Medienspiegel 7. Februar 2021

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++MITTELMEER
Seenotrettung: “Ocean Viking” darf Geflüchtete nach Sizilien bringen
Das Rettungsschiff hat vergangene Woche 422 Menschen vor Libyen aufgenommen. Enge an Bord und schlechtes Wetter hatten die Lage auf der “Ocean Viking” zuletzt verschärft.
https://www.zeit.de/gesellschaft/2021-02/seenotrettung-ocean-viking-sizilien-mittelmeer-fluechtlinge
-> https://www.spiegel.de/politik/ausland/ocean-viking-bringt-422-im-mittelmeer-gerettete-fluechtlinge-nach-sizilien-a-afad22e5-4f5f-4f7b-954d-66d33b419707


+++EUROPA
Frontex außer Kontrolle
Illegale Pushbacks von Flüchtlingen konnten bislang nicht gestoppt werden. Das liegt auch an der mangelnden Kontrolle der Grenzschutzagentur
https://www.heise.de/tp/features/Frontex-ausser-Kontrolle-5048011.html
-> https://www.watson.ch/international/eu/631300608-pleiten-pannen-und-pathos-bei-der-eu-grenzschutzagentur-frontex
-> https://www.jungewelt.de/artikel/395953.eu-grenzregime-kriegswaffen-f%C3%BCr-frontex.html


+++ÄTHIOPIEN
Hungersnot in Äthiopien: «Sie betteln um Hilfe, die es nicht gibt»
Die Regierung von Friedensnobelpreisträger Abiy Ahmed behauptet, in der äthiopischen Konfliktregion Tigray nur «Recht und Ordnung» wiederherstellen zu wollen. Doch durch den Krieg droht Millionen Menschen eine Hungersnot.
https://www.derbund.ch/sie-betteln-um-hilfe-die-es-nicht-gibt-543629699090


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Mit Kreidenmalerei für die Sache der Frau
Eine feministische Aktionsgruppe äussert sich anlässlich des 50-Jahr Stimmrechtsjubiläums in der Thuner Innenstadt.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/188028/


Eure Profite – unsere Toten. Wir tragen eure Krise nicht!
Eure Profite – unsere Toten. Wir tragen eure Krise nicht!
Communiqué zur Blitzdemo am 5. Februar
Video: https://streamable.com/0flggf
Am Abend des 5. Februar haben wir uns unter der Parole “Ihre Profite, unsere Toten” in Zürich die Strasse genommen. Etwa 50 Menschen folgtem dem Aufruf. Die kämpferische Demo zog zum Gebäude der Economiesuisse, welches mit Farbe verschönert wurde. Im Vorfeld der Mobilisierung gab es Aktionen beim Hauseigentümerverband sowie bei der Kantonsregierung. Damit machten wir weitere Akteur*innen der aktuellen Krisenverwaltung sichtbar.
https://barrikade.info/article/4186


+++BIG BROTHER
Grossansammlung in Zürich: SVP fordert Kameras in Innenstadt wegen Gewalt
Es kommt beim Sechseläutenplatz immer wieder zu Auseinandersetzungen und Unruhen. Die SVP fordert eine Wiedereinführung der Videoüberwachung.
https://www.20min.ch/story/svp-fordert-kameras-in-innenstadt-wegen-gewalt-985438506042


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Coronakrise: Über alternative Fakten, Wissenschaftsskepsis und Verschwörungsdenken
So divers und kontrovers eine Gesellschaft sein mag, muss sie doch, um überhaupt streiten zu können, eines teilen: Einen Konsens darüber, was als wirklich anerkannt wird und was nicht, schreibt Eva Horn in einem Essay der „Berliner Zeitung“. Für den Deutschlandfunk hat sie ihn weitergedacht.
https://www.deutschlandfunk.de/coronakrise-ueber-alternative-fakten-wissenschaftsskepsis.1184.de.html?dram:article_id=492132


