Medienspiegel 20. Juli 2020

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Status der Verzweiflung
Die Gruppe „Stop Isolation“ hat sich am 20. Juli erneut die Strassen Berns genommen, um gegen die unmenschlichen Bedingungen im Asylregime zu protestieren. Nach der Demo vor dem SEM am 7. Juli 2020, hatte der Berner Polizeidirektor Migrant*innen als undemokratisch & unsolidarisch bezeichnet. Heute hat sich ein Demonstrant* aus Protest selbst angezündet.
Vorfälle wie heute sind kein Zufall. Das Asylregime ist rassistisch und schafft Bedingungen, die ein menschliches Leben nicht erlauben. Nicht alle Gefängnisse haben Wände. Bevor mensch mit dem Finger auf Protestformen zeigt: Diese Verzweiflung ist politisch und hat System. Dieses System  stützen Sie, Herr Müller.
https://www.megafon.ch/aktuelles/status-der-verzweiflung/
-> Video: https://streamable.com/dtb7fg


Aus Protest gegen Asylpolitik: Mann hat sich auf dem Bundesplatz angezündet
Bei einer Demonstration gegen die Schweizer Asylpolitik hat sich vor dem Bundeshaus ein Mann selbst in Brand gesetzt. Er ist ausser Lebensgefahr.
https://www.derbund.ch/person-auf-bundesplatz-zuendet-sich-an-829742223703
-> Megafon-Tweets: https://twitter.com/Megafon_RS_Bern
-> https://www.bernerzeitung.ch/person-zuendet-sich-auf-bundesplatz-selbst-an-419139011448
-> https://www.20min.ch/story/person-zuendet-sich-auf-bundesplatz-selbst-an-347158150689
-> https://twitter.com/Megafon_RS_Bern/status/1285197383073177600
-> https://twitter.com/Megafon_RS_Bern/status/1285199103643746304
-> https://www.blick.ch/news/politik/waehrend-demonstration-person-soll-sich-auf-dem-bundeshausplatz-angezuendet-haben-id16002597.html
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/bundesplatz-bern-demonstrant-zuendet-sich-selbst-an-138514582


Twitter:
-> https://twitter.com/NetworkMigrant
-> https://twitter.com/OpenEyesBalkan
-> https://twitter.com/Megafon_RS_Bern


Heute 14 Uhr | Protestaktion von Stop Isolation | «Wir sind nicht unsolidarisch und undemokratisch. Wir fordern unsere Rechte ein»
Die Gruppe Stop Isolation antwortet mit einer Protestaktion auf die Stellungnahme des Kantons Bern. Am Freitag bezeichnete die Berner Sicherheitsdirektion die Forderungen von Stop Isolation als «unsolidarisch» und «undemokratisch» . Die Aktivist*innen sowie mehrere Organisationen und Parteien reagieren fassungslos.
https://migrant-solidarity-network.ch/2020/07/20/heute-14-uhr-protestaktion-von-stop-isolation-wir-sind-nicht-unsolidarisch-und-undemokratisch-wir-fordern-unsere-rechte-ein


Widerstand gegen die Rückkehrzentren
Wir sind enttäuscht, ja geradezu entsetzt, was die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern in ihrer Medienmitteilung zu den Forderungen von «Stop Isolation» geschrieben hat.
Dass Menschen bewusst in die Isolation getrieben werden, ist eine Schande für dieses Land. Geradezu zynisch erscheint es, wenn die Sicherheitsdirektion von «unsolidarischem» Verhalten seitens der Protestierenden schreibt.
https://al-be.ch/widerstand-gegen-die-rueckkehrzentren/


Offener Brief an die Sicherheitsdirektion und das Amt für Bevölkerungsdienste des Kantons Bern
Bezug nehmend auf die Medienmitteilung der Sicherheitsdirektion «Forderungen der Gruppe ‹Stopp Isolation›: Undemokratisch und unsolidarisch» sowie den von Herrn Aeschlimann unterzeichneten Brief vom 16. Juli 2020 an die genannte Gruppe, erlauben wir uns als Demokratische Juristinnen und Juristen Bern (djb) insbesondere zur (Un-)Rechtmässigkeit der in den sogenannten Rückkehrzentren geltenden Anwesenheitspflicht Stellung zu nehmen. Erschreckend fällt auf, dass die veröffentlichten Ausführungen jegliche Auseinandersetzung mit den Grundrechten der Betroffenen vermissen lassen. Nach hier vertretener Auffassung verletzt die seit dem 1. März 2020 geltende – im Internet bisher nicht zugängliche – «Nothilfe- und Gesundheitsweisung (Nothilfeweisung)» jedoch gleich in mehrfacher Hinsicht grundrechtlich geschützte Rechtspositionen und rechtsstaatliche Grundprinzipien.
https://djs-jds.ch/de/be-2/aktuell-be


Die Demokratischen Juristinnen und Juristen Bern (djb) unterstützen die Forderungen der Gruppe «Stopp Isolation»
Ende letzter Woche veröffentlichte die Sicherheitsdirektion des Kantons Bern unter dem Titel «Forderungen der Gruppe ‹Stopp Isolation›: Undemokratisch und unsolidarisch» eine Medienmitteilung. Die djb stellen sich hinter die Forderungen der Bewohner*innen der neuen Rückkehrzentren und verurteilen die mit dem Labeling «undemokratisch» und «unsolidarisch» vorgenommene behördliche Diskreditierung des Protests.
https://www.djs-jds.ch/images/MM_djb_Nothilfeweisung.pdf


Stellungnahme: Solidarität mit der Gruppe „Stopp Isolation“
augenauf Bern solidarisiert sich mit der Gruppe „Stopp Isolation“ und unterstützt ihre Forderungen im Brief vom 6. Juli 2020 an den Kanton Bern und das Staatssekretariat für Migration (SEM) vollumfänglich. Die Antwort des Kantons verurteilen wir scharf.
https://www.augenauf.ch/aktivitaeten/183-stellungnahme-solidaritaet-mit-der-gruppe-stopp-isolation.html



(FB Grüne Kanton Bern)
Respekt und menschenwürdige Behandlung gelten auch für abgewiesene Asylsuchende #haltungzeigen✊

„Stop Isolation“, eine Gruppe von Geflüchteten mit negativem Asylentscheid, macht in diesen Tagen auf die schwierige Situation in Rückführzentren im Kanton Bern aufmerksam und ist mit ihren Forderungen sowohl an den Bund wie auch an den Kanton Bern gelangt. #StopIsolation

➡ Die GRÜNEN Kanton Bern setzen sich dafür ein, dass der Kanton Bern im (sehr restriktiven) Rahmen des Asylgesetzes des Bundes seinen Beitrag für einen menschenwürdigen und respektvollen Umgang mit den Direktbetroffen leistet. Der Kanton Bern soll vorhandene Spielräume zu Gunsten der Betroffenen nutzen, sei es insbesondere bei der Behandlung von Härtefallgesuchen, bei der Unterbringung und bei der Auszahlung der Nothilfe.

➡ Die GRÜNEN Kanton Bern haben Verständnis für die Not und schwierige Situation der Direktbetroffenen, die in vielen Fällen trotz negativem Asylentscheid nicht ausreisen können. Die Rückkehrzentren sollen so organisiert sein, dass die Bewegungsfreiheit und das Privat- und Familienleben weiterhin ermöglicht wird. Auf Schikanen wie Anwesenheitspflichten etc. ist zu verzichten.

➡ Bezüglich der Nothilfe wird der Grosse Rat im September über einen überparteilich breit abgestützten Vorstoss abstimmen «Nothilfe auch für privat untergebrachte abgewiesene Asylsuchende ausrichten und Kosten sparen». Der Vorstoss verlangt, dass auch privat untergebrachten abgewiesenen Asylsuchenden die Nothilfe von 8 Franken pro Tag auszurichten sei.

➡ Die GRÜNEN Kanton Bern erwarten vom Kanton Bern einen respektvollen und menschenwürdigen Umgang mit Menschen in einer schwierigen Situation und von allen Beteiligten die Umsetzung von praktikabeln Verbesserungen und konstruktiven Lösungen.
(https://www.facebook.com/gruenebern/photos/a.159680684095253/3248004625262828/?type=1&theater)



derbund.ch 20.07.2020

Asylsuchende Lehrlinge: SVP-Spitze will Lockerung für Abgewiesene

Ausgerechnet die nationale SVP-Spitze setzt sich ein für einen abgewiesenen jungen Eritreer im Kanton Bern – und fordert grosszügigere Regeln.

Calum MacKenzie

Ein Disput um Asylpolitik entzweit die bernischen Bürgerlichen. Asylsuchende, die eine Lehre beginnen, müssen diese nach einem negativen Asylentscheid sofort abbrechen. Verärgerte Gewerbler, die in diesen Fällen plötzlich auf eine Arbeitskraft verzichten müssen, verlangen bei ihren bürgerlichen Vertretern, dass sie sich für einen Verbleib ihrer Lehrlinge stark machen. Druck erfahren die wirtschaftsnahen Politiker allerdings gleichzeitig von Wählenden, die eine strikte Asylpolitik wollen.

Schützenhilfe erhalten die Lehrlinge nun aber von unerwarteter Seite: Ausgerechnet führende Hardliner der SVP Schweiz sprechen sich für eine Lockerung der Asylregeln aus. In einem Brief an einen betroffenen bernischen Unternehmer verspricht Parteipräsident Albert Rösti, eine Lösung zu finden.

Der Brief liegt dem «Bund» vor: «Sie haben mir den Handlungsbedarf eindrücklich aufgezeigt», schreibt Rösti. «Die SVP ist zwar für eine harte und konsequente Rückschaffung von Wirtschaftsmigranten. Leute aus einem Lehrverhältnis herauszuzerren, scheint aber auch mir unverhältnismässig.» Er werde die Angelegenheit den zuständigen Nationalräten weiterleiten.

Glarner will sich einsetzen

Adressat des Briefs ist Malermeister Jürg Lüthi, Präsident der FDP Mühlethurnen. Im Juli letzten Jahres musste sein Lehrling Tesfom Andemariam, der aus Eritrea stammt, die Ausbildung nach einem negativen Bescheid abbrechen. Darauf forderte Lüthi seine Partei auf, die strikte Asylpolitik zu hinterfragen – und löste eine Debatte im bürgerlichen Lager aus. «Dass ein gut integrierter junger Herr in einer Asylunterkunft verelenden soll, ist absolut stossend», sagte Lüthi damals. Im vergangenen März wandte er sich mit seinem Anliegen an Albert Rösti.

Röstis Antwort deutet darauf hin, dass auch die SVP zum Thema von ihren Wählenden unter Druck geraten ist. So sieht es jedenfalls Lüthi: In seinem ländlichen Wohnort werde er oft auf die «unverständliche» aktuelle Praxis angesprochen. «Es ist wichtig, dass die SVP merkt, dass die Leute an ihrer Basis differenzierter denken.»

Rösti verweist auf Anfrage auf den Aargauer Nationalrat Andreas Glarner, der in der SVP für Asylfragen verantwortlich sei. Glarner gibt sich zurückhaltend: «Grundsätzlich sind Asylverfahren zu beschleunigen und die Abgewiesenen unverzüglich auszuschaffen.» Doch er will die ihm von Rösti erteilte Aufgabe erfüllen: «Wir werden das Thema in den Kommissionen anschauen. Es muss machbar sein, dass ein Abgewiesener, der kurz vor dem Abschluss steht, seine Lehre noch beenden kann.»

Müller unter Druck

Ob die SVP im Nationalrat dereinst tatsächlich für eine Lockerung der Asylregeln einsteht, wird sich zeigen. Glarner macht zu seinen Vorstellungen einer Gesetzesänderung noch keine genauen Angaben. Doch die neuen Töne aus dem harten Kern der Partei könnten Signalwirkung haben: Sowohl Glarner wie auch Rösti sind in Asylfragen für ihre Strenge bekannt. Dieser Ruf haftet im Kanton Bern auch dem zuständigen Regierungsrat Philippe Müller (FDP) an. Kritiker werfen ihm vor, in Fällen abgewiesener Lehrlinge den juristischen Spielraum des Kantons nicht hinreichend zugunsten der Betroffenen auszunützen.

Auch Lüthi vertritt die Ansicht, sein Parteikollege könnte mehr tun. Er hofft, dass Müller die ungewohnten Verlautbarungen aus der SVP zur Kenntnis nimmt. «Wenn selbst die Hardliner das überdenken, sinkt vielleicht der Druck auf Müller, ebenfalls einen harten Kurs zu verfolgen.»

Müller seinerseits sagt, er vertrete überhaupt keine harte Linie. «Ich halte nur an der Praxis des geltenden Rechts fest.» Dieses sei demokratisch legitimiert: Das Volk habe dem revidierten Asylgesetz deutlich zugestimmt.

Markwalder ist skeptisch

Derweil fordern im Nationalrat die bernischen Abgeordneten Jürg Grossen (GLP) und Christa Markwalder (FDP), dass Abgewiesene eine begonnene Ausbildung in jedem Fall beenden dürfen. Ihre Motionen sind hängig, der Bundesrat empfiehlt sie zur Ablehnung. Doch Markwalder ist optimistisch: «Der Bundesrat anerkennt das Problem in seiner Antwort», sagt sie. «Somit stimmt es mich zuversichtlich, dass nun auch Stimmen aus der SVP diesem Anliegen positiv gegenüberstehen. Üblicherweise verfolgen sie eine ideologische Linie im Asylwesen.»

Auch Markwalder äussert Skepsis gegenüber der Haltung der bernischen Kantonsregierung. «Ich bezweifle, dass der Kanton seinen Spielraum wirklich nutzt, um abgewiesenen Asylsuchenden einen Lehrabschluss zu ermöglichen.» Es müsse aber in seinem Interesse liegen, dies zu tun – «zumal es bei uns viele solche Schicksale gibt.»

Etliche Gewerbler, die sich für Asyl suchende Lehrlinge einsetzen, haben primär wirtschaftliche Beweggründe. Malermeister Lüthi macht jedoch mittlerweile den Eindruck eines Aktivisten: «In 20 Jahren wird man sich fragen, wie wir das nur tun konnten», sagt er über die Rückkehrzentren für Abgewiesene. Insbesondere für nach altem Asylrecht vor 2019 Eingereiste fordert er rasche Lösungen. Sein Lehrling Andemariam ist zurzeit privat in einem Pfarrhaus untergebracht. Bei den Bundesbehörden ist ein Gesuch hängig, seinen Asylfall wieder zu erwägen.
(https://www.derbund.ch/svp-spitze-will-lockerung-fuer-abgewiesene-632046118088)


+++ST. GALLEN
tagblatt.ch 20.07.2020

«Diese Kinder haben es verdient, glücklich zu sein wie alle anderen auch»: Wieso sich ein St.Galler Stadtparlamentarier für eine abgewiesene Flüchtlingsfamilie einsetzt

Jeyakumar Thurairajah, Grüner Stadtparlamentarier und einst selber Asylsuchender, setzt sich mit einem zweiten Vorstoss für ein abgewiesenes Flüchtlingsehepaar mit hörbehindertem Kind ein.

Diana Hagmann-Bula

Die Schweiz ist für ihn ein Traumland. Ein Land, in dem er sich mit seiner Familie sicher fühlt, er einem Beruf nachgehen kann, der ihn erfüllt und finanziell über Wasser hält. Nicht immer war das so: 1987 flüchtete Jeyakumar Thurairajah aus politischen Gründen aus Sri Lanka, wartete sieben Jahre lang auf einen positiven Asylentscheid. Auch deshalb politisiert der Grüne im Stadtparlament: «Um dem Land, das so gut mit mir ist, etwas zurückzugeben.»

Doch gerade enttäuscht ihn sein Traumland. Die Schweiz, die sonst so solidarisch und engagiert sei, mit der er Personen wie den verstorbenen in Kambodscha helfenden Kinderarzt Beat Richner verbinde, sie hat ein Asylehepaar abgewiesen. Der Mann stammt aus Äthiopien, die Frau aus dem Sudan, die in der Schweiz geborenen Kinder sind zwei Jahre alt. Die Familie weigerte sich, ins Ausreise- und Nothilfezentrum Vilters umzuziehen. Der Kanton strich die Sozialhilfe. Damit fiel auch die Behandlung für das eine Kind mit Hörbehinderung weg.

Die Stadt habe getan, was möglich sei

Thurairajah will das nicht hinnehmen. «Es geht mir nicht um das Ausländerrecht, sondern um das Kindeswohl», betont er. Im März hatte er im Stadtparlament bereits eine Einfache Anfrage zum Fall eingereicht. Was der Stadtrat unternehmen könne, damit das Kind die nötigen Behandlungen bekomme, wollte er wissen.

Die Sozialen Dienste der Stadt, so antwortete der Stadtrat, hätten die Familie von März 2016, dem Zeitpunkt, als sie in die Stadt übertrat, bis zu den letztinstanzlichen Entscheiden des Bundesverwaltungsgerichts unterstützt.

Nachdem das Staatssekretariat für Migration (SEM) das Asylgesuch des Ehepaars abgelehnt hatte, legten dessen Rechtsvertreter Beschwerde ein. Vergeblich. Das politische Engagement des Asylbewerbers in seinem Heimatland erreiche kein Ausmass, das die Aufmerksamkeit der äthiopischen Behörden erwecke, stimmte das Bundesverwaltungsgericht mit der Vorinstanz überein. Ausserdem habe sich die politische Lage in Äthiopien entspannt.

Die Stadt fühlt sich nicht zuständig für die Familie

«Die Zuständigkeit für die Familie fiel mit der Rechtskraft von der Stadt zurück an den Kanton», ist in der Antwort des Stadtrats zu lesen. Die Stadt habe, solange sie für die Familie zuständig gewesen sei, diese so weit möglich und sinnvoll unterstützt, auch betreffend die gesundheitlichen Probleme des einen Kindes, heisst es weiter. «Zu beachten ist auch, dass allfällige Massnahmen der Stadt gegen die übergeordnet festgelegte Kompetenzordnung oder gegen die Gewaltentrennung verstossen könnten.»

Er sei mit der Antwort des Stadtrats nicht zufrieden, sagt Stadtparlamentarier Jeyakumar Thurairajah. Deshalb hat er nun eine zweite Einfache Anfrage eingereicht, die sich um die Flüchtlingsfamilie dreht. Er kritisiert:

Thurairajah bricht es das Herz

Thurairajah verweist auf die UN-Kinderrechtskonvention, 1997 von der Schweiz ratifiziert, sowie auf die UN-Behindertenrechtskonvention. «Welche Bedeutung haben die genannten internationalen Rechtsgrundlagen für die Verantwortlichkeit der Stadt St.Gallen gegenüber einem behinderten Kleinkind von Asylsuchenden?», erkundigt er sich in seinem neuen Vorstoss. Und fragt, ob bei einer angemessenen Behandlung gemäss Prinzipien der Kinderrechts- und Behindertenrechtskonvention übergeordnete Institutionen die Stadt tatsächlich sanktionieren könnten.

Thurairajah: «Ich bin nach wie vor der Ansicht, dass die Stadt ihre Verantwortung abschiebt. Sie könnte fordern, dass die UN-Kinderrechtskonvention im kantonalen Sozialhilfe-, im Familien-, Asyl- und Ausländergesetz verankert und umgesetzt wird.» Es breche ihm das Herz, dass der Bub wegen des negativen Asylentscheids benachteiligt sei. Jedes Mal, wenn er die Geschwister sieht, denkt er:

Beim Bund ist ein Wiedererwägungsgesuch hängig

Auch abseits des Stadtparlaments gibt der 50-jährige Pflegefachmann und Jugileiter dem Flüchtlingsehepaar eine Stimme. Soeben hat er sich mit Rechtsfachleuten, Vertretern des Solidaritätshauses und des Solidaritätsnetzes St.Gallen, der Kirchgemeinden sowie mit privaten Helfern getroffen, um zu besprechen, wie es weitergehen soll. Klausfranz Rüst-Hehli, der die Familie rechtlich berät und sie gegenüber Behörden und Gerichten vertritt, verweist auf das Wiedererwägungsgesuch, das beim Staatssekretariat für Migration hängig ist.

Zögerlich werde es behandelt, obwohl Fälle, in denen es um Kindeswohl gehe, Priorität hätten, sagt er. Man habe das Gesuch im Oktober 2019 eingereicht, erst letzten Monat habe das SEM einen Arztbericht über die Hörbehinderung des einen Kindes einverlangt. Rüst-Hehli wertet das als gutes Zeichen:

Man habe damals den Einzelfall nicht vorschriftsgemäss geprüft, ist er überzeugt.

Rüst-Hehli hat bereits einen Plan B

Ob im Rückschaffungsland Äthiopien Therapie und Beschulung des hörbehinderten Kindes angeboten würden und finanzierbar seien, darüber gebe es nur Spekulationen. «Humanitär nicht zumutbar wäre das.» Deshalb wünscht sich der 72-jährige Kindesverfahrensvertreter, der früher unter anderem für die Rechtsberatungsstelle für Asylsuchende St.Gallen-Appenzell gearbeitet hat, dass das Wiederwägungsgesuch gutgeheissen wird. Ein Ja würde für die Familie gemäss Rüst-Hehli die vorläufige Aufnahme bedeuten, samt Behandlung von Schweizer Ärzten für das Kind.

Rüst-Hehlis Hoffnung ist gross. Und dennoch hat er einen Plan B. Einen Plan für den Fall, dass das Wiedererwägungsgesuch doch abgelehnt wird.

Käme der Ausschuss zum selben Schluss wie Rüst-Hehli, würde er ein erneutes Wiedererwägungsgesuch beim SEM stellen. Ein Prozedere, das dauert. Rüst-Hehli rechnet mit zwei Jahren und mehr. Was passiert derweil mit der Familie und ihren Kindern? Er weiss es nicht genau: Im besten Fall fordere der Ausschuss die Schweiz wohl auf, die endgültige Stellungnahme abzuwarten und die Familie in der Schweiz wohnen zu lassen.

Der Härtefall: Eine Möglichkeit, die keine ist

Eigentlich gäbe es noch eine weitere Möglichkeit: Nach über fünf Jahre dauerndem Asylverfahren besteht die Möglichkeit, beim Kanton ein Gesuch einzureichen wegen persönlicher übermässiger Härte. Ende August ist diese Frist im Fall der Flüchtlingsfamilie gemäss Rüst-Hehli erreicht. Wegen fehlender adäquater medizinischer Behandlung des Kindes in Äthiopien erachtet er die Situation durchaus als Härtefall. «Um als solcher anerkannt zu werden, müssen die Betroffenen allerdings wirtschaftlich selbstständig sein», sagt er.

Eine Unmöglichkeit. Der Mann sei zwar studierter Jurist, beherrsche aber die Sprache und die Gesetze unseres Landes noch nicht. Er könne sich im unqualifizierten Arbeitsmarkt bewerben, in der Gastronomie oder in der Reinigungsbranche etwa. «Dort gibt es jedoch mehr Bewerber als Stellen. Falls er trotzdem einen Job findet, dann ist der Lohn so niedrig, dass der Mann seine vierköpfige Familie damit bestimmt nicht durchbringt.»

Jeyakumar Thurairajah, Stadtparlamentarier und ehemaliger Asylbewerber, sagt, er wisse aus eigener Erfahrung, wie der Mann aus Äthiopien sich fühle. Hilflos. Machtlos. Verängstigt.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/diese-kinder-haben-es-verdient-gluecklich-zu-sein-wie-alle-anderen-auch-wieso-sich-ein-stgaller-stadtparlamentarier-fuer-eine-abgewiesene-fluechtlingsfamilie-einsetzt-ld.1239625)


+++EUROPA
EU-Grenzschutzagentur Frontex: Hilfe beim Abschieben
Frontex zahlt auf Wunsch Charterflüge, um Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer zurückzubringen. Deutschland macht davon regen Gebrauch.
https://taz.de/EU-Grenzschutzagentur-Frontex/!5701399/


+++FREIRÄUME
bernerzeitung.ch 20.07.2020

Stadt Bern duldet illegale Bauwagen-Siedlung im Wald

In einer Waldlichtung nördlich von Bethlehem stehen seit Jahren mehrere Bauwagen. Die Stadt Bern duldet die Siedlung, obwohl sie nicht legal ist.

Stefan Schnyder

Ein Leser dieser Zeitung staunte nicht schlecht. Auf einem Waldspaziergang gelangte er in ein Waldstück, das nördlich von Bethlehem liegt. Das Waldstück ist Teil des Bremgartenwalds und wird von dessen Kerngebiet durch die Eymattstrasse, welche nach Hinterkappelen führt, abgetrennt. «Meine Frau und ich sahen plötzlich, dass in einer Waldlichtung mehrere Bauwagen standen», erzählt der Leser, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. Offensichtlich lebt eine Personengruppe permanent dort. Er möchte wissen, wie es um die Legalität dieser Siedlung steht.

«Es ist Wald»

Eine Suche im Archiv des Berner Stadtrats zeigt, dass diese Siedlung schon vor acht Jahren im Stadtparlament ein Thema war. Die SVP-Vertreter Alexander Feuz und Ueli Jaisli wollten wissen, ob die Siedlung legal sei und was die Stadt in dieser Sache zu tun gedenke.

Die Fragen brachten den Gemeinderat in leichte Verlegenheit. Er musste einräumen, dass die Waldlichtung im Pfründwald – so heisst das Waldstück – planungsrechtlich als Wald eingestuft ist. Dies heisst, dass es dort nur mit einer Sonderbewilligung erlaubt ist, ein Bauwerk aufzustellen respektive es permanent für Wohnzwecke zu nutzen. Zudem fügte die Stadtregierung an, dass sich auf der Parzelle früher die Schlamm- und Abfalldeponie Jordengrube befand.

Die Eigentümer dulden die Nutzung

Der Gemeinderat betonte weiter, dass eine Erbengemeinschaft die Grundbesitzerin sei und dass diese die Nutzung durch die Bauwagen bislang geduldet habe. Unklar ist, ob die Erbengemeinschaft auch heute noch die Besitzerin des Grundstückes ist. Und dann schob der Gemeinderat die Verantwortung für den illegalen Zustand den Grundeigentümern zu: «Verantwortlich für die legale Nutzung ist im Übrigen die Eigentümerin der betreffenden Parzelle.» Dann stellte die Stadtregierung in Aussicht, dass sich nötigenfalls die Baupolizei um die Angelegenheit kümmern werde.

Aktuell ist die Direktion für Sicherheit, Umwelt und Energie von Gemeinderat Reto Nause (CVP) für den Fall zuständig. Die Sprecherin Alice Späh schreibt zum Stand des baupolizeilichen Verfahrens: «Die Stadt hat das Verfahren im Jahr 2014 eingeleitet, dann aus verfahrenstechnischen Gründen vorübergehend sistiert und aufgrund veränderter Umstände vor gut einem Jahr, im Frühsommer 2019, wieder aufgenommen.» Konkreter will sie nicht werden. Sie bestätigt zudem, dass die Nutzung des Areals für Wohnzwecke nach wie vor nicht legal ist.

«Langwieriges Verfahren»

Damit bleibt offen, ob es das Ziel des Gemeinderates ist, das Areal früher oder später zu räumen. Die Sprecherin der Sicherheitsdirektion betont in ihrer Antwort, dass es sich dabei um ein «langwieriges Verfahren» handle. Damit wiederholt sie ein Wort, das der Gemeinderat schon 2012 in seiner Antwort verwendet hat. «Rechtlich korrrekt durchgeführte baupolizeiliche Wiederherstellungsverfahren sind sehr langwierig, wenn nicht die öffentliche Sicherheit konkret und aktuell bedroht ist.»

Der Gemeinderat betonte 2012 weiter, dass eine Räumung des Areals verhältnismässig sein müsste. Damit lässt er sich elegant die Hintertür offen, von einer Räumung abzusehen respektive sie weit in die Zukunft zu verschieben. Die Stadtregierung formulierte es so: «Die widerrechtliche Nutzung der Parzelle über viele Jahre ist daher auch mit verhältnismässigen Mitteln beziehungsweise innert verhältnismässigen Fristen einzustellen.»

Der Gemeinderat führte in seiner Antwort jedoch nicht aus, welche Argumente gegen eine Räumung sprechen. Es ist davon auszugehen, dass er befürchtete, dass eine allfällige Räumungsaktion zu einer Solidaritätswelle innerhalb von linksaktivistischen Kreisen führen könnte. So wie im November 1987, als es im Rahmen der Jugendbewegung zu heftigen Protesten gegen die Räumung der alternativen Siedlung Zaffaraya durch die Polizei kam.

Dass der Gemeinderat 2012 auf Zeit gespielt hat, dürfte einen weiteren Grund haben: Damals setzte er seine Hoffnungen auf sein Vorhaben, in Riedbach eine Zone für experimentelle Wohnformen zu schaffen. Das Stadtberner Stimmvolk stimmte der Vorlage im September 2013 mit 54 Prozent Ja-Stimmen zu. Doch die Zone ist bis heute nicht Realität geworden, denn der Kanton wehrt sich mit dem Hinweis auf den Schutz von Fruchtfolgeflächen für die Landwirtschaft gegen die Schaffung einer solchen Zone.

«Stadt misst mit ungleichen Ellen»

SVP-Fraktionschef Alexander Feuz ärgert sich, dass die Stadt seit 2012, als er seinen Vorstoss zu dieser Bauwagensiedlung eingereicht hat, keine Fortschritte vorweisen kann: «Wenn ein privater Hausbesitzer seine Terrasse vergrössert und etwas mit der Bewilligung nicht stimmt, dann geht die Stadt mit der ganzen Härte des Gesetzes gegen ihn vor. Im Fall der Bauwagensiedlung im Pfründwald dagegen drückt die Stadtregierung während Jahren beide Augen zu», betont er. Seiner Ansicht nach zeigt dieses Beispiel, dass die Stadt mit unterschiedlichen Ellen messe. Die Tatsache, dass die Stadt das Verfahren während mehrerer Jahre sistiert habe, «befremde» ihn, sagt er.

Ausserdem weist er auf das Risiko hin, dass die Bewohner sich eines Tages auf das Gewohnheitsrecht berufen können, wenn die Stadt zu lange nichts unternimmt. «Will die Stadt wie bei den Zaffarayanern im Neufeld bewusst so lange warten, bis die rechtlichen Grundsätze Vertrauensschutz und Verhältnismässigkeit die Wegweisung der Bewohner nahezu verunmöglichen?», fragt er.

Auch der Leser hat sich seine Gedanken zum Thema gemacht, seit er die Bauwagensiedlung das erste Mal gesehen hat. «Wo führt das hin, wenn immer mehr daran Spass finden und feststellen, dass dieses Vorgehen nicht nur geduldet, sondern sogar legalisiert und von anderen finanziert wird?», fragt er.
(https://www.bernerzeitung.ch/stadt-bern-duldet-illegale-bauwagen-siedlung-im-wald-300646405525)



Die Häuser denen, die drin wohnen!
Am Samstag besetzten Konstanzer Aktivistinnen und Aktivisten ein leerstehendes Haus in der Markgrafenstrasse. Neben einem offenen Café und einem Infoladen soll in den oberen Etagen Wohnraum entstehen, der offen für alle ist. Am gleichen Tag fand zudem eine Demo für bezahlbaren Wohnraum statt. Holger Reile und Eli Nowak haben sich umgeschaut.
https://www.saiten.ch/die-haeuser-denen-die-drin-wohnen/


+++GASSE
«Hesch mer e Stutz?» – Polizei registriert mehr Bettler auf Basels Strassen
Seit dem 1. Juli ist in Basel-Stadt das «Bettel-Verbot» aufgehoben. Bürgerliche Politiker sehen einen Zusammenhang.
https://www.srf.ch/news/regional/basel-baselland/hesch-mer-e-stutz-polizei-registriert-mehr-bettler-auf-basels-strassen



derbund.ch 20.07.2020

Wegen Open-Air-Partys: In Bern häufen sich die Lärmklagen

Bei der Kantonspolizei gehen zurzeit deutlich mehr Beschwerden ein, als dass es im Sommer üblich ist. Die städtische Interventionsgruppe Pinto sieht im Feiern im Freien einen Trend, der jährlich zunimmt.

Sven Niederhäuser

Bisher ist es ein schöner Sommer, jedoch hat er auch seine Schattenseite. Denn durch das warme Wetter sind mehr Menschen draussen, wodurch in der Schweiz immer öfter über Lärm geklagt wird. So auch in Bern. «Im ganzen Kanton gab es in der ersten Julihälfte deutlich mehr Beschwerden als in den Jahren davor», sagt Ramona Mock, Sprecherin der Berner Kantonspolizei. Zahlen und Ursachen könne sie jedoch keine nennen. «Es kann verschiedene Gründe dafür geben», sagt Mock.

Auch letztes Wochenende seien bei der Polizei Lärmklagen eingegangen. Mock relativiert: «Das ist an einem Sommerwochenende nichts Aussergewöhnliches.» Ebenfalls komme es an solchen auch häufig zu Auseinandersetzungen und Streitereien. Diesbezüglich habe es jedoch keinen grösseren Einsatz gegeben. «Besonders am Samstag zog es viele aufgrund des schönen Wetters aus der Stadt heraus. Beispielsweise zum Bräteln», sagt Mock.

«Eine Frage des Masses»

Silvio Flückiger ist Leiter der städtischen Interventionsgruppe Pinto. Er stellt im Sommer beim Feiern unter freiem Himmel einen Trend fest, der stetig zunimmt. «Das Leben findet seit Jahren vermehrt draussen statt.» Flückiger kennt die häufigsten Lärmquellen der Stadt. Denn wenn bei der Polizei eine Lärmklage eingeht, werden manchmal seine Leute vorgeschickt. «Das, wenn die Polizei nicht gleich Bussen verteilen will.» Doch auch Anwohnende und Quartiervereine melden sich bei ihnen. Momentan sind 13 Lärmklagen bei Pinto hängig. Bis auf eine stammen alle aus Aussenquartieren. Flückigers Erklärung dafür: «Ausserhalb der Innenstadt wohnen mehr Leute.»

Besonders beliebt für nächtliche Feieraktivitäten unter Jugendlichen sind Quartierparks und Schulhausplätze, sagt Flückiger. Beschwert man sich darüber, versucht Pinto in erster Linie zu vermitteln. «Die Feiernden werden auf das Ruhebedürfnis der Anwohnenden sensibilisiert.» Doch auch die Lärmklagenden kriegen etwas zu hören. «Wir sagen ihnen, dass sie in einer Stadt nicht damit rechnen können, dass ab 22 Uhr absolute Ruhe herrscht.» Grundsätzlich seien Partys im öffentlichen Raum überall erlaubt. «Es ist eine Frage des Masses.»

Weniger Angebote im Sommer

Über die Sommermonate schliessen viele Clubs und Jugendhäuser ihre Tore. So auch die Jugend-Disco Einspruch in der Aarbergergasse oder die Treffpunkte des Trägervereins für offene Jugendarbeit (Toj). Im Sommer würden sich die jungen Erwachsenen sowieso vor allem draussen treffen, sagt Toj-Chefin Nicole Joerg Ratter. «Die Badis, die Aare und andere öffentliche Plätze sind sehr beliebt.» Doch diesen Sommer würden nur zwei Wochen Sommerpause gemacht, «da viele nicht in die Ferien gehen und hier bleiben».

Es bestehe durchaus das Bedürfnis nach offenen Clubs. Als die Toj-Jugendtreffs nach dem Lockdown am 6. Juni wieder öffneten, wurde von den Jugendlichen ein Day Rave mit 300 Personen veranstaltet. «Diese fragten sich allerdings, warum sie in den Einrichtungen Abstand halten mussten, wenn dies in der Schule nicht so war», sagt Joerg Ratter. Die Jugendlichen seien aber sehr pflichtbewusst gewesen, was Schutzmassnahmen anbelangte. «Viele fragten sich auch, wo ihr Platz in dieser Krise ist.»

Nächtliche Open-Air-Partys könnten aber bald wieder in die Clubs verschwinden. Im Jugend- und Kulturzentrum Gaskessel wird festgestellt: «Wir merken, dass die Jugendlichen wieder in den Ausgang wollen», sagt Teamleiter Francisco Droguett. Er findet es wichtig, dass die Clubs wieder offen haben. Denn: «Bei illegalen Partys besteht keine Chance für ein Contact-Tracing.»

Verbote sind für ihn keine Lösung. «Es ist blauäugig zu glauben, wenn alles verboten wird, passiert nichts.» Deshalb seien die Kulturveranstaltenden als Partnerinnen und Partner für die Behörden wichtig. «Jeder Betreibende setzt sich nicht nur einem wirtschaftlichen, sondern einem grossen Reputationsrisiko aus.» Es sei mit grossen Anstrengungen verbunden, damit alles geordnet über die Bühne gehe. Seit der Wiederöffnung seien keine Lärmklagen im Zusammenhang mit ihren Veranstaltungen bekannt.
(https://www.derbund.ch/in-bern-haeufen-sich-die-laermklagen-461206540951)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
bernerzeitung.ch 20.07.2020

Graffiti in der Reitschule: Aktivistinnen prangern Sexismus in der linken Szene an

Sexismus macht auch vor linken Bewegungen nicht halt. Das zeigen kritische Beiträge von Berner Aktivistinnen. Entzündet hatte sich der Disput an einem Graffito.

Michael Bucher

Die revolutionäre Linke ist bekannt für ihren teils militanten Kampf gegen Kapitalismus, Faschismus und staatliche Repression. Auch das Engagement für Gleichstellung und feministische Anliegen zählt zu dessen Repertoire. Doch offenbar ist man auch in der linksautonomen Szene in Bern nicht vor Sexismus gefeit. Das zeigen zwei veröffentlichte Schreiben auf dem Online-Portal Barrikade.info. Konkret geht es um Sexismus und sexualisierte Gewalt beziehungsweise den Umgang damit innerhalb der eigenen Reihen.

Der eine Eintrag ist eine 15’000 Zeichen lange Wutschrift von einer Gruppe, die sich selbst als «revolutionäre Queerfeministinnen» bezeichnet. Die Frauen verschaffen darin ihrem Ärger Luft, dass ihre Forderungen von den Männern in der Szene zu wenig ernst genommen würden. Entzündet hat sich der Geschlechterkonflikt an einem Graffito, welches Frauen im Innenhof der Reitschule an ein Tor gesprayt hatten. «Kill all Rapists» (engl.: Tötet alle Vergewaltiger) stand dort. Für nicht wenige Männer der linksautonomen Szene war damit der Bogen offensichtlich überspannt. Jedenfalls sollen laut dem Schreiben einige von ihnen das Wort «Rapists» mit «U» (für you, engl.: du) übermalt haben. Auch hätten die Frauen wegen der radikalen Forderung «verbale Angriffe» innerhalb der Szene erlebt.

Vorwurf der Heuchelei

«Wir haben diese elenden Rechtfertigungsdiskussionen satt», schreibt die Frauengruppe. Natürlich sei man sich der Polemik des Schriftzuges bewusst. Doch provokante Parolen seien in der links-revolutionären Szene schliesslich keine Seltenheit. Die Frauengruppe fragt sich, seit wann die Szene plötzlich den Anspruch habe, dass Parolen in Graffiti oder auf Transparenten an Demos eine ganzheitliche Analyse beinhalten sowie angenehm und diplomatisch sein müssen. An etlichen Wänden stünden schliesslich ebenso heftige Parolen wie «Kill Nazis» (Tötet Nazis) oder «ACAT» (für «All Cops Are Targets», engl.: Alle Polizisten sind Ziele).

Gewaltandrohungen würden nur legitim erscheinen, wenn sie sich gegen die klassischen Feindbilder wie Polizei und kapitalistische Exponenten wenden, so der Vorwurf der linken Aktivistinnen. Derselbe Umgang mit patriarchaler Gewalt werde hingegen als zu extrem empfunden. «Was für Heuchler*innen seid ihr?», schreibt die anonyme Gruppe spürbar empört. Ihr Fazit: «Feindbilder dürfen diffamiert und angegriffen werden, solange sie sich deutlich ausserhalb des eigenen Dunstkreises befinden.»

Offenbar fühlen sich die Aktivistinnen von ihren männlichen Gefährten teils bevormundet. So sei ihnen vorgehalten worden, die Parole sei «kontraproduktiv» oder «mit Anarchismus unvereinbar». Damit spreche man den Frauen in der Szene jegliches politische Wissen ab, so der Vorwurf der Verfasserinnen. Die Kritik verstärke den Eindruck, dass es in einem anarchistischen Umfeld mehr Platz für Täterpersonen und deren Schützer habe als für die von sexualisierter Gewalt Betroffenen.

Die Frau als «Spassbremse»

Dass Sexismus auch in der linken Szene vorkommt, erstaunt Zora Schneider nicht. «Sexismus ist ein gesamtgesellschaftliches Phänomen», sagt die 34-Jährige, welche in Bern am linken Rand politisiert. Die Werkstudentin ist Mitglied der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA) und seit drei Jahren Berner Stadträtin. Sie sei zwar nicht an der hitzigen Diskussion innerhalb der linksautonomen Bewegung beteiligt, doch zumindest was ihr politisches Umfeld betrifft, kann sie festhalten: «Auch ich habe Erfahrungen mit männlichem Dominanzverhalten in Diskussionen gemacht.» Ebenso kenne sie die Vorwürfe, dass man als Frau beim Ansprechen solcher Themen als «Spassbremse» bezeichnet werde.

Dem Sexismus in linken Kreisen will Zora Schneider jedoch nicht allzu viel Gewicht geben. Sie betont, dass in anderen Kreisen die Auswüchse viel schlimmer seien. In der linken Szene gebe es ein verstärktes Bewusstsein für Sexismus, was die Diskussionen erleichtere. Angesprochen auf das umstrittene Graffito, meint sie: «Das kann ich nur aus der Ferne beurteilen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass es der Ausdruck von Wut darüber ist, dass es in der Schweiz im Jahr etwa 680 angezeigte Vergewaltigungen gibt» – bei einer mutmasslich hohen Dunkelziffer.

Was die Reitschule zu der hitzigen Debatte meint, die auf ihrem Gemäuer ausgetragen wird, ist unklar. Von der Mediengruppe war niemand erreichbar.



Provokante Parolen auch anderorts in der Kritik

Debatten um Sexismus und Mackertum innerhalb der linken Szene sind weder neu noch auf Bern beschränkt. Davon zeugen diverse Broschüren und Beiträge auf linksautonomen Online-Portalen. Vor zwei Jahren publizierte in der Schweiz ein Zusammenschluss von Linksaktivistinnen und -aktivisten namens «Lieber Glitzer» eine 40-seitige Broschüre zum Thema. Darin werden verschiedene patriarchale Muster in den eigenen Reihen thematisiert. Etwa der Umstand, dass Frauen oft kaum sichtbare Arbeit erledigen (Protokoll führen, Finanzen, putzen), während Männer für Aufgaben vorgesehen sind, die am meisten Anerkennung und Entscheidungsmacht beinhalten (Sitzungen leiten, das Megafon bedienen). Ausserdem würden nicht militante Aktionen und feministische Forderungen oft heruntergespielt oder belächelt. «Radikal ist nur, was laut, gefährlich und krass ist», heisst es in der Broschüre.

Frauen stellen teilweise auch oft verwendete Parolen der linksautonomen Bewegung infrage, wie ein Blick nach Deutschland zeigt. Dort verurteilen Aktivistinnen das Festhalten an der Formulierung «ACAB» (für «All Cops are Bastards», engl.: Alle Polizisten sind Bastarde). «Bastard ist eine Bezeichnung für ein uneheliches Kind», hält ein nicht genanntes Kollektiv in einem Beitrag fest, welcher auch auf dem Schweizer Portal Barrikade.info publiziert wurde. Mütter von unehelichen Kindern seien jahrhundertelang als «Schlampen» bezeichnet worden. Ausserdem bezeichne der Begriff Bastard immer auch eine Art «unreine Mischform» – eine Stigmatisierung, deren sich auch die Nationalsozialisten bedient hätten. «Der Begriff ist schlichtweg reaktionär, antifeministisch und nicht links», wird in dem Schreiben festgehalten. Von Männern kriege man jedoch oft zu hören, dass der Begriff Bastard lediglich eine «neutrale Beleidigung» sei. Zudem sei der Spruch eine «linke Tradition». Für die Frauen unerklärlich: «Warum ist hier die so oft hochgehaltene, vermeintliche Begriffsarbeit plötzlich nicht mehr wichtig?» (mib)
(https://www.bernerzeitung.ch/aktivistinnen-prangern-sexismus-in-der-linken-szene-an-452557592486)


KILL ALL RAPISTS – Touch me again and I will fucking kill you
KILL ALL RAPISTS-und wieso diese Aussage, aus unserer Sicht, auch Teil eines feministischen Kampfes sein kann.
Wir, eine Gruppe von revolutionären Queerfeministinnen, haben im Innenhof der Reitschule ein grosses „Kill All Rapists“ gemalt. Nach verbalen Angriffen, Rechtfertigungsforderungen v.a. von cis Männern und der gezielten Übermalung des Wortes „Rapists“ mit dem Wort „U“ im Bild, sind wir es nun leid.
https://barrikade.info/article/3620

Sexismus in der linken Szene
Im Folgenden wollen wir einige, unserer Haltung nach, sexistische und reaktionäre Vorkommnisse innerhalb der linken Szene (u.a. in Frankfurt am Main) aufgreifen.
https://barrikade.info/article/84



Demonstrationen während Corona-Krise: Der Zürcher Statthalter tadelt Polizeivorsteherin Rykart
Die Aufsichtsbeschwerde der SVP gegen die grüne Stadträtin Karin Rykart wird zwar aus formellen Gründen abgewiesen. Inhaltlich teilt der Statthalter aber die Kritik.
https://www.nzz.ch/zuerich/demonstrationen-in-zuerich-der-statthalter-tadelt-die-polizeivorsteherin-ld.1567257


+++REPRESSION DE
Hackerangriffe auf Indymedia?
Linke Online-Plattform leidet unter Störungen
Die linke Internetplattform indymedia war in der vergangenen Woche in mehreren deutschen Städten nicht erreichbar. Wer hinter den Hackerangriffen steht, ist unklar. Doch auch die politischen Angriffe auf die Plattform nehmen zu.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1139363.indymedia-hackerangriffe-auf-indymedia.html


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Härtefallklausel kommt oft zum Zug: So unterschiedlich schaffen die Kantone kriminelle Ausländer aus
Nach Annahme der Ausschaffungs-Initiative dürfen kriminelle Ausländer nur noch in Ausnahmesituationen in der Schweiz bleiben. Eigentlich. Denn die neusten Zahlen zeigen das Gegenteil. Zwischen den Kantonen gibt es riesige Unterschiede.
https://www.blick.ch/news/politik/haertefallklausel-kommt-oft-zum-zug-so-unterschiedlich-schaffen-die-kantone-kriminelle-auslaender-aus-id16002824.html
-> https://www.tagesanzeiger.ch/svp-blaest-zum-angriff-auf-die-haertefallklausel-920187598882


+++POLIZEI ZH
Paralleldiplomatie bei der Stadtpolizei? Stapo schenkt Schutzwesten an die bolivianische Polizei
In Bolivien begeht die De-facto-Regierung unter Jeanine Añez massive Menschenrechtsverletzungen. Trotzdem erhielt sie vorletzte Woche eine grosszügige Spende aus der Schweiz: von der Zürcher Stadtpolizei. Laut bolivianischen Medien ein Akt der offiziellen Diplomatie, doch bis vor Kurzem wusste das EDA von nichts. Was ist passiert? Eine Recherche.
https://daslamm.ch/die-stapo-betreibt-paralleldiplomatie/


+++POLIZEI DE
Frankfurt am Main : Horst Seehofer fordert Studie über Gewalt gegen Polizei
Nach den Ausschreitungen auf dem Opernplatz will der Innenminister Gewalt gegen Polizeibeamte untersuchen. Auf dem Platz in Frankfurt gilt künftig ein Betretungsverbot.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-07/horst-seehofer-studie-gewalt-gegen-polizisten-frankfurt-am-main?wt_zmc=sm.ext.zonaudev.twitter.ref.zeitde.share.link.x
-> https://www.tagesschau.de/inland/frankfurt-opernplatz-krawalle-101.html
-> https://www.jungewelt.de/artikel/382618.aufreger-frankfurt-am-main-folgen-unregulierter-feier.html


Racial Profiling: Diskussion über Studie zu Rassismus und Polizei hält an
Der Bundesinnenminister bleibt bei seinem Nein zu einer Studie über Racial Profiling bei der Polizei. Doch einige Amtskollegen in den Bundesländern lassen nicht locker. Immerhin kündigt Seehofer ein Lagebild zu Extremismus im öffentlichen Dienst an.
https://www.migazin.de/2020/07/20/racial-profiling-diskussion-studie-rassismus
-> https://www.br.de/nachrichten/bayern/erlanger-professor-studie-zu-racial-profiling-wichtig,S5FReJC


Aufklärung von „NSU 2.0“-Drohmails: Das laute Schweigen der Grünen
Wegen des Skandals um „NSU 2.0“-Drohmails steht der hessische Innenminister schwer in der Kritik. Die Grünen sind auffällig leise.
https://taz.de/Aufklaerung-von-NSU-20-Drohmails/!5695799/
-> https://www.jungewelt.de/artikel/382614.nsu-2-0-keine-chefsache-gba-will-nicht-ermitteln.html
-> https://www.hessenschau.de/gesellschaft/ex-gruene-ditfurth-berichtet-von-nsu-20-morddrohung,drohmail-ditfurth-100.html
-> https://www.br.de/nachrichten/bayern/serie-rechtsextremer-drohmails-auch-muenchner-anwaeltin-betroffen,S5FxCjw



derbund.ch 20.07.2020

Polizeiskandale in Deutschland: Hassmails mit Hilfe von Polizisten

In Deutschland werden vor allem Frauen von Rechtsextremen mit dem Tod bedroht, und vieles deutet auf Täter oder Helfer in Hessens Polizei hin. Über das Versagen der Ermittler und der Politik.

Matthias Drobinski, Renate Meinhof

Dass sie eine dunkle Sonnenbrille trägt oder doch wenigstens eine Maske oder, viel sicherer noch, Brille und Maske, das hätte man erwartet bei einer Frau, die jede Minute erschossen werden kann. Denn so ist es. Jede Minute kann es vorbei sein, Schluss, Ende. Das hat sie schwarz auf weiss, in all den Mails und Nachrichten voller Hass. Sie aber steht da, mitten in Frankfurt, wo sie lebt, Idil Baydar, die Kabarettistin, eine kleine, rundliche Frau mit hochgestecktem Haar, und tut nichts, um nicht aufzufallen, im Gegenteil. Sie lacht laut, Menschen drehen sich um, und ihre Stimme springt einem mit Wärme und trockenem, tiefen Schnarren entgegen. Sie telefoniert gerade so viel mit Journalisten, dass von der Farbe auf ihren Lippen nur an der oberen Linie noch ein Restchen übrig ist. Sie sucht den Schutz durch die Öffentlichkeit. «Jemand, der nicht gehört wird», sagt sie im Gehen, «fängt an zu schreien.» Man könnte auch sagen, Idil Baydar schreit um ihr Leben.

Dass sie das Vertrauen in die Polizei verloren hat, hängt auch mit Frankfurt zusammen, mit diesem dreistöckigen Bau aus Stahl und grünlichem Panzerglas, der sich fast duckt zwischen all den hohen Nachbargebäuden aus den Sechzigerjahren. Nein, das 1. Polizeirevier in Frankfurt ist kein schöner Ort. Die 130 Polizistinnen und Polizisten, die hier arbeiten, haben einen harten Job.

Acht Anzeigen – kein Resultat

Hier treffen die reiche und die arme Stadt brutal aufeinander. Drogendealer verkaufen ihren Stoff, Abhängige stehlen Geldbörsen und Handys, Bettler bedrängen Passanten, Obdachlose brechen zusammen und brauchen den Notarzt, betrunkene Jugendliche pöbeln. Wer hier länger Dienst tut, dessen Menschenbild kann sich durchaus eintrüben. Der kann schon mal jenen Ausschnitt der Welt, in dem die Menschen schlecht sind, die Integration misslungen ist, für die gesamte Wirklichkeit halten.

Letzte Woche haben etwa hundert Menschen vor dem Panzerglasbau demonstriert. Sie haben «Nazis raus!» gerufen!

Im Februar hat das hessische Innenministerium eine Internetumfrage unter Polizistinnen und Polizisten veröffentlicht. Eine Frage lautete: Was belastet Sie besonders? Fast die Hälfte antwortete: Wenn wir unseren Dienst tun und dann als Rassisten oder Nazis beschimpft werden.

Aber der Polizeiskandal, der seit zwei Jahren in Wellen Hessen und ganz Deutschland erschüttert, hat nun einmal genau hier begonnen, an diesem Ort. Dieses Frankfurter Polizeirevier hat mit der ersten der vielen Drohmails zu tun, die nun täglich verschickt werden. Sie gehen vor allem an Frauen, die irgendwie als links identifizierbar sind: Janine Wissler, die Fraktionsvorsitzende der hessischen Linken, oder auch an die Linken-Bundestagsabgeordnete Martina Renner. Sie gehen auch an Männer, an Redaktionen wie jene von ZDF-Moderatorin Maybrit Illner, ja selbst an Hessens CDU-Innenminister Peter Beuth.

Und an Idil Baydar gehen die Drohmails. Achtmal hatte sie schon Anzeige erstattet, weil sie binnen eineinhalb Jahren acht SMS bekommen hatte. Es könne kein Täter ermittelt werden, teilte man ihr mit. Sie sitzt in einem Restaurant nahe dem Hauptbahnhof, nimmt ihr Telefon und zeigt, was da kam: «Du fette Kackwurst!!!», steht auf dem Display, «ich erschiesse dich.» Unterzeichnet von «SS-Ostubaf» – Obersturmbannführer.

Und weiter. Da liest sie den Namen ihrer Mutter, die auch erschossen werden soll. Idil Baydar sagt: «Wie kann die Polizei die Täter nicht finden? Die Amerikaner haben Osama Bin Laden in einem Erdloch gefunden, und die wollen mir erzählen, dass es zu schwierig ist, die Absender zu finden?» In einem Beratungsgespräch habe man ihr nahegelegt, doch die Telefonnummer zu ändern. «Aber das ist doch, als wenn einer sagt: Zieh keinen Minirock an, dann wirste auch nicht vergewaltigt», ruft sie. «Die müssen doch ermitteln!»

Nicht von der Polizei, durch die Zeitung hat Idil Baydar erfahren, dass auch ihre persönlichen Daten von einer Polizeidatenbank abgerufen wurden. Wie auch vor zwei Jahren bei Seda Başay-Yıldız, der Frankfurter Rechtsanwältin. Es ist der 2. August 2018. Auf dem 1. Polizeirevier werden zwischen 14 und 14.15 Uhr ihre Daten beim Einwohnermeldeamt über einen Polizeicomputer abgerufen. Seda Başay-Yıldız hat im Prozess gegen den «Nationalsozialistischen Untergrund» (NSU) die Familie des ermordeten Blumenhändlers Enver Şimşek vertreten. Sie ist an diesem Tag beruflich in Tunis. Um 15.41 Uhr trifft im Büro der Anwältin ein Fax ein, das automatisch als Mail weitergeleitet wird. Abends liest Seda Başay-Yıldız: «Dieses kostenlose Fax wurde Ihnen von Uwe Böhnhardt geschickt.» Böhnhardt war einer der NSU-Mörder. «Als Vergeltung schlachten wir deine Tochter», heisst es weiter, und: «Gruss, NSU 2.0». Auf dem Fax stehen der Name des Kindes und die Adresse der Familie. Das ist eine konkrete Morddrohung, untermauert mit nicht öffentlich zugänglichen Daten.
Witzen über Juden, über Behinderte, mit Hakenkreuzen

Eine Polizistin hat sich an jenem 2. August 2018 zur fraglichen Zeit in den Computer auf der Wache eingeloggt, Mitte September wird ihre Wohnung durchsucht. Auf ihrem Mobiltelefon finden die Ermittler eine Chatgruppe – mit Witzen über Juden, über Behinderte, mit Hakenkreuzen und einem Bild, auf dem Adolf Hitler vor einem rauchenden Schornstein sitzt: «Umso grösser der Jude, desto wärmer die Bude», steht darunter. Sechs der sieben Gruppenmitglieder sind Polizisten, fünf gehören aktuell zum 1. Revier in Frankfurt. Sie gelten als Leistungsträger. Die sechs Beamten werden suspendiert.

Der Nachweis aber, dass einer von ihnen das verschlüsselte Fax abgeschickt hat, gelingt nicht. Die Aufregung in der Öffentlichkeit legt sich, obwohl Seda Başay-Yıldız eine weitere Drohung erhält.

Jetzt, zwei Jahre später, ist die Ruhe wieder vorbei. Von einem Polizeicomputer, diesmal von einer Wache in Wiesbaden aus, hat jemand die Daten von Linken-Politikerin Janine Wissler abgerufen, die dann in einem Drohschreiben an sie auftauchen. Es ist das erste von vielen, der Schneeball, der zur Lawine wird. Die Täter werden immer dreister. Hinter jeder verschickten Drohbotschaft, oft untermauert mit öffentlich nicht zugänglichen Daten des oder der Bedrohten, steckt auch ein höhnisches «Ihr kriegt uns nicht».

Hessens Innenminister Peter Beuth tritt in diesen Tagen unglücklich auf. Erst wirft er dem Landeskriminalamt vor, ihn über die Drohungen gegen Janine Wissler nicht unterrichtet zu haben. Beuth und die LKA-Chefin Sabine Thurau sind sich nicht grün. Schon im März hatte das LKA Landespolizeipräsident Udo Münch informiert. Münch ist Beuth unterstellt und hätte ihn informieren müssen – der Minister ist blossgestellt. Er schickt Münch in den Ruhestand. So viele Schuldige – nur Beuth hat sich nichts vorzuwerfen. Eines immerhin hat er in diesen Tagen eingeräumt: Es könnte ein rechtes Netz geben in Hessens Polizei.

Im hessischen Landeskriminalamt arbeiten jetzt sechzehn Ermittler unter Missachtung ihrer Feierabende und, so heisst es, manchmal am Rande der Verzweiflung daran, herauszufinden, wer da Menschen überall im Land bedroht. Sie kommen nicht voran. Auch in der Wiesbadener Wache war schnell klar, welcher Polizeibeamte eingeloggt war, als die Daten von Janine Wissler abgerufen wurden. Auch dieser Polizist sagt, wie vor zwei Jahren seine Frankfurter Kollegin, er habe mit den Drohmails nichts zu tun.

Das Problem für die Ermittler: Bisher konnten die Beamten sich über jeden Polizeicomputer in die Datenbank mit den Einwohnermeldedaten einloggen und angemeldet bleiben – auch wenn sie einen Kaffee holten oder im Zimmer nebenan mit dem Kollegen redeten. Und obwohl das eigentlich verboten war: Immer wieder startete mal jemand eine Abfrage vom Rechner eines Kollegen aus, der gerade eingeloggt war. Das geht viel schneller, als sich an- und abzumelden – und je höher die Arbeitsbelastung ist, desto attraktiver erscheint es, den Dienstweg abzukürzen. Es konnte also leicht jemand unter dem Namen eines anderen Daten abfragen.

Gegen 70 Polizeibeamte gibt und gab es einschlägige Ermittlungen. 70 Fälle bei 14’000 Polizistinnen und Polizisten in Hessen – das rechtfertigt keinen Generalverdacht gegen die Polizei. Das zeigt aber auch, dass es nicht unmöglich ist, dass eine handlungsfähige Schar Gleichgesinnter Drohschreiben verschickt oder einen Schreiber unterstützt, dass Kollegen dies wissen und schweigen, aus Zustimmung, falschem Korpsgeist, Angst.

Hessiche Polizei will tadellosen Ruf zurück

Aber jetzt soll alles besser werden. Am letzten Freitag stellt Hessens Innenminister Peter Beuth einen neuen Landespolizeipräsidenten vor: Roland Ullmann war bislang Polizeichef in Offenbach. Er verspricht, er werde «mit aller Kraft daran arbeiten, dass die hessische Polizei einen tadellosen Ruf geniesst» – und gibt zu, dass dieser Ruf arg gelitten hat.

Beuth liest vom Blatt ab, was nun alles passieren soll. Alle Zugangsdaten zu den Computern würden gerade zurückgesetzt. Jeder Polizist bekomme neue Passwörter und werde belehrt, dass er sie geheim halten solle. Wer Daten von Personen des öffentlichen Lebens abfragen möchte, brauche künftig die Erlaubnis des Vorgesetzten. Der Sonderermittler Hanspeter Mener, den Beuth eingesetzt hat, erhält weitreichende Befugnisse. Eine Kommission mit Fachleuten auch von ausserhalb der Polizei soll die Strukturen und die Mentalität der Polizei überprüfen. Es ist viel von Sensibilisierung und Verantwortung die Rede, geradezu beschwörend: Ihr müsst mitmachen, liebe Polizistinnen und Polizisten. Neue Passwörter allein helfen nicht.
(https://www.derbund.ch/hassmails-mit-hilfe-von-polizisten-298349023689)


+++POLIZEI USA
Widerstand gegen Trumps »Geheimpolizei«
Seit Tagen gibt es Zusammenstöße bei Protesten gegen Polizeigewalt in der US-Stadt Portland
In Portland protestieren linke Demonstranten seit Tagen gegen paramilitärische Bundesbeamte in Kriegsmontur. Die provozieren wieder mehr Beteiligung bei den Black-Lives-Matter-Protesten, die sich auch gegen die örtliche Polizei richten.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1139386.portland-widerstand-gegen-trumps-geheimpolizei.html
https://www.tagesanzeiger.ch/trump-will-einsatz-von-bundespolizisten-ausweiten-114415056855
-> https://www.tagesschau.de/ausland/portland-115.html
-> https://www.heise.de/tp/features/Trump-schickt-ungefragt-Hilfe-durch-Spezialeinheiten-nach-Portland-4847423.html
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2020-07/usa-donald-trump-bundesbeamte-antirassismus-demonstrationen
-> https://www.nzz.ch/international/portland-showdown-zwischen-buergern-und-bundespolizisten-ld.1567318


+++POLICE INT
La police comme symbole de la masculinité en crise
À travers une analyse des discours et sur fond de crise, nous montrerons comment se construit une masculinité raciste et misogyne allant de la police jusqu’aux incels.
https://renverse.co/analyses/article/la-police-comme-symbole-de-la-masculinite-en-crise-2694


+++RECHTSPOPULISMUS
Andreas Glarner (SVP) prangert ausländische Lehrabgänger an
SVP-Asylchef Andreas Glarner nervt sich, dass bei Aldi viele Ausländer und Secondos eine Lehre absolvieren. Prompt postet er die Namen der Jungen auf Facebook.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/andreas-glarner-svp-prangert-auslandische-lehrabganger-an-65746878
-> https://twitter.com/redder66/status/1285232477313826816


+++RECHTSEXTREMISMUS
Verdacht auf Volksverhetzung Polizei ermittelt gegen Hildmann
Kochbuchautor Attila Hildmann fiel zuletzt vor allem als aggressiver Verschwörungsideologe auf. Mehrmals bedrohte er den Grünen-Politiker Beck. Jetzt wird gegen ihn ermittelt  – unter anderem wegen Volksverhetzung.
https://www.tagesschau.de/inland/ermittlungen-hildmann-101.html
-> https://www.blick.ch/people-tv/international/er-glaubt-an-aliens-und-droht-politikern-die-welt-von-corona-verschwoerer-attila-hildmann-id16002442.html
-> https://www.tagesspiegel.de/berlin/vorwurf-der-volksverhetzung-justiz-sieht-moegliche-straftat-bei-attila-hildmann/26020100.html
-> https://www.rbb24.de/politik/beitrag/2020/07/staatsanwaltschaft-cottbus-ermittlung-volksverhetzung-hildmann.html
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-07/atila-hildmann-lka-berlin-ermittlung-volksverhetzung
-> https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/attila-hildmann-ermittlungen-volker-beck-100.html#xtor=CS5-62


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Grünen-Fraktionsvize von Notz über Attila Hildmann „Aus Halle, Kassel und Hanau hat man offensichtlich nichts gelernt“
Am Wochenende hatte der Verschwörungsaktivist Attila Hildmann dem früheren Bundestagsabgeordneten Volker Beck erneut massiv gedroht. Der Grünen-Fraktionsvize Konstantin von Notz kritisiert nun die Untätigkeit der Strafverfolger.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/attila-hildmann-konstantin-von-notz-beklagt-nach-drohung-gegen-volker-beck-untaetigkeit-der-behoerden-a-86cfd38f-fa33-45c3-bf0c-adab46c685e1


Coronavirus: Conspiracy Theories: Last Week Tonight with John Oliver (HBO)
With conspiracy theories about coronavirus proliferating, John Oliver discusses why we’re prone to believe, how to distinguish fact from fiction, and what you can do to help others.
https://youtu.be/0b_eHBZLM6U


+++WORLD OF CORONA
Verschwörungstheoretiker mit Referendum gegen Corona-App
Obwohl viele die SwissCovid-App längst installiert haben, ergreifen Verschwörungstheoretiker das Referendum. Sie berufen sich auf Finanzminister Ueli Maurer.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/verschworungstheoretiker-mit-referendum-gegen-corona-app-65746558
-> https://www.derbund.ch/westschweizer-komitee-kaempft-mit-referendum-gegen-swiss-covid-app-578182952943
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/bedenken-beim-datenschutz-komitee-ergreift-referendum-gegen-swisscovid-app
-> https://www.20min.ch/story/schritt-hin-zu-totaler-kontrolle-komitee-ergreift-referendum-gegen-swisscovid-app-739751409112
-> https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/jetzt-auch-noch-ein-referendum-der-naechste-rueckschlag-fuer-die-swisscovid-app-138512017


+++HISTORY
Die 80er Bewegung im Spiegel des Schweizer Spielfilms: Vom unerreichbaren Ort des unerreichbaren Glücks
Gemäss weit verbreiterter Interpretation „brachen“ die Unruhen von 1980 „aus heiterem Himmel“ über Zürich und andere Schweizer Städte „herein“.
https://www.untergrund-blättle.ch/kultur/film/die-80er-bewegung-im-spiegel-des-schweizer-spielfilms-5912.html


Wie aus 50’000 Franken über 50 Millionen wurden: Wie viel Geld steckt hinter der Crypto AG?
Die Steinhauser Firma Crypto AG spielte eine bedeutende Rolle in der Spionage-Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber wirtschaftlich war sie nicht immer erfolgreich, wie eine Recherche beim Handelsregisteramt des Kantons Zug zeigt.
https://www.zentralplus.ch/wie-viel-geld-steckt-hinter-der-crypto-ag-1845881/