Medienspiegel 8. Juli 2018

+++BERN
Vorlehre Integration startet auch im Bereich Landwirtschaft
Am 1. August 2018 starten die ersten Lernenden in die Vorlehre Integration Landwirtschaft im Kanton Bern. Die Vorlehre Integration soll die berufliche Integration von anerkannten Flüchtlingen und vorläufig aufgenommenen Personen födern. Die Vorlehre Integration bereitet auf den Einstieg in eine berufliche Grundbildung vor. Am Freitagabend hat der Berner Bauern Verband über das Projekt informiert.
https://www.neo1.ch/news/news/newsansicht/datum/2018/07/07/vorlehre-integration-startet-auch-im-bereich-landwirtschaft.html

+++SCHWEIZ
Flüchtlinge sollen zur Überprüfung ihrer Identität ihre Handys herausrücken müssen
Das Parlament arbeitet an einer Vorlage zur Auswertung der Mobiltelefone von Asylsuchenden. Ein Staatsrechtler sieht viele offene Fragen – und der Bund spricht von einem schweren Eingriff in die Grundrechte.
https://www.tagblatt.ch/schweiz/fluchtlinge-sollen-handy-rausrucken-ld.1035460

+++DEUTSCHLAND
“Seebrücke”-Demos in Großstädten: Tausende demonstrieren für Solidarität mit Seenotrettern
“Stoppt das Sterben im Mittelmeer”: In mehreren deutschen Städten sind Unterstützer des Bündnisses “Seebrücke” auf die Straßen gegangen. Sie forderten sichere Fluchtwege und Entkriminalisierung der Seenotrettung.
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/seebruecke-tausende-demonstrieren-fuer-solidaritaet-mit-seenotrettern-a-1217295.html
-> https://www.tagesspiegel.de/berlin/seebruecke-demo-in-berlin-tausende-demonstrieren-fuer-seenotrettung/22777844.html
-> http://www.tagesschau.de/inland/seenotrettung-demo-101.html
-> Fotos: https://www.flickr.com/photos/pm_cheung/sets/72157698331692974
-> https://www.youtube.com/watch?v=ATONuz_iwvg&feature=youtu.be
-> http://taz.de/Kommentar-Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5515947/
-> https://www.neues-deutschland.de/artikel/1093563.fluechtlingshilfe-tausende-demonstrieren-fuer-seenotrettung.html

Sprache der Flüchtlingspolitik: Monsterworte
Sprache macht den Menschen zum Menschen. Es sei denn, sie reduziert ihn auf eine Zahl. Genau das passiert aber gerade in diesem Moment mit den Geflüchteten.
http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/fluechtlingspolitik-wie-die-sprache-langsam-verroht-a-1217061.html
-> http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/fluechtlinge-warum-viele-das-elend-dieser-menschen-ignorieren-kommentar-a-1216913.html

Das Selbstbild des Westens „in humanistischer Tradition“ zu stehen, wird täglich infrage gestellt. | Interview zur Publikation „Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“
„Bundesdeutsche Flüchtlingspolitik und ihre tödlichen Folgen“ ist der Titel einer schriftlichen Dokumentation, die alle möglichen Fälle schlimmer Auswirkungen des deutschen Umgangs mit Flüchtlingen versammelt. Ob in Deutschland und in hiesigen Abschiebe-Szenarien oder im Ausland und als Spätfolge der Abschiebung dorthin. Es ist eine erschreckende Chronologie, die deutlich vor Augen führt, wo des Menschen Würde dann eben doch angetastet wird, und zwar nicht zu knapp. Johannes ist Mitarbeiter der „Antirassistischen Initiative“, die diese Publikation Jahr für Jahr aufs Neue angeht und herausbringt. Radio F.R.E.I. hat mit ihm gesprochen.
https://www.freie-radios.net/89901

+++FRANKREICH
In Grenzen brüderlich
Frankreichs Verfassungsrat erklärt Flüchtlingshilfe für rechtmäßig. Kriminalisierung von Rettern geht trotzdem weiter
https://www.jungewelt.de/artikel/335606.in-grenzen-br%C3%BCderlich.html

Calais: Une vingtaine de migrants de la «marche solidaire» en partance pour l’Angleterre ont été arrêtés
IMMIGRATION La plupart des personnes interpellées sont des membres du Collectif des sans-papiers de Paris…
https://www.20minutes.fr/faits_divers/2303963-20180708-calais-vingtaine-migrants-marche-solidaire-partance-angleterre-arretes

+++BALKANROUTE
Migranten berichten von Polizeigewalt an kroatischer Grenze
Lokalaugenschein in einem illegalen Flüchtlingslager in Bosnien. Immer mehr Männer, Frauen und Kinder versuchen, von hier in die Europäische Union zu kommen, ohne gültigen Ausweis. An der kroatischen Grenze ist für die meisten aber Schluss. Sie werden von der Polizei angehalten und zurück in diese Lager geschickt. Im ostbosnischen Bihac sitzen zurzeit Hunderte Migranten fest.
http://de.euronews.com/2018/07/08/migranten-berichten-von-polizeigewalt-an-kroatischer-grenze

+++MITTELMEER
Italien: Stilles Sterben, politisches Getöse
Es flüchten weniger Menschen über das Meer nach Italien, aber die Zahl der Ertrinkenden steigt. Schuld ist auch die italienische Regierung, sie verwehrt privaten Rettungsschiffen systematisch das Einlaufen in die Häfen.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/italien-stilles-sterben-auf-dem-mittelmeer-lautes-gepolter-in-der-politik-a-1217312.html

Seenotrettung: Italien will Häfen auch für staatliche Einsatzschiffe sperren
Innenminister Matteo Salvini will internationalen Einsatzschiffen den Zugang zu Italiens Häfen verwehren. Sein Ziel: Die Zahl der ankommenden Migranten auf Null senken.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2018-07/salvini-migranten-schiffe-sperren-eu
-> http://www.tagesschau.de/ausland/mittelmeer-149.html
-> http://www.spiegel.de/politik/ausland/italien-will-haefen-auch-fuer-schiffe-internationaler-rettungseinsaetze-sperren-a-1217324.html
-> https://www.derbund.ch/ausland/europa/italien-droht-mit-schliessung-der-haefen-fuer-fluechtlinge/story/17089184

Italien will keine im Meer geretteten Migranten aufnehmen
Der neue italienische Innenminister Matteo Salvini kündet weitere Verschärfungen an. Sie richten sich gegen internationale Rettungseinsätze.
https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/italien-droht-mit-schliessung-der-haefen-fuer-fluechtlinge/story/17089184

Damit der Wind dreht
Bootsbauer Philipp Hahn fährt auf der »Sea-Watch« und ist überzeugt: Die zivile Seenotrettung kann weitermachen
Sein Schiff auf Malta festgesetzt, private Seenotretter wie er als Kriminelle verfolgt: Philipp Hahn glaubt dennoch fest an seine Mission und die menschliche Seite der Zivilgesellschaft.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1093585.initiative-seebruecke-damit-der-wind-dreht.html

TV-Komiker Klaas will Flüchtlinge retten
Der deutsche TV-Moderator Klaas Heufer-Umlauf ruft zum Spenden auf: Er will Schiffe chartern für die Rettung von Flüchtlingen auf dem Mittelmeer.
http://www.20min.ch/people/international/story/Klaas-Heufer-Umlauf-will-Fluechtlinge-retten-11554942

“Weniger Rettungsschiffe bedeuten nicht weniger Flüchtende, sondern nur mehr Tote”
Interview mit Jana Ciernioch vom Verein SOS Mediterranee, der das Seenotschiff “Aquarius” betreibt
https://www.heise.de/tp/features/Weniger-Rettungsschiffe-bedeuten-nicht-weniger-Fluechtende-sondern-nur-mehr-Tote-4104534.html

Seenotretter bilden weiter aus
Rettungsorganisationen wollen trotz Repression durch Politik und Justiz weiterhin jederzeit für Einsätze bereit sein
Obwohl alle Schiffe festliegen, rüsten sich Ehrenamtliche der Initiative »Sea-Eye« für weitere Rettungsmissionen von Flüchtlingen im Mittelmeer. Die Zahl der Ertrunkenen steigt wieder.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1093570.sterben-im-mittelmeer-seenotretter-bilden-weiter-aus.html

Mittelmeerflucht: Schlepper wider Willen
Seit Marineoperationen das Meer zwischen Nordafrika und Italien stärker überwachen, werden zufällig ausgewählte Flüchtlinge dazu gezwungen, die Boote zu steuern. In Italien warten auf die sogenannten Scafisti hohe Haftstrafen.
http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/fluechtlinge-im-mittelmeer-schlepper-wider-willen-a-1214478.html

+++EUROPA
Blockierte Fluchtwege am Mittelmeer: An den Rändern Europas
Die wahren Dramen um Europas Flüchtlinge spielen sich in den Ländern am Mittelmeer ab. Drei Orte, drei Geschichten.
http://taz.de/Blockierte-Fluchtwege-am-Mittelmeer/!5516404/

Regierungen liefern sich einen Wettlauf: Das steckt hinter Europas neuer Asylhärte
Das Asylproblem ist der Fetisch von Europas Politik. Das lenkt von anderen Versäumnissen ab.
https://www.blick.ch/news/politik/regierungen-liefern-sich-einen-wettlauf-das-steckt-hinter-europas-neuer-asylhaerte-id8590421.html

Marokko skeptisch zu Frontex an seiner Nordgrenze
Seit Jahren verhindern der spanische und der marokkanische Staat die verstärkte Frontex-Kontrolle der spanisch-marokkanischen Grenze. Die Gründe sind unterschiedlich. Der spanische Staat ist einer markanten Kritik von MenschenrechtlerInnen und linkspolitischen Gruppen ausgesetzt, weil die EU-Zäune um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla sowie die „heissen Abschiebungen“ von Flüchtlingen, die es bereits auf das spanische Territorium geschafft haben, zu den brutalsten Dispositiven der Festung Europa zählen. Die Flüchtlingssolidarität ist an der gesamten spanischen Mittelmeerküste im EU-Vergleich ausserordentlich hoch, wie zuletzt die Aufnahme von Boat-people aus dem zentralen Mittelmeer gezeigt hat.
http://ffm-online.org/2018/07/08/marokko-skeptisch-zu-frontex-an-seiner-nordgrenze

Von der Sprache der Rohheit zur Politik des Ertrinkenlassens
Wie das humanistische Minimum zur “linken Propaganda” wurde
Die Seenotrettung im Mittelmeer wird nun nicht mehr bloß verbal verunglimpft, sondern aktiv verhindert – Schiffe werden am Auslaufen gehindert, Flugzeuge am Boden gehalten, Kapitäne und Crews festgesetzt und angeklagt. Das läuft auf eine faktische Politik des Ertrinkenlassens hinaus, die aber kommunikativ vorbereitet wurde, indem Flüchtlinge, Elende und Migranten zuvor aktiv entmenscht wurden: Sie kommen nicht mehr als Individuen vor, sondern nur als Masse, Horde, Invasoren. Die Sprache der Verrohung ist stets die Vorbedingung der Rohheit. Es beginnt mit dem Satz, “je mehr man rettet, umso mehr kommen doch”, kommentierte die Süddeutsche Zeitung dieser Tage, und all das gipfelt längst in der Ungeheuerlichkeit, dass es mittlerweile zur Frage, ob man Menschen retten oder absichtlich ertrinken lassen soll, zwei Meinungen gibt. Pluralismus, 2018-Style. Was früher humanistischer Konsens war, ist heute “linksgrünversiffter Moralismus”, nämlich, dass es über so manches zwei Meinungen geben darf, aber nicht über die Frage, ob man jemanden, der um Hilfe ruft, ertrinken lassen oder besser vor dem Ertrinken retten soll. Wenn Humanismus und Menschenrechte als “linke Propaganda” erscheinen, zeigt das nur, wo der rechte Rand mittlerweile angelangt ist.
http://derstandard.at/2000083053316/Von-der-Sprache-der-Rohheit-zur-Politik-des-Ertrinkenlassens

Dokumentarfilmer über Flüchtlingspolitik: “Jeder schiebt das Problem über die Grenze zurück”
Über die Flüchtlinge selbst und ihre Fluchtgründe werde in der europäischen Migrationspolitik gar nicht diskutiert, sagte der Regisseur und Autor des Flüchtlingsfilms “Eldorado”, Markus Imhoof, im Dlf. Es sei nur Thema, wie man sich die Last vom Hals schaffen könne.
https://www.deutschlandfunk.de/dokumentarfilmer-ueber-fluechtlingspolitik-jeder-schiebt.694.de.html?dram:article_id=422373

+++LIBYEN
Libyens Sklavenmärkte: Das Erbe des arabischen Rassismus
Das Bürgerkriegsland Libyen ist ein Eldorado für Menschenhändler. Auf nächtlichen Sklavenmärkten werden internierte afrikanische Migranten wie Vieh verkauft. Ein Grund: Hass auf Dunkelhäutige.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/libyen-sklavenmaerkte-das-erbe-des-arabischen-rassismus-a-1181801.html

+++FREIRÄUME
Anstadt – eine kleine Utopie in der Stadt
Die Wiese auf dem Gaswerkareal in Bern ist seit dem frühen Donnerstagmorgen besetzt und wird nun belebt: Anstadt ist am entstehen!
https://barrikade.info/Anstadt-eine-kleine-Utopie-in-der-Stadt-1260

Zät Bap hat zugeschnappt – Tag der offenen Hintertür
Video vom wunderbaren Tag der offenen Hintertür bei der Hausbesetzung Elsässerstrasse 128 – 132 plus Hinterhaus und von der traurigen Räumung
https://barrikade.info/Zat-Bap-hat-zugeschnappt-Tag-der-offenen-Hintertur-1249

+++GASSE
Wie die bis zu 400 Zuger Drogenabhängigen leben: Die unauffällige Zuger Drogenszene
300 bis 400 Drogenabhängige gab es in Zug vor 25 Jahren. Und heute? Wer durch die Stadt schlendert, trifft kaum mehr auf Randständige. Das kürzlich in Oberägeri ausgehobene Crystal-Meth-Labor zeigt jedoch, dass die Drogenszene existiert – wenn auch weniger augenfällig als in früheren Jahren.
https://www.zentralplus.ch/de/news/gesellschaft/5571760/Die-unauff%C3%A4llige-Zuger-Drogenszene.htm

+++SEXWORK
Sexarbeit in der Schweiz – Kritik an Prostitutionsverbot wird laut
Die Frauenzentrale Zürich liebäugelt mit einem Prostitutionsverbot in der Schweiz. Nun melden sich die Gegner.
https://www.srf.ch/news/schweiz/sexarbeit-in-der-schweiz-kritik-an-prostitutionsverbot-wird-laut

derbund.ch 08.07.2018

Sie nennen uns Hinterwäldler

In Schweden oder Frankreich ist die Prostitution verboten – in der Schweiz nicht. Lässt es sich mit der Gleichberechtigung vereinbaren, wenn Männer Frauen kaufen können?

Bettina Weber

Das Video ist schnell geschnitten, und was die Frauen und Männer darin sagen, träf: Es gehe ihnen auf die Nerven, dass ihr Heimatland dauernd mit der Schweiz verwechselt werde. Schweden habe das Frauenstimmrecht 1921 eingeführt, die Schweiz erst 1971. Und vor 20 Jahren wiederum, nämlich am 1. Juli 1998, sei in Schweden die Prostitution verboten worden, während es hierzulande immer noch legal sei, eine Frau zu kaufen. Mit solch einem mittelalterlichen Land, sagen die Schwedinnen und Schweden und schauen direkt in die Kamera, wollten sie nicht verwechselt werden.

Der Ende Juni lancierte Clip verbreitete sich vergangene Woche rasend schnell und wurde so häufig wie erregt kommentiert. Die einen waren beleidigt, andere amüsiert, und viele applaudierten. Der Frauenzentrale Zürich ist mit dem Kurzfilm «Stopp Prostitution – Für eine Schweiz ohne Freier» tatsächlich ein Coup gelungen: Sie stört damit den behaglich-wohligen Konsens, der hierzulande herrscht, wenn es um das Geschäft mit dem Sex und der Ware Frau geht. Man hat sich darauf geeinigt, beides in Ordnung zu finden – aus Bequemlichkeit und weil es zum guten Ton gehört, wahnsinnig aufgeschlossen und tolerant zu sein. Ein ­Problem mit dem käuflichen Sex zu haben, gilt als provinziell und prüde.

Wenn immer jemand sich auch nur einen Hauch von Kritik erlaubt, fallen sie reflexartig, die immer gleichen Sätze vom ältesten Gewerbe der Welt (was nicht stimmt, die ersten Prostituierten waren Sklavinnen; abgesehen davon: Bedeutete Fortschritt nicht, angeblich Unveränderbares infrage zu stellen?) oder davon, dass es sich dabei um einen Beruf wie jeden anderen handle (vermutlich wünschen sich deshalb so viele Eltern für ihre Töchter eine Karriere im Milieu). Oder der Klassiker: Dass es ohne Prostitution viel mehr Vergewaltigungen gäbe (gemäss dieser Logik wären die Männer alle­samt Triebtäter).

Dann auch: Dass gewisse Frauen nun mal gerne häufig Sex hätten (sämtliche Studien zeigen, dass die überwältigende Mehrheit der Prostituierten vor dem Einstieg ins Milieu sexuelle Gewalt erfuhr, und kaum eine kommt während des Jobs ohne Drogen, Tabletten oder Alkohol aus).

Oder: Dass das Geschäft mit einem Verbot nicht mehr kontrollierbar sei (Gemach: Wenn die Freier die Prostituierten finden, dann findet auch die Polizei sie).

Strassenstrich geriet ausser Kontrolle

Mitunter wird gar – wie bei der Burka – das weibliche Selbstbestimmungsrecht bemüht und behauptet, sich zu prostituieren sei ein feministischer Akt und ein entsprechendes Verbot daher frauenfeindlich.

Wie akzeptiert die Prostitution ist, selbst dann, wenn ihre hässliche Seite unübersehbar ist, zeigte sich vor rund zehn Jahren, als der Strassenstrich am Zürcher Sihlquai völlig ausser Kontrolle geriet. Von offizieller Stelle hiess es verständnisvoll, «das» gehöre halt zu einer Stadt von der Grösse Zürichs. Das Verständnis war so gross, dass von Amtes wegen Verrichtungsboxen aufgestellt wurden, finanziert mit Steuergeldern. Womit den Zürcherinnen ganz nebenbei mitgeteilt wurde, dass man die Befriedigung der männlichen Lust als eine staatliche Aufgabe betrachte, die auf Kosten der Allgemeinheit unbedingt zu gewährleisten sei.

3,5 Milliarden Franken setzt das Gewerbe jährlich um

Die Frage, ob man den Spiess nicht einfach umdrehen und die Prostitution verbieten sollte, stellte offiziell niemand; auch heute nicht, wo die aus dem Osten ­herangekarrten und zum Kauf angebotenen Frauen an den Stadtrand verschwunden sind. Wieso eigentlich nicht? Müssen wir das wirklich hinnehmen? Wie erklären wir Mädchen und Buben, dass die Geschlechter gleichwertig sind, wenn Männer Frauen kaufen können? Und wie glaubwürdig ist ein Staat, der Gleichstellungsbüros betreibt und erklärt, den Anteil der Frauen in der Wirtschaft fördern zu wollen, wenn er gleichzeitig die Prostitution zulässt, ja, mitsamt amtlichem Gütesiegel unterstützt?

Prostitution zu erlauben, heisst nichts anderes als: Es ist in Ordnung, eine Frau zu kaufen. Und die Nachfrage ist gross – knapp 2000 Etablissements sind schweizweit polizeilich registriert. Hochburgen sind die Kantone Basel-Stadt und Zürich; allein in der Stadt Zürich gibt es rund 200 Betriebe. 3,5 Milliarden Franken werden damit im ganzen Land jährlich umgesetzt – es müssen viele sein, die nichts dabei finden, eine Frau zu kaufen.

Vielleicht der Arbeitskollege, der so gerne betont, dass er jeweils am Mittwoch seinen Papi-Tag habe. Vielleicht der hilfsbereite Nachbar. Vielleicht der eigene Bruder, Vater, Sohn, Partner. Die es alle insgeheim schätzen, dass in der Prostitution, ähnlich wie im Porno, die Welt noch in Ordnung ist, die Rollenverteilung klar: Er bestimmt, und sie gehorcht. Im Porno und im Milieu ist der Mann – gebeutelt vom gendergemain­streamten Alltag und neuerdings von #MeToo – nicht länger entmannt, sondern noch richtig Mann.

Auf den einschlägigen Foren grassiert der Frauenhass

So klingt es zumindest auf Freier-Foren, wo einem eine allfällige Rotlicht-Romantik rasend schnell abhandenkommt. Dort tauschen sie sich aus, die Kunden, und bewerten die Frauen und deren Körper, deren Brüste und Vaginas und natürlich deren Leistung, weil hey, es handelt sich schliesslich um ein Geschäft wie jedes andere, nicht?