+++HISTORY
Spécifisme : pratique anarchiste, mouvements populaires et organisation révolutionnaire
Publié pour la première fois dans The Northeastern Anarchist #11 au printemps 2006, “Especifismo : The Anarchist Praxis of Building Popular Movements and Revolutionary Organization” (Spécifisme : la pratique anarchiste de construction des mouvements populaires et de l’organisation révolutionnaire) a ouvert de nouvelles perspectives avec le premier article d’introduction anglais sur le concept de Spécifisme anarchiste (Especifismo).
https://renverse.co/analyses/article/specifisme-pratique-anarchiste-mouvements-populaires-et-organisation-2908


+++WORLD OF CORONA
tagesanzeiger.ch 07.02.2021

Armut in Zürich: 1187 Essenspakete, drei Stunden warten – ein Sans-Papiers hilft

Amine Diare Conde verteilt Reis und Gemüse an Hunderte junge Männer und Frauen, Familien, Kinder und Grossmütter. Und das jede Woche.

Kevin Brühlmann

An einem Samstagmorgen um halb zwölf Uhr fahren Männer mit grossen Rucksäcken auf ihren Velos durch Zürichs Strassen, um bei irgendeiner Haustür zu klingeln, und wenn die Tür aufgeht, holen sie Essen aus dem Rucksack, eine Sushiplatte für 59 Franken oder eine Pizza für 25, dann freundliche Übergabe, Rucksack zu und wieder aufs Velo, weiter für ein paar Franken die Stunde.

Manchmal fahren die Männer an einem alten Gebäude der Schweizerischen Bundesbahnen vorbei, einer Kantine für Bahnangestellte. Um die Kantine eine Menschenschlange, so lang, dass weder Anfang noch Ende zu erkennen sind. Junge Frauen und Männer, Familien, Grossväter und Kinder stehen in der Schlange. Sie haben Taschen bei sich oder Einkaufstrolleys.

Amine Diare Conde, ein 22-jähriger Mann mit einer menschenfreundlichen Unruhe, steigt die Treppe zum Eingang der Kantine hoch. Von hier aus kann man in zwei Richtungen schauen: nach rechts, zum Prime Tower, dem Zürcher Wahrzeichen aus Spiegelglas, oder nach links, zur Menschenschlange.

Conde schaut nach links und sagt: «Erst wenn die letzte Frau, der letzte Mann sein Essenspaket erhalten hat, machen wir hier Feierabend.»

Vor elf Monaten, im März 2020, als manche Leute über die Regale im Supermarkt herfielen, machte sich Conde Sorgen. Er fragte sich: Was passiert mit denen, die kein Geld für solche Einkäufe haben? Wie mag es meinen Freunden und Bekannten gehen, Menschen, die laut Schweizer System gar nicht existieren?

Amine Diare Conde war 2014, mit 16, aus dem westafrikanischen Staat Guinea in die Schweiz geflüchtet. Er lebte jahrelang ohne Papiere – existierte also offiziell nicht. Als sein Gesuch auf Asyl im Herbst 2017 abgelehnt wurde, musste er mit 497 Franken pro Monat über die Runden kommen und mit der Angst, jederzeit verhaftet und ausser Landes geschafft zu werden.

So gründete er das Hilfsprojekt «Essen für alle». Erst waren es einige Fertiggerichte, die er jeweils samstags verteilte. Nun sind es Tonnen von Lebensmitteln: Reis, Gemüse, Teigwaren, Öl, Brot, Kartoffeln und Getränke. Seit Beginn der Aktion gingen Sachspenden im Wert von über einer Million Franken ein. Mittlerweile ist «Essen für alle» Teil des Sozialwerks von Pfarrer Sieber.

Conde zieht sein Mobiltelefon aus der Tasche und öffnet eine App, worauf er in Echtzeit sieht, wie viele Essenspakete heute schon abgegeben wurden. Es sind 374. Bis zum Abend werden es 1187 sein.

«Sans-Papiers, abgewiesene Asylsuchende», sagt Conde nachdenklich, dann schweigt er und beginnt neu: «In der Schweiz gibt es alles, aber nicht für alle.»

Giuseppe: Die Rente reicht nicht

Hundert, zweihundert, dreihundert Meter lang ist die Schlange um die Kantine, und mit jedem Bus, der bei der Haltestelle um die Ecke anhält, kommen mehr Menschen hinzu.

In der Schlange, ziemlich weit vorne, weil er schon vor zweieinhalb Stunden hergekommen ist, steht Giuseppe, ein kleiner, drahtiger Mann. «72 Jahre alt», sagt er, «und kräftig wie ein Tier!» Er könne sämtliche Arbeiten machen, die gewünscht seien, vorzugsweise Reinigungen, da habe er 42 Jahre Erfahrung, aber auch Gartenarbeiten, Transporte, kleine Reparaturen und so weiter, sagt Giuseppe, er sei ein ehrlicher Kerl, immer korrekt Steuern bezahlt, aber jetzt finde er kaum Arbeit, und mit einer Rente von 1600 Franken pro Monat komme er nicht weit, auch wenn seine Frau ebenfalls eine Rente erhalte. Nur schon die Krankenkasse für ihn und seine Frau koste viel zu viel, und dann noch die Wohnung in Oerlikon, 1400 Franken Miete – hier sei seine Visitenkarte, und man solle ihn anrufen, wenn man Arbeit habe. Er ruft: «Ich bin immer bereit, für alles!»

Um 13 Uhr, nach dreistündigem Warten, ist Giuseppe an der Reihe. Er betritt die Kantine. Drinnen sieht es aus wie auf einem Markt. Menschen gehen hektisch umher und rufen Namen, und irgendjemand steht immer im Weg herum. Reihum, die Wände entlang, stehen Dutzende Tische mit Lebensmitteln und daneben Helferinnen und Helfer, die die Waren verteilen. Giuseppe hält seine Taschen hin, und sie werden gefüllt, mit Reis, Teigwaren, Gemüse und Fleisch. Beim letzten Tisch, der vor dem Ausgang steht, bekommt er eine Packung Schoggiguetsli. Bepackt mit vier vollen Taschen tritt Giuseppe nach draussen.

Das Essen reiche für ungefähr eine Woche für ihn und seine Frau, sagt Giuseppe. «Ich habe eine tolle Frau, und heute, Madonna mia, kocht sie bestimmt etwas Gutes, ein bisschen Gemüse», er bewegt seine Hand durch die Luft, als würde er Karotten schneiden, «dazu ein bisschen Pasta, ein bisschen Käse, ich freue mich schon.» Dann schleppt Giuseppe die fünf Taschen zur Bushaltestelle.

Lasst die Leute arbeiten, meint Conde

Um kurz Pause zu machen und ungestört zu reden, hat sich Amine Diare Conde auf einen Stuhl in einem kleinen, düsteren Raum im Keller der Kantine gesetzt. Auf den Stuhl nebenan hat er sein Mobiltelefon, das dauernd aufleuchtet, und ein Walkie-Talkie, das ab und an rauscht, gelegt.

Conde ist ein guter Redner, und nach einigen Minuten wird er noch besser.

Er sagt, damals, in jenem Dorf in Guinea, wo er aufgewachsen sei und man kaum mal ein Auto gesehen habe, damals habe er nachts den Himmel nach Flugzeugen abgesucht, und da habe er sich gefragt: «Wie können so schwere Dinge fliegen, aber ich kann es nicht?»

Seit 1958 regiert in Guinea eine Diktatur. Als irgendwann Freunde von Conde verhaftet wurden, weil sie auf der Strasse gegen das Regime protestierten, entschloss sich Conde, das Land zu verlassen. Übers Mittelmeer kam er 2014 in die Schweiz, «mit einem Gummiboot, das man hier für Fahrten auf der Limmat braucht».

In der Schweiz, als Papierloser, ein Leben ohne Leben, erzählt Conde. Zweimal hatte er schon eine Lehrstelle auf sicher, beide Male griffen die Behörden ein – ohne Papiere keine Arbeit. «Bei den Behörden hiess es: Du darfst nicht träumen», sagt Conde. «Aber ich träumte trotzdem, von einer Lehre, einer Frau, einer Familie, ich träumte davon, die Schweiz zu verändern.»

Jetzt, während der Pandemie, sind viele Sans-Papiers auf der Strasse gelandet. Vor der Krise arbeiteten sie schwarz, etwa in der Gastronomie. Doch ohne Vertrag gibts auch kein Kurzarbeitsgeld, und ohne Papiere keine Sozialhilfe.

Conde wird grundsätzlich: «Es gibt so viele Sans-Papiers und abgewiesene Asylsuchende. Die sind jung und kräftig. Man sollte sie in die Schule schicken, sie können arbeiten – auch wenn sie später in ihr Herkunftsland zurückmüssen. Es kostet den Staat nur Unmengen, wenn er sie zehn Jahre lang in einem Bunker ohne Tageslicht leben lässt, wie in der Notunterkunft in Urdorf.»

Das gesparte Geld könnte man wiederum in Schulen in Guinea investieren, meint Conde. Er überlegt, dann sagt er, und die Stimme hallt von den Kellerwänden: «Man füttert die Leute mit einigen Knochen, hält sie im Käfig, wie Hunde, das macht die Leute krank, und am Ende verlieren alle.»

Asma hilft und holt Reis für die Mutter

Draussen geht Asma auf und ab und schaut, dass alle eine Schutzmaske tragen. Sie war schon an einigen Samstagen hier, um Essen für ihre Familie zu holen. Seit ein paar Wochen engagiert sie sich auch als Helferin – die Zahl der Helfenden beträgt inzwischen mehrere Hundert.

Mit beiden Händen hält Asma einen Kaffeebecher, um sich etwas zu wärmen. «Ich helfe gern», sagt sie, «denn ich kenne beide Seiten.»

Asma, 18 Jahre alt, wohnt mit Mutter, Grossmutter und zwei jüngeren Brüdern in einer Wohnung der Asylfürsorge in Zürich. Die Familie war 2012 aus Pakistan geflüchtet. Für ihre alleinerziehende Mutter sei es fast unmöglich, sicher aber unwürdig gewesen, dort zu leben, erzählt Asma. Ihre Mutter habe nicht mal arbeiten dürfen. Nun, in der Schweiz, sei die Mutter erkrankt, die Spätfolge einer Operation, ständig neue Entzündungen, und die Familie komme kaum über die Runden.

Asma selbst macht eine Lehre als Kauffrau. Sie wollte eigentlich aufs Gymnasium gehen und später an eine Universität, doch sie habe Geld verdienen und die Familie unterstützen wollen. Nach dem Lehrabschluss möchte sie ein Studium beginnen, am liebsten etwas im Sozialbereich, auch wenn ihre Mutter wünsche, dass sie Ärztin werde; aber, sagt Asma, sie könne einfach kein Blut sehen.

«Heute Abend werde ich meiner Mutter Essen mitbringen», sagt Asma. «Sie mag den Reis von hier besonders. Er erinnert sie an ihre Herkunft.»

«Ich werde alles für die Schweiz geben»

Gegen 15 Uhr scheint die Menschenschlange noch keinen Meter kürzer geworden zu sein. Noch immer stehen hundert, hundertfünfzig Leute an.

«Wir bleiben bis zum Schluss», sagt Amine Diare Conde. Und man kann seine Aussage politisch verstehen.

Am 29. Januar erhielt er einen Brief vom Migrationsamt: Er darf in der Schweiz bleiben. Zumindest vorläufig, er bekam eine provisorische Aufenthaltsbewilligung B. Plötzlich, nach Jahren als Papierloser, existiert Amine Diare Conde auch offiziell.

Was nun? «Ich will eine Lehre als Hochbauzeichner oder Laborant machen», sagt er. «Und später einmal will ich in die Politik. Der 29. Januar ist ein Tag, an dem die Schweiz viel gewonnen hat. Ich werde alles für die Schweiz geben, gegen Armut, für Gleichberechtigung. Die Schweiz ist meine Heimat.»
Sachspenden im Wert von einer Million Franken hat Amine Conde schon für «Essen für alle» erhalten.
(https://www.tagesanzeiger.ch/1187-essenspakete-drei-stunden-warten-ein-sans-papiers-hilft-328620315358)