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+++SCHWEIZ
NZZ am Sonntag 28.06.2020
Asyl: Bundesrat baut Stellen ab
Die Zahl der Gesuche sinkt – doch wegen des Drangs zu raschen Verfahren verstösst der Bund oft gegen gesetzliche Vorgaben
Lukas Häuptli
Beim Bund arbeiten fast 40 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 1100
von ihnen sind beim Staatssekretariat für Migration angestellt, unter
ihnen 560 im Asylbereich. Die meisten hören Asylsuchende an, prüfen
Dokumente und entscheiden über die eingereichten Gesuche.
Jetzt werden acht Prozent dieser Stellen gestrichen. «Der Bundesrat hat
sich angesichts der anhaltend tiefen Zahl neuer Asylgesuche entschieden,
die finanziellen Mittel für die Verlängerung von 45 befristeten Stellen
im Staatssekretariat für Migration nicht zu sprechen», sagt Michaela
Kozelka, Sprecherin des Justiz- und Polizeidepartements, zu dem das
Staatssekretariat gehört. «Das bedeutet, dass diese bis Ende 2020
befristeten Verträge nicht verlängert werden und das Staatssekretariat
für Migration diese Ressourcen abbauen muss.»
Die befristet angestellten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen würden bis
im Sommer darüber informiert, ob ihr Vertrag verlängert oder aufgelöst
werde, sagt Kozelka weiter. Als flankierende Massnahme würden frei
werdende Stellen im Staatssekretariat zunächst nur noch intern
ausgeschrieben.
Die Zahl der Asylgesuche ist in praktisch allen europäischen Ländern
seit dem Flüchtlingsjahr 2015 markant gesunken. Damals stellten in der
Schweiz rund 40000 Asylsuchende ein Gesuch. Letztes Jahr waren es noch
14000.
Grund für den Rückgang ist in erster Linie die Abriegelung Europas an
der griechisch-türkischen Grenze und auf dem Mittelmeer. Im laufenden
Jahr wird die Zahl der Gesuche wegen der Corona-Pandemie und den damit
verbundenen Grenzschliessungen nochmals deutlich sinken.
Wer ist am schnellsten?
Der Asylbereich des Bundes soll aber nicht nur schlanker, sondern auch
schneller werden. Zu diesem Zweck war das Asylgesetz revidiert worden,
das am 1. März 2019 in Kraft trat.
Seither ist die Schweiz in sechs Asylregionen aufgegliedert, und seither
unterteilt das Staatssekretariat für Migration die eingehenden
Asylgesuche in zwei Gruppen: Über die Gesuche der einen Gruppe wird in
sogenannt beschleunigten Verfahren entschieden, über die der anderen in
erweiterten.
In den beschleunigten Verfahren muss der Entscheid innert 29 Tagen
fallen. Staatssekretär Mario Gattiker hatte angekündigt, dass künftig
«die Mehrheit der Fälle» beschleunigt erledigt werde. Dazu hat er auch
ein schweizweites Monitoring der Asylverfahren eingeführt.
«Zwischen den Asylregionen der Schweiz herrscht mittlerweile ein
regelrechtes Wetteifern, wer am meisten Fälle in beschleunigten
Verfahren erledigt», sagt ein Kadermitarbeiter des Staatssekretariats,
der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. «Dieses Wetteifern ist
der Qualität der Asylentscheide aber nicht immer dienlich», fügt er an.
Das hat sich letzte Woche gezeigt: Da fällte das
Bundesverwaltungsgericht ein Grundsatzurteil und erinnerte das
Staatssekretariat daran, dass Asylgesuche in beschleunigten Verfahren
nach spätestens 29 Tagen entschieden sein müssten.
Im Fall des iranischen Gesuchstellers, den das Gericht konkret
beurteilte, dauerte es bis zum Entscheid allerdings 89 Tage. Ein solcher
Fall hätte aber zwangsläufig in einem erweiterten Verfahren mit
entsprechend längeren Fristen erledigt werden müssen, hielt das
Bundesverwaltungsgericht fest.
Dieses Asylverfahren ist allerdings kein Einzelfall. Das
Staatssekretariat für Migration kann die gesetzlich vorgeschriebene
Frist nämlich auch in zahlreichen anderen beschleunigten Verfahren nicht
einhalten.
In den Monaten vor der Corona-Pandemie dauerte ein solches Verfahren
durchschnittlich 51 Tage, wie Lukas Rieder, Sprecher des
Staatssekretariats, sagt. Das sind 12 Tage mehr als vorgeschrieben.
Bund reagiert auf Kritik
Rieder weist allerdings auch darauf hin, dass es gelungen sei, die
Verfahren – verglichen mit der Zeit vor der Revision des Asylgesetzes –
«erheblich» zu beschleunigen.
«Diesen Auftrag hat das Staatssekretariat für Migration klar erfüllt.»
Er räumt aber ein: «Es besteht noch Optimierungspotenzial.» Deshalb habe
das Staatssekretariat reagiert und «eine interne Praxisrichtlinie»
erstellt. Diese berücksichtige unter anderem die Komplexität des Falles,
die Verfahrensdauer, die Fristen und die Modalitäten rund um die
Anhörungen.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/asyl-bundesrat-baut-stellen-ab-ld.1563565)
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/sinkende-asylzahlen-bund-will-beim-sem-zahlreiche-stellen-streichen-65732807
+++DEUTSCHLAND
Asylpolitik: Tausende Migranten klagen gegen Corona-Abschieberegelung
Die Bundesregierung will Asylbewerber auch weiterhin in andere EU-Länder
überstellen können – durch Aussetzen einer Sechs-Monats-Frist. Dagegen
gibt es nun Widerstand.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-06/asylpolitik-corona-krise-abschiebungen-migranten
+++FREIRÄUME
bernerzeitung.ch 28.06.2020
«Schütz»-Zukunft bleibt unklar: Anwohner zeigen sich solidarisch
Die Stadt Bern und der Verein Platzkultur müssen rasch neue Regeln für
die Belebung der Schützenmatte festlegen. Verständnis seitens der
Anwohner für die derzeitige Nutzung gibt es.
Christoph Hämmann
Die Berner Schützenmatte ist selbst dann ein Dauerbrenner, wenn grosse
Teile der Reitschule Corona-bedingt geschlossen sind und die
Zwischennutzung des ehemaligen Parkplatzes vor dem alternativen
Kulturzentrum darniederliegt. Im Stadtparlament wurden in der laufenden
Woche drei Vorstösse behandelt, in denen nach der Perspektive für die
«Schütz» gefragt wird, nachdem Anfang April die Zwischennutzung abrupt
beendet worden ist.
Vor gut zwei Wochen gab Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) an
einem runden Tisch das Bekenntnis ab, dass der Platz weiterhin durch den
Verein Platzkultur belebt werden soll. Doch noch immer sind die neuen
Rahmenbedingungen unklar – und das eine Woche vor den Schulferien,
während derer die Verwaltung höchstens noch auf Sparflamme köcheln wird.
