Medienspiegel 3. April 2019

+++BERN
Geflüchtete führen durch das Historische Museum Bern
Fünf Männer und Frauen aus Syrien, Eritrea, Afghanistan und Iran haben sich zu Museumsguides ausbilden lassen. Sie führen nun Besucher durchs Historische Museum Bern.
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/gefluechtete-fuehren-durch-das-historische-museum-bern/story/14418076-> https://www.derbund.ch/bern/gefluechtete-lassen-sich-zu-museumsguides-ausbilden/story/23472466
-> https://www.srf.ch/news/regional/bern-freiburg-wallis/fluechtlinge-als-museumsguide-was-der-bauernkrieg-mit-dem-leben-von-syam-zu-tun-hat
-> https://www.nau.ch/gemeinde/schweiz/gefluchtete-fuhren-durch-das-historische-museum-bern-65503533
-> https://www.bhm.ch/fileadmin/user_upload/documents/Medien/2019/Medienmitteilung_Multaka.pdf

+++AARGAU
Baby-Handel in Sri Lanka: Umstrittene Vermittlerin hat Kinder im Aargau platziert
Bund und Kantone müssen die Adoptionspraxis in den 1980er-Jahren untersuchen.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/baby-handel-in-sri-lanka-umstrittene-vermittlerin-hat-kinder-im-aargau-platziert-134292543

+++ST. GALLEN
Ausstellung FLUCHT
zu Gast im Historischen und Völkerkundemuseum St.Gallen 6. April 2019 – 5. Januar 2020
Täglich erreichen uns Bilder von Menschen, die auf der Flucht sind – vor Gewalt, Krieg und Verfolgung. Sie müssen ihr Zuhause, ihre Familie und ihre Heimat hinter sich lassen und begeben sich auf eine gefährliche Reise ins Ungewisse. Die Ausstellung zeigt, was es heisst, auf der Flucht zu sein und an einem Ort anzukommen, an dem niemand auf einen gewartet hat. Nun ist die erfolgreiche Wanderausstellung vom 6. April 2019 bis 5. Januar 2020 auf ihrer letzten Station im HVM St. Gallen zu sehen.
https://www.ekm.admin.ch/ekm/de/home/aktuell/news/2019/2019-04-03.html
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/neue-ausstellung-in-stgallen-zeigt-schicksale-von-fluechtlingen-ld.1107855

+++BALKANROUTE
„Refugees die along the Balkan Route“
Although we have been facing alerting border violence against refugees for the past two and half years, this past week two documentary movies, the ARD’s titled “Deaths along the Balkan Route” and the Al-Jazeera’s “Revision – At the Line of Separation” and Deutsche Welle’s article „Refugees Die Along the Balkan Route” brought stronger attention to the unlawful practice of pushbacks and tragic ramifications of the lack of safe and legal pathways such as – deaths. Besides an ongoing criminalization of those seeking safety, one encounters highly problematic cases of police pressure on lawyers and civil society organizations involved in illuminating the circumstances of the death of the six-year-old Madina and destiny of her family, and those publicly condemning systematic, unlawful and violent denial of access to the Croatian territory to thousands of asylum seekers and their collective expulsions to Bosnia and Herzegovina and Serbia.
https://ffm-online.org/refugees-die-along-the-balkan-route/

+++GRIECHENLAND
Unmenschliche Zustände – Samos: Europas vergessene Flüchtlinge
Selbstmordversuche und Vergewaltigungen. Überall Müll, Ratten und Kakerlaken. Auf der Insel Samos zeigt sich, wie sehr das reiche Europa der Flüchtlinge überdrüssig geworden ist.
https://www.zdf.de/nachrichten/heute/das-elend-der-fluechtlinge-auf-samos-100.html

+++MITTELMEER
Flüchtlingsschiff „Alan Kurdi“: „Soll sie nach Hamburg fahren“
Die deutsche Hilfsorganisation Sea-Eye hat erneut Migranten im Mittelmeer gerettet und sucht einen sicheren Hafen. Doch Italien geht wieder auf Konfrontation. „Soll sie nach Hamburg fahren“, sagt Innenminister Salvini.
https://www.tagesschau.de/ausland/sea-eye-105.html

Mittelmeer: Hilfsorganisation rettet 64 Menschen aus Schlauchboot
Die Organisation Sea-Watch hat vor der italienischen Küste offenbar dutzende Menschen aus einem Schlauchboot gerettet. Weitere 50 Menschen werden vermisst.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/sea-eye-hilfsorganisation-rettet-64-menschen-aus-schlauchboot-a-1261147.html
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-04/seenotrettung-mittelmeer-fluechtlinge-libyen-sea-eye
-> https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/sea-eye-rettet-64-menschen-vor-libyscher-mittelmeerkueste-16122781.html
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1116024.mittelmeer-sea-eye-rettet-gefluechtete.html
-> https://sea-eye.org/alan-kurdi-rettet-64-menschenleben/
-> https://ffm-online.org/sea-eye-alan-kurdi-rettet-64-boat-people-vor-libyen/

Flüchtlinge im Mittelmeer: „Europäische Politik nimmt tausendfaches Sterben in Kauf“
262 zivilgesellschaftliche Organisationen fordern in einem offenen Brief an Angela Merkel die offensive Unterstützung der Seenotrettung im Mittelmeer.
https://www.tagesspiegel.de/politik/fluechtlinge-im-mittelmeer-europaeische-politik-nimmt-tausendfaches-sterben-in-kauf/24175130.html
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-04/fluechtlinge-mittelmeer-tote-zivilgesellschaft-angela-merkel
-> https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/presse/offener-brief-ueber-250-organisationen-fordern-merkel-zum-handeln-auf
-> https://www.proasyl.de/pressemitteilung/mittelmeer-ueber-250-organisationen-fordern-angela-merkel-zum-handeln-auf/
-> https://sosmediterranee.de/offener-brief-an-die-bundeskanzlerin-drei-forderungen-aus-der-zivilgesellschaft/
-> https://www.nds-fluerat.org/37410/aktuelles/mittelmeer-ueber-250-organisationen-fordern-angela-merkel-zum-handeln-auf/
-> http://www.spiegel.de/politik/ausland/angela-merkel-ngos-fordern-neuausrichtung-der-fluechtlingspolitik-a-1260984.html
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1115972.bootsfluechtlinge-die-pflicht-zur-seenotrettung-ist-voelkerrecht.html
-> http://taz.de/Offener-Brief-zur-Seenotrettung/!5583515/

Seenotrettung „Sea-Eye“ wird Satellitenaufklärung im zentralen Mittelmeer einsetzen
Die Seenotrettungs-NGO „Sea-Eye“ wird Satellitenaufklärung für das Monitoring der Todeszone vor Libyen einsetzen, um Menschenrechtsverletzungen gegenüber Boat-people zu dokumentieren. Das neue Projekt läuft unter dem Namen „Space-Eye“. Die NGO hat einen entsprechenden Vertrag mit der privaten US-amerikanischen Firma „Planet“ unterzeichnet, die gewünschte Satellitenbilder liefern wird. Sie decken einen 30 breiten Abschnitt über 100 km längs der Küste ab. Damit können nicht nur Rettungs-NGOs in Echtzeit benachrichtigt werden. Ausserdem lassen sich durch Bildvergleich laufende und vergangene unterlassene Hilfeleistungen mit Todesfolge dokumentieren. Der rücklaufende Zeitraum beträgt mehrere Jahre. Auf den Satellitenbildern sind beispielsweise Frontex-Schiffe eindeutig zu identifizieren.
https://ffm-online.org/seenotrettung-sea-eye-wird-satellitenaufklaerung-im-zentralen-mittelmeer-einsetzen/

50 verschwundene Boat-people: Italienisch-libysche Black-Box
Die sogenannte libysche Küstenwache hat laut dem Pressesprecher der libyschen Marine Ayoub Qasem von der italienischen Küstenwache bei der Weitergabe des SOS von 50 Boat-people vor Zuwara keine Ortsdaten genannt bekommen. Daher habe die sog. libysche Küstenwache nichts unternehmen können. Hingegen hatte die italienische Küstenwache am 02.04.2019 kurz nach 18 Uhr in sibyllinischen Worten mitgeteilt, dass sie die Libyer informiert und dass diese die nötigen Schritte unternommen habe. FFM hatte berichtet. AP hatte am 01.04.2019 nach 22 Uhr die GPS-Daten des Flüchtlingsboots dem italienischen MRCC mitgeteilt, die Libyer waren telefonisch nicht erreichbar. – Nach dem Streit über SaR-Zuständigkeiten im zentralen Mittelmeer wird nun ein Streit um fehlerhafte Kommunikation inszeniert, um die organisierte unterlassene Hilfe für Boat-people zu kaschieren.
https://ffm-online.org/50-verschwundene-boat-people-italienisch-libysche-black-box-im-zentralen-mittelmeer/

From Migrants to Pirates: How Identities Change During Mediterranean Passage
When children, women, and men escape the torture camps in Libya via the Mediterranean Sea, something odd seems to happen, more frequently now than before. The names ascribed to them change, as if the passage through the sea and their growing proximity to Europe altered their identity.
https://theglobepost.com/2019/04/03/migrants-pirates-identities

(Watch the Med – Alarmphone)
Summary of Alarm Phone cases in the Aegean Sea over the past two weeks:
On March 18, we were alerted by a boat with 42 travelers, including 15 women and 11 children. At 2:09am CET we called the Greek coastguard. Shortly after, the travelers confirmed that a rescue vessel was approaching. Later, the Greek coastguard confirmed the rescue of the boat as well.
On March 20, at 1:15pm CET, our shift team was alerted to a boat with 17 travelers including 9 children in distress near Chios island and we immediately reached out to the coastguard on Chios. Shortly after, the rescue was confirmed.
On March 28, we were alerted to a boat in serious distress in front of the coast of Chios. At 1:47am CET, the Greek coastguard was informed and managed to rescue 36 travelers. Children and an infant were among them. Several people fell into water after their boat crashed on rocks.
On March 30, our shift team was alerted to one, then later to another group of travelers who had been stranded on a Turkish peninsula. Obviously, they had difficulties moving away from there. While the first group with 4 travelers managed to alert the Turkish authorities after having they received the emergency number from our team, the second group of 7 travelers wasn’t successful in doing so. Our team alerted the Turkish coastguard at 10pm who were at that time already searching for the group. At 5am, the Turkish coastguard confirmed by email that they had found 7 Syrians and brought them by boat to Datça port.
(https://www.facebook.com/watchthemed.alarmphone/posts/2340949592845937)

+++LIBYEN
Libyen: Abzug der Küstenwache wegen Ausnahmezustand und Kriegsmobilisierung?
In Westlibyen wird befürchtet, dass die Truppen des ostlibyschen Milizenchefs Haftar ab sofort versuchen werden, Tripolis und andere westlibysche Städte zu erobern. Der UN-eingesetzte Regierungschef Es-Sarraj hat deswegen den Ausnahmezustand ausgerufen und die Mobilmachung aller Milizen angeordnet. Darunter müssten auch die Küstenmilizen fallen, die für die italienische Regierung eine sogenannte libysche Küstenwache mimen.
https://ffm-online.org/libyen-abzug-der-kuestenwache-wegen-ausnahmezustand-und-kriegsmobilisierung/

+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Erich Hess: „Zigeuner und Neger darf man sagen.“
Die Junge SVP von Bern hat heute mit dem Unterschriftensammeln für das Referendum gegen den Transitplatz in Wileroltigen für Fahrende begonnen. Dabei benutzen sie weiterhin das Wort „Zigeuner“.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/erich-hess-zigeuner-und-neger-darf-man-sagen-134296334

+++GASSE
bernerzeitung.ch 03.04.2019

Ein Schlafplatz für die Schwächsten

Peter Kobi koordiniert die Obdachlosenhilfe der Stadt Bern. Nach 23 Jahren beim Sozialdienst geht er in Pension.

Claudia Salzmann

Männer trampeln durch den oberen Stock, Stimmen hallen durchs Haus, es riecht nach Zigaretten. Um 8 Uhr sind in der Notschlafstelle schon alle wach, haben gefrühstückt, und einige machen sich auf zur Arbeit. Ein Einziger bleibt im Bett, er ist krank. Andere verziehen sich in den Aufenthaltsraum im ersten Stock, wo sie die Zeit totschlagen wollen. Auf dem Ledersofa liegt ein junger Mann tief versunken in den Polstern und schaut ins Smartphone, ein anderer löst Kreuzworträtsel, einer sieht fern. Die frühe Tagwache muss sein, damit das Putzpersonal die Betten auf Kot und Erbrochenes kontrollieren kann. Viele, die hier schlafen, haben psychische Probleme. Oder sie nehmen Drogen, Alkohol und andere Substanzen zu sich.

Draussen steht Peter Kobi und drückt auf die Türklingel, die laut durchs Treppenhaus ertönt. Franz Dillier, Heimleiter des Passantenheims, macht auf. Kobi ist Koordinator der Obdachlosenhilfe der Stadt Bern. Dillier macht seinen Job seit 19 Jahren, Kobi arbeitet seit 23 Jahren beim Sozialamt. Man ist per Du, telefoniert wöchentlich, trifft sich alle zwei Monate an Sitzungen. Der letzte Besuch vor Ort liegt einige Zeit zurück, und Kobi beschreibt die Veränderungen, die ihm auffallen: «Man sieht die Abnutzung in den Räumen deutlich. Gut, dass sie renovieren.» Rund 3,4 Millionen Franken steckt die Heilsarmee ins um 1900 erbaute Haus, das von aussen wegen der beigen Fassade unscheinbar aussieht. Spektakulärer ist der dahinter erbaute Holzbau für Frauen, der innen wie ein Chalet aussieht.

Der Umbau im Herbst betrifft Kobi allerdings nicht mehr direkt, denn Ende Monat geht er in Pension. «Teilweise habe ich in meinem Job versagt», sagt Kobi. Das wichtigste Ziel seiner Fachstelle sei, die Obdachlosigkeit wo immer möglich zu verhindern. Als er vor zehn Jahren anfing, hätten 10 bis 15 Leute auf Berns Strassen geschlafen. Heute seien es zwischen 15 und 30. Diese Verdoppelung sei eine komplexe Sache. «Schliesslich ist Bern in dem Jahrzehnt gewachsen. Mit der Agglomeration gibt es ein Einzugsgebiet von 420000 Personen.» Alles potenzielle Gäste, die auch einmal Gebrauch vom Passantenheim machen können. Obdachlose würden sich meist in Ballungszentren aufhalten und sich zwischen den Schweizer Städten und auch in umliegende Länder verschieben. Die Zusammensetzung der Obdachlosen in Bern ändere sich daher laufend.

Unruhe im Haus

Im März schliefen 19 Personen auf Berns Gassen. Obwohl niemand draussen schlafen müsste. «Manche sagen, sie seien zwanzig Jahre obdachlos», sagt der 62-jährige Kobi, «wir glauben ihnen, überprüfen kann man das ja nicht.» In seiner Funktion ist er das Bindeglied zwischen Sozialamt und den acht Angeboten, die Berns Versorgung sicherstellen, sprich Plätze für Obdachlose oder von Obdachlosigkeit bedrohte Personen bereitstellen. Für diese Angebote bestehen mit der Direktion Bildung, Soziales und Sport Leistungsverträge, einen solchen hat auch das Passantenheim.

Das Telefon läutet laut, gleichzeitig klingelt die Türglocke. Franz Dillier verschwindet mit dem Telefon, eine Nachbarin will ihn wegen des Umbaus sprechen. Derweil geht Peter Kobi ins Empfangsbüro, die Schutzzone, wohin sich das Personal zurückziehen könnte, falls die Situation unkontrollierbar wird. Wieder klingelt das Telefon. «Wir haben noch ein Bett, ja. Ist die Person denn drogen- oder alkoholabhängig?», fragt der Mitarbeiter, der gelernter Schreiner ist und seit langem hier arbeitet. Hinter ihm ist mit einem Kartensystem ersichtlich, wer hier schläft. Ein schwarzer Punkt auf weissem Grund symbolisiert eine Heroinabhängigkeit, eine Holzklammer bedeutet, dass die Person selber zahlt und kein Sozialdienst oder sonstige Kasse für die 15 Franken Übernachtungsgebühr aufkommt. Eine rote Plastikklammer deutet auf einen Zahlungsrückstand hin, zwei heissen Rausschmiss. Genau das blüht einem Gast. «Am Nachmittag stellt die Polizei ihn auf die Strasse», sagt Franz Dillier, der sein Gespräch mit der Nachbarin beendet hat. Ungefähr acht Drogenabhängige mag es leiden, damit nicht zu viel Unruhe ins Haus kommt. Rund die Hälfte der Personen übernachten hier nur zwei- bis dreimal im Monat, andere wohnen hier über Monate, und wenige sind gar seit Jahren da.

Mief in London

Dass Kobi in Rente geht, bedauert man hier, weil sie ein eingespieltes Team seien. Kobi lehnt sich ans Gestell, spricht ruhig mit den Leuten und fokussiert immer auf die Sache. Bevor er eine Familie gründete, reiste er mit dem Rucksack zwei Jahre um die Welt. Die beste Entscheidung seines Lebens, sagt er heute. An ein Erlebnis in London erinnert er sich: Für umgerechnet 5 Franken schlief er in einem günstigen Hotel in einem Schlafsaal, der sich anderntags als Notschlafstelle entpuppte. «Ich erinnere mich noch genau an den Mief, den man auch aus der Rekrutenschule oder aus Skilagern kennt», sagt er. Nach der Rückkehr arbeitete er zuerst im Sucht-, später im Behindertenbereich. Danach entschloss er sich, zu heiraten und Kinder zu haben. «Bis heute bin ich mit der Mutter meiner Kinder zusammen, und eine Familie gibt Wurzeln», sagt Kobi. Wäre sie nicht gewesen, hätte er vielleicht eine weitere längere Reise unternommen.

Kobis Arbeitsplatz ist nicht im Passantenheim, sondern an der Schwarztorstrasse 71, wo sich der Sozialdienst befindet. Täglich passiert Kobi die Schalterhalle, wo Klienten Rat und Hilfe holen. Bleiche und nervöse Leute stürzen dem Ausgang entgegen, als könnte man nicht schnell genug aus dem Gebäude kommen, hat man den Eindruck. «Schade, dass Obdachlose oft unsere Hilfe nicht nutzen wollen», sagt er. Dass man hier abgewiesen werde, weist Kobi von sich. Ein Sozialarbeiter vor Ort kontrolliere das. Am schwierigsten sei es, Leuten zu helfen, die an einer Sozialphobie – einer Angst vor Leuten – leiden. Oder «einer Amtsphobie», ein Wort, das er gerade erfunden hat. Damit meint er Leute, die nicht gern mit Beamten und Ämtern zu tun haben.

Kein Gewinnoptimierer

Zehn Jahre macht er diesen Job nun, den Nachfolger stellt er jetzt überall vor. Fragt man Kobi nach Erfolgen, reagiert er verhalten. Doch dann spricht er vom Schmidhaus. Dort sorgte ein privater Vermieter für Schlagzeilen, weil er schlecht instand gehaltene Wohnungen günstig an Randständige vermietete. «Bei privaten Vermietern ist es schwierig, etwas zu tun, da die Grenzen im Privatrecht wirklich weit gefasst sind», sagt Kobi. Nach zähen Verhandlungen mit dem Besitzer und dem Sozialamt wurde das Haus durch den Verein Wohnenbern übernommen, und die Bewohner werden nun besser betreut.

Als innovative Idee stuft Kobi das Zentrum 44 im Breitenrainquartier ein. Das dazugehörende Restaurant an der Scheibenstrasse ist dazu gedacht, dass sich Leute dort bei Wohnproblemen melden können. Hier hat der Verein Wohnenbern, der mit der Stadt einen Leistungsvertrag für betreute Wohnungen innehat, seine Büros. Und das Lokal ist öffentlich, aber richtet sich auch an betreute Personen, die dort ihre Hauptmahlzeit einnehmen. «Damit sie mal aus ihren vier Wänden rauskommen», sagt Kobi.

In den zwei Dekaden hat Kobi auch Tiefpunkte erlebt wie Reorganisationen, schlechte Kommunikation und hohe Fluktuation. «Vor zwölf Jahren hatte ich schwierige Momente.» Er lacht, wenn man ihn fragt, ob er ein grosses Herz habe. Das glaube er nicht, aber schon früh sei für ihn klar gewesen, dass er nicht bei der Gewinnoptimierung der Wirtschaft mithelfen wolle. «Etwas mit Sinn wollte ich tun», sagt er. In der Ausbildung zum Sozialarbeiter stellte er sich vor, in der Entwicklungshilfe zu arbeiten, bald merkte er, dass diese Hilfe oft nicht zielführend ist. Ende April geht er in Pension. Verlängern will er nicht, Pläne hat er nämlich genug. Vielleicht seinen Rucksack entstauben und noch einmal um die Welt reisen.

4-Stufen-Modell der Stadt Bern

Erste Stufe: Niederschwellige Unterkunft (Aufenthalt tagsüber möglich). In der Regel befristet und mit einem minimalen Betreuungsangebot verbunden. 50 Plätze im Passantenheim der Heilsarmee.

Zweite Stufe: Betreutes und teilbetreutes Wohnen in speziellen Institutionen. Darin enthalten ist ein Betreuungsangebot, das eine – geforderte oder gebotene – Tagesstruktur mit einschliesst. 71 Plätze via Wohnenbern, Frauen-WG, WG Schwandengut und WG Albatros. 2 Notbetten in Frauen-WG.

Dritte Stufe: Begleitetes selbstständiges Wohnen in einer ver­fügbar gemachten Notwohnung, zeitlich befristet. Wohn- und Sozialkompetenz werden durch Begleitung weiterentwickelt und verbessert. Oder begleitetes Wohnen in der eigenen Wohnung: Lose Begleitung zur Verbesserung der Wohn- und Sozialkompetenzen im Bereich des selbstständigen Wohnens. 83 Plätze von Wohnenbern und Heilsarmee.

Vierte Stufe: Wohnberatung für selbstständig Wohnende. Es werden Personen unterstützt, deren Wohnfähigkeit oder Wohnraum gefährdet sind. Diese Stufe dient der Verhinderung von Obdachlosigkeit.
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/ein-schlafplatz-fuer-die-schwaechsten/story/19810153)

+++REPRESSION DE/G-20
Gegen das Zentrum für Politische Schönheit wird wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt
Zuletzt hatte das Innenministerium den Aktionskünstler Philipp Ruch mit Hinweis auf ein laufendes Verfahren von einer Konferenz ausgeladen. Jetzt stellt sich heraus: Gegen das Zentrum für Politische Schönheit wird wegen Bildung einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Dass der Staat mit diesem Mittel gegen Künstler vorgeht, dürfte einmalig sein.
https://netzpolitik.org/2019/gegen-das-zentrum-fuer-politische-schoenheit-wird-wegen-bildung-einer-kriminellen-vereinigung-ermittelt/
-> https://netzpolitik.org/2019/ein-angriff-auf-die-freiheit-der-kunst/
-> https://politicalbeauty.de/index.html
-> https://derstandard.at/2000100740441/Ermittlungen-gegen-Aktionskuenstlerkollektiv-in-Deutschland?ref=rss
-> http://www.spiegel.de/politik/deutschland/zentrum-fuer-politische-schoenheit-ermittlungen-gegen-zps-a-1260910.html
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/2019-04/aktionskuenstler-zentrum-fuer-politische-schoenheit-staatsanwaltschaft-gera
-> https://www.tagesspiegel.de/politik/kriminelle-vereinigung-staatsanwaltschaft-ermittelt-gegen-zentrum-fuer-politische-schoenheit/24175844.html
-> https://www.derbund.ch/kultur/diverses/gegen-den-entkoeppeler-wird-ermittelt/story/14493660
-> http://www.spiegel.de/politik/deutschland/zentrum-fuer-politische-schoenheit-aktion-gegen-hoecke-soll-ermittlungen-ausgeloest-haben-a-1261071.html
-> http://taz.de/Zentrum-fuer-politische-Schoenheit/!5583407/

+++KNAST
47 Länder im Vergleich – Flucht aus dem Gefängnis: Schweiz führt europäische Rangliste an
Was negativ tönt, ist eigentlich positiv. Denn: «Die Rangliste bestraft die Guten», erklärt ein Kriminologie-Professor.
https://www.srf.ch/news/schweiz/47-laender-im-vergleich-flucht-aus-dem-gefaengnis-schweiz-fuehrt-europaeische-rangliste-an
-> http://www.swissinfo.ch/ger/flucht-aus-gefaengnis_schweiz-ist-im-europa-vergleich-ein-paradies-fuer-ausbrecher/44870210
-> https://www.bernerzeitung.ch/schweiz/standard/nirgends-in-europa-brechen-mehr-haeftlinge-aus-als-in-der-schweiz/story/29423663

+++PRIVATE SICHERHEITSFIRMEN
Stadt Freiburg weist Nordmann-Gruppe in die Schranken
Egal ob Jugendgruppen oder Unterschriftensammler: Private Sicherheitsfirmen dürfen in der Einkaufs-Galerie der Nordmann-Gruppe in Freiburg keine Personen wegweisen. Die Galerie zwischen Manor und Fribourg Centre ist öffentlich.
https://www.srf.ch/sendungen/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/stadt-freiburg-weist-nordmann-gruppe-in-die-schranken

+++POLICE BE
Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Polizeisirene
Die Sirene der Reitschule soll vor polizeilichen Übergriffen auf der Schützenmatte warnen – aber begünstigt sie womöglich auch die Hinderung einer Amtshandlung?
https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/staatsanwaltschaft-ermittelt-wegen-polizeisirene/story/29195109

+++POLICE CH
Informationen aus der Vorstandssitzung KKJPD vom 4. März 2019
-> https://www.kkjpd.ch/newsreader/informationen-aus-der-vorstandssitzung-kkjpd-vom-4-maerz-2019.html?file=files/Dokumente/News/190304%20Info%20an%20Mitglieder%20d.pdf
https://www.kkjpd.ch/newsreader/informationen-aus-der-vorstandssitzung-kkjpd-vom-4-maerz-2019.html

+++POLICE DE
Berliner Datenschutzbeauftragte: Strafanträge und Geldbußen gegen Datenlecks bei der Polizei
Die Berliner Datenschutzbeauftragte greift gegen Datenmissbrauch bei der Berliner Polizei durch. Der Bericht listet einige extreme Fälle auf. So wurden Drohbriefe mit Daten aus Polizeidatenbanken verschickt. Beschwerden wegen Datenlecks und Datenmissbrauch nehmen zu.
https://www.t-online.de/digital/id_85516782/berliner-datenschutzbeauftragte-polizisten-nutzten-datenbank-um-nachbarn-zu-aergern-.html

+++ANTIFA
Interner Kritiker abgekanzelt: SVP-Aufstand gegen «homophoben Hinterwäldler» Bortoluzzi
Toni Bortoluzzi wird Vizepräsident der SVP Zürich. Zum grossen Ärger des homosexuellen Kantonsratskandidaten Michael Frauchiger. Dieser kritisiert Bortoluzzi auf Twitter als «homophob» und «frauenverachtend».
https://www.blick.ch/news/politik/interner-kritiker-abgekanzelt-svp-aufstand-gegen-homophoben-hinterwaeldler-bortoluzzi-id15252029.html
-> https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Schwuler-SVpler-legt-sich-mit-der-alten-Garde-an-27191229

SVP Zürich zerfleischt sich an Delegiertenversammlung
Das Wahldesaster der Zürcher SVP hallt nach. Bis in die Nacht hinein zoffen sich die Delegierten um die künftige Strategie. Die Highlights gibts hier im Video.
https://www.nau.ch/news/videos/svp-zurich-zerfleischt-sich-an-delegiertenversammlung-65503077
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/so-will-roger-koppel-standeratssitz-fur-svp-gewinnen-65503438

Terrorist von Christchurch setzte vier Spenden an identitäre Organisationen in Europa ab
Noch ist unklar, bei welchen Länderorganisationen der Identitären Bewegung die Überweisungen gelandet sind
http://derstandard.at/2000100745249/Terrorist-von-Christchurch-setzte-vier-Spenden-an-Identitaere-Organisationen-in
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/christchurch-attentaeter-deutschland-rechtsextremismus-generation-identitaire

«Heil Hitler»-Sprayer aus Morges sind identifiziert
Nun ist klar: Zwei 20-Jährige sind für die Graffitis in der Schule in Morges verantwortlich. Sie haben keine Beziehungen zu extremistischen Gruppierungen.
https://www.20min.ch/schweiz/romandie/story/-Heil-Hitler–Sprayer-aus-Morges-identifiziert-31130824
-> https://www.20min.ch/ro/news/vaud/story/Graffitis-au-gymnase-de-Morges–auteurs-identifies-19489060

+++ANTIRA
Kompass-Newsletter Nr. 77 – April 2019
-> https://www.antira-kompass.info/sites/default/files/2019-04/77KompassNL.pdf
+++ Mare Jonio setzt offenen Hafen in Lampedusa durch! +++ 108 Geflüchtete erzwingen Anlandung in Malta!! +++ WTM Alarm Phone Treffen in Tunis +++ Ab 1.4. in Berlin, Oldenburg, München: Das Recht auf eine menschenwürdige Existenzsicherung gilt für alle Menschen – Gegen organisierte Leistungsverweigerung deutscher Behörden! +++ 6. bis 16.4. in neun Städten: Veranstaltungstour mit Aboubakari Razakou, Togoische Vereinigung der Abgeschobenen (ATE) +++ Am 27./28.4. in Dresden: We`ll Come United +++ Ab 2.5. Ausstellung in Berlin: Yallah – Über die Balkanroute +++ 10.-12.5. in vielen Städten: Aktionstage zu 100 Jahren Abschiebehaft +++ 17.-19.5. in Hamburg: Solidarity City beim Recht auf Stadt Forum +++ Alarm Phone Sahara: Webseite geht online +++ Ellwangen: Weiterkämpfen für Grund- und Menschenrechte für Alle +++ Ausblicke: 9.-14. Juli in der Nähe von Nantes/Frankreich: Transborder Summer Camp; ; 24. August: Großdemonstration in Sachsen; 31.8. in Büren: Grossdemo gegen 100 Jahre Abschiebehaft
https://www.antira-kompass.info/

+++SEXWORK
bernerzeitung.ch 03.04.2019

Berner Sexclubs wehren sich gegen die Quellensteuer

Betreiber von Erotikclubs sollen für Prostituierte Quellensteuer bezahlen. Dagegen wehrt sich Kevin Schweizer aus Interlaken. Er sei nicht Arbeitgeber, sondern vermiete lediglich Zimmer an selbstständige Sexarbeiterinnen.

Sandra Rutschi

Die Bar ist von rotem Licht erleuchtet. An diesem Vormittag sitzt niemand auf den schwarzen Ledersesseln im Erotikclub Interlaken. Nur ein Handwerker geht ein und aus, um den Pool neben der Sauna umzubauen. Die Türen zu den Zimmern der vier hier eingemieteten Sexarbeiterinnen sind geschlossen.

«Die Damen schlafen noch, wir sollten nicht zu laut sein», sagt Kevin Schweizer. Der 29-jährige Betreiber führt in den hinteren Teil seines Clubs, der einst zu einem Hotel gehörte. Dort schaltet er einen Aquarium-Bildschirm ein und steckt sich eine Zigarette an, bevor er von jenem Thema zu erzählen beginnt, das ihn momentan stark beschäftigt. Es sind nicht die Bauarbeiten am Pool, auch nicht Lärmklagen von Nachbarn oder ein Aufstand der Damen. Sondern die Steuern.

Vor zwei Wochen hat Schweizers Anwalt Einsprache gegen drei Verfügungen eingereicht, welche die Berner Steuerverwaltung ausgesprochen hatte. Der gelernte Kaufmann wehrt sich gegen die kürzlich neu erhobene Quellensteuer, die er 2018 für die eingemieteten Sexarbeiterinnen in seinem Club bezahlen soll.

«Ich bin nur der Vermieter»

Quellensteuer schulden Leute, die in der Schweiz arbeiten, hier aber nicht ihren Wohnsitz haben. Die Steuer zieht der Arbeitgeber seinen Angestellten direkt vom Lohn ab. «Aber ich bin nicht der Arbeitgeber der eingemieteten Personen, sondern lediglich ihr Vermieter und nicht berechtigt, ihren Umsatz oder Gewinn zu eruieren.

Sie sind selbstständigerwerbend und haben alle eine entsprechende Bestätigung des kantonalen Migrationsamts, welche von der AHV und vom Regierungsstatthalteramt akzeptiert wird», sagt Schweizer. Also sollte die Steuerverwaltung das geschuldete Geld direkt von den als selbstständig angemeldeten Frauen fordern, nicht von ihm.

Um die Quellensteuer abzurechnen, müsse er Einblick in die Einnahmen seiner Mieterinnen nehmen. «Das ist rechtswidrig und wird viele Betreiber dazu verleiten, die Damen auszunutzen und etwas mehr abzuzwacken, als sie der Behörde tatsächlich weitergeben müssten», ist Schweizer überzeugt.

Und: «Ich werde so zum Zuhälter gemacht.» Denn letztendlich wird er indirekt über die Quellensteuer am Umsatz der Frauen beteiligt, weil er von der Steuerverwaltung eine Bezugsprovision von 2 Prozent erhält.

Keine Quittungen

Schweizer ist kein Einzelfall. Für 2017 wurde die Quellensteuer erstmals von ihm und anderen Betreibern gefordert. Einige betroffene Betreiber setzten sich daraufhin mit Xenia, der Fachstelle für Sexarbeit, an einen Tisch, um das künftige Vorgehen zu besprechen. «Mit dieser Regelung gelten im Sexgewerbe nicht mehr die effektiven Arbeitsbedingungen», kritisiert Fachstellenleiterin Christa Ammann.

Die Steuerverwaltung fordert Quellensteuer von Clubs, die eine Betriebsbewilligung benötigen. Das sei absurd, sagt Ammann. Denn sobald eine Person mehr als ein Zimmer an Sexarbeitende vermiete, benötige sie eine solche Bewilligung – unabhängig davon, ob die Sexarbeiterinnen in einem Arbeitsverhältnis zu den Betreibenden stehen.

Nur in Ausnahmefällen seien die Frauen von den Betreibern angestellt. Dort sei die Besteuerung via Betreiber richtig. Meist würden die Frauen jedoch selbstständig arbeiten. «Aber so ist es für die Steuerverwaltung natürlich einfacher, die Steuer von den Frauen einzuziehen. Denn selbstständige Sexarbeiterinnen sind sehr mobil.»

Die Frauen arbeiten oft nur wenige Monate oder Wochen im selben Club und ziehen dann weiter – manchmal in der Schweiz, manchmal ins Ausland. Ihnen danach eine Steuerrechnung zu senden, dürfte schwierig sein. «Das darf jedoch nicht der Ausschlag für die steuerrechtliche Beurteilung sein», sagt Christa Ammann.

Xenia vertritt die Sexarbeiterinnen. Ammann weiss bereits von Fällen, in denen die neue Praxis mit der Quellensteuer zu problematischen Situationen führte. «Einige Arbeiterinnen erhielten von den Betreibern keine Quittung für die Beträge, die sie ihnen bezahlt haben.

Und sie haben keine Lohnabrechnung, weil sie selbstständigerwerbend sind. Das heisst, sie können nicht beweisen, dass sie die Steuer nicht mehr schuldig sind.» Wie Schweizer ist sie überzeugt, dass diese Praxis zusätzliche Möglichkeiten bietet, um Sexarbeiterinnen auszunutzen.

«Kritik kam nicht an»

Ein weiterer Punkt, der Ammann und Schweizer ein Dorn im Auge ist: Wenn die Betreiber das Bruttoeinkommen der Frauen nicht ermitteln können, sollen sie eine Tagespauschale von 25 Franken Quellensteuer erheben.

«Wenn das Geschäft bei einer Dame nicht läuft, verlange ich 15 Franken Miete fürs Zimmer anstatt 150. Bei der Pauschale aber bin ich unflexibel. Und das ist viel Geld für eine Dame», sagt Schweizer. Sollte eine Dame den Club kurzfristig verlassen oder nur die 15 Franken täglich bezahlen, bliebe er dennoch die Quellensteuer schuldig.

Es sei grundlegend falsch, im Sexgewerbe von üblichen Beträgen auszugehen und daraus eine pauschale Quellensteuer abzuleiten, findet Ammann. «Es gibt in dieser Branche massive Einkommensunterschiede. Die Pauschale ist viel zu hoch angesetzt, und es ist eine Ungleichbehandlung zu anderen Branchen.»

Zudem müssten die Betreiber die Pauschale pro Kalendertag verlangen – obschon das Arbeitsgesetz nur fünf Arbeitstage pro Woche erlaube. «Es werden also nur die Pflichten berücksichtigt, um Rechte gehts gar nicht», kritisiert Ammann.

All diese Kritik hat Xenia mit der kantonalen Kommission für das Prostitutionsgewerbe bei der Steuerverwaltung eingebracht. «Doch dort ist unsere Kritik nicht angekommen.»

Änderung im Gesetz

2013 verankerte der Kanton Bern im Prostitutionsgewerbegesetz, dass es nebst selbstständigen auch angestellte Sexarbeiterinnen geben kann. «Mit dieser Bestimmung wurde eine Grundlage geschaffen, die im Prostitutionsgewerbe tätige Person auch in steuerrechtlicher Hinsicht als unselbstständig Erwerbstätige zu qualifizieren und die entsprechenden Einkünfte an der Quelle zu besteuern», schreibt die Berner Steuerverwaltung auf Anfrage.

2014 habe sie die Betroffenen mit einem entsprechenden Merkblatt informiert. Die Steuerverwaltung halte sich bei der Beurteilung, ob eine Sexarbeiterin selbstständig oder unselbst­ständig tätig sei, an vom Bundesgericht entwickelte Kriterien. «Im Zentrum stehen dabei die betriebswirtschaftliche oder arbeitsorganisatorische Abhängigkeit sowie das unternehmerische Risiko.»

Im Merkblatt bezieht sich die Steuerverwaltung auf die Bewilligungspflicht, die anfalle, wenn ein Betreiber Räumlichkeiten zur Verfügung stelle, die für die Ausübung der Prostitution bestimmt seien. Oder wenn er zwischen der die Prostitution ausübenden Person und potenziellen Kunden Kontakte vermittle. Offensichtlich ist sie der Meinung, dass Schweizer diese Bedingungen erfüllt.

Die Abgrenzung von selbstständiger und unselbstständiger Tätigkeit ist indes nicht ganz einfach. Laut Schweizer hinkt die Beurteilung der Steuerverwaltung nicht nur, weil eine Bewilligung nötig ist, sobald mehr als eine Frau im selben Club arbeitet. Vielmehr sei es unrealistisch, dass die Sexarbeiterinnen einfach irgendein Zimmer mieten, selbst eine Website führen und eigene Telefonnummern oder Briefpapier haben.

Dies, weil sie nur zeitweise in der Schweiz seien und weil sie sich vor übergriffigen Freiern schützen möchten. «Auch wenn ich die Infrastruktur und den Rahmen anbiete, etwa mit einer Website, machen die Damen ihre Preise selbst und verhandeln selbst mit den Kunden.» Sie müssten auch nicht zwingend während der Cluböffnungszeiten anwesend sein.

Der rechtliche Weg

Für Ammann ist klar: «Wir können uns nur noch über den rechtlichen Weg wehren.» Xenia ist als Fachstelle nicht einspracheberechtigt, sondern nur die Betroffenen selbst – etwa Kevin Schweizer. In einem weiteren Schritt könnte er ans Verwaltungsgericht und später ans Bundesgericht gelangen, wenn die Steuerverwaltung seine Einsprache ablehnt.

Ammann ist nicht bekannt, dass es weitere Einsprachen gegeben hat. Zum Teil hätten die Betreiber die von ihnen verlangte anfechtbare Verfügung von der Steuerverwaltung gar nie erhalten. Und wer Einsprache erhebe, nehme immer Aufwand sowie ein finanzielles Risiko auf sich und exponiere sich. «Es mag Betreiber geben, die das wagen. Aber Sexarbeiterinnen wohl kaum», sagt Ammann.

Derweil schwimmen im Erotikclub Interlaken die Fische im Bildschirm-Aquarium hinter Schweizer hin und her. Er wird sich wehren, denn die Quellensteuer ist für ihn ein finanzielles Risiko. Er schuldet sie – auch, wenn die Damen nicht bezahlen.

Zudem befürchtet er, dass bald auch die AHV und die Mehrwertsteuer für die Frauen über ihn laufen, sobald er nachgibt und bezahlt. Um die Betreiber besser zu informieren, will er zudem einen Schweizer Verband gründen. Bereits habe er etliche Interessenten, die sich anschliessen möchten.
(https://www.bernerzeitung.ch/region/kanton-bern/berner-sexclubs-wehren-sich-gegen-die-quellensteuer/story/19705791)

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel