Medienspiegel 30. Dezember 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++APPENZELL
Gemeinsam für den Frieden eingestanden: Asylzentrum Appenzell lud zum ersten Mal zu einer Weihnachtsfeier ein
«Tragt euren Herzensfrieden zu den Menschen, die Zwist bringen», das sagte die Theologin Ruth Mauz an einer Weihnachtsfeier in der Kirche des Kapuzinerklosters Appenzell. Im Mittelpunkt des Anlasses stand die Bitte um Frieden.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/appenzellerland/innerrhoden-gemeinsam-fuer-den-frieden-eingestanden-asylzentrum-appenzell-lud-zum-ersten-mal-zu-einer-weihnachtsfeier-ein-ld.2394752


+++BASEL
Flüchtlinge: Basler Behörden planen mit verschiedenen Szenarien
Rund 1’800 Flüchtlinge aus der Ukraine leben derzeit in Basel. Wie viele noch kommen, ist ungewiss. Man plane mit unterschiedlichen Szenarien, heisst es beim zuständigen Basler Sozialamt.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/fluechtlinge-basler-behoerden-planen-mit-verschiedenen-szenarien?id=12309997
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/silvester-basel-ist-in-partylaune?id=12310210 (ab 03:05)


+++LUZERN
Kanton Luzern will Beiträge von Asylsozialhilfe erhöhen
Das Solinetz Luzern fordert den Regierungsrat auf, geflüchteten Personen mehr Geld zur Verfügung zu stellen. Dieser kündigt Massnahmen an.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/migration-kanton-luzern-soll-beitraege-von-asylsozialhilfe-erhoehen-ld.2394443


+++WALLIS
Wirbel in Brig VS: Kanton feuert Gästehaus-Mitarbeiter für Flüchtlingsheim
Um mehr Platz für Flüchtlinge zu schaffen, will das Wallis ein Gästehaus zu einem Flüchtlingsheim umnutzen. Das hat Folgen für die Mitarbeitenden. Sie alle wurden gefeuert.
https://www.blick.ch/schweiz/westschweiz/wallis/wirbel-in-brig-vs-kanton-feuert-gaestehaus-mitarbeiter-fuer-fluechtlingsheim-id18187427.html


+++SCHWEIZ
nzz.ch 30.12.2022

Schon Blocher biss sich die Zähne aus: Weshalb die Verlagerung von Asylverfahren in afrikanische Länder nicht funktioniert

England will Asylverfahren von Flüchtlingen künftig in Rwanda durchführen. Nun wird dieses Konzept auch in der Schweiz gefordert – nicht zum ersten Mal. Im Extremfall könnten die Probleme dadurch sogar noch grösser werden.

Daniel Gerny

Die Idee klingt bestechend: Um die europäischen Länder zu entlasten und die Schleppertätigkeit einzudämmen, könnten Asylverfahren in den Herkunftsregionen durchgeführt werden – zum Beispiel in Afrika. Genau dieses Konzept verkündete die konservative britische Regierung unter Boris Johnson vor knapp einem Jahr. Grossbritannien hat mit Rwanda ein Abkommen unterzeichnet, wonach illegal eingereiste Flüchtlinge in den ostafrikanischen Staat abgeschoben würden. Dort sollen sie ein Asylverfahren durchlaufen – und im Falle eines positiven Entscheides ein Aufenthaltsrecht in Rwanda erhalten.

Grossbritannien ist nicht das einzige Land, das auf dieses Modell setzt. Dänemark verfolgt ähnliche Pläne, und in Österreich hat die ÖVP das Konzept aufgenommen. In der Schweiz ist es SVP-Präsident Marco Chiesa, der die Idee nach Weihnachten lanciert hat. Dies kurz nachdem ein britisches Gericht erklärt hatte, die umstrittene Praxis sei mit der Uno-Flüchtlingskonvention vereinbar. Mit einem solchen Vorgehen könne auch das schweizerische Asylsystem deutlich entlastet werden, erklärte Chiesa im «Blick».

Das Staatssekretariat für Migration winkt ab

Tatsächlich sind die Asylzahlen so hoch wie seit der Flüchtlingskrise in den Jahren 2015 und 2016 nicht mehr. Zusätzlich belasten die Schutzsuchenden aus der Ukraine die Infrastruktur. Doch das Staatssekretariat für Migration (SEM) winkt ab: Die Externalisierung von Asylverfahren sei «derzeit unrealistisch», da sich komplexe rechtliche Fragen stellten. Ausserdem seien die politischen und operativen Herausforderungen so gross, dass sich das Konzept kaum durchsetzen lasse.

Das sieht auch Eduard Gnesa so, der frühere Direktor des Bundesamtes für Migration, der heute im In- und Ausland als Berater für Migrationsfragen tätig ist: Erstens verfüge die Schweiz im Unterschied zu Grossbritannien über ein funktionierendes Asylsystem, weshalb die illegale Einwanderung viel geringer sei, erklärt er gegenüber der NZZ. Und zweitens zeigten sämtliche Erfahrungen aus den letzten zwanzig Jahren, dass dieses Konzept in der Realität nicht durchführbar sei.

Tatsächlich legte der damalige Premierminister Tony Blair schon 2003 eine Strategie zur Auslagerung von Hilfe und Schutz für irakische Flüchtlinge vor – unter dem vielversprechenden Titel «New Visions for Refugees». Doch der Widerstand im übrigen Europa blieb zu gross, so dass die Vision ein Papiertiger blieb. Nicht zuletzt die Frage, was mit den Flüchtlingen langfristig geschehen soll, konnte nicht gelöst werden. Damals forcierte zunächst auch Justizminister Christoph Blocher die Idee. «Die Schweiz könnte so doppelt so viele Flüchtlinge aufnehmen wie bisher», sagte er im Jahr 2004.

«Idee gut, Umsetzung schwierig»

Zwei Jahre später zeigte sich jedoch, wie gross die Herausforderungen in Wirklichkeit waren. «Die Idee ist gut, die Umsetzung aber schwierig», liess sich der Sprecher von Bundesrat Blocher damals ernüchtert zitieren. Die Aussage kann beinahe eins zu eins auf die heutige Situation übertragen werden. Gnesa, unter Blocher für die Migrationspolitik verantwortlich, glaubt trotz positivem Urteil durch ein britisches Gericht nicht daran, dass sich die Flüchtlingsprobleme auf diese Weise lösen lassen. Folgende Schwierigkeiten stehen im Vordergrund:

– Die abschreckende Wirkung wäre begrenzt: Der Migrationsexperte Gnesa bezweifelt, dass sich viele Asylsuchende durch ein Abkommen mit Rwanda von einer Reise nach Europa abhalten lassen: «Am Problem Grossbritanniens mit der massenweisen illegalen Einreise ändert sich dadurch nichts.» Weil England dem Schengen-Dublin-Raum nicht angeschlossen sei und das Land Einreisende nicht systematisch erfasse, bleibe es als Ziel für Flüchtende attraktiv. Das sieht das SEM ähnlich: Das Problem der Wirtschaftsmigration werde durch eine Auslagerung von Asylverfahren nicht gelöst.

Die Gefahr sei sogar, dass sich der Aufwand vergrössere, weil ein doppelspuriges System aufgebaut werde: eine Struktur im Inland für Entscheide über die Überstellung innerhalb des Dublin-Raums oder in ein Drittland. Und eine operative und finanzielle Unterstützung im Drittstaat. Juristisch ändert der Deal für Asylsuchende ohnehin nichts: Das Recht, einen Asylantrag zu stellen, ist durch nationales und internationales Recht garantiert. Genau aus diesem Grund ist der Vollzug des Rwanda-Deals auch in England noch immer blockiert.

– Die Durchführung der Verfahren durch Ruanda ist kaum vorstellbar: Das Abkommen zwischen England und Rwanda sieht vor, dass die Asylverfahren durch Rwanda nach dessen Recht durchgeführt werden. Für Gnesa nicht vorstellbar: «Die Menschenrechtssituation in Rwanda ist bedenklich, ausserdem wäre dies weder mit der Uno-Flüchtlingskonvention noch mit dem Schweizer Recht vereinbar.»

Das SEM schreibt, Abkommen mit Drittstaaten wie Rwanda müssten ausreichende Garantien in Bezug auf das Verfahrensrecht und die Achtung der Menschenrechte enthalten. Gnesa ist deshalb der Ansicht, dass die Asylverfahren durch das Uno-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) durchgeführt werden müssten. Pikant: Auch Blocher erkannte dieses Problem – und schlug für die Auswahl der Flüchtlinge vor zwanzig Jahren ebenfalls die Uno vor. Ob Rwanda die Durchführung des Asylverfahrens dem UNHCR überlassen würde, ist jedoch mehr als offen: Auch ein ähnliches Memorandum of Understanding mit Dänemark sieht jedenfalls das rwandische Asylverfahren vor.

– Die Migration nach Europa würde nur hinausgeschoben: Im Vertrag zwischen Rwanda und England ist zwar geregelt, dass Asylsuchende mit positivem Entscheid während fünf Jahren Zugang zu Hilfsmassnahmen und finanzieller Unterstützung erhalten. Doch was geschieht danach? Wirtschaftlich hätten Flüchtlinge in Rwanda keine Perspektive, sagt Gnesa. Ungelöst ist auch die Frage, wohin Personen mit negativem Entscheid gehen. Selbst bei Personen mit positivem Entscheid wäre unsicher, ob sie in Rwanda bleiben würden, meint Gnesa: So hätten Flüchtlinge, die ab 2019 mit europäischer Unterstützung aus Libyen ins rwandische Gashora gebracht worden seien, für sich keine Perspektive im ostafrikanischen Staat gesehen.

Laut Gnesa befürchteten die potenziellen Aufnahmeländer in Afrika zudem schon zu Zeiten von Blairs Vorstoss, mit Zehntausenden von Flüchtlingen alleingelassen zu werden. «Früher oder später stellt sich diese Frage auch in Rwanda», sagt Gnesa. Viele Flüchtlinge würden ausserdem wohl erneut versuchen, von Afrika nach Europa zu gelangen. Mit anderen Worten: Die Auslagerung von Asylverfahren trägt nicht zu einer nachhaltigen Lösung bei – sondern verschiebt das Problem im besten Fall in die Zukunft.