Unterstützung erwünscht
Die Verantwortlichen des Vereins Platzkultur liessen während des
Betriebs immer mal wieder durchblicken, dass sie sich von der Stadt mehr
Unterstützung wünschten, etwa als im vergangenen Sommer immer mehr
Gewaltprobleme auftraten. Nun äussert sich Christoph Ris vom Verein
bloss zurückhaltend – mit der Stadt würden konstruktive Gespräche
laufen, er sei «zuversichtlich, dass wir nächste Woche Klarheit haben
und eine gute Lösung finden».
Allerdings zeigt die aktuelle Antwort des Gemeinderats auf eine Kleine
Anfrage der SVP, dass der bisherige Betrieb des Projekts erst noch
abgerechnet werden muss. Auf die Frage, auf wie viel der ihm vertraglich
zugesicherten 450’000 Franken der Verein Platzkultur verzichten muss,
da das Projekt nicht wie geplant bis Ende September 2021 fortdauert,
schreibt der Gemeinderat: Es könne nicht von einer streng
anteilsmässigen Abgeltung ausgegangen werden, da der Verein in den
Sommermonaten jeweils überdurchschnittlich hohe Einnahmen erwirtschaftet
hätte.
«Die Abrechnung des Projekts wird derzeit erarbeitet», heisst es in der
Antwort weiter. «Der genaue Umfang der nicht erfolgten Abgeltung an den
Verein Platzkultur wird daraus hervorgehen.» Und: «Für die künftige
Bewartung des Platzes wird eine neue Regelung mit einer transparenten
Finanzierung erarbeitet.»
Kontraproduktive Fundamentalopposition
Das Projekt beendet und kurzum abgerechnet, der künftige Bedarf:
Platzwarte. Das klingt nicht wirklich nach der Perspektive, über die
sich Christoph Ris zwei Wochen vorher freute. Ris sagt zu den Finanzen
bloss, dass sein Verein es «unter widrigsten Bedingungen» geschafft
habe, auf eine schwarze Null hinzuarbeiten.
Derweil warten die Teilnehmer des runden Tischs auf Taten, die den
Worten des Stadtpräsidenten folgen – und auch im Altenberg wächst die
Ungeduld. Schon im April, als die «Schütz»-Belebung aus ihrem Quartier
vorerst gebodigt wurde, meldeten sich Anwohnerinnen und Anwohner auf
allen Kanälen zu Wort, die für «einen anderen Altenberg» stehen. Ihre
Darstellung: Einige wenige betreiben Fundamentalopposition – und
verhalten sich damit kontraproduktiv gegenüber ihren eigenen Anliegen
für eine ruhige Schützenmatte.
Besonders stossend finden Unterstützer des Projekts, dass die
Einsprecher aus dem Altenberg freimütig zugeben, nichts gegen den
geregelten Betrieb auf der Schütz zu haben – sondern gegen die Partys
auf dem Vorplatz der Reitschule, gegen die sie juristisch aber nicht
vorgehen können. «Man schlägt den Sack und meint den Esel», sagt die
38-jährige Anna Sommer, die daheim vom anderen Ende der Lorrainebrücke
auf die Schützenmatte hinübersieht.
«Die Stadt hat in diesem Perimeter eine besondere Verantwortung», sagt
Sommer, die als Projektleiterin arbeitet. Schützenmatte und Reitschule
seien in Bern einmalige Freiräume, getragen von Menschen, die soziale
Probleme entschärften und der Stadt damit viel Arbeit abnähmen. «Gäbe es
diese Orte nicht mehr, würden sich die Probleme bloss verlagern», sagt
Sommer. Dies wäre ihrer Ansicht nach aber gefährlich: «Der Perimeter hat
eine gewisse Übersichtlichkeit, die Jugendliche schützt.»
Überborden darf auch mal sein
Ähnlich sieht das die 34-jährige Annina Grob, Co-Geschäftsleiterin bei
Avenir Social und mit ihrer Familie wie Sommer an der Schänzlihalde
wohnhaft. «Räume wie die Schützenmatte erlauben Jugendlichen, beim
Erfahrungensammeln auch einmal zu überborden», sagt sie. Natürlich
bringe es Schattenseiten mit sich, wenn ein Ort am Wochenende weit über
Tausend Jugendliche anziehe, sagt Grob. «Aber genau diese versuchte der
Verein Platzkultur abzufedern, für uns ist das Vorgehen der
Einsprechenden deshalb wenig konstruktiv.»
Eine Brücke weiter, am nördlichen Kopf der Kornhausbrücke, leben Ursula
Hirt und Peter Eichenberger. Sie wandten sich mit einem offenen Brief an
den Altenberg-Leist und die Medien und warfen den Einsprechern vor,
dass Toleranz, Solidarität und Dialog für diese «offenbar leider
Fremdwörter» seien. Die 61-jährige Hirt sagt, sie lebe in einem
privilegierten, ruhigen Quartier, in Fussdistanz zu den vielen urbanen
Angeboten, die Bern lebenswert machten. «Es gehört doch dazu, dass man
manchmal ein bisschen etwas hört.»
Von Graffenrieds Versprechen
Sommer, Grob, Hirt: Sie alle finden, dass es letztlich wenige
Sommernächte seien, an denen wirklich Lärm von der Schützenmatte
hinübergeweht werde. Selber seien sie auch an einem ruhigen Schlaf
interessiert, und in aller Regel sei dieser auch an ihrer Wohnlage zu
haben. «Die Bahnhofbaustelle war jedenfalls letzten Sommer lauter», sagt
Sommer.
Sie habe es geschätzt, dass die Stadt vor einem Jahr die Bewohnerinnen
und Bewohner des Altenbergs zu einer Veranstaltung eingeladen und um
Verständnis für die «Schütz»-Belebung geworben habe. Leider habe
Stadtpräsident von Graffenried die Ankündigung, dass der Dialog
fortgesetzt werde, bisher nicht eingelöst. «Dabei wäre dies doch das
Wichtigste», sagt Sommer: «dass die Stadt Verantwortung übernimmt und
den ständigen Dialog pflegt.»
Sie habe recht, sagt Alec von Graffenried auf Anfrage: «Die Gespräche
gingen zwar weiter, aber vor allem jene mit den Einsprechergruppen.» Der
Plan, wieder eine grössere Runde einzuberufen, sei von Corona vereitelt
worden. «Wir finden aber auch, dass dieser Dialog dringend nötig ist»,
so von Graffenried. Nach den Sommerferien werde das Treffen deshalb
nachgeholt.
