Medienspiegel 28. August 2019

+++BERN
bernerzeitung.ch 28.08.2019

Ein Flüchtling will nach oben

Schangnau – Omar Mohamed hat die einjährige Vorlehre Integration im Landgasthof Kemmeriboden-Bad erfolgreich abgeschlossen. Nun strebt der Syrer ein Berufsattest an. Lehrmeister Reto Invernizzi ist zuversichtlich.

Urs Egli

Für Omar Mohamed war von Anfang an klar, dass er die vom Bundesrat initiierte einjährige Vorlehre Integration als Sprungbrett für sein Leben nutzen wollte. Er, der als minderjähriger Flüchtling vor den Bürgerkriegswirren in seinem Heimatland Syrien geflohen und im Dezember 2016 in die Schweiz gekommen war, ahnte allerdings noch nicht, welche Chance ihm geboten werden sollte: die Möglichkeit, im Landgasthof Kemmeriboden-Bad eine Ausbildung in der Gastronomie beginnen zu können.

«Wir hatten ein Riesenglück mit Omar. Er schätzt nicht nur die Ausbildung und Arbeit in unserem Betrieb, sondern auch die familiären Werte und hat sich darum sehr schnell integriert», sagt Reto Invernizzi, Inhaber und Geschäftsführer des Kemmeriboden-Bads.

Seit Sommer 2018 lebt und arbeitet der heute 19-jährige Omar Mohamed im Schangnauer Traditionsbetrieb. Nun hat er die Vorlehre abgeschlossen und startet gleich durch: «Ich habe mit der zweijährigen Ausbildung zum Küchenangestellten mit eidgenössischen Berufsattest (EBA) begonnen. Und danach will ich in weiteren zwei Jahren noch die Kochlehre mit eidgenössischem Fachzeugnis (EFZ) machen.» Er sagt es in hochdeutscher Sprache, so, als wäre dies das Normalste der Welt. Dabei konnte er vor nicht einmal drei Jahren kein Wort Deutsch. In Syrien hat er Kurdisch gesprochen.

«Omar ist ein echtes Talent»

Reto Invernizzi lacht und sagt zu seinem Lehrling: «Bis zum Koch ist es noch ein langer Weg, zuerst musst du die EBA-Ausbildung erfolgreich abschliessen.» Allerdings zweifle er nicht daran, dass Omar dieses Ziel erreichen könne. Denn: «Er lernt das Handwerk des Kochs nicht, weil er nichts anderes machen konnte, sondern weil er ein echtes Talent ist.» Sie hätten gestaunt, wie gross seine Handfertigkeit bereits zu Beginn der Ausbildung gewesen sei. Beim Schneiden des Gemüses habe er eine fast unglaubliche Geschwindigkeit und Präzision an den Tag gelegt.

«Omar hat eine kulinarische Ader», ist sich Invernizzi sicher. Aber der Lehrling aus dem Nahen Osten wisse auch, dass er mit einem Schweizer Berufsabschluss einen sicheren Wert in der Tasche habe. Damit gehöre er zur gastronomischen Elite. «Als Koch mit einer Ausbildung in der Schweiz wird man nie ein Problem haben, Arbeit zu finden – man wird mit Handkuss angestellt.»

«Gott sei Dank, darf ich hier arbeiten»

Und was sagt Omar Mohamed zu seinem ersten Ausbildungsjahr? «Ich stellte rasch fest, dass ich im Kemmeriboden-Bad am richtigen Ort bin. Alle sind sehr nett und haben Geduld mit mir. Ich sage immer: Gott sei Dank, dass ich hier arbeiten darf. Die Arbeit gefällt mir sehr.» Dass sich Omar wohlfühle, habe auch damit zu tun, dass in der Küche ein Team arbeite, das nicht nur fachlich, sondern auch bezüglich Betreuung top sei. «In dieser Crew haben wir einen ausgesprochenen Kitt, der die Aufnahme eines Vorlehrlings möglich macht, sofern sich dieser in das Team einfügen will», ergänzt Invernizzi.

Die Pionierarbeit

Für den Chef des schweizweit bekannten Landgasthofs, der bereits in sechster Generation geführt wird, war immer klar, «dass wir bei der Vorlehre Integration von Anfang an dabei sein wollten und nicht erst dann, wenn schon alle Erfahrungen bekannt sind. Auf das fahrende Boot aufspringen, wollten wir nicht». Er erachte es als wichtig, dass möglichst viele Betriebe Pionierarbeit leisten würden. Integration sei in seinem Betrieb seit langem ein Thema. Aber auch ausserhalb des normalen Bildungsrahmens «haben wir für Personen, die aus der Spur gekommen sind, immer wieder mal integrative Aufgaben übernommen».

Selbst wenn er wisse, dass Omar Mohamed ein Ausnahmetalent sei, würde er wieder einem Flüchtling eine Vorlehre Integration ermöglichen. «Derzeit nehmen wir jedoch niemand neu auf, weil wir bezüglich Betreuungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind», sagt Reto Invernizzi. Dem 12-köpfigen Küchenteam gehören drei Lernende an: zwei Köche EFZ und ein Küchenangestellter EBA. Im Landgasthof Kemmeriboden-Bad gibt es 47 Vollzeitstellen, 12 davon entfallen auf Lernende. «Es ist ein Geschenk, dass wir an diesem Ort so viele Arbeitsplätze haben dürfen», erklärt der Chef.

Was tun bei Heimweh?

Mit Blick auf das erste Lehrjahr von Omar Mohamed seien ihm einige Erfahrungen sehr wichtig, betont der Vater von zwei minderjährigen Töchtern: «Man darf nicht vergessen, dass die jungen Flüchtlinge keine Eltern im Hintergrund haben.» Folglich müsse ein Betrieb nicht nur den Bildungsauftrag erfüllen, sondern auch einen sehr persönlichen Kontakt pflegen. Die Betreuung müsse ein Stück weit eine Elternfunktion beinhalten.

Einen Wunsch hat der Arbeitgeber im Kemmeriboden-Bad noch: «Es wäre aufgrund der Erfahrungen im ersten Ausbildungsjahr der Vorlehre Integration hilfreich, wenn die Erziehungsdirektion des Kantons Bern ihren Leitfaden für ausbildungswillige Betriebe aktualisieren würde.» Darin könnten praxisnahe Frage beantwortet werden, wie zum Beispiel: Wer bezahlt die Schulbücher? Wen muss der Lehrmeister anrufen, wenn der Lernende nicht zur Arbeit erscheint?