Sie reden etwa über Julia, die wieder zurück sei in diesem Club in Dietikon ZH und neuerdings eine Kaiserschnittnarbe habe, ganz Scheisse sehe die aus, und ihre Brüste seien vom vielen Kneten auch ganz kaputt. Die Julia sei verbraucht, aber ficken lasse sie sich immer noch hart und grob, so, wie sich das für eine Nutte gehöre. Der Rest der Kommentare ist weder druck- noch zitierfähig. Es spricht daraus oft ein unverhohlener Frauenhass, für viele Freier ist Sex offenbar in erster Linie ein gewalt­tätiger Akt, der viel mit Dominanz zu tun hat.

Verwunderlich ist das nicht: Die Prostitution zeigt das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern auf. Sie sei sogar, schreibt die Psychologin Sandra Konrad in ihrem Bestseller «Das beherrschte Geschlecht», «eine der letzten Bastionen des Patriarchats, in der der Mann über die Sexualität der Frau bestimmt, egal, um welchen und zu welchem Preis». Die Legalität der Prostitution bedeutet daher auch, den Uralt-Gedanken aufrechtzuerhalten, dass es Frauen gibt, die «dafür» da sind, die Nutten eben, und dass es daneben die anderen gibt, die Anständigen, nämlich die Töchter, Schwestern, Freundinnen, Frauen und Mütter der Freier, denen diese dieses Metier niemals würden zumuten wollen.

Aber darüber denkt man nicht gerne nach. Man stellt sich das lieber vor wie in «Irma La Douce». Oder in «Belle de Jour». Und «Pretty Woman» hatte doch ein Happy End! Überhaupt liebt die Öffentlichkeit die Geschichten von ehemaligen Prostituierten, weil sie genau das richtige Mass von Verruchtheit mitbringen und nie in einem schäbigen Provinzpuff spielen, sondern stets im schicken Nobel-Etablissement, wo die Freier kultiviert sind und charmant und überhaupt sehr Richard-­Gere-artig.

Europarat: «Nicht vereinbar mit der Menschenwürde»

Das aktuellste Beispiel ist die Geschichte von Ilan Stephani («Lieb und teuer»), die sich, aus gutem Hause stammend, freiwillig prostitutierte – in einem, klar doch, Nobel-Etablissement. Ihre Freier waren nicht nur nett, sie wollten auch sehr oft gar keinen Sex, sondern nur ein bisschen reden. Dass Stephani, wie fast alle ihre Berufskolleginnen, von einem solch netten Freier vergewaltigt wurde, wird zwar erwähnt, ändert aber nichts daran, dass sie ihre Zeit im Milieu aus soziologischer und psychologischer Sicht als interessante Lebenserfahrung darstellt. Die Botschaft lautet: Für junge, kluge und hübsche Frauen gibt es nun wirklich schlimmere Jobs, um sich das Studium zu finanzieren.

Hin und wieder stört eine dieses schummrig-plüschige Idyll. Wie Huschke Mau, die deutsche Ex-Prostituierte, die sich 2014 mit einem offenen Brief unter dem Titel «Ich habe die Schnauze voll von euch Prostitutionsbefürworterinnen» an die Öffentlichkeit wandte. Huschke Maus Geschichte klingt nicht glamourös, nach zehn Jahren im Milieu sagt sie: «Saubere Prostitution gibt es nicht» und: «Alle Freier sind Täter.» Sie kämpft für ein Verbot, dafür, dass in Deutschland die Freier bestraft werden, wie das nebst in Schweden auch in Kanada, Island, Norwegen, Irland und seit zwei Jahren auch in Frankreich der Fall ist. In all diesen Ländern kam man zum Schluss, dass es kein (männliches) Recht auf käuflichen Sex gibt. Die Prostitution, hielt der Europarat 2014 gar fest, sei «nicht vereinbar mit der Menschenwürde», und empfahl seinen Mitgliedern, das «schwedische Modell» zu prüfen.

Die Frauen und Männer in dem Video sind direkter und nennen uns «Hinterwäldler». Kein Wunder – die aus dem hohen Norden waren schon beim Frauenstimmrecht fünfzig Jahre schneller.
(https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/sie-nennen-uns-hinterwaeldler/story/23061922)

+++REPRESSION DE/G-20
Hamburg und der G20-Gipfel: Die Gräben bleiben
Ein Jahr nach den G20-Krawallen in Hamburg sind die Wunden der Stadtgesellschaft nicht verheilt – vor allem bei Anwohnern des verwüsteten Schanzenviertels. Politik und Polizei wollen Vertrauen wiederherstellen, ein Sonderausschuss ermittelt. Doch zum Verhalten der Polizei bleiben Fragen.
https://www.deutschlandfunk.de/hamburg-und-der-g20-gipfel-die-graeben-bleiben.724.de.html?dram:article_id=422374

Für grenzenlose Solidarität
Ein Jahr nach dem G-20-Gipfel: In Hamburg erinnerten Tausende an Polizeigewalt und Repressalien gegen linke Demonstranten
https://www.jungewelt.de/artikel/335596.f%C3%BCr-grenzenlose-solidarit%C3%A4t.html

+++ANTIRA
Lehrer trauen Migrantenkindern wenig zu
Lehrer diskriminieren Kinder mit ausländischen Wurzeln, weil sie zu tiefe Erwartungen an ihre Leistungen stellen. Das bedingt einen Teufelskreis, sagt eine neue Studie.
http://www.20min.ch/schweiz/news/story/Lehrer-haben-Vorurteile-gegen-Migrantenkinder-19103334

Rückwärtsrolle: Dem SFV entgleitet die Doppelbürger-Debatte
In einem Communiqué verbreitet der Fussballverband, er habe nie etwas gegen Doppelbürger gesagt. Derweil knöpft sich Granit Xhaka Generalsekretär Alex Miescher vor.
https://www.derbund.ch/fussball-wm/schweizer-nati/rueckwaertsrolle-dem-sfv-entgleitet-die-doppelbuergerdebatte/story/28362369

Fussballverband setzt Doppelbürger mit Strafklausel unter Druck
Die Fussballfunktionäre binden begabte Doppelbürger mit einer rechtlich fragwürdigen Klausel.
https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/so-sichert-sich-der-verband-die-talente/story/20982174

+++PATRIARCHAT
Hey Incels, was soll das mit den Jungfrauen?
Beim Thema Jungfräulichkeit geht es um Macht, um Ausgrenzung und um sehr viel heisse Luft. Die Incel-Bewegung beruft sich auf dieses Konzept, wirklich viel damit zu tun hat sie im Kern aber nicht.
https://daslamm.ch/hey-incels-was-soll-das-mit-den-jungfrauen/
-> Editorial: https://daslamm.ch/hass-hetze-und-schwanzvergleich-ja-aber-nicht-nur/
-> Teil 1: https://daslamm.ch/die-welt-der-incel-ein-ueberblick/
-> Teil 2: https://daslamm.ch/schweizer-incel-17-ich-moechte-eigentlich-keine-frauen-hassen/

+++PSYCHIATRIE
NZZ am Sonntag 08.07.2018

Wie Eritreer in der Schweiz den Teufel austreiben

In der Schweiz häufen sich Fälle von Dämonenaustreibungen. Opfer sind oft Eritreer und Eritreerinnen, die an psychischen Krankheiten leiden. Die Justiz ermittelt.

von Lukas Häuptl

Der Teufel kommt – im Haus, in dem so viele Menschen auf so engem Raum leben: im Haus für Asylsuchende. Er kommt und schafft sich plötzlich Platz. Saba (Name geändert), eine 17-jährige Eritreerin, fällt zu Boden, zuckt, schlägt um sich. Sie redet wirre Wörter, ihre Stimme wird lauter und lauter. So laut, bis sie ins Schreien kippt. Für andere Eritreer und Eritreerinnen im Haus ist klar, sie müssen Saba helfen: den Teufel, der sie befallen hat, austreiben. Das Böse, das aus ihr spricht, zum Schweigen bringen. Und so schlagen sie auf die 17-Jährige ein, teils mit Händen, teils mit Gürteln. Sie schlagen, bis der Teufel ausgetrieben ist. Nach fünf Minuten ist es so weit.

Der Vorfall in einem Schweizer Asylzentrum rüttelt auf. Saba kommt in ärztliche Behandlung, da wird ihr eine dissoziative Störung diagnostiziert. Das ist eine psychische Krankheit, die unter anderem durch Retraumatisierungen ausgelöst wird und in der die Betroffenen in tranceartige Zustände fallen können. Psychiater sprechen in diesem Zusammenhang auch vom «Verlust der psychischen Fähigkeit, das gesamte Erleben und Handeln miteinander in Verbindung zu bringen und die Ganzheitlichkeit der eigenen Person zu empfinden».

Mehrere Fälle im Monat

Saba ist nicht die einzige Eritreerin, die an einer dissoziativen Störung leidet oder litt. In letzter Zeit haben sich vergleichbare Fälle gehäuft, vor allem Fälle von Mädchen und Frauen, zum Teil aber auch von Männern. «Die Zahl der Eritreerinnen und Eritreer, die wegen dissoziativen Störungen behandelt werden müssen, ist in den letzten Monaten stark gestiegen», sagt Fana Asefaw. Sie ist Kinder- und Jugendpsychiaterin und arbeitet als Leitende Ärztin bei der Klinik Clienia Littenheid in Winterthur. «Zurzeit behandeln wir jeden Monat sechs bis sieben Eritreerinnen und Eritreer aus diesem Grund.»

Ähnliches erzählt Yohannes Berhane, der Menschen mit Migrationshintergrund berät und Präsident des Vereins «Vater sein in der Schweiz» in Bern ist: «Ich kenne zahlreiche Eritreer und Eritreerinnen, die an psychischen Krankheiten leiden und sagen, sie seien vom Teufel besessen. Das Phänomen tritt in letzter Zeit sehr gehäuft auf.»

Wegen der so genannten Teufelsaustreibungen sind auch Polizei und Staatsanwaltschaften aktiv geworden. «Mehrere Eritreer und Eritreerinnen sind aus diesem Grund angezeigt worden, und zwar wegen einfacher oder schwerer Körperverletzung», sagt Fana Asefaw. Ermittlungen laufen und liefen in mindestens zwei Kantonen.

Heiliges Wasser von «Youtube»

Bei Aman (Name geändert) kam der Teufel in der Wüste. In der Wüste des Sudans, damals vor drei Jahren, als er aus Eritrea nach Libyen flüchtete. Es war heiss, höllisch heiss – und Aman dem Verdursten nah. Da also kam der Teufel über ihn. Seither, erzählt der 26-Jährige, leide er an starken körperlichen Schmerzen. Mal sind sie im Kopf, mal in den Beinen, mal im Rücken. In den zwei Jahren, in denen der studierte Ökonom in der Schweiz lebt, hat er zahlreiche Ärzte aufgesucht. Vergeblich. Einzig Beten helfe ihm, erzählt er. Beten und ein heiliges Wasser aus Äthiopien, von dem er auf «Youtube» erfahren habe. «Das kann den bösen Geist beruhigen.»

Es ist eine streng getrennte Welt, in dem die betroffenen Eritreer und Eritreerinnen leben. Getrennt in Gott und Teufel, Gut und Böse. So haben es sie in der Heimat Tradition, Spiritualität und Religion gelehrt. Und so haben es ihnen ihre Eltern beigebracht. Die Welt hat wenig mit der rationalisierten und faktisch säkularisierten Welt der Schweiz zu tun, die immer weniger zwischen religiös (oder ethisch) Gutem und Bösem unterscheidet.

Was aber liegt den psychischen Erkrankungen zugrunde? «Die Ursachen für die dissoziativen Störungen der Eritreer und Eritreerinnen sind unterschiedlich», sagt die Psychiaterin Fana Asefaw. «In der Regel aber sind es die hohen psychosozialen Belastungen, denen die Betroffenen ausgesetzt sind.» Dazu zählten auch die Wegweisungen, die gegen Eritreerinnen und Eritreer ausgesprochen würden.

«Es scheint, dass die mit diesen Wegweisungen verbundene Unsicherheit, etwa die Zukunftsängste oder die Unterbringung in Notunterkünften, zur Entwicklung und Verstärkung der dissoziativen Störungen beiträgt.» Die Schweiz hat ihre Politik gegenüber eritreischen Asylsuchenden vor zwei Jahren verschärft. Seither spricht der Bund jeden Monat zwischen 100 und 150 Wegweisungen gegen Gesuchsteller aus dem ostafrikanischen Land aus.

Sexuell missbraucht

Unbestritten ist, dass die meisten betroffenen Eritreer und Eritreerinnen auf ihrer Flucht Traumatisches erlebt hatten. Das zeigt sich auch am Beispiel der 17-jährigen Saba: Sie war sexuell missbraucht und mehrere Monate in einem libyschen Gefängnis inhaftiert worden. Dort wurde sie Zeugin von Folterungen und Vergewaltigungen.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/wie-eritreer-in-schweiz-teufel-austreiben-ld.1401716)