(https://www.bernerzeitung.ch/die-bahnhofbaustelle-war-lauter-185767458954)
+++GASSE
Klagen wegen Rave-Party auf Schützenmatte: Über 100 Lärmklagen wegen Party in Bern
Trotz Corona haben in der Nacht auf Sonntag in Bern Hunderte Party
gefeiert – ohne Schutzkonzept. Am Morgen hat die Polizei die Musikanlage
sichergestellt.
https://www.derbund.ch/ueber-100-laermklagen-wegen-party-in-bern-384382390613
-> https://www.20min.ch/story/hunderte-feiern-illegale-techno-party-ohne-corona-schutz-650124683354
-> https://www.nau.ch/ort/bern/bern-zahlreiche-larmklagen-wegen-party-vor-der-reitschule-65732945
-> https://www.blick.ch/news/schweiz/bern/zwei-anzeigen-ueber-100-laermklagen-wegen-party-in-bern-id15960234.html
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/hunderte-laermklagen-wegen-illegaler-techno-party-vor-berner-reitschule-138302797
-> https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=a9dd0970-d95e-4654-8adf-20b4d21f5793
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bernerzeitung.ch 28.06.2020
Illegale Party in BernTrotz Corona feiern Hunderte eine Technoparty
In der Nacht auf Sonntag feierten mehrere Hundert Personen eine illegale
Party vor der Reitschule in Bern. Die Kantonspolizei erhielt über
hundert Lärmklagen. Sie liess die Partygänger gewähren.
Johannes Reichen
Es war eine laute Party, die Hunderte Personen auf der Berner
Schützenmatte feierten. In der Nacht auf Sonntag gingen bei der
Kantonspolizei Bern über hundert Lärmklagen ein. Die ersten Meldungen
seien am Samstagabend eingegangen, sagt Polizeisprecher Dominik Jäggi.
Im Verlauf der Nacht wurden es immer mehr. Sie kamen nicht nur aus der
Stadt Bern, sondern auch aus Ittigen, Bolligen, Ostermundigen und Muri.
Die Technoparty begann am Samstagmittag und dauerte bis zum frühen
Sonntagmorgen. Gemäss einem Augenzeugen, der den Vorplatz der Reitschule
um vier Uhr morgens passierte, feierten dort mehrere Hundert Personen
zusammen. «Sie ignorierten die Schutzmassnahmen und standen dicht
beieinander», sagt er und fügt an: «Der Lärm, den die Party verursachte,
war enorm.»
Die Polizei versuchte vor Ort, «den Lärm zu unterbinden». Das gelang
aber nicht. Auch versuchte sie herauszufinden, wer die Party organisiert
hatte. «Wir haben auch mehrmals das Kontakttelefon der Reitschule
angerufen.» Auch das half nicht, die Veranstalter ausfindig zu machen.
Die Polizei stehe dazu in weiteren Abklärungen. Gegenüber «20 Minuten»
erklärte die Reitschule, sie sei nicht die Organisatorin des Anlasses
gewesen.
Eskalation möglich gewesen
Die Polizei liess die Partygänger also gewähren. Gestützt auf die
Beurteilung der Einsatzkräfte, hätte eine sofortige Intervention zu
einer Eskalation und damit zur Gefährdung der zahlreichen anwesenden
Personen geführt, sagt Jäggi. Am Sonntagmorgen habe die Musikanlage dann
sichergestellt werden können. Zwei Personen wurden auf eine
Polizeiwache gebracht und angezeigt. Neben dem Tatbestand der
Ruhestörung werde auch geprüft, ob ein Verstoss gegen die
Covid-19-Verordnung vorliegt, so Jäggi.
Er weist zudem darauf hin, dass für Teilnehmende einer Party betreffend
den Abstandsempfehlungen des Bundes primär Eigenverantwortung gilt.
Bussen gebe es hier nicht mehr. Demgegenüber gelten für Organisatoren
von Anlässen Vorschriften bezüglich Corona. Die Polizei stehe nun auch
in Kontakt mit der Stadt Bern und dem Regierungsstatthalteramt, die für
Veranstaltungen in ihrem Gebiet zuständig sind.
Kritik von der Gesundheitsdirektion
Kritik äussert Gundekar Giebel, Sprecher der kantonalen
Gesundheitsdirektion. «Die Durchführung einer solchen Veranstaltung
widerspricht allen Anstrengungen, die die Schweiz in den vergangenen
vier Monaten unternommen hat, um das Virus einzudämmen.» Bevölkerung,
Politik und Wirtschaft seien dabei erfolgreich gewesen, sodass
Lockerungen hätten gewährt werden können. «Die Leute scheinen aber zu
vergessen, dass das Virus immer noch genau gleich vorhanden ist.» Wer
sich nicht an die Regeln halte und dem Virus erneut so viele
Möglichkeiten biete, sich unkontrolliert zu verbreiten, mache alles
bisher Erreichte zunichte.
Bärendienst fürs Nachtleben
Die Berner Bar- und Clubkommission (Buck) erhielt im Vorfeld
Informationen über die Party. Demnach sollte sie um Mitternacht beendet
sein. Sie dauerte dann aber deutlich länger – bis in die Morgenstunden.
Auf der einen Seite habe er Verständnis für diese Party, sagt
Buck-Geschäftsführer Max Reichen. «Eigentlich bin ich etwas verwundert,
dass es so lange gedauert hat bis zu einer solch grossen illegalen
Party.» Kleinere habe es hingegen schon gegeben. Das zeige, dass die
Jugendlichen Verständnis hätten für die Massnahmen gegen das
Coronavirus.
«Auf der anderen Seite aber erweisen uns illegale Partys einen
Bärendienst.» Zum einen wegen des Coronavirus, denn dort fehlten, anders
als in Clubs und Bars, Schutzkonzepte. «Es gibt keine Präsenzlisten,
sodass man nicht weiss, wer dort gewesen ist.» Und zum anderen wegen des
betroffenen Perimeters Schützenmatte und Reitschule: «Es gibt Leute,
die differenzieren nicht und werfen alle in einen Topf.» Das führe dann
etwa dazu, dass Stimmung gegen demokratisch abgestützte Projekte wie
jenes des Vereins Platzkultur auf der Schütz gemacht werde.
Reichen glaubt dennoch nicht, dass die Party Folgen für die Buck und das
Berner Nachtleben hat. «Wir werden jetzt sicher nicht in Aktivismus
verfallen», sagt er. Wenn die Politik aber ein Bedürfnis habe, darauf zu
reagieren, «werden wir zur Verfügung stehen». Und er sagt, dass Bern
die gute Tradition kenne, dass nach Eskalationen etwas Gutes entstehe.
Wie bei der «Tanz dich frei»-Party 2013, aus der das Nachtlebenkonzept
hervorging.