Übrigens: Heimweh nach seiner Familie in Damaskus hat Omar Mohamed ab und an. Dann wisse er, was er tun müsse: «Ich gehe zu meinem Chef.»
(https://www.bernerzeitung.ch/region/emmental/ein-fluechtling-will-nach-oben/story/30268073)

+++BASEL
Flüchtlingskinder in Basel bekommen jetzt alle Unterricht
Die Kinder im Bundesasylzentrum in Basel dürfen neu zur Schule gehen. Ein Unterricht wie an der Regelschule ist aber nicht möglich.
https://www.bazonline.ch/basel/stadt/fluechtlingskinder-in-basel-bekommen-jetzt-alle-unterricht/story/15313148
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/schulunterricht-im-basler-asylzentrum-erfolgreich-gestartet-135474700
-> https://telebasel.ch/2019/08/28/jetzt-muessen-die-kinder-im-bundesasylzentrum-in-die-schule/
-> https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/asylpolitik-kinder-im-bundesasylzentrum-gehen-neu-auch-zur-schule

+++GRAUBÜNDEN
«So macht es keinen Sinn» – Fachleute kritisieren die Schulen in Bündner Asylzentren
Flüchtlingskinder besuchen in Graubünden teilweise jahrelang nicht die Volksschule, sondern werden direkt in den Asylzentren unterrichtet, wie Radio SRF berichtete. Dies sorgt für Kritik von vier renommierten Fachleuten, aber auch für Diskussionen in der Politik.
https://www.srf.ch/news/regional/graubuenden/so-macht-es-keinen-sinn-fachleute-kritisieren-die-schulen-in-buendner-asylzentren

+++LUZERN
200 Personen marschierten durch Luzern Demo gegen Nothilfe- und Ausschaffungsregime
Am Mittwoch fand eine Demo in Luzern statt. die Gruppe «Resolut» versuchte auf die Situation von Flüchtlingen aufmerksam zu machen und kritisierte die Ausschaffungspraktiken des Kantons Luzern.
https://www.zentralplus.ch/demo-gegen-nothilfe-und-ausschaffungsregime-1601809/
-> https://resolut.noblogs.org/post/2019/08/20/28-8-demo-gegen-das-nothilfe-und-ausschaffungsregime/
-> https://barrikade.info/article/2545

+++ST. GALLEN
Viele Eritreer zugezogen: Jetzt will die Gemeinde Kirchberg, dass nur noch Flüchtlinge mit Job ihren Wohnort frei wählen können
Die Toggenburger Gemeinde will die Niederlassungsfreiheit für Flüchtlinge einschränken – um diese besser zu integrieren. Die Vereinigung der St.Galler Gemeinden trägt das Anliegen nach Bern.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/viele-eritreer-zugezogen-jetzt-will-die-gemeinde-kirchberg-dass-nur-noch-fluechtlinge-mit-job-ihren-wohnort-frei-waehlen-koennen-ld.1146087

«Das ist der falsche Weg» – Der Schweizerische Gemeindeverband spricht sich gegen die Forderung Kirchbergs aus, die Niederlassungsfreiheit von Flüchtlingen einzuschränken
Die Toggenburger Gemeinde Kirchberg möchte, dass nur Flüchtlinge mit Job ihren Wohnort frei wählen können. Die St.Galler Gemeinden wollen das Anliegen beim Schweizerischen Gemeindeverbund einbringen. Dieser hält wenig davon.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/das-ist-der-falsche-weg-der-schweizerische-gemeindeverband-spricht-sich-gegen-die-forderung-kirchbergs-aus-die-niederlassungsfreiheit-von-fluechtlingen-einzuschraenken-ld.1146826

Einschränkung der Niederlassungsfreiheit für Flüchtlinge – Schweiz Aktuell
Die Gemeinde Kirchberg im Toggenburg will anerkannte Flüchtlinge bei der Wahl ihres Wohnorts im Kanton einschränken. Neu soll nur frei wählen können, wer einen Arbeitsvertrag oder genügend Geld hat.
https://www.srf.ch/play/tv/popupvideoplayer?id=c5d9a52a-f5a4-453b-a2c6-f7ee51692c6f&startTime=48.222

+++SCHWEIZ
Kirchliche Migrationsarbeit unter Druck – RaBe-Info 28.08.2019 (ab 05:21)
Der erstarkende Rechtspopulismus macht im Migrationsbereich engagierten Organisationen zunehmend das Leben schwer. So auch den Kirchen, die auf eine lange Tradition der Unterstützung von Asylsuchenden und Migrant*innen zurückblicken. Am Anlass zur Feier des 40. Jubiläums der Fachstelle Migration der Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn diesen Freitag steht deshalb die Frage im Zentrum, wie kirchliches Engagement in Zeiten des erstarkenden Rechtspopulismus aussehen soll.
https://rabe.ch/2019/08/28/menschwuerde-statt-rechter-populismus/

Georgien gilt als verfolgungssicherer Staat: Rückkehr ist grundsätzlich zumutbar
Ab dem 1. Oktober 2019 gilt Georgien neu als verfolgungssicherer Staat (“Safe Country”) und als Herkunftsland, in das eine Rückkehr von abgewiesenen Asylsuchenden grundsätzlich zumutbar ist. Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 28. August 2019 die Liste der verfolgungssicheren Staaten und die Liste der zumutbaren Rückkehrstaaten entsprechend ergänzt.
https://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/news/2019/2019-08-281.html
-> https://www.nau.ch/news/europa/bundesrat-erklart-georgien-zum-verfolgungssicheren-staat-65575649

+++DEUTSCHLAND
»Zeit, sich von rassistischer Praxis zu verabschieden«
Seit 100 Jahren gibt es in Deutschland die Abschiebehaft. Aktivisten drängen auf ihre Abschaffung. Gespräch mit Frank Gockel
https://www.jungewelt.de/artikel/361741.ende-der-abschiebehaft-gefordert-zeit-sich-von-rassistischer-praxis-zu-verabschieden.html

+++BALKANROUTE
Katastrophale Zustände an der bosnisch-kroatischen Grenze – RaBe-Info 28.08.2019
Seitdem Ungarn vor gut eineinhalb Jahren seinen Grenzzaun zu Serbien fertig gestellt hat, verschob sich die Balkanroute nach Westen: Viele Menschen versuchen nun über Bosnien und Kroatien nach Mitteleuropa zu gelangen.
https://rabe.ch/2019/08/28/menschwuerde-statt-rechter-populismus/

+++MITTELMEER
EU-Staaten wollen Sondertreffen zur Seenotrettung, während Rettungsschiff auf Landehafen wartet
Deutschland, Frankreich, Italien, Malta und Finnland treffen sich am 19. September. Schiff Eleonore wartet mit 101 “erschöpften Gästen” auf Landung
https://www.derstandard.at/story/2000107892325/deutsches-rettungsschiff-eleonore-bittet-vor-malta-um-landehafen?ref=rss
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-08/seenotrettung-mittelmeer-sondertreffen-eu-fluechtlinge-fluechtlingspolitik-malta
-> https://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-auf-dem-mittelmeer-italienische-hilfsorganisation-rettet-100-migranten-a-1284033.html
-> https://www.nau.ch/news/ausland/italienisches-schiff-rettet-rund-100-migranten-im-mittelmeer-65575749
-> https://www.deutschlandfunk.de/malta-migranten-auf-schiff-eleonore-erhalten-hilfslieferung.1939.de.html?drn:news_id=1043127
-> https://www.tagesschau.de/ausland/mittelmeer-migranten-107.html
-> https://ffm-online.org/mare-jonio-has-rescued-about-a-hundred-people/

Flüchtlingshilfe: Das Symbol Lampedusa
Die italienische Insel, südlicher Außenposten Europas, gilt als Sinnbild für die Härte der europäischen Flüchtlingspolitik. Der Pfarrer Don Carmelo La Magra setzt gegen alle Widrigkeiten die Tradition fort, Seeleuten in Not, egal welcher Herkunft, zu helfen.
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingshilfe-das-symbol-lampedusa.886.de.html?dram:article_id=457319

+++NIGER
„Die Sahara ist ein Friedhof“
Einst galt Agadez als Tor zur Wüste, heute ist Niger Hotspot europäischer Migrationsabwehr. Das drängt die Menschen auf immer gefährlichere Routen, sagt Ibrahim Manzo Diallo von „Alarmphone Sahara“ im Interview.
https://www.disorient.de/blog/die-sahara-ist-ein-friedhof

+++FREIRÄUME
Fabrikool: Kanton führt Rampenverkauf durch
Der Kanton Bern verscherbelt den Hausrat der «Fabrikool»-Besetzer und hält an der teuren Überwachung fest.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/fabrikool-kanton-fuehrt-rampen-verkauf-durch/story/17706058

+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Klimastreiker bei Berner Bauern nicht willkommen
Bei den Land-Demos am 31. August will die Klimajugend die Anliegen der Bauern thematisieren. Deren Vorfreude hält sich arg in Grenzen.
https://www.20min.ch/schweiz/bern/story/Klimajugend-ist-bei-Bauern-nicht-willkommen-16053277

fux & sarbach – Profit mit Auschaffung
Aus Wut über die rassistische Ausschaffungspraxis und ihre Profiteure wurde am 28.8.19 ein Auto der Firma Fux fux & sarbach ENGINEERING AG in Gümligen bei Bern mit Feuer zerstört
https://barrikade.info/article/2565

+++SPORTREPRESSION
Polizei: FCB-Spiele kosten Baselland 1,5 Millionen Franken
Die teilweise enorme Polizei-Präsenz an Fussballspielen im Stadion St. Jakobs-Park kostet die beiden Basel Millionen.
http://www.onlinereports.ch/News.117+M52dccfe0277.0.html
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/fcb-spiele-kosten-baselland-rund-15-millionen-franken-135475777
-> Interpellation: https://www.baselland.ch/politik-und-behorden/landrat-parlament/geschafte/geschaefte-ab-juli-2015?i=https%3A//baselland.talus.ch/de/politik/cdws/geschaeft.php%3Fgid%3D498b08b0b8b841abbbe0945c72fc32e9

+++REPRESSION GR
Repression: Exarchias «Säuberung» hat begonnen
Spezialeinheiten, Hubschrauber, Drohnen: Die griechische Polizei hat am Montag mit einem massiven Aufgebot das autonome Viertel Exarchia in Athen gestürmt. Die Einheiten räumten beim Einsatz vier besetzte Gebäude, von denen drei Geflüchtete beherbergt hatten. Gemäss alternativen Medienplattformen brachte die Polizei 143 Personen auf die Ausländerbehörde, um ihren Aufenthaltsstatus zu prüfen, darunter 35 Minderjährige. Um einer Räumung zuvorzukommen, hatte im Juli bereits das besetzte City Plaza Hotel, in dem Geflüchtete lebten, präventiv seine Tore geschlossen.
https://www.woz.ch/1935/repression/exarchias-saeuberung-hat-begonnen

+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Ausschaffung: Basler SVP will “Härtefallklausel” abschaffen
Die Basler SVP will im Zusammenhang mit der Ausschaffung von illegal eingereisten Migranten eine radikale Änderung: Im Strafgesetzbuch soll die sogenannte “Härtefallklausel” gestrichen werden. Diese Forderung erhebt die Partei in einer soeben eingereichten Standesinitiative. Diese Klausel werde von den Gerichten “allzu oft angewendet”.
http://www.onlinereports.ch/News.117+M5d328d5679d.0.html

+++JUSTIZ
Strafprozessordnung soll praxistauglicher werden
Der Bundesrat will die Praxistauglichkeit des Strafprozessrechts verbessern. Er hat an seiner Sitzung vom 28. August 2019 von den Vernehmlassungsergebnissen Kenntnis genommen und eine entsprechende Botschaft zu Handen des Parlaments verabschiedet. Weil sich die Strafprozessordnung im Wesentlichen bewährt hat, beschränkt sich die Revision auf punktuelle Änderungen.
https://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/news/2019/2019-08-280.html

+++KNAST
Frauengefängnis Hindelbank: Fazit 24 Jahre Präventionsmassnahmen – Schweiz Aktuell
Die Präventionsbeauftragte Daniela Di Santis etablierte ungewöhnliche Massnahmen um Frauen während ihrer Zeit im Gefängnis vor Drogentod und Infektionskranken zu bewahren.
https://www.srf.ch/play/tv/popupvideoplayer?id=c5d9a52a-f5a4-453b-a2c6-f7ee51692c6f&startTime=744.696

+++BIG BROTHER
Willkommen im digitalen Totalitarismus
Die Schweizer Anbieterinnen von Post-, Telefon- und Internetdiensten sind verpflichtet, das Kommunikationsverhalten ihrer Kundinnen und Kunden für sechs Monate zu speichern und diese Daten wenn nötig den Strafverfolgungsbehörden zu übergeben. Was sind das für Daten und was sagen sie aus? Wir wollten es herausfinden und haben Franziska Ryser «überwacht».
https://www.saiten.ch/willkommen-im-digitalen-totalitarismus/

Für jede Repression zu haben: Das MUROS aus Meckenheim
Eine deutsche Firma baut Spezialfahrzeuge mit Überwachungstechnik. Sie filmen Demonstrationen, hören Telefone ab oder koordinieren Drohnenschwärme an EU-Außengrenzen
https://www.heise.de/tp/features/Fuer-jede-Repression-zu-haben-Das-MUROS-aus-Meckenheim-4505935.html

Ermittler sollen DNA-Spuren gezielt auswerten dürfen
Mit sichergestellter DNA vom Tatort sollen Strafverfolger Haar-, Haut- und Augenfarbe und die biogeographische Herkunft eines mutmasslichen Täters bestimmen dürfen.
https://www.derbund.ch/schweiz/standard/ermittler-sollen-dna-spuren-gezielt-auswerten-duerfen/story/23972393
-> https://www.ejpd.admin.ch/ejpd/de/home/aktuell/news/2019/2019-08-28.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/umstrittenes-fahndungsmittel-ermittler-sollen-dna-spuren-gezielt-auswerten-duerfen
-> https://www.nzz.ch/schweiz/dna-polizei-soll-aus-tatort-spuren-auf-das-aussehen-schliessen-ld.1504765?mktcid=smsh&mktcval=Twitter
-> https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Neues-Instrument-fuer-dieStrafverfolgung-27135848
-> https://www.watson.ch/schweiz/bundesrat/654206803-ermittler-sollen-dna-spuren-gezielt-auswerten-duerfen
-> https://www.nau.ch/news/videos/karin-keller-sutter-will-tater-dna-genauer-analysieren-65575718
-> https://www.blick.ch/news/politik/vertiefte-auswertung-soll-kuenftig-erlaubt-sein-keller-sutter-will-mit-dna-auf-verbrecherjagd-id15487417.html
-> https://www.nzz.ch/schweiz/dna-polizei-soll-aus-tatort-spuren-auf-das-aussehen-schliessen-ld.1504765
-> https://www.toponline.ch/news/schweiz/detail/news/ermittler-sollen-dna-spuren-gezielt-auswerten-duerfen-00118447/
-> https://www.20min.ch/schweiz/zentralschweiz/story/Wird-Vergewaltiger-von-Emmen-doch-gefasst–11641705
-> https://www.telem1.ch/aktuell/bundesrat-will-mit-dna-profil-auf-verbrecherjagd-gehen-135476666
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/dna-profil-gesetz-ermittler-sollen-dna-spuren-gezielter-auswerten-duerfen-135476408
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/neues-dna-profilgesetz-umstritten-135476455
-> https://telebasel.ch/2019/08/28/bundesrat-will-mit-dna-analyse-auf-verbrecherjagd/?channel=105105
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/popupvideoplayer?id=26905ed8-ebf8-4d36-8b6b-8a3e76e9189d&startTime=603.502
-> https://www.tagblatt.ch/schweiz/neues-dna-gesetz-die-ermittler-werden-die-akten-im-fall-emmen-wieder-oeffnen-ld.1147042

Gesichtserkennung im Kampf gegen Fussballrowdies – Rendez-vous
Gewaltbereite Fussballfans sind nicht nur in der Schweiz ein Problem. In Dänemark setzt der Fussballclub Bröndby neuerdings automatische Gesichtserkennung ein, um Fans mit einem Stadionverbot zu identifizieren.
Wie funktioniert diese Technologie? Fragen an Jürg Tschirren von der SRF-Digital-Redaktion.
https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=51f38e9a-5da9-48a6-861e-6c5a04a1114a

Sozialdetektive: Bundesgericht lehnt Beschwerde ab – Rendez-vous
Das Schweizer Stimmvolk stimmte im November des vergangenen Jahres über Sozialdetektive bei den Sozialversicherungen ab. Mit 64,7 Prozent Ja wurde die Vorlage angenommen.
Doch das Referendumskomitee ging wegen verschiedener Informationen des Bundes vor Gericht, hat nun aber vor Bundesgericht verloren.
https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=94c843c9-4d8f-415d-a9f1-cb5c19c90d42
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/gesetz-zu-sozialdetektiven-gegner-blitzen-mit-beschwerden-ab
-> https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Beschwerde-gegen-Abstimmung-abgewiesen-14268517

Sicherheit in Chats: Warum Telegram unsicherer ist als sein Ruf
Protestierende in Hongkong haben ein Feature in der beliebten Chat-App entdeckt, durch das Ermittler ihre Identität enttarnen können. Wo Krypto draufsteht, ist nicht überall Krypto drin.
https://www.sueddeutsche.de/digital/telegram-chat-krypto-sicherheit-hongkong-1.4577747

+++ANTIFA
Russischer Kampfsportler: Einreiseverbot für Neonazi “Nikitin”
Im Kampf gegen Rechtsextremismus greifen die Behörden offenbar zu schärferen Maßnahmen. Gegen einen russischen Kampfsportler wurde ein europaweites Einreiseverbot verhängt.
https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/nikitin-einreiseverbot-101.html

+++RECHTSPOPULISMUS
Andreas Glarner macht Glarner.tv
Der SVP-Nationalrat hat sich dazu eine eigene Marke schützen lassen.
https://www.handelszeitung.ch/politik/andreas-glarner-macht-glarnertv

+++FUNDIS
«Marsch fürs Läbe»: Gericht pfeift Stadt Zürich zurück
Der Stadtrat unterliegt vor dem Verwaltungsgericht gegen Abtreibungsgegner. Er muss eine Demonstration bewilligen.
https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/stadt/marsch-fuers-laebe-gericht-pfeift-stadt-zurueck/story/13809173
-> https://www.srf.ch/news/regional/zuerich-schaffhausen/umstrittener-umzug-zuercher-verwaltungsgericht-erlaubt-marsch-fuers-laebe
-> https://www.nzz.ch/zuerich/abtreibungsgegner-sollen-doch-marschieren-duerfen-stadt-zuerich-prueft-rekurs-ld.1504744
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/anti-abtreibungs-demonstration-stadt-zuerich-muss-marsch-fuers-laebe-erlauben-135473612
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/zuercher-verwaltungsgericht-erlaubt-marsch-fuers-laebe-00118438/

+++JUSTIZ
woz.ch 18.07.2019

Fall Kümmertshausen: «Die wollen, dass ich hier drin sterbe»

Die Thurgauer Staatsanwaltschaft konstruiert sich einen grossen Mafiafall. Nasar M. ist für sie der böse Pate. Dann bricht das Konstrukt zusammen. Doch Nasar M. sitzt seit über sieben Jahren ohne rechtsgültiges Urteil in Haft. Ein irrwitziges Stück Schweizer Justizgeschichte.

Von Susan Boos (Text) und Stephan Schmitz (Illustration)

Die erste Begegnung war Ende April im Gefängnis Frauenfeld. Zwischen uns eine Glasscheibe. Der Raum war klein und ohne Fenster. Nasar M. sass da, in einem rosa Hemd, frisch rasiert, mit Brille und dem Gestus eines Geschäftsmanns. Vor sich einen Ordner und einen Stapel Papiere. Sofort begann er zu erzählen. Es klang dumpf und leise durch die Scheibe.

Ein Aufnahmegerät war nicht erlaubt, nur Block und Stift. Folgendes steht in meinem Notizblock: Drei Jahre sass er in diesem Gefängnis, allein in einer dunklen Zelle. Er hatte keinen Kontakt zu anderen Menschen. Fünf Minuten am Tag sah er einen Wärter, wenn dieser ihm die Medikamente gab. Die Zelle war abgedunkelt. Beim Hofgang war er allein. Nicht einmal mit dem Gefängnispfarrer durfte er reden. «Fragen Sie ihn, er wird es bestätigen.» Er hält einen Zettel mit dem Namen und der Mailadresse des Pfarrers an die Trennscheibe.

Viele Medikamente haben sie ihm gegeben. Beruhigungsmittel, manchmal hat er von den Tagen nicht viel mitbekommen. Die Medikamente hätten seinen Körper kaputt gemacht, sagt er. Er habe Herzprobleme, bekomme aber keine richtige medizinische Versorgung.

Später wurde er in die Zürcher Strafanstalt Pöschwies verlegt. Hat dort einen Hungerstreik gemacht. 161 Tage nichts gegessen, 13 Tage nichts getrunken. Er wollte sterben. «Aber sie haben gesagt: ‹Nein, das geht nicht.› Sie haben mich künstlich ernährt. Dann bin ich nicht gestorben.»

Er wühlt in den Papieren, hält einen Brief an die Scheibe. «Da steht drin, dass mich meine Kinder nicht mehr sehen möchten.» Als er verhaftet wurde, waren sie drei und sechs Jahre alt. Seine Frau hat Brustkrebs. Falls sie stirbt, weiss er nicht, was mit den Kindern passiert.

Dann redet er wieder von der Isolationshaft. «1085 Tage habe ich die Sonne nicht gesehen. Ich bin nicht schuld, dass ich noch kein Urteil habe – seit siebeneinhalb Jahren bin ich jetzt im Gefängnis, ohne Urteil! Alle schieben mich herum. Keiner will zuständig sein.»

Er hatte nur eine Stunde Zeit, um seine Geschichte zu erzählen, dann war die Besuchszeit um. Vieles ging durcheinander und war kaum zu verstehen. Nachfragen war kaum möglich. Manches klang zu abenteuerlich, um wahr zu sein. Dass er nackt in der Arrestzelle habe sitzen müssen, dass sie ihn ohne Schuhe und Socken zum Prozess gebracht hätten, dass ein anderer Angeklagter auch keine medizinische Versorgung erhalten habe und inzwischen an Krebs gestorben sei.

In den nächsten Wochen wird er regelmässig Briefe und Unterlagen schicken. Am Ende kommen mehrere Kilo Akten über Nasar M. zusammen. Die Medien nannten ihn den Bandenboss. Der «Fall Kümmertshausen» war der grösste Prozess, der in den letzten Jahrzehnten im Kanton Thurgau stattgefunden hat.

David Mühlemann von humanrights.ch kümmert sich seit Monaten um Nasar M. Die Berner Menschenrechtsorganisation ist eine der wenigen Stellen, an die sich Gefangene wenden können, wenn sie Unterstützung brauchen. Mühlemann fragt nicht, ob jemand schuldig oder unschuldig ist. Ihn interessiert nur, ob im Strafvollzug die Menschenrechte eingehalten werden. Er interveniert bei den Behörden, vermittelt einen Psychiater oder eine neue Verteidigerin und ist oft die einzige Vertrauensperson, die die Gefangenen noch haben. Nasar M. hält er für einen besonders krassen Fall. Es gehe ihm gesundheitlich schlecht, er drehe langsam durch.

Dröselt man M.s Geschichte auf, kommt ein irrwitziges Stück Schweizer Justizgeschichte zum Vorschein.

Die Anklage

Am 20. November 2010 wird der 53-jährige Peter Gubler im thurgauischen Kümmertshausen tot aufgefunden. Die Staatsanwaltschaft sucht nach ZeugInnen. Der Fall wird immer grösser. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass sie eine Kurdenmafia ausgehoben hat – mit Nasar M. als Paten.

In der Anklageschrift heisst es: «Es konnte nachgewiesen werden, dass Nasar M. Kopf einer gut organisierten, kriminellen Gruppierung war, die den Lebensunterhalt ihrer Mitglieder durch den organisierten Betäubungsmittelhandel, qualifizierte Erpressung und Menschenschleusung bestritt.»

Nasar M. soll über 300 Menschen nach Europa geschmuggelt und damit knapp eine Million Franken verdient haben. Zudem soll er mit Heroin gehandelt und ein Inkassogeschäft betrieben haben, das mit unzimperlichen Methoden im Auftrag von Gläubigern Geld eintrieb. Am schwersten wiegt jedoch, dass Nasar M. gemäss Staatsanwaltschaft den Auftrag gegeben hat, Peter Gubler umzubringen.

Die Version der Staatsanwaltschaft lautet: Gubler und Nasar M. hatten Streit, weil ein Freund von Gubler in der Türkei verhaftet worden war. Er hatte geholfen – im Auftrag von M. –, Flüchtlinge über die Grenze zu bringen. Gubler war der Meinung, Nasar M. müsse sich um die Freilassung seines Freundes kümmern. Dieser tat aber nichts. Daraufhin drohte Gubler, M. wegen seiner Schleppergeschichten bei der Polizei anzuzeigen. Um das zu verhindern, beauftragte M. einige Leute, Gubler umzubringen. Drei Männer suchten Gubler auf, bedrohten und fesselten ihn. Als er Lärm machte, stopften sie ihm eine Kapuze, die zufälligerweise an der Garderobe hing, in den Rachen, sodass Gubler grauenvoll erstickte.

Für Nasar M. verlangte die Staatsanwaltschaft wegen vorsätzlicher Tötung, Drogenhandel und Erpressung eine Strafe von zwanzig Jahren Gefängnis mit anschliessender Verwahrung. Neben Nasar M. klagte sie dreizehn weitere Männer an, die ihrer Meinung nach Teil der kriminellen Organisation waren. Die Anklageschrift wurde im Januar 2015 fertiggestellt.

Die Wende

Im März 2015 fällt das Bundesgericht ein Urteil, das den Fall Kümmertshausen fundamental verändert. Es schickt die beiden verantwortlichen StaatsanwältInnen in den Ausstand. Das Urteil schildert eine skrupellos manipulative Untersuchungsbehörde.

Der Thurgauer Anwalt Otmar Kurath hatte es erwirkt. Sein Mandant war neben Nasar M. einer der Hauptangeklagten im Fall. Die Staatsanwaltschaft beantragte für ihn fünfzehneinhalb Jahre Haft, weil er an der Tötung von Peter Gubler beteiligt gewesen sein soll. Kurath war im Sommer 2013 misstrauisch geworden. Er hatte das Gefühl, einer der Mitangeschuldigten benehme sich wie ein gekaufter Kronzeuge, weil er die anderen Beschuldigten auf zweifelhafte Art belastete. Zudem hatte Kurath den Eindruck, die Staatsanwaltschaft wisse Dinge, die sie eigentlich noch gar nicht wissen konnte. Er fragte nach und forderte Transparenz. Die beiden verantwortlichen StaatsanwältInnen Andreas Zuber und Linda Sulzer nervten sich zunehmend über ihn. Im Oktober 2013 entzogen sie Kurath die amtliche Verteidigung und setzten einen neuen, ihnen genehmen Pflichtverteidiger ein. Kuraths Mandant wollte das aber nicht, er vertraute seinem bisherigen Verteidiger.

Das Bundesgericht wunderte sich danach über das Gebaren der StaatsanwältInnen. Für gewöhnlich beantrage ein Mandant die Auswechslung eines Pflichtverteidigers, «weil er sich von diesem ungenügend verteidigt fühlt. Hier verhielt es sich anders. (…) Grund für diesen unüblichen Schritt war offensichtlich die engagierte Mandatsführung des Rechtsanwaltes.» Kurath möge für die Staatsanwaltschaft ein unbequemer Verteidiger gewesen sein, unbequem zu sein, sei jedoch mitunter die Aufgabe der Verteidigung.

Die StaatsanwältInnen nahmen Kuraths Mandanten in die Mangel, ohne Kurath zu informieren. Als der Beschuldigte sagte, Kurath habe ihm stets zum Schweigen geraten, bemerkte die Staatsanwältin: «Darüber werden wir nachher noch sprechen.» Später bestritten die StaatsanwältInnen dies. Im Protokoll war die implizite Drohung nicht vermerkt, obwohl das Gesetz verlangt, dass alle Aussagen festgehalten werden müssen. Doch hatte zufällig ein anderer Anwalt – der einen anderen Angeklagten vertrat und deshalb anwesend war – das Gespräch auf seinem Smartphone mitgeschnitten. Das Bundesgericht rügte die StaatsanwältInnen scharf und schickte sie wegen Befangenheit in den Ausstand.

Nach einem weiteren Bundesgerichtsentscheid musste die Staatsanwaltschaft die gesamten Akten, die sie zu allen Beschuldigten gesammelt hatte, offenlegen. So flog auf, dass die StaatsanwältInnen im Mai 2013 mit einem Beschuldigten heimlich Sitzungen abgehalten und ihn zum Kronzeugen aufgebaut hatten; der Mann hatte früher schon als Polizeispitzel gearbeitet. Im Sommer 2013 gab der Kronzeuge dann bei der offiziellen Befragung zu Protokoll, was die StaatsanwältInnen hören wollten. Im Gegenzug versprachen sie ihm einen separaten Prozess und eine geringe Strafe. Kuraths Verdacht hatte sich also bestätigt.

Der Kronzeuge wurde im Frühjahr 2015 abgeurteilt. Dank der versprochenen milden Anklageschrift bekam er bloss fünf Jahre Gefängnis. Ein illegaler Akt. Die Schweiz kennt keine Kronzeugenregelung, weil man weiss, dass die Aussagen von KronzeugInnen wenig wert sind. Um selber besser dazustehen, sind sie stets versucht, die anderen mit falschen Anschuldigungen zu belasten.

Auf Geheiss des Bundesgerichts musste das milde Separaturteil gegen den Kronzeugen aufgehoben werden, und er hatte sich mit den anderen Beschuldigten vor Gericht zu verantworten.

Eigentlich hätte danach die gesamte Strafuntersuchung neu aufgerollt werden müssen, weil alle Deliktvorwürfe, die auf den Aussagen des Kronzeugen beruhen, möglicherweise manipuliert sind. Das passierte aber nur beschränkt. Zwar übernahm ein neuer Staatsanwalt, doch basierte seine Anklageschrift mehrheitlich auf der Arbeit seiner VorgängerInnen.

Der Prozess

Der Prozess «Kümmertshausen» beginnt am 20. Februar 2017 im Bezirksgericht Kreuzlingen und wird während über eines Jahres mehr als vierzig Verhandlungstage beanspruchen.

Bald wird klar: Der Kronzeuge war selber am Tatort und vermutlich der Haupttäter. Am 23. Januar 2018 findet im Bezirksgericht die mündliche Urteilsverkündung statt. Der Kronzeuge kommt am Morgen als freier Mann ins Gericht. Dann wird er vom Gericht als einziger Hauptschuldiger wegen eventualvorsätzlicher Tötung durch Unterlassung verurteilt. Noch im Gerichtssaal wird er verhaftet, doch nach wenigen Tagen wieder entlassen.

Die anderen Hauptangeklagten werden in Bezug auf die Tötung alle freigesprochen. Auch Nasar M. Nach Einschätzung des Gerichts hatte er mit der Tötung nichts zu tun. Was an jenem Abend in Kümmertshausen genau passiert ist und warum die drei Männer Gubler knebelten, wird wohl nie mehr zu ergründen sein. Das Gericht ging davon aus, dass der Tod von Gubler nicht beabsichtigt war, aber der Kronzeuge ihn bewusst in Kauf genommen hatte.

Nasar M. verurteilt es letztlich wegen Erpressung – damit sind die Geldeintreibergeschichten gemeint –, Schleppertätigkeit und Verstössen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Von den vielen Kilogramm Drogen, von denen ursprünglich die Rede war, bleiben 900 Gramm übrig. Der grosse Bandenboss schrumpft zum gewöhnlichen Kriminellen.

Für die begangenen Delikte bekommt Nasar M. trotzdem eine Strafe von 14 Jahren Gefängnis. Ein weiterer Hauptangeklagter – der vom Kronzeugen ebenfalls schwer belastete Mandant von Anwalt Kurath – erhält statt der geforderten 15,5 Jahre nur 30 Monate teilbedingt. Der Kronzeuge, der für Gublers Tod verantwortlich ist, bekommt 7 Jahre und 6 Monate und ist auf freiem Fuss. So wie auch alle anderen Angeklagten im Fall Kümmertshausen. Nur Nasar M. sitzt seit Anfang 2012 ununterbrochen in Haft.

Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Erst seit kurzem liegt die schriftliche Begründung vor, die mehr als 1300 Seiten umfasst. Dagegen kann Nasar M. Berufung einreichen, worauf ein weiteres Berufungsverfahren folgt, das nochmals Jahre dauern kann. So lange befindet er sich juristisch in einem Schwebezustand: nicht mehr Untersuchungshäftling, noch nicht im regulären Strafvollzug. Theoretisch gilt bis zur rechtskräftigen Verurteilung die Unschuldsvermutung.

Ein Bekannter von Nasar M. hatte einmal – relativ stümperhaft – versucht, ihn zu befreien. Deswegen und weil M. immer wieder von Suizid spricht, sitzt er bis heute in Sicherheitshaft. Er darf Besuch nur hinter einer Trennscheibe empfangen. Auch seinen neuen Anwalt. Mit dem ersten Pflichtverteidiger verstand er sich nicht mehr gut. Dank David Mühlemann hat er inzwischen einen neuen, der sich aber erst noch in den Fall einarbeiten muss.

Nasar M. klagt in seinen Briefen die Vollzugsbehörden an. Die zuständige Justizstelle im Kanton Thurgau weist sämtliche Anschuldigungen zurück. «Die zitierten Aussagen des Beschuldigten, die Zelle sei mit einer Decke abgedunkelt gewesen und er habe nicht mit dem Gefängnispfarrer sprechen dürfen, treffen nicht zu», schreibt Silvio Stierli, Leiter des Amtes für Justizvollzug. Die Abdunkelung lässt sich nicht überprüfen. Der Gefängnisseelsorger sagt jedoch, es stimme, das Personal habe ihn angewiesen, mit Nasar M. keinen Kontakt aufzunehmen. Er habe das dann auch nicht gemacht – aus Angst, ihm sonst zu schaden. Er wisse aber bis heute nicht, ob das richtig gewesen sei.

Vieles, was Nasar M. erzählt, ist so oder ähnlich passiert. Zum Beispiel ist ein Mitangeklagter wirklich an Krebs gestorben. Dessen Schwester war an allen Prozesstagen dabei. Sie berichtet, ihr Bruder habe immer wieder über Schmerzen im Bauch geklagt. Er bekam lediglich ein Schmerzmittel. Immer und immer wieder habe ihr Bruder – der in der Pöschwies untergebracht war – einen Arzt sehen wollen, was jedoch über Monate nicht erlaubt worden sei.

Im Frühjahr 2018 durfte er erstmals zum Gefängnisarzt. Der überwies ihn sofort an eine Spezialistin ausserhalb des Gefängnisses. Doch war es bereits zu spät. Der Mann hatte Magenkrebs im letzten Stadium. Im November 2018 starb er. Der Krebs hätte sich behandeln lassen, sagt die Schwester, das stehe auch im Arztbericht: «Hätte man ihn rechtzeitig therapiert, hätte er mit grösster Wahrscheinlichkeit überlebt.»

Die Schwester sagt, sie habe Nasar M. vor dem Prozess nicht gekannt. Sie bestätigt aber, dass er einmal ohne Socken und ohne Schuhe mit einer viel zu grossen Hose, die kaum hielt, ins Gericht gebracht worden sei.

Dass er oft und lange Hungerstreiks gemacht hat, ist in den Akten vermerkt. Ob er wirklich künstlich ernährt oder nur mit einer Infusion wieder mit Flüssigkeit versorgt wurde, weil er tagelang nichts getrunken hatte, lässt sich nicht feststellen. Die Strafanstalt Pöschwies darf aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen nichts dazu sagen. Belegt ist aber, dass Nasar M. nur mit einer Papierhose bekleidet in der Arrestzelle von Pöschwies sass.

Inzwischen wurden bei Nasar M. ein chronisches Herzleiden, eine posttraumatische Belastungsstörung sowie eine somatoforme Schmerzstörung festgestellt. Er müsste regelmässig zur kardiologischen Untersuchung, was aber nur beschränkt passiert.

Seine Frau hat die Krebsbehandlung offenbar gut überstanden. Ende Juni fand aber die Scheidung statt. Er darf jetzt offiziell keinen Kontakt mehr zu seinen Kindern haben.

Seit einigen Wochen ist Nasar M. in der Strafanstalt Thorberg im Kanton Bern untergebracht. Er war neben Frauenfeld und Pöschwies schon in fast jeder Strafvollzugsanstalt der Schweiz. Keine will ihn mehr aufnehmen. Er ist zu anstrengend. Ständig klagt er über gesundheitliche Probleme und rebelliert. Im Thorberg geht es auch nicht gut. Er verweigert die Arbeit, was ihm mehrere Tage Arrest einbringt. Zum konkreten Fall dürfe sie sich wegen des Datenschutzes nicht äussern, sagt Beatrice Georg, die stellvertretende Direktorin der Anstalt. Aber ganz allgemein sei die Regel, dass jemand in den Arrest komme, wenn er trotz mehrerer Gespräche und Verwarnungen mehrmals die Arbeit verweigere.

Arrestzellen sind leere Räume. Da gibt es nichts Persönliches, keine Kontakte – nur reizlose Leere. Bis zu vierzehn Tage kann der Arrest im Kanton Bern dauern. Einen so langen Arrest habe sie aber noch nie anordnen müssen, sagt Georg.

Nasar M. sass über drei Jahre und danach als Disziplinierungsmassnahme immer wieder in Einzelhaft.

«Je länger eine Einzelhaft andauert oder je grösser die Unsicherheit bezüglich der zu erwartenden Dauer ist, desto grösser ist das Risiko eines ernsthaften und unwiderruflichen Schadens auf den Insassen, was in der Folge eine grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe oder sogar Folter darstellen kann», schreibt die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter in einem Bericht. Eine Einzelhaft von mehr als fünfzehn Tagen könne bereits kritische Auswirkungen haben. Weiter stellt die Kommission fest: «Personen, die sich über längere Zeit isoliert in einer reizarmen Umgebung befinden, entwickeln eine Unfähigkeit, normal auf ihre Umgebung hin zu reagieren.» Genau das scheint Nasar M. zu widerfahren. Und es wird immer schlimmer.

Zweite Begegnung

Er wird von einem Beamten hereingebracht. Der Aufseher schliesst die Tür. Nasar M. nimmt auf der anderen Seite der Trennscheibe Platz. Grauer Dreitagebart, graues Gesicht, graues T-Shirt, braune Hose. Das trägt man im Gefängnis Thorberg als Häftling. Er hat wieder einen dicken Ordner dabei. Es ist still im geteilten Raum. Auch im Thorberg sind nur Kugelschreiber und Notizblock erlaubt.

«So etwas wie hier ist mir noch nie widerfahren», sagt er matt. «Folter, schlimmer als anderswo.»

Er redet gebrochen und gehetzt. Es ist schwer, ihn zu verstehen. Fünf Tage sass er in der Arrestzelle. Nackt hätten sie ihn reingesteckt. Nicht einmal Unterhosen habe er gehabt. Erniedrigend sei das gewesen. Dann hat er einen Hungerstreik begonnen. Nichts gegessen, nichts getrunken. Nach einigen Tagen brachten sie ihn ins Krankenhaus, legten ihm eine Infusion, weil er dehydriert war. Am nächsten Tag schickten sie ihn zurück. Er wurde direkt in die Arrestzelle gebracht, weil er noch den letzten Arresttag absitzen musste.

Nasar M. nimmt ein Blatt nach dem anderen aus dem Ordner, hält sie einzeln an die Scheibe und redet hastig. «Lesen Sie, Sie können alles nachprüfen, steht alles da.» Er wirkt hinter der Glasscheibe wie ein Ertrinkender, der mit den Armen rudert. Gesundheitlich gehe es ihm miserabel. Er nehme die Herzmedikamente nicht mehr.

«Was erwarten Sie von mir als Journalistin?»

Er schweigt. Dann sagt er, «ich werde hier nicht lebend rauskommen. Ich werde meine Familie nicht mehr sehen. Die wollen, dass ich hier drin sterbe.»

«Und was soll ich tun?»

«Was die da tun, ist nicht richtig. Schreiben Sie das.»

«Und Sie haben nichts gemacht, Sie sind unschuldig?»

«Doch, schon, aber nichts, was es rechtfertigen würde, dass man mich so behandelt.»

Er gestikuliert, redet weiter. Es ist unmöglich, mit ihm über die Geschichte zu reden, die ihn hierhergebracht hat. Am Ende ist nur zu erahnen, was er möchte: weg vom Thorberg, zurück nach Frauenfeld. Weil er hier mit Männern zusammen sei, die schlimme Morde begangen hätten und sich damit brüsteten.

Kurz bevor die Besuchszeit um ist, beginnt er wieder, vom Arrest zu erzählen. Dass es kalt und die Ventilation immer an gewesen sei und die Kamera in der Zelle ständig aufgezeichnet habe. «Fragen Sie den Aufseher, der auf Ihrer Seite steht, der hat es gesehen.»

Ein Beamter schliesst seine Seite auf und nimmt ihn mit. Ein Zweiter steht in der offenen Tür der Besucherseite. Er muss die letzte Bemerkung gehört haben. Auf die Frage, ob es denn stimme, antwortet er: Weil M. als selbstmordgefährdet gelte, habe er im Arrest eine Art Nachthemd tragen müssen, das unzerreissbar sei, damit er sich nicht umbringen könne. «Das war so angeordnet», sagt der Beamte. Unten rum sind Selbstmordgefährdete nackt, weil man sich auch mit einer Unterhose strangulieren könnte.

Tage später kommt ein Brief von Nasar M.: «Ich muss hierbleiben, keine Chance. Sie haben meine ganzen Akten. Ich werde Abschied nehmen. Ich werde kein Wasser mehr trinken. Ich bedanke mich für alles. Ich kann nicht mehr leiden, für meine Familie ist es besser. Mit freundlichen Grüssen, Nasar.»

Zum Thema Hungerstreik sagt Beatrice Georg, jeder Häftling entscheide selbst, ob er Nahrung zu sich nehme oder nicht.

«Was passiert, wenn es prekär wird?»

«Dann weist der zuständige Arzt oder das Pflegepersonal den Eingewiesenen in die Bewachungsstation im Inselspital ein.»

«Und wenn er sich zu Tode fasten will?»

«Wenn der Eingewiesene im Spital ist, sind wir nicht mehr zuständig. Je nach Patientenverfügung wird das Spital weitere Entscheidungen treffen.»

Im Berner Gesetz über den Justizvollzug steht zur Zwangsernährung: «Besteht im Falle eines Hungerstreiks Lebensgefahr oder eine schwerwiegende Gefahr für die Gesundheit der eingewiesenen Person, ordnet eine Ärztin oder ein Arzt eine Zwangsernährung an und leitet diese an.» Das Gesetz besagt aber auch, dass jemand, der noch urteilsfähig ist, nicht zwangsernährt wird, und dass eine Patientenverfügung zu beachten ist. Wenn eine Person festhält, sie wolle keine lebenserhaltenden Massnahmen, würde man sie wohl sterben lassen.

Hoffentlich zieht es Nasar M. nicht bis zum bittern Ende durch.

Für die Thurgauer StaatsanwältInnen Zuber und Sulzer hatte das Kronzeugendesaster übrigens keine Konsequenzen. Die Thurgauer Regierung fand, es sei nicht alles optimal gelaufen. Mehr nicht. Ende 2017 Jahr wechselten die beiden in den Kanton Schaffhausen. Ihre Anstellung sorgte für Unmut, weil das Prozedere höchst merkwürdig verlief, aber das ist eine andere Geschichte.
(https://www.woz.ch/1929/fall-kuemmertshausen/die-wollen-dass-ich-hier-drin-sterbe)

+++BÜROKRATIE
derbund.ch 28.08.2019

Der vermeintliche Chefbünzli

Er muss kontrollieren, ob die Sonnenschirme der Gartenbeizen nicht zu gross sind. Trotzdem geniesst Polizeiinspektor Marc Heeb bei seiner Klientel einen äusserst guten Ruf.

Fabian Christl

«Guten Tag, ich bin der Gewerbeverantwortliche mit der Note 3», sagt Marc Heeb derzeit gerne, wenn er Betriebe besucht. Der Co-Leiter des Stadtberner Polizeiinspektorats spricht damit augenzwinkernd eine Umfrage bei Gewerbetreibenden an, wonach die Stadt betreffend Gewerbefreundlichkeit lediglich drei von zehn Punkten erhalten hat.

Der 49-jährige Chefbeamte weiss also, wie mit Kritikern umzugehen ist. Das ist auch nötig. Heeb muss sich nicht nur mit gewöhnlichen Gewerblern herumschlagen; in seine Zuständigkeit fallen auch die Gastronomie, Pop-ups, das Nachtleben, Demonstrationen, Parkplätze und das Taxiwesen – also alles, was die Leute in der Stadt Bern so in Rage bringt. Und Heeb muss sich bei ihnen allen unbeliebt machen. Da ist schon mal ein Sonnenschirm zu gross, ein Tisch zu viel auf der Gasse oder die Musik zu laut aufgedreht. Eine Karikatur, die im «Bund» erschien, zeigte Heeb beim Nachmessen eines Trinkhalms. Heeb, der Chefbünzli der Bundesstadt?

Kaum. Mit dem Nachtlebenkonzept, das seine Handschrift trägt, hat er längere Öffnungszeiten für Clubs und mediterrane Nächte für Gastronomen ermöglicht. Auch dass im Sommer ein Dutzend Pop-up-Bars Gäste bewirtet, geht auf seinen Einsatz zurück. Manchmal würde er gerne noch grosszügiger agieren, daran hindern ihn aber übergeordnete Gesetze. Viele Lärmvorschriften fussen auf Bundesrecht, und die Bewilligungen für Gastro-Betriebe darf nur der Regierungsstatthalter erteilen.

Erste Amtshandlung: Verbot gekippt

Schon als der studierte Jurist um die Jahrtausendwende als wissenschaftlicher Mitarbeiter zur Gewerbepolizei kam, war seine erste Aufgabe, nach unnötigen Vorschriften Ausschau zu halten. Heeb wurde rasch fündig – und die «Geflügelverordnung» Geschichte. Seither ist es in der Stadt Bern nicht mehr verboten, «in der Zeit vom 1. April bis 1. Oktober Geflügel frei herumlaufen zu lassen». Trotzdem kam 2002 die Ernennung des damals 32-Jährigen zum Leiter Gewerbepolizei nicht nur gut an. In Leserbriefen wurde er als «systemkonforme Marionette» verunglimpft.

Solche Stimmen sind verstummt. Heute geniesst Heeb einen äusserst guten Ruf. Einzig bei demonstrationsfreudigen Linksaussen ist die Begeisterung etwas getrübt. Heeb sei bisweilen stur und seine Auflagen nicht immer nachvollziehbar, heisst es etwa. «Aber so schlecht, um ihn öffentlich zu kritisieren, ist er auch wieder nicht.» Dafür wird er von anderen umso lauter gelobt. Nachtlebenaktivist und Stadtrat Tom Berger (Jungfreisinn) fürchtet sich jetzt schon vor der Zeit nach Heeb.

Der Verband Gastro Stadt Bern und Umgebung würdigte ihn 2017 mit dem Gastrobären. Und selbst Thomas Balmer, Präsident vom Gewerbeverband KMU Stadt Bern, bekannt für seine wenig zurückhaltende Art, an den Berner Behörden Kritik zu üben, hat nur lobende Worte für Heeb übrig: Er habe stets ein offenes Ohr, sei verlässlich und nutze seinen Spielraum im Sinne des Gewerbes. Kurz: «Die schlechte Note in der Umfrage galt sicher nicht ihm, sondern dem rot-grünen Gemeinderat mit seinen schikanösen Vorschriften und der gewerbefeindlichen Verkehrspolitik.»

Spross des Leinenweberei-Direktors

Doch wer ist der Mann, der angetreten ist, um die Verwaltung der Beamtenstadt zu «entstauben»? Beim Treffen im Kornhaus-Café präsentiert sich der Vater zweier Kinder als zugänglicher, unprätentiöser Typ. Zwar trägt er einen Tschopen, doch die etwas zu langen und zu weiten Jeans nehmen ihm jegliche distinktive Eleganz. Zudem versprüht er eine Leidenschaft, wie man sie bei Staatsbediensteten selten erlebt. Selbst wenn er zu Sätzen greift wie: «Ich mag den direkten Kontakt mit Menschen», oder: «Ich finde die Stadt Bern grossartig», wirkt es nicht gänzlich abgedroschen.

Derzeit lebt er in Wohlen, die meiste Zeit seines Lebens verbrachte er aber in der Stadt Bern. Sein Vater, Albert Heeb, war Direktor der Berner Leinenweberei. Ein Herz für KMU sei ihm deshalb «in die Wiege» gelegt worden, sagt er. Mit seinem Vater hatte er damals auch besprochen, ob er sich auf die Stelle als Leiter Gewerbepolizei bewerben sollte. «Wir kamen zum Schluss, dass damit zwar repressive Elemente verbunden sind, man aber letztlich im Dienste des Gewerbes steht.»

Auch unter Heeb ist die Freiheit nicht grenzenlos

Nun ist es aber nicht so, dass die ganze Berner Bevölkerung ein Interesse an einer pulsierenden Stadt hat. Viele nerven sich ob dem Lärm oder sie finden, an der Aare oder beim Egelsee brauche es nicht auch noch kommerzielle Angebote. Heeb ist aber überzeugt, die Mehrheit hinter sich zu wissen. «Ich höre viel häufiger, wir seien eine Ballenbern-Polizei, als dass wir zu grosszügig Bewilligungen erteilten.»

Doch auch Heebs Offenheit hat Grenzen. «Eine gewisse Ordnung muss sein», sagt er. Dass seine Gewerbepolizei schon mal einen Ladenbesitzer auffordert, einen kleinen Teppich vor dem Lokal wegzuräumen, hält er etwa für notwendig. «Da könnten Leute darüber stolpern.» Insgesamt sieht er aber durchaus noch Potenzial für weitere Liberalisierungen. Derzeit prüft er, wie weit die Vorschriften für Gartenbeizen gelockert werden können. Und als nächstes soll es dann mehr Freiheiten für Gastronomen während des Zibelemärit geben. «Ich bin noch lange nicht am Ziel angelangt.»

Erfolgreicher Pop-up-Sommer

In diesem Sommer belebten insgesamt zehn «Pop-ups» die Stadt Bern. Das ist eines mehr, als 2018 bewilligt worden sind. Die prominenteste Änderung betrifft die Grosse Schanze. Das Peter Flamingo, das sich im Sommer 2018 Beliebtheit erfreute, konnte in diesem Jahr nicht stattfinden. Das lag indes nicht an der Stadt: Der Kanton hat als Grundeigentümer seinen Segen wegen statischer Bedenken nicht erteilt.

Laut Marc Heeb, Co-Leiter Polizeiinspektorat, kam es jeweils zu «sehr wenigen» Beschwerden. Das positive Fazit, das er zieht, erklärt er aber folgendermassen: «Ich finde es sehr spannend, wie es bei Pop-ups eine Durchmischung gibt zwischen der Kundschaft, die sich dort mit Getränken eindeckt, und der Kundschaft, die ihre selbst mitgebrachten Getränke konsumiert.» (chl)
(https://www.derbund.ch/bern/der-vermeintliche-chefbuenzli/story/28906591)


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