– Die Schweiz könnte sich erpressbar machen: Selbst wenn das Konzept wie gewünscht greifen würde, wären die Risiken erheblich: Europäische Länder würden durch solche Deals von Rwanda oder anderen Drittstaaten stark abhängig, warnt Gnesa. Er verweist auf das Abkommen zwischen der EU und der Türkei auf dem Höhepunkt der Flüchtlingswelle von 2016. Die EU bezahlte der Türkei Milliarden dafür, dass sie syrische Flüchtlinge zurückbehielt. Doch 2020 setzte der türkische Präsident Erdogan Europa unter massiven Druck, indem er Tausende von Flüchtlingen an die griechische Grenze transportieren liess. Drittstaaten, die sich zur Aufnahme von europäischen Flüchtlingen bereit erklärten, könnten nach Ansicht von Gnesa zu ähnlichen Mitteln greifen, um ihre Position zu stärken.

Noch kein Flüchtling nach Rwanda geflogen

Die Schweiz setze stattdessen auf schnelle und faire Asylverfahren, erklärt das SEM. Diese Politik bewähre sich: Die Zahl der offensichtlich unbegründeten Asylanträge ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Dies ist auch aus Sicht von Gnesa der richtige Weg. Er beurteilt den Deal zwischen Grossbritannien und Rwanda als Massnahme mit hauptsächlich hoher Symbolwirkung – für beide Seiten: Rwanda möchte sich als verlässlicher Partner Europas positionieren. Und die britische Regierung demonstriere Entschlusskraft, lenke aber in Wirklichkeit von den hausgemachten Problemen im Asylsystem ab. Tatsächlich ist die Wirkung von Johnsons Deal vorerst gleich null: Bis Ende Jahr konnte noch kein einziger Flüchtling aus England nach Rwanda ausgeflogen werden.
(https://www.nzz.ch/schweiz/schon-blocher-biss-sich-die-zaehne-aus-weshalb-die-verlagerung-von-asylverfahren-in-afrikanische-laender-nicht-funktioniert-ld.1719019)


+++ÖSTERREICH
Wie ein Wiener Verein traumatisierte Flüchtlinge auffängt
Jeder dritte Flüchtling leidet Schätzungen zufolge an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Verein AFYA versucht niederschwellig einzugreifen – um Schlimmeres abzuwenden
https://www.derstandard.at/story/2000142158781/wie-ein-wiener-verein-traumatisierte-fluechtlinge-auffaengt?ref=rss


+++KROATIEN
Offene Grenzen und scharfe Kontrollen
Kroatien führt im Januar den Euro ein und tritt dem Schengenraum bei. Gleichzeitig versuchen die Behörden alles, die Balkanroute für Flüchtlinge unpassierbar zu machen
Die Tourismusbranche freut sich darüber, dass Kroatien zum ersten Januar den Euro einführt, allerdings fallen die Passkontrollen erst im März. Für Geflüchtete bedeutet der Beitritt zum Schengenraum nichts Gutes.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169740.eu-beitritt-offene-grenzen-und-scharfe-kontrollen.html


+++BULGARIEN
Schüsse auf einen Flüchtling an der bulgarisch-türkischen Grenze
Flüchtlinge im Visier
Anfang Dezember veröffentlichte ein europäisches Recherchenetzwerk Videoaufnahmen, die zeigen, wie ein Syrer an der türkisch-bulgarischen EU-Außengrenze von scharfer Munition getroffen wird. Mutmaßlich kam der Schuss von der bulgarischen Grenzpolizei.
https://jungle.world/artikel/2022/51/fluechtlinge-im-visier


+++ITALIEN
Sea-Eye kritisiert Italiens neuen Verhaltenskodex für Seenotrettungsorganisationen
Italien greift massiv in die Rechte des Flaggenstaates Deutschland, das Europarecht und Menschenrechtsgarantien ein.
https://sea-eye.org/sea-eye-kritisiert-italiens-neuen-verhaltenskodex-fuer-seenotrettungsorganisationen/



tagesanzeiger.ch 30.12.2022

Italien behindert NGOs: Mehrmals retten verboten

Die römische Rechtsregierung zwingt den Seenotrettern im Mittelmeer einen neuen Verhaltenskodex auf – mit sofort fälligen Geldstrafen und Festsetzungen. Retten dürfen die NGOs pro Expedition nur noch einmal, dann müssen sie wegschauen.

Oliver Meiler aus Rom

Das betrübliche Kräftemessen zwischen Italien und den zivilen Seenotrettern im zentralen Mittelmeer geht in eine neue Runde – mit offenem Ausgang. Die römische Rechtsregierung von Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat ein Gesetzesdekret erlassen, einen sogenannten «Verhaltenskodex», der den NGOs unter Androhung von Strafen und im Detail vorschreibt, wie sie bei ihren Hilfsoperationen zwischen Libyen und Italien vorzugehen haben. Im Kern geht es darum, die Arbeit der Helfer zu behindern. Ob der Regierung das zusteht oder ob sie damit gegen internationale Konventionen verstösst, vielleicht auch gegen die italienische Verfassung – das wird sich weisen.

Das Dekret dreht sich hauptsächlich um drei Punkte:

Erstens soll ein Schiff jeweils pro Expedition nur noch eine einzige Rettungsoperation ausführen dürfen; kreuzt es auf seiner Fahrt weitere Schiffbrüchige, müsste die Crew demnach wegschauen. Hat sie einmal Menschen in Seenot an Bord geholt, muss sie deren Anzahl und deren Herkunft sofort den Behörden melden: den italienischen und denen jener Länder, unter deren Flagge sie fahren. Italien weist ihnen einen sicheren Hafen zu, den die Retter umgehend ansteuern sollen.

Der kann auch mal weit weg sein: Die Ocean Viking von SOS Méditerranée zum Beispiel ist gerade mit 113 Migranten unterwegs nach Ravenna an der Adria, nachdem man sie zunächst nach La Spezia am Tyrrhenischen Meer geschickt hatte – allein der Routenwechsel kostete das Schiff vier zusätzliche Tage Fahrt, rund um den Stiefel. Die NGOs fragen sich nun, ob auch das eine neue Taktik sei, um sie möglichst lange von der Rettungszone vor den libyschen Küsten fernzuhalten.

Zweitens sollen die Geretteten dazu angehalten werden, ihren Asylantrag zu stellen, kaum sind sie an Bord. Die Idee dahinter: So soll das Dubliner Abkommen unterspült werden. Es sieht vor, dass Flüchtlinge in dem Land ein Bleiberecht beantragen, in dem sie als erstes europäischen Boden betreten. Italien findet das unfair und will die Länder in die Pflicht nehmen, unter deren Fahne die Schiffe der internationalen NGOs unterwegs sind.

Drittens gibt es nun wieder Geldstrafen für Verstösse gegen den Kodex – bis zu 50’000 Euro. Neu daran ist, dass es sich dabei um Ordnungsbussen handelt, die von den Präfekten verhängt werden, also von den Abgesandten des Innenministers in den Regionen. Als Matteo Salvini Innenminister war, lief die Norm unter Strafrecht. Der Unterschied ist beträchtlich: Früher gingen die NGOs einfach vor Gericht und gewannen immer, denn internationales Seerecht steht über nationalem Recht.

Administrativstrafen dagegen sind sofort fällig, die Bussen müssen bezahlt werden. Der Präfekt kann die Schiffe im Wiederholungsfall auch für mehrere Wochen oder Monate festsetzen und ist dabei ziemlich frei. Experten finden, das Dekret sei viel zu vage gehalten und verführe zu Willkür. Die NGOs können Strafen vor den regionalen Verwaltungsgerichten anfechten, doch die sind in aller Regel langsam.

Alles Schikanen? Italiens Rechte sieht in den Hilfsorganisationen Komplizen der Schlepperbanden, sie nennt sie «Taxis im Meer». Beweise für den Vorwurf gibt es nicht. Auch ist die Zahl der von NGOs geretteten und nach Italien gebrachten Flüchtlingen viel kleiner, als es die rechte Propaganda glauben macht: Von den etwa 103’000 Migranten, die 2022 italienische Küsten erreicht haben, sind 12’000 an Bord privater Rettungsschiffe transportiert worden. Grösser ist der Anteil derer, die von der italienischen Küstenwache und der italienischen Marine ins Land gebracht werden.

Die NGOs halten das neue Dekret für eine Art Kampfansage, einen weiteren Versuch, die private Seenotrettung zu kriminalisieren. Und sie geloben, den Kodex zu ignorieren und einfach weiterzuarbeiten wie bisher. La Stampa titelt: «NGO, die Revolte bricht aus».

Die italienische Organisation Emergency erinnert daran, dass allein im laufenden Jahr fast 1400 Menschen ertrunken seien beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu fliehen. «Das neue Dekret ist eine Aufforderung zum Ertrinkenlassen», lässt die deutsche Organisation Sea-Watch ausrichten. Kritisch ist auch die katholische Kirche. Die italienische Bischofskonferenz findet, das Dekret blende einfach aus, dass es Menschen gebe, die im Meer ihr Leben riskierten und die einen sicheren Hafen verdient hätten. Die Bischöfe hoffen auf einen juristischen Kurzschluss: «Dieses Dekret fusst auf dem Nichts, es wird bald auseinanderfallen.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/mehrmals-retten-verboten-941593920182)
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169716.italien-regierung-erschwert-seenotrettung.html


+++GRIECHENLAND
In eigener Sache: Der Fall Maria – die Aufarbeitung
Im Sommer hat der SPIEGEL mehrere Beiträge über Geflüchtete am Grenzfluss Evros veröffentlicht. Wir berichteten, ein syrisches Kind sei gestorben, weil Griechenland keine Hilfe geleistet habe. Nachdem Zweifel aufkamen, sind wir noch einmal tief in die Recherche eingestiegen.
https://www.spiegel.de/backstage/debatte-ueber-fluechtlingsberichterstattung-des-spiegel-der-fall-maria-a-60436ed1-a07d-4288-88bf-baa530bf0ef3


+++ISRAEL
Arbeitsverbot für Flüchtlinge
Israel zwingt ukrainische Flüchtlinge in eine katastrophale Situation, die ihr Überleben im Heiligen Land so gut wie unmöglich macht.
https://www.tachles.ch/artikel/news/arbeitsverbot-fuer-fluechtlinge


+++GASSE
Basler Polizei warnt mit Mickey-Maus-Plakaten vor «aufdringlichem Betteln»
Mit Plakaten in der Innenstadt möchte die Kantonspolizei Basel-Stadt darauf hinweisen, dass Passantinnen und Passanten unangenehme Bettelnde melden können und sollen.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/aufgepasst-basler-polizei-warnt-mit-mickey-maus-plakat-vor-aufdringlichem-betteln-ld.2394894


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Demonstrationen in Bern
Ob wegen dem Krieg in der Ukraine, wegen dem Mullah-Regime im Iran oder wegen der letzten Coronavirus-Massnahmen: Die Menschen in Bern gehen auf die Strassen, um zu demonstrieren. Und dies so viel wie noch nie. In diesem Jahr wurden in der Hauptstadt bis Ende November bereits 363 Demonstrationen beim Polizeiinspektorat registriert.
https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/demonstrationen-in-bern-149498667


Unverständnis wegen angeblichen Hausbesetzern in St.Gallen
In St.Gallen hat das Kollektiv «Autonome Imobilienverwaltung» an einem Haus an der Wasssergasse Banner aufgehängt und behauptet es zu besetzen. In Wahrheit war aber niemand im Gebäude. Dieses Verhalten sorgt für viel Unverständnis.
https://www.tvo-online.ch/aktuell/unverstaendnis-wegen-angeblichen-hausbesetzern-in-st-gallen-149498463


+++PSYCHIATRIE
derbund.ch 30.12.2022

Kritik an Psychiatrien – Betäubt und fixiert: Schweizer Kliniken setzen vermehrt auf Zwang

Patientinnen und Patienten erleben wieder häufiger unfreiwillige Behandlungen in Schweizer Psychiatrien. Das liegt auch an fehlendem Personal.

Nina Fargahi

Gegen den Willen in eine Klinik einweisen, am Bett festbinden, in einem Zimmer isolieren, Zwangsmedikation verabreichen: Diese Methoden werden in den Schweizer Psychiatriekliniken wieder häufiger angewendet. Zu häufig. Assistenzärzte an der psychiatrischen Uniklinik Bern kritisieren eine «Zunahme von vermeidbaren Zwangsmassnahmen», wie das Schweizer Fernsehen kürzlich berichtete.

Neuste Zahlen des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ) zeigen: Der Anteil von Fällen, bei denen mindestens eine Zwangsmassnahme durchgeführt wurde, lag 2021 bei 11,5 Prozent. Im Jahr 2019 waren es 9,4 Prozent. Ausgewertet hat der ANQ Daten von 83’067 stationär behandelten erwachsenen Patientinnen und Patienten sowie von 4566 Kindern und Jugendlichen. Zwangsmassnahmen kommen zur Anwendung, wenn aufgrund einer psychischen Erkrankung eine akute Selbst- oder Fremdgefährdung besteht. Sie dürfen nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn keine andere Möglichkeit besteht.

Bei den Zwangseinweisungen ist die Schweiz sogar Spitzenreiterin im internationalen Vergleich. Das zeigt ein neues Positionspapier von der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für die Interessen von psychisch erkrankten Menschen einsetzt. 2019 wurden in der Schweiz über 14’500 Personen gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Etwa jede fünfte Person, die sich in der stationären Psychiatrie in der Schweiz aufhält, erlebte Zwang beim Eintritt.

Wie ist dieser Anstieg zu erklären? Paul Hoff ist Psychiater und Präsident der Zentralen Ethikkommission (ZEK) der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Er war 20 Jahre lang Chefarzt an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) und hat mehrere Publikationen zu diesem Thema verfasst. Er sieht verschiedene Faktoren, die den Anstieg erklären könnten.

Personalmangel

«Wir haben in der Psychiatrie seit Jahren ein Nachwuchsproblem. Je höher der Personalmangel ist, desto höher ist das Risiko, dass Zwang eingesetzt wird», sagt Hoff. In grossen Schweizer Kliniken treten durchschnittlich mehrere Patientinnen und Patienten täglich per Zwangseinweisung ein. Sind die Ärzteschaft und die Pflege an gewissen Tagen dünn besetzt, liegt es auf der Hand, dass der Patient oder die Patientin zum Selbstschutz eher isoliert werde, als wenn sich ein Assistenzarzt oder die pflegerische Bezugsperson mit ihm oder ihr an den Tisch setzt, sich Zeit nimmt und das Gespräch sucht, und sich diese Person beruhigen kann.

«Um Zwang als Mittel einzusetzen, braucht es einen verdammt guten Grund, denn es gilt das Prinzip, dass Zwang immer eine Notlösung und niemals ‹normaler› Bestandteil psychiatrischer Arbeit ist», so Hoff. Er sagt aber auch: «Um dieses Prinzip korrekt anzuwenden, braucht es Ressourcen und ausgebildetes Personal.» Fast alle etwa 80 psychiatrischen Kliniken in der Schweiz haben gemäss Hoff ein Problem beim Rekrutieren in der Pflege und bei den Ärztinnen und Ärzten.

«Zwangsmassnahmen sind die Achillesferse der Psychiatrie», so Hoff. Schon oft habe er die Erfahrung gemacht, dass sich Medizinstudierende gegen die Fachrichtung Psychiatrie entschieden hätten, weil sie den Umgang mit Zwang meiden wollten. «Ich will nicht die Person werden, die ein Berufsleben lang Menschen einschliessen muss», sagte ihm einmal eine Studentin, die grosses Interesse an der Psychiatrie hatte.

Schweizer Föderalismus

Die Anordnung von Zwangseinweisungen wird in den Schweizer Kantonen unterschiedlich geregelt. Der Psychiater erklärt: Im Kanton Basel-Stadt dürfen nur wenige Ärztinnen und Ärzte des Fachteams Sozialmedizin eine Zwangseinweisung anordnen, in Zürich sind es ungleich mehr, denn jede Fachärztin und jeder Facharzt – unabhängig von der Spezialisierung – darf eine Zwangseinweisung ausstellen. Psychiater Hoff vermutet, dass die hohe Zahl von Zwangseinweisungen reduziert werden könnte, wenn ausschliesslich psychiatrisch ausgebildete Ärztinnen und Ärzte solche Anordnungen ausstellen könnten.

Fehlende Strukturen

In der Schweiz sind nicht genügend ambulante Stellen für psychiatrische Krisen und Notfälle vorhanden. «Gäbe es genügend solche Strukturen, die bei einer akuten psychischen Krise gleich am nächsten Morgen ein fachärztliches Gespräch anbieten könnten, kämen Zwangseinweisungen bestimmt weniger häufig zur Anwendung», sagt Hoff. Für den ehemaligen Chefarzt ist klar: «Die Psychiatrie muss sich dem Thema stellen, und zwar weder beschönigend noch dramatisierend.»

Neue Richtlinien nötig

Die Zunahme von Zwangsmassnahmen sorgt auch bei der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften für Diskussionen. Sie ist gerade dabei, ihre ethischen Richtlinien zu den Zwangsmassnahmen in der Schweiz umfassend zu revidieren. Dabei werden Fachpersonen, Betroffene und Angehörige ebenso berücksichtigt wie gesellschaftliche und politische Entwicklungen, etwa die von der Schweiz ratifizierte UNO-Behindertenrechtskonvention. «Wir müssen den Spagat schaffen und einen guten, also ethisch wie rechtlich vertretbaren Umgang mit Zwangsmassnahmen finden, denn sie werden weder aus der Psychiatrie noch aus der sonstigen Medizin vollständig verschwinden», sagt Hoff.

Auch die Patientenorganisation Pro Mente Sana sieht Handlungsbedarf angesichts dieser Zahlen. Erst kürzlich forderte sie einen besseren Umgang mit Zwangsmassnahmen. Von Gesetzes wegen als allerletzte Möglichkeit vorgesehen, würden diese bei der fürsorgerischen Unterbringung in der Schweiz zu oft angewendet, so die Stiftung.

Auch das Bundesamt für Justiz (BJ) befasst sich mit Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie. Mitte Dezember hat es einen Bericht mit aktuellen Daten und Empfehlungen publiziert. Darin macht das BJ geltend, dass ein gesetzgeberischer Anpassungsbedarf der Bestimmungen zu den Zwangsmassnahmen besteht. Zum Beispiel beim Einbezug der Betroffenen in den Prozess. Erkrankte Menschen und deren Angehörige benötigen bei einer Anwendung von Zwangsmassnahmen ausführlichere Informationen zu den Gründen, zum Ablauf und der Dauer sowie mögliche Alternativen. Der Bericht war vom Bundesrat nach diversen parlamentarischen Vorstössen in Auftrag gegeben worden.
(https://www.derbund.ch/schweizer-kliniken-wenden-wieder-haeufiger-zwang-an-673887148943)


+++KNAST
Häftling leblos in Lausanner Gefängniszelle aufgefunden
Ein 36-jähriger inhaftierter Franzose ist am Freitagmorgen leblos in seiner Zelle in einem Lausanner Gefängnis aufgefunden worden. Die Todesursache war vorerst unklar. Der Mann hatte die Zelle mit einer anderen Person geteilt. Die Justizbehörden schliessen jedoch eine Tatbeteiligung Dritter aus.
https://www.watson.ch/schweiz/polizeirapport/858801705-haeftling-leblos-in-lausanner-gefaengniszelle-aufgefunden
-> https://www.nau.ch/news/polizeimeldungen/haftling-leblos-in-lausanner-gefangniszelle-aufgefunden-66381742


+++RECHTSEXTREMISMUS
Vorwurf des Menschenhandels: Frauenhasser Andrew Tate verhaftet – nach Twitter-Ohrfeige von Greta Thunberg
Der «König der toxischen Maskulinität» lief bei der Umweltaktivistin auf – und verriet den Behörden dann in einem Provokations-Video offenbar aus Versehen seinen Aufenthaltsort.
https://www.derbund.ch/frauenhasser-andrew-tate-verhaftet-nach-twitter-ohrfeige-von-greta-thunberg-290612712110
-> https://www.derstandard.at/story/2000142178747/frauenhasser-andrew-tate-in-rumaenien-wegen-menschenhandelsvorwuerfen-festgenommen?ref=mastodon
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-12/ermittlungen-andrew-tate-festnahme
-> https://www.sueddeutsche.de/panorama/kriminalitaet-influencer-andrew-tate-in-rumaenien-festgenommen-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-221230-99-53279
-> https://www.blick.ch/ausland/per-haftbefehl-wegen-menschenhandels-gesucht-influencer-alexander-tate-von-rumaenen-pizza-verraten-erst-der-greta-tiefschlag-dann-verhaftung-wegen-greta-id18185971.html
-> https://www.watson.ch/spass/klima/740611494-so-lacht-das-netz-ueber-andrew-tates-ko-gegen-greta-thunberg
-> https://www.watson.ch/international/twitter/458293884-anti-greta-tweet-hat-ihn-verraten-andrew-tate-in-rumaenien-verhaftet
-> https://www.nau.ch/people/welt/so-reagiert-greta-thunberg-auf-die-festnahme-des-frauenhassers-66381501
-> https://www.nau.ch/people/welt/andrew-tate-nach-twitter-streit-mit-greta-in-rumanien-verhaftet-66381132
-> https://www.blick.ch/ausland/kickboxer-frauenhasser-und-influencer-das-ist-ueber-andrew-tates-irres-leben-bekannt-id18186924.html
-> https://www.derstandard.at/story/2000142185768/andrew-und-tristan-tate-der-aufstieg-und-rasante-absturz-der?ref=rss
-> https://www.spiegel.de/panorama/justiz/andrew-tate-womit-wurde-er-im-netz-bekannt-und-warum-wurde-er-festgenommen-a-6baca8de-e325-48a0-9cd4-2541489ac927
-> https://www.watson.ch/international/people/297161044-die-geschichte-des-andrew-tate-ein-drama-in-fuenf-akten
-> https://www.blick.ch/ausland/frauenhasser-verschanzte-sich-in-dieser-luxus-villa-lebte-der-verhaftete-andrew-tate-id18188138.html



nzz.ch 30.12.2022

Andrew Tate, Greta Thunberg und die grosse Schadenfreude

Die rumänische Polizei hat den britischen Influencer Andrew Tate wegen Verdachts auf Vergewaltigung und Menschenhandel festgenommen. Warum Greta Thunberg dabei das letzte Wort behält – und was das mit einer guten Pointe zu tun hat.

Nadine A. Brügger

Andrew Tate liebt schnelle Autos, misogyne Menschen und vor allem Aufmerksamkeit. Das Internet liebt digitale Scharmützel und die Schadenfreude. Greta Thunberg liebt die Umwelt. Und die rumänische Polizei liebt es nicht, wenn in ihrem Revier Vergewaltigungen und Menschenhandel stattfinden. Mischt man all das zusammen, kommt man zum wohl letzten Märchen des Jahres 2022.

Und das geht so: Es war einmal ein britischer Influencer namens Andrew Tate. Er wurde zum Ex-Influencer, weil ihn alle sozialen Netzwerke sperrten. Alle sozialen Netzwerke? Nein, bei Twitter wurde er wieder freigeschaltet, als sich dort die Besitzverhältnisse veränderten.

«Hallo Greta, ich habe 33 Autos»

So kam es, dass der frauenverachtende und konsumverherrlichende Influencer aus Grossbritannien bei ebendiesem Kurznachrichtendienst auf eine Klimaaktivistin aus Schweden traf. «Hallo Greta Thunberg», schrieb Tate, «ich habe 33 Autos.» Was nach Werbung klingt, sollte natürlich Provokation sein. «Bitte gib mir deine E-Mail-Adresse, damit ich dir eine vollständige Liste der Sammlung meiner Autos und ihrer jeweiligen enormen Emissionen schicken kann», schrieb Tate weiter. Rund 200 000 Menschen fanden diese Nachricht lustig und klickten «Gefällt mir».

Auch Thunberg schien ihren Spass zu haben und schrieb: «Ja, bitte klär mich auf, schreib mir eine Mail an: smalldickenergy@getalife.com.» Small dick energy, zu Deutsch: Kleine-Penis-Energie, meint nicht konkret die Genitalien von Andrew Tate, sondern sein Verhalten. Man könnte es auch mit «grosse Klappe, nichts dahinter» übersetzen. Rund 3,2 Millionen Menschen fanden Thunbergs Antwort gut.

    yes, please do enlighten me. email me at smalldickenergy@getalife.com https://t.co/V8geeVvEvg
    — Greta Thunberg (@GretaThunberg) December 28, 2022

Dass das Mädchen aus Schweden, das weder ein Auto noch nennenswert viel Geld besitzt, 3 Millionen mehr «Gefällt mir»-Klicks bekam als er selbst, war für Tate allerdings zu viel. Da hörte der Spass auf. Es gab nur noch eines: Tate musste ein Video aufnehmen, in dem er Thunberg beleidigte. Auf dem Video raucht er genüsslich einen Stumpen. Auf dem Tisch unter ihm ist eine Pizzaschachtel zu sehen, vertrieben von einer Marke, die es nur in Rumänien gibt. Ein möglicher Beweis dafür, dass Tate sich ebendort befindet. Ein Beweis, der Tate teuer zu stehen kommen könnte.

Nun verhält es sich so, dass die rumänische Polizei den Briten schon lange im Blick hat. Und was sie sieht, gefällt ihr nicht.

Erste Verhaftung im April

Bereits im April dieses Jahres stürmte die rumänische Polizei die Villa der Tate-Brüder, durchsuchte das Haus, konfiszierte mehrere Geräte und nahm die beiden für zwei Tage mit auf den Posten. Denn es bestand der Verdacht, dass Frauen in der Villa gegen ihren Willen festgehalten wurden. Dies möglicherweise im Zusammenhang mit Menschenhandel und illegaler Prostitution. Später wurden die Tate-Brüder – ob auf Kaution oder nicht, ist unklar – wieder entlassen. Ihre Erklärung für das Polizeiaufgebot: «Bitches love to lie.»

Doch die Polizei glaubte nicht an eine Lüge und ermittelte weiter. Immerhin hatte Tate selbst in einem inzwischen gelöschten Video erklärt, er und sein jüngerer Bruder Tristan seien «zu 40 Prozent» von Grossbritannien nach Rumänien gezogen, weil die rumänische Polizei bei Sexualdelikten weniger streng sei als die britische. «Ich bin kein Vergewaltiger», sagte Tate in dem mittlerweile gelöschten Videoclip, «aber ich mag die Vorstellung, dass ich einfach tun kann, was ich will. Ich mag es, frei zu sein.»

Frei sind Tate, sein Bruder und zwei Rumänen nun allerdings nicht mehr. Sie wurden wegen Verdachts auf Vergewaltigung und Menschenhandel festgenommen. Das bestätigte die für organisiertes Verbrechen zuständige Sondereinheit der rumänischen Staatsanwaltschaft (DIICOT) am Freitag gegenüber der DPA.

Tate und die Loverboy-Methode

Der Verdacht: Seit Anfang 2021 sollen die vier Festgenommenen Menschenhandel in Rumänien, den USA und Grossbritannien betrieben und Frauen zur Prostitution gezwungen haben. Die bisher befragten Opfer seien mit der Loverboy-Methode rekrutiert worden, schreibt die DIICOT in einer Mitteilung.

Bei dieser Methode wird den Frauen Liebe vorgespielt und eine Heirat in Aussicht gestellt. Später seien die Frauen und Mädchen mit Gewalt in verschiedenen Wohnungen in der Umgebung von Bukarest festgehalten, zum Sex und zum Filmen pornografischer Videos gezwungen worden. Eines der Opfer sei zudem zwei Mal von einem der Festgenommenen vergewaltigt worden.

Die Pointe ist alles

So weit, so wenig märchenhaft. Ganz im Gegenteil. Allerdings verbreitete sich am frühen Freitagmorgen ein Gerücht im Internet, wonach die rumänische Polizei Tate und seine möglichen Komplizen nur darum hat dingfest machen können, weil sie auf dem Video, welches er in aller Öffentlichkeit an Greta Thunberg geschickt hatte, einen rumänischen Pizzakarton erkannte. Dieser bewies, dass Tate sich im Moment der Videoaufzeichnung tatsächlich in Rumänien aufhielt. Der Bösewicht hatte sich in seiner blinden Wut selber das Handwerk gelegt.

Doch wie jedes Märchen ist auch dieses einfach eine Geschichte mit wünschenswerter Pointe. Die Geschwindigkeit, mit der das Gerücht sich verbreitete, zeigt, wie sehr die Welt sich danach sehnte. Auch verschiedene Medien nahmen das Narrativ auf. So titelte etwa der Spiegel. «Andrew Tate nach Twitter-Beef mit Greta Thunberg in Rumänien festgenommen.» Und beim Tagesanzeiger ist zu lesen: «Der «König der toxischen Maskulinität» lief bei der Umweltaktivistin auf – und verriet den Behörden dann in einem Provokations-Video offenbar aus Versehen seinen Aufenthaltsort.»

Doch die Sprecherin der Staatsanwaltschaft DIICOT erklärte auf Anfrage der DPA: «Das sind amüsante Spekulationen.» Es stimme nicht, dass der Karton für die Festnahme eine Rolle gespielt habe. Doch wie jedes Märchen lehrt uns auch dieses etwas. Thunberg tippte nämlich auf Twitter an Tate: «Das passiert, wenn man seine Pizzakartons nicht rezykliert.»

    this is what happens when you don’t recycle your pizza boxes
    — Greta Thunberg (@GretaThunberg) December 30, 2022
(https://www.nzz.ch/panorama/tate-ld.1719254?mktcid=smch&mktcval=twpost_2022-12-30)