(https://www.bernerzeitung.ch/ueber-hundert-klagen-wegen-musiklaerm-708484106517)
—
Süchtige, Obdachlose und mittendrin die Sip Züri – wenn Corona ganz unten ankommt
Drogen trotz geschlossenen Grenzen, Geld trotz Lockdown, obdachlos sein
trotz Pandemie – die Coronakrise trifft Randständige in der Schweiz
hart. Soziale Einrichtungen tun ihr bestes, um den Schwächsten im Land
zu helfen. Ein Spaziergang durch die Unterschicht der Stadt Zürich.
https://www.watson.ch/schweiz/coronavirus/781082280-coronakrise-die-sip-bei-den-randstaendigen-in-zuerich
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Ein Blick in die kurdische Diaspora in Zürich
Immer wieder erscheinen Schlagzeilen über militärische Angriffe auf
kurdische Gebiete. Dieser Konflikt, der so fern erscheinen mag, trägt
sich aber auch hier aus. Wie Kurd*innen in der Schweiz das Geschehen im
nahen Osten beeinflussen möchten und warum sich die schweizerische
Bevölkerung daran beteiligen sollte, erklären Asmin Dersim* und Roni
Amed*.
https://tsri.ch/zh/ein-blick-die-kurdische-diaspora-zurich/
+++POLIZEI BS
Basler Zeitung 28.06.2020
40 Schwarze treffen 6 Polizisten: Und plötzlich versteht man sich
Ein Treffen im Klybeck schafft es, die Fronten zwischen Polizisten und
Dunkelhäutigen so sehr aufzuweichen, dass sich am Ende Letztere bei
Ersteren bedanken.
Katrin Hauser
Das Bild, das sich am Samstagnachmittag im Kleinbasel bietet, ist ein
ungewohntes. Denn für einmal sind es nicht die sechs Polizisten, die
gekommen sind und Fragen stellen, sondern rund 40 Dunkelhäutige. So
klein der Rahmen der Veranstaltung des Vereins Migranten helfen
Migranten ist, so gross sind die Themen. Es geht um Rassismus, es geht
um Machtmissbrauch und um Ungerechtigkeit. Der Anlass im Innenhof eines
ehemaligen Novartis-Gebäudes hätte durchaus das Potenzial, die Fronten
noch mehr zu verhärten. So ist es aber nicht. Im Gegenteil: Die beiden
Seiten beginnen, einander besser zu verstehen.
Gegen Ende des Anlasses sucht Jimmy, der an diesem Tag die wohl
rassistischste Erfahrung mit der Polizei teilte, den Beamten Michel
Hostettler auf. Er möchte sich bei ihm bedanken.
Dass dies so enden würde, war nicht von Anfang an klar. Es ist 15 Uhr,
auf den Tischen liegen Flipcharts, und Jimmy, der seinen Nachnamen und
sein Gesicht nicht in der Zeitung sehen möchte, erzählt seine Geschichte
zum ersten Mal einem Polizisten. Michel Hostettler ist sichtlich
betroffen, setzt zu einer Erklärung an, doch in diesem Moment öffnet
sich die Diskussion, und Jimmy wiederholt das Gesagte – dieses Mal vor
versammelter Menge.
«Als ich 2005 mein Geschäft im Gundeli eröffnete, wollte ich am
Wettsteinplatz ein paar Flyer verteilen. Plötzlich tauchten Polizisten
auf. Sie nahmen mich mit, ich verstand nicht, wieso. Auf dem Claraposten
musste ich meine Kleider ablegen und wurde dort in eine Zelle gesperrt.
Ich verstand immer noch nicht, wieso. Zu Hause wartete meine Frau.
Alles, was ich getan hatte, war, ein paar Flyer zu verteilen. Ich war
fertig mit der Welt. So fertig, dass ich heftig zu weinen begann. Eine
Polizistin öffnete das kleine Fenster zu meiner Zelle.» Er habe gedacht,
sie würde ihm vielleicht helfen, hätte ein nettes Wort für ihn übrig.
Was sie stattdessen getan habe: «Sie streckte mir die Zunge heraus.»
Entrüsteter Polizist
Die Augen der Besucher wandern zu Polizist Michel Hostettler und
fokussieren nun den Mann, der das rechtfertigen muss. Er sagt zunächst:
«Mir geht es schlecht, wenn ich diese Geschichte höre.» Das Problem sei,
dass dieser Vorfall zu weit zurückliege, um zu überprüfen, ob er so
stimme. «Oftmals haben solche Geschichten zwei Seiten.» Dann aber
scheint er seine Meinung zu ändern und tut etwas Unerwartetes. Er sagt
zu Jimmy: «Ich glaube Ihnen das.» Ein wichtiger Moment für die
Versammelten, vielleicht der Moment, in dem das Eis bricht.
Einer aber auch, in dem sich Hostettler nun rechtfertigen muss, wie eine
Kollegin auf die Idee kommt, einem offensichtlich verzweifelten
Menschen die Zunge herauszustrecken: «Wissen Sie, es ist teilweise nicht
einfach, in diesen Momenten auf dem Posten zu sein. Ich war auch schon
in dieser Situation: Morgens um zwei Uhr, man muss Rapport schreiben, in
der einen Zelle tritt jemand ständig gegen die Tür, schreit ‹Schyss
Polizei!›, in einer anderen Zelle versucht sich jemand mit einem
Pullover zu erhängen.» Letztlich würden unter den blauen
Polizeiuniformen auch einfach nur Menschen stecken.
Und so beginnen die Menschen in den blauen Westen, mit den Menschen
dunkler Hautfarbe zu sprechen. Die grosse Frage der Dunkelhäutigen ist:
«Wieso müssen wir für etwas büssen, das andere getan haben? Weshalb
werden wir öfter kontrolliert, auch wenn wir kein Delikt begangen
haben?»
Die Gegenfrage von Polizist Sacha Lüthi lautet: «Weshalb sind wir
Polizisten die Schuldigen und nicht die Straftäter aus euren Ländern?»
Würde er nach Afrika auswandern, und da wären zehn weitere Schweizer,
die dauernd Mist bauen würden, wäre er doch auf diejenigen wütend. Es
sei ausserdem das gute Recht jedes Kontrollierten, nach dem Grund der
Durchsuchung zu fragen. Auf dem Gesicht des Nigerianers John breitet
sich ein zynisches Lächeln aus: «Dann kommt die Antwort: normale
Kontrolle.» Das sei es oft auch, beteuert Lüthi. «Aber wenn der
Kontrollierte schon bei der ersten Frage mit ‹Das geht dich nichts an!›
antwortet, wird es nicht gerade einfacher.»
Weisse Gutmenschen
Die Beamten des Basler Justiz- und Sicherheitsdepartements sprechen an
diesem Samstagnachmittag nicht so, wie sie es normalerweise tun, wenn
Medien dabei sind. Vielleicht haben sie keine erwartet, vielleicht ist
es ihnen dieses eine Mal einfach egal. In der Menge sitzt ihr
Mediensprecher Toprak Yerguz, als Zuschauer. Abgesehen von der
Vorstellungsrunde, sagt er kein Wort, mischt sich weder in die
Diskussion ein, noch greift er ein, als Lüthi etwas später im Gespräch
mit der BaZ sagt: «Ich vermeide es, wenn es irgendwie geht, jemand
Dunkelhäutiges zu kontrollieren.» Sofort stehe man unter
Rassismusverdacht. Besonders mühsam seien ausserdem weisse Gutmenschen,
die ungefragt hinzukommen würden, um sich einzumischen. «Das passiert in
Basel häufig.»
