie
es kolportiert wird.
Der Publizist Erich Schmidt-Eenboom, der das Papier gelesen hat und in
den TV-Berichten auftrat, widerspricht: «Zunächst schrieb ein
CIA-Historiker auf der Basis von Akten und Interviews mit
Geheimdienstmitarbeitern die Studie ‹Minerva A History›. Es war
definitiv kein deutscher Autor.»
Auf Anfrage heisst es bei der US-Botschaft in Bern, man nehme keine
Stellung zu Themen, die den Geheimdienst betreffen. Im Raum bleiben
offene Fragen, die wohl erst beantwortet werden, wenn der
Minerva-Bericht der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird.
–
Wie die Firma Kunden und Konkurrenz austrickste
Der deutsche Geheimdienstexperte Erich Schmidt-Eenboom hatte Einsicht in
die Dokumente des amerikanischen Auslandgeheimdienstes CIA. Seit
Monaten befasst er sich mit der Affäre um die Crypto AG. Wie die
Unterlagen zeigen, belieferte die Firma mit Sitz in Steinhausen im
Kanton Zug rund 130 Staaten mit Geräten für die verschlüsselte
Kommunikation. Ab 1970 war die Firma Crypto vom deutschen
Bundesnachrichtendienst (BND) und von der CIA aufgekauft worden.
Die verkauften Geräte wurden so manipuliert, dass sie Lücken in den
chiffrierten Codes aufwiesen und die Deutschen und die Amerikaner
Zugriff auf die übermittelten Informationen hatten. Oft seien den
Interessenten andere Systeme vorgeführt worden, als das Unternehmen
ihnen später geliefert habe. «Die Verkäufer tauschten die Geräte aus»,
sagt Schmidt-Eenboom. Crypto habe mit Entwicklern, umherreisenden
Aussendienstmitarbeitern sowie stationären Verkäufern gearbeitet.
In der Hochblüte, in den achtziger Jahren, setzte die Firma laut dem
Experten enorme Beträge um: «Allein Saudiarabien erteilte der Crypto
damals einen Auftrag im Wert von 600 Millionen Franken.» Schmidt-Eenboom
hält fest, die Gewinne seien in der Schweiz ordnungsgemäss versteuert
und dann über eine Stiftung im Fürstentum Liechtenstein nach Deutschland
überwiesen worden. «Der BND und die CIA teilten sich den Ertrag auf.»
Die Amerikaner hätten sich jedoch nicht um das Geschäftliche und
Administrative gekümmert und die Buchhaltung ganz den Deutschen
überlassen.
Um die Konkurrenz auszuschalten, schmiedete die Crypto Übernahmepläne.
In den Dokumenten findet sich eine Liste von Firmen, die BND und CIA zu
infiltrieren beabsichtigten. Sie hatten auch die Firma Gretag im Visier,
eine Hauptlieferantin von Verschlüsselungsgeräten der Schweizer
Behörden. Verdeckt, über das Elektronikunternehmen Motorola,
unterbreiteten sie ein Übernahmeangebot. Weil der Versuch scheiterte,
inszenierte die Crypto eine Schmutzkampagne gegen die Gretag.
Schmidt-Eenboom sagt, in den Dokumenten werde das Vorhaben thematisiert,
die Geräte der Konkurrenz schlechtzureden und dem Firmenruf zu schaden.
Die Gretag hatte einst auch die Schweizer Botschaften im Ausland mit
Informationstechnologie versorgt. So wurden dem Aussendepartement
sogenannte James-Bond-Koffer verkauft, mit denen Diplomaten
verschlüsselte Telexmeldungen nach Bern senden konnten. Wie die
«Wochenzeitung» (WOZ) im Dezember 2013 berichtete, hatte der Bund über
Jahre die technologischen Entwicklungen der Gretag auf dem Gebiet der
Verschlüsselungstechnik finanziert. Aus einer Sparte der Firma entstand
1987 dann die Omnisec, die – wie die Crypto – mit dem Siegel der
Schweizer Neutralität Verschlüsselungsgeräte an Regierungen und Armeen
im Ausland lieferte.
Als Hochburg für die Herstellung von Informationstechnologie präsentiert
sich die Schweiz auch in jüngerer Zeit. So wurde Anfang 2016
beispielsweise publik, dass die Firma Wavecom in Bülach im Zürcher
Unterland Decodierungsgeräte nach Russland liefern wollte. Das
Ausfuhrgesuch führte zu einem Disput im Bundesrat, die beiden
FDP-Vertreter gerieten aneinander: Aussenminister Didier Burkhalter
sprach sich gegen den Export aus, Wirtschaftsminister Johann
Schneider-Ammann wollte ihn bewilligen. Schliesslich zog
Schneider-Ammann den Ausfuhr-Antrag zurück.
Die Firma Wavecom stellt Soft- und Hardware für Geheimdienste her. Damit
können Telefongespräche abgehört und Mails abgezapft werden. Dem
Vernehmen nach verwendet auch der Schweizer Geheimdienst – der
Nachrichtendienst des Bundes – in seinem Zentrum für elektronische
Operationen in Zimmerwald im Kanton Bern Decodierungsgeräte der Firma
Wavecom.
Andreas Schmid
(https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/der-informant-der-aus-der-deckung-kommt-ld.1540802)
—
Überwachungskritiker, Sozialdemokrat, Ex-Bundesrichter: Das ist der Mann, der die Spionage-Affäre aufklären soll
Der Bundesrat hat den ehemaligen Bundesrichter Niklaus Oberholzer mit
der Untersuchung Affäre um manipulierte Chiffriergeräte aus der Schweiz
beauftragt. Das ist kein Zufall.
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/ueberwachungskritiker-sozialdemokrat-ex-bundesrichter-das-ist-der-mann-der-die-spionage-affaere-aufklaeren-soll-136371919
-> https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/alt-bundesrichter-oberholzer-will-moeglicher-puk-oder-gpdel-nicht-in-die-quere-kommen-136376929
—
Sonntagszeitung 16.02.2020
«Ich will einer möglichen PUK nicht in die Quere kommen»
Niklaus Oberholzer untersucht die Cryptoleaks. Der Ex-Bundesrichter über seine neue Aufgabe und politischen Druck.
Catherine Boss
Niklaus Oberholzer, 66, kennt die Schweizer Justiz wie kaum ein anderer.
Er war Ermittler, Anwalt, Kantonsrichter und bis vor kurzem
Bundesrichter. Wer nun denkt, dass er sich nach dem Rücktritt aus dem
Bundesgericht aufs Altenteil setzt, der irrt. Soeben hat ihn der
Bundesrat mit der Untersuchung des Spionage-Skandals um die Crypto AG
beauftragt. Das Interview war schon vor diesen Ereignissen vereinbart.
Sie sind Mitte Januar vom Bundesrat beauftragt worden, die Affäre um die Crypto AG zu untersuchen. Sind Sie schon an der Arbeit?
Ich bin daran, Akten zu studieren. Es ist eine höchst spannende Aufgabe. Aber ich kann mich über den Inhalt nicht äussern.
Haben Sie auch Zugang zu geheimen Akten?
Ja, das ist kein Problem.
Es sollen Akten verschwunden sein. Sind Sie auf der Suche danach?
Darüber darf ich Ihnen keine Angaben machen.
Arbeiten Sie allein?
Ich kann auf Leute zurückgreifen, wenn es nötig ist. Als Erstes geht es nun mal darum, sorgfältig Fakten zusammenzutragen.
Und danach?
Ich verstehe den Auftrag so, dass die Bewertung dieser Fakten dann nicht
mehr meine Aufgabe sein wird. Das muss der Bundesrat oder das Parlament
tun.
Die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) hat beschlossen, die
Crypto-Affäre selber zu untersuchen. Auch eine parlamentarische
Untersuchung, eine PUK, ist im Gespräch. Wie geht das mit Ihrem Auftrag
zusammen?
Wir werden klären müssen, wer was untersucht. Ich will einer möglichen PUK oder der GPDel auf keinen Fall in die Quere kommen.
Es hat bereits früher Untersuchungen in dieser Sache gegeben, die im
Sande verliefen. Nun geht es um die zentrale Frage, ob Schweizer
Behörden und Bundesräte informiert waren. Die Erwartungen an Sie sind
hoch, mehr zu liefern.
Das ist mir bewusst. Ich denke, die Aktenlage ist heute aber wesentlich
besser. Aber mehr kann ich zum meinem Auftrag nun wirklich nicht sagen.
(…)
(https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/ich-will-einer-moeglichen-puk-nicht-in-die-quere-kommen/story/21170798)