Weisse Aktivisten mit allzu extremen Tendenzen stossen auch bei Alima
Diouf, die den Event organisiert hat, nicht gerade auf Begeisterung:
«Sie verhindern, dass wir eine Lösung mit der Polizei finden. Sie
glauben, sie könnten die Probleme besser beurteilen als wir, die
betroffen sind.» Im Vorfeld hätten sich ein paar Personen, die sich
radikal gegen Racial Profiling einsetzen würden, bei ihr gemeldet. «Ich
habe sie ausgeladen», sagt die Gründerin des Vereins Migranten helfen
Migranten.
Alima Diouf hat zusammen mit der Polizei einen kleinen Handy-Aufkleber
entwickelt, der Tipps gibt, wie man sich verhalten soll, wenn man
kontrolliert wird. Sie ist mit vielen Beamten per Du. Die Basler
Grenzkontrolle habe bereits angekündigt, dass sie ebenfalls einen
solchen Workshop durchführen wolle, sagt sie, während sich die ersten
Besucher verabschieden.
Die sechs Polizisten sind noch da. Standen sie zu Beginn noch abseits
und unter ihresgleichen, sind sie nun in Gespräche mit Nigerianern,
Somaliern, Senegalesen und weiteren Leuten aus dem mittleren und
südlichen Afrika vertieft.
(https://www.bazonline.ch/und-ploetzlich-versteht-man-sich-195473804509)
+++POLIZEI DE
Rassismus in der Polizei: „Die gesamte Polizei stemmt sich gegen Aufklärung“
Bei der Polizei gebe es Rassisten und auch Reichsbürger, sagte
Polizeisoziologe Rafael Behr im Dlf. Eben alles, was es in der
Bevölkerung auch gebe. Das wäre auch kein Problem, wenn es Strukturen
gäbe, die dies frühzeitig erkennen und abstellen würden. Diese
Strukturen erkenne er derzeit aber nicht.
https://www.deutschlandfunk.de/rassismus-in-der-polizei-die-gesamte-polizei-stemmt-sich.694.de.html?dram:article_id=479470
Wir müssen den Rechtsstaat vor der Polizei beschützen
Es kann keine Demokratie geben ohne Kritik an der Polizei.
https://www.vice.com/de/article/5dzd9k/wir-mussen-den-rechtsstaat-vor-der-polizei-beschutzen
+++POLICE USA
Tear Gas | Knowledge Exchange
Let’s be clear about this. Tear gas is a weapon of terror which is used
to intimidate and disperse. It is neither a “none lethal” nor “less
lethal” option.
https://enoughisenough14.org/2020/06/28/tear-gas-knowledge-exchange/
+++CRYPTO AG
derbund.ch 27.06.2020
Wie die Schweiz Codes knackt: Der gute Lauschangriff
Durch manipulierte Chiffriergeräte der Crypto AG erhielt die Schweiz
wertvolle Informationen. Doch die Dimension der Abhöraktion ist noch
viel grösser.
Kurt Pelda
Nach mehr als 18 Monaten in libyscher Geiselhaft schreibt der Schweizer
Max Göldi Anfang Februar 2010 einen Brief an die damalige
Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Darin bittet er die
SP-Bundesrätin, in den anstehenden Verhandlungen mit dem Regime von
Diktator Muammar al-Ghadhafi Zugeständnisse zu machen. Er und die zweite
Schweizer Geisel, Rachid Hamdani, hoffen immer noch auf ihre
Freilassung. «Ich flehe Sie an, die dafür notwendigen Konzessionen
gegenüber Libyen zu machen und damit unserem Leid endlich ein Ende zu
setzen.»
Göldi lebt zu dieser Zeit zwangsweise isoliert in Tripolis. Ghadhafi
lässt Hamdani und ihn nicht aus dem Land. In der Schweizer Botschaft hat
Göldi Zugang zu einem Raum mit einem Sender, der verschlüsselte
Nachrichten nach Bern übermittelt. Es ist ein Gerät vom Typ TC-007 der
Firma Crypto AG in Steinhausen ZG. Diese Chiffriergeräte stehen auch
heute noch in Schweizer Vertretungen rund um den Globus im Einsatz.
Verschlüsselte Nachrichten über Satellit
Was Göldi nicht weiss: Während die Libyer seine Funksprüche nicht
entschlüsseln können, hören die Schweizer den über Satellit
abgewickelten Verkehr zwischen der libyschen Botschaft in Bern und
Tripolis ab. Und nicht nur das: Schweizer Kryptologen sind auch in der
Lage, die libyschen Codes zu knacken.
Libyen war ein wichtiger Kunde der Crypto AG, die sich lange Zeit im
Besitz des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA und des deutschen
Bundesnachrichtendienstes befand. Für den Export bestimmte
Chiffriergeräte wurden mit absichtlich geschwächten Algorithmen
ausgestattet – also Rechenregeln, die Klartext in Code umwandeln. Die so
manipulierten Geräte verkaufte die Crypto AG an mehr als hundert
ahnungslose Staaten. Weil die Kryptologen in der
Führungsunterstützungsbasis der Schweizer Armee die Schwächen in den
Algorithmen kannten, konnten sie chiffrierte Nachrichten mit
leistungsfähigen Computersystemen knacken, obwohl sich die verwendeten
Schlüssel nicht in ihrem Besitz befanden.
Eine grosse Blamage erspart?
Ein Insider, der damals im Abhörzentrum im bernischen Zimmerwald an der
Libyen-Aktion beteiligt war, sagt heute, dass die Libyer in der
Geiselaffäre gar keine Crypto-Geräte benützt hätten. Andere Quellen
meinen, dass Tripolis Chiffriermaschinen des Regensdorfer Unternehmens
Gretag verwendete, nachdem in den späten Achtzigerjahren Zweifel an der
Zuverlässigkeit der Crypto-Geräte aufgekommen waren. Ab 1991 hatte die
Gretag aber ebenfalls amerikanische Besitzer. Ausserdem war die CIA
angeblich durch einen Diplomaten Ghadhafis in die
Verschlüsselungstechniken der libyschen Gretag-Maschinen eingeweiht
worden. Es ist deshalb höchstwahrscheinlich, dass auch Zimmerwald
Nachrichten mit diesen Geräten dechiffrieren konnte.
In der Geiselaffäre war der Lauschangriff auf die Libyer für die
Freilassung von Max Göldi matchentscheidend, wie sich ein anderer
Insider ausdrückt. Laut einer dritten, ebenfalls gut unterrichteten
Quelle erfuhr die Schweiz durch die Abhöraktion, dass Libyen ohnehin
vorhatte, Göldi am Ende ausreisen zu lassen. Dadurch wurde eine vom Bund
und der Armee geplante Kommandoaktion zur Befreiung der Geiseln
obsolet. Zuvor war sie ernsthaft erwogen worden. Allerdings bekamen
Ghadhafis Leute Wind von den Plänen, wohl weil sich der damalige
Schweizer Botschafter in Libyen in einer unverschlüsselten E-Mail dazu
geäussert hatte. Dank der Abhöraktion blieb der Schweiz eine riskante
Militäroperation erspart und vielleicht eine grosse Blamage.
Details über Geiselnehmer
Entscheidende Hinweise hat Zimmerwald auch in mindestens einem anderen
Geiseldrama geliefert, und zwar bei der Entführung einer Adliswiler
SP-Gemeinderätin und ihres Ehemanns Anfang 2009. Die beiden wurden von
islamistischen Terroristen in der malischen Sahara verschleppt. Die
Kryptologen konnten hier über Satellit abgewickelte Telefongespräche
oder Datenpakete abfangen.
Populär sind in der Sahara zum Beispiel Satellitentelefone der
arabischen Marke Thuraya, auch bei Terroristen. Die Geräte kommunizieren
über Satelliten der amerikanischen Firma Boeing, weshalb man davon
ausgehen kann, dass die amerikanischen Dienste genau wissen, wie man
diese Verbindungen abhört und knackt. Dieses Wissen scheinen sich auch
die Schweizer Kryptologen angeeignet zu haben.
Bei der Geiselnahme der zwei ausgebildeten Berner Polizisten David Och
und Daniela Widmer in Pakistan 2011 leisteten die Abhörspezialisten
ebenfalls wertvolle Hilfe, etwa bei der Lokalisierung der von den
Taliban verschleppten Schweizer und bei der Beschaffung von
Informationen über die Geiselnehmer.
(https://www.derbund.ch/der-gute-lauschangriff-733121261616)
+++RASSISMUS
Rassismus gegen FCZ-Stürmer: Jetzt ist die Mohrenkopf-Debatte im Fussball gelandet
Während der FC St. Gallen heftig auf die rassistische Beleidigung des
FCZ-Stürmers Aiyegun Tosin reagiert, bleiben die Zürcher sehr still.
https://www.bernerzeitung.ch/jetzt-ist-der-mohrenkopf-im-fussball-gelandet-629039381814
Luzerner über (versteckten) Rassismus im Alltag: «Viele meinen, Rassismus gegenüber Asiaten sei legitim»
«Black Lives Matter», schreien die Menschen weltweit. Dabei geht
vergessen: Auch Asiaten sind von Rassismus betroffen. Wir haben mit
einem betroffenen Luzerner gesprochen.
https://www.zentralplus.ch/viele-meinen-rassismus-gegenueber-asiaten-sei-legitim-1829631/
+++RECHTSEXTREMISMUS
„Schulter an Schulter gegen Faschismus“
Bis zu 1500 Menschen demonstrieren am Samstag in Wien gegen die
faschistischen Grauen Wölfe. Im Anschluss wurde ein Journalist
mutmaßlich von Faschisten angegriffen und verletzt. Der Vor-Ort-Bericht
und die Bildergalerie zum Protest.
https://www.bonvalot.net/schulter-an-schulter-gegen-faschismus-832
-> https://www.derstandard.at/story/2000118367666/kurdischer-journalist-nach-demo-in-wien-angegriffen-und-verletzt?ref=rss
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Das FBI stuft sie als Terrorgefahr ein: Rechte Verschwörungs-Sekte breitet sich in der Schweiz aus
QAnon will die angebliche «Elite» stürzen. Im Zuge der Corona-Krise
gewann die Verschwörungsbewegung massiv an Zulauf.
SonntagsBlick-Recherchen zeigen: Ihr grösster deutschsprachiger Kanal
wird aus der Schweiz heraus betrieben.
https://www.blick.ch/news/schweiz/das-fbi-stuft-sie-als-terrorgefahr-ein-rechte-verschwoerungs-sekte-breitet-sich-in-der-schweiz-aus-id15960173.html
—
NZZ am Sonntag 28.06.2020
Der Kampf um die Wahrheit: Alle gegen die «Tagesschau»
Selten hatte die «Tagesschau» höhere Einschaltquoten als während der
Corona-Zeit. Und selten so viele Kritiker, Gegner und Hasser. Der
Informationskrieg spitzt sich zu.
Sacha Batthyany und Katharina Bracher
Es ist kurz nach zehn Uhr, ein Freitagmorgen im Juni, als Florian
Inhauser in sein Auto steigt. Das Radio ist aus, das Handy verstaut. Er
möge diese Ruhe auf dem Weg zur Arbeit, sagt er. Die Ruhe vor dem
Informationssturm.
Inhauser ist einer von vier Moderatoren der «Tagesschau», des
Informationsflaggschiffs des Schweizer Fernsehens. Als er vor ein paar
Wochen, am 19. März, die Zuschauer begrüsste, sahen ihm rund 1,5
Millionen Menschen zu. Jeder vierte Deutschschweizer. Mit dem Ausbruch
der Pandemie stiegen die Quoten auf Rekordhöhe. Das
Informationsbedürfnis sei immens, «zum ersten Mal in meinem Leben habe
ich über etwas berichtet, das ausnahmslos und unmittelbar alle
betrifft», sagt Inhauser. «Die ‹Tagesschau› wurde wieder zum Lagerfeuer
der Nation.»
25 Minuten hat Florian Inhauser Zeit, um die News des Tages zu
verkünden, «so viel zum Stand der Dinge», sagt er am Ende jeder Sendung,
bevor er die Blätter vor sich bündelt, während die Musik einsetzt.
Inhauser ist bekannt für seine Eloquenz und sein akzentfreies
Hochdeutsch, was ihm, im Unterschied zu so manchem Bundesrat, den er
schon interviewte, etwas Weltmännisches verleiht.
Aggressive Wutbürger
«Es geht darum», sagt er, «dass man sich an die Fakten hält und präzise
ist», das sei das Wichtigste. Aber um diese Fakten wird gestritten und
gezerrt, wie vielleicht noch nie in diesem Land. Ein Unmut breitet sich
aus, nicht nur gegenüber der «Tagesschau», sondern gegenüber allen
traditionellen Medien, zu denen auch diese Zeitung gehört.
Und es sind nicht nur aggressive Wutbürger, die auf Twitter herumpöbeln
und das Schweizer Fernsehen als «linksversifftes Pack» abkanzeln. Die
gibt es auch – und nicht zu knapp. Dazu gesellen sich neuerdings aber
gemässigtere Kreise, die ihr Unbehagen leiser formulieren und die
kultivierter auftreten, aber im Kern dasselbe tun: an der Institution
sägen.
Der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen spricht von einem neuen
«Lügenpresse-light-Milieu», das die Glaubwürdigkeit traditioneller
Medien immer häufiger infrage stelle. Das Coronavirus hat die Menschen
zwar vor den Bildschirmen versammelt, doch was sie sehen und hören,
gefällt vielen nicht.
Inhausers Fahrt von seinem Wohnort in Erlenbach bis ins Fernsehstudio in
Oerlikon dauert eine halbe Stunde und ist wie eine Reise durch die
verschiedenen sozialen Milieus dieses Landes: Erst kommen die Villen am
Zürichsee mit ihren weiss gebleachten Terrassen, dann die Bauernhöfe,
später die Einfamilienhäuschenschweiz auf der Forch mit den
Golden-Retriever-Mamas, bis Inhauser ab Dübendorf nur mehr an grauen
Überbauungen vorbeifährt, auf deren Balkonen sich das Altglas häuft.
Bis in die nuller Jahre hielt das Fernsehen diese verschiedenen Milieus
zusammen. Egal, ob man auf dem Land lebte oder in der Stadt, ob man
Vegetarierin war oder Mitglied eines Jodelchors, um 19 Uhr 30
versammelte man sich zur «Tagesschau», wie in einer Kirche. Durch das
Aufkommen des Internets aber hat diese Lagerfeuerfunktion gelitten. Als
plötzlich alles nur noch einen Klick entfernt war, sank die Quote, weil
die Vegetarier und Jodler und Stadtneurotiker begannen, sich um
verschiedene Feuer zu setzen.
Florian Inhauser bindet sich im Parkhaus eine Maske um, seit Corona ist
das in den SRF-Gebäuden Pflicht, und fährt mit dem Lift in den neuen
Newsroom, wo normalerweise ein reges Gewusel herrschen würde. Doch viele
der Tische sind leer, die Bildschirme schwarz; weil die meisten im
Home-Office arbeiten, wirkt das hier wie ein verwaistes Flughafengate.
Inhauser wird in den nächsten Stunden an seinen Moderationstexten
arbeiten und Interviews mit Korrespondenten vorbereiten, bis er um halb
acht Uhr abends im dunkelblauen Anzug in die Kamera lächeln und sagen
wird: «Guten Abend, meine Damen und Herren. Willkommen zur
‹Tagesschau›.»
Wachhund der traditionellen Medien
Keine fünfzig Kilometer vom Newsroom des Schweizer Fernsehens entfernt,
im thurgauischen Tobel, sitzt ein Mann in seiner Küche, der von sich
behauptet, die «echte Tagesschau» auszustrahlen. «Ich bin das
Anti-Lagerfeuer», sagt Daniel Stricker, der auch äusserlich wenig mit
Inhauser teilt: Stoppelbart, zerzauste Frisur, Kapuzenpullover. Er ist
Betreiber seines eigenen Internet-Videokanals Stricker.tv, auf dem er
seine Zuschauer mit den Worten begrüsst: «Liebe Fuckers», so nennt er
seine Fans und Freunde und meint das liebevoll. Oft singt er noch eine
Strophe der amerikanischen Hymne, Land of the free, Home of the brave!,
während Rugeli durchs Bild läuft, eine Katze älteren Jahrgangs, die ihm
vor Jahren zugelaufen ist.
«It’s like a fucking flu. Corona ist wie eine Grippe», lautet Strickers
Verdikt über die Pandemie. Dass diese Aussage von der Fachwelt
bestritten wird, stört ihn nicht. Er beruft sich auf eine Minderheit von
umstrittenen Epidemiologen, die andere Schlüsse ziehen. Im Unterschied
zur Redaktion der «Tagesschau», die auf die Recherche und Gewichtung von
Nachrichten fokussiert, kommentiert Stricker, was andere berichten. Er
ist eine Art Wachhund der traditionellen Medien, Stricker sieht sich als
«Aufklärer», wobei ihm seine Wahrnehmung als alleiniger Gradmesser
dient.
Täglich durchforstet er die Berichterstattung nach angeblichen
Widersprüchen. Er lese alles, sagt er, gemäss seinem Motto «Know your
enemy» auch Medien, die er eigentlich verachtet – darunter den
«Spiegel». Stricker nennt das deutsche Nachrichtenmagazin unverblümt
«ein Drecksblatt», weil es etwa sämtliche positiven Informationen über
die Präsidentschaft Donald Trumps ignoriere, weil es einseitig über
Wladimir Putin und Boris Johnson berichte und damit die Spaltung der
Gesellschaft befeuere.
Auch die SRF-Informationssendungen hätten ein «abgrundtief schlechtes
Niveau», was in der Corona-Krise deutlich geworden sei, behauptet er.
«Die ‹Tagesschau› macht Hofberichterstattung der Regierung.» Sie habe
die Zahlen der Behörden heruntergebetet, ohne sich kritisch damit
auseinanderzusetzen. Über die Massnahmen gegen die Pandemie sei nie
diskutiert worden. Auch den anderen Medien wirft Stricker Fahrlässigkeit
vor. «Sie schüren Panik, statt aufzuklären.» Von der Wahrheit über
Corona seien sie weit entfernt.
Der Wahrheit? Strickers Wahrheit? Warum sollte man eher ihm trauen als
den traditionellen Medien? Mit dieser oder ähnlichen Fragen haben
Stricker schon einige Journalistinnen konfrontiert. Meistens seien sie
ihm nicht mit Wohlwollen begegnet und hätten ihm zu Unrecht die Nähe zu
Verschwörungstheoretikern vorgeworfen. «Ich spreche mit allen – aber bin
ich deshalb automatisch wie sie?»
Statt die traditionellen Medien als «Lügenpresse» zu bezeichnen, spricht
Stricker lieber von «Lückenpresse», was ohnehin korrekter sei. «Gelogen
wird ja eher selten», räumt Stricker ein. Aber Informationen, die nicht
genehm seien, würden unterdrückt, behauptet er. SRF sei ein gutes
Beispiel für ein «Lückenmedium». Der Chefredaktor selbst habe in einem
Video gesagt, «abstrusen» Meinungen zu Corona räume man keinen Platz
ein. «Ich dachte, die Wissenschaft entscheide, was abstrus ist? Bei SRF
ist es der Chefredaktor!»
Bergamo in Endlosschlaufe
Natürlich hat dieser Stricker im Vergleich zur «Tagesschau» nur wenige
Zuschauer, rund 3000 Abonnenten, um genau zu sein, «keine schlechte
Reichweite für einen, der gerade erst begonnen hat», findet Stricker,
doch er ist Teil einer wachsenden globalen Bewegung gegen die
etablierten Medien.
In der Schweiz gibt es inzwischen unzählige Strickers, von «Uncut-News»
über «New Swiss Journal» bis zu «Anti-Corona-Depro», die aus ihren
Küchen und Kellern alles Mögliche berichten und kommentieren. Es sind
keine Journalisten, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne, die meisten
haben weder eine Ausbildung noch Erfahrung in diesem Bereich, dafür ein
grosses Ego und ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Kein Wunder, sind
es fast ausschliesslich Männer, die auf Websites und Youtube-Channels
verkünden, wie die Welt funktioniert und wie dem Virus beizukommen wäre.
Abwägen und Hinterfragen? Nicht so ihr Ding. Datenanalyse? Fehlanzeige.
Investigativrecherche? Ein Fremdwort.
In vielen der sogenannten Alternativmedien wird vor allem behauptet, die
wahre Wahrheit zu kennen: Hinter den Anschlägen auf die Twin-Towers
steckt die CIA; hinter dem Coronavirus Bill Gates. Überhaupt gibt es
für alles einen klaren Schuldigen, und wenn es nicht 5G ist, dann ist es
das Weltjudentum.
Manche Vertreter dieser Alternativmedien haben einen rassistischen oder
antisemitischen Hintergrund oder sind derart verblendet, dass man sie am
besten gar nie erwähnen würde. Aber eben nicht alle. Rechtsradikale,
Anthroposophen und Impfgegner in einen Topf zu werfen und zu behaupten,
es handle sich bloss um eine Auswahl irrer Verschwörungstheoretiker,
hiesse, genau das zu tun, was Verschwörungstheoretiker tun:
pauschalisieren und vereinfachen.
Kriegsrhetorik als Selbstverständlichkeit
Und möglicherweise ist ja auch etwas dran an Strickers Kritik, die
etablierten Medien hätten zu einseitig berichtet und den Bundesrat zu
wenig kritisch hinterfragt. Von den insgesamt 513 Beiträgen der
«Tagesschau» im März und April befassten sich 436 mit dem Coronavirus,
wie eine Auswertung zeigt – eine gewisse thematische Verengung ist nicht
von der Hand zu weisen.
Kritik an der Berichterstattung kommt auch aus der Wissenschaft. Und sie
ist verblüffend deckungsgleich mit der Medienkritik, die Stricker.tv
und andere alternative Medienkanäle verbreiten. Der
Kommunikationswissenschafter Otfried Jarren meint, das
öffentlich-rechtliche Fernsehen hätte durch verdichtete
Berichterstattung die Pandemie zu einer Krise stilisiert, auf die es nur
eine Antwort gebe. «Der Eindruck der Alternativlosigkeit bei
Massnahmen entstand. Unterschiedliche Positionen wie Lösungsansätze
kamen zunächst nicht vor.»
Jarren hat die Berichterstattung von ARD und ZDF zu Beginn der Pandemie
untersucht, doch einige seiner Befunde liessen sich durchaus auf die
Schweiz anwenden. Aufgefallen ist Jarren unter anderem, mit welcher
Selbstverständlichkeit eine gewisse Kriegsrhetorik in den Medien
verwendet wurde. Viele Bilder wurden mangels Alternativen in
Endlosschleife gezeigt: die Lastwagen von Bergamo, die nachts die
Leichen abtransportieren; schwerkranke Menschen an der
Beatmungsmaschine. Diese Bilder hätten nicht der sachlichen Aufklärung
gedient, sondern der emotionalen Zuspitzung. «Daraus ist ein überzogenes
Angstgefühl entstanden», sagt Jarren. Ausserdem hätten die Medien
einzelne Epidemiologen zu «Stars» aufgebaut, statt auf eine Vielfalt von
Experten zu setzen.
In den ersten Wochen des Shutdown hätten die Medien ausserdem ihre
Wächterfunktion vernachlässigt, sagt Jarren. «Journalismus darf sich
gerade in einer solchen Situation nicht ins Home-Office zurückziehen.»
Star der Szene
Es ist Zeit für den Studiogast. Daniel Stricker, der selbsternannte
Aufklärer, verlässt seine Küche und setzt sich in seinen Tesla S, um den
heimlichen Star unter den Corona-Skeptikern abzuholen: Christof Ruckli,
ein Kommunikationsberater und ehemaliger Primarlehrer, betreibt den
Videokanal «Anti-Corona-Depro», der viel Beachtung gewann. Die beiden
Männer verbindet die Skepsis gegenüber der offiziellen Version der
Pandemie. Vom Typ her sind sie grundverschieden. «Im Gegensatz zu mir
fluchst du ja nie in deiner Sendung», sagt Stricker zu Ruckli, der zur
Antwort nickt. «Ich bin eher so der Bünzli.»
In Strickers Studio, einem winzigen Raum in einem Mehrfamilienhaus, wird
das Interview mit Ruckli aufgezeichnet. Assistiert wird den beiden von
einem Angestellten, der auch für Strickers Immobilienfirma tätig ist. Er
übernimmt die Regie. Stricker und Ruckli sitzen in tiefen Sesseln vor
einer Holzwand, zwischen ihnen steht ein Beistelltisch in der Form eines
Totenschädels.
«Wie soll ich dich eigentlich nennen?», fragt Stricker kurz vor
Sendebeginn. «Bist du ein Video-Blogger?» Doch Ruckli verwirft die
Hände, er weiss auch nicht genau, was er ist. «Mir egal», sagt er. Dann
gibt der Assistent ein Zeichen, und schon begrüsst Stricker seine
«Fuckers» vor dem Bildschirm mit vollem Enthusiasmus.
Es ist 13 Uhr, als Strickers Interview mit Ruckli aufgezeichnet wird –
eine Art Informationsparallelgesellschaft mit eigenen Studiogästen und
einer immer grösseren Anhängerschaft. Im SRF, auf der anderen Seite
sozusagen, läuft derweil das Mittagsjournal.
Vor dem Fernseher einschlafen
«Tagesschau»-Moderator Florian Inhauser sitzt an einem seiner freien
Tage auf der Terrasse neben seiner Frau Katja Stauber, die bis vor
wenigen Wochen ebenfalls vor der Kamera stand. «Die Kritik an uns und
unserer Arbeit hat in der Masse sicher zugenommen, was mit der
Digitalisierung zu tun hat. Musste man früher noch einen Zuschauerbrief
auf die Post bringen, kann man heute seinen Ärger jederzeit per
Smartphone loswerden», sagt Stauber, die heute als Produzentin der
«Tagesschau» arbeitet, was bedeutet, dass sie für die Inhalte und
Abläufe zuständig ist, die Längen und die Reihenfolge – und auch die
Moderationen ihres Mannes.
Stauber beobachtet auch in ihrem privaten Umfeld eine skeptischere
Haltung gegenüber ihrer Sendung, immer häufiger höre sie die Frage,
warum über dies, aber nicht über jenes berichtet werde. «Früher haben
sich die Zuschauer über bunte Krawatten genervt oder zu viel
Lippenstift.» Heute komme eine inhaltliche Auseinandersetzung hinzu, was
zwar richtig sei, sagt Stauber, «nur bringen viele Zuschauer die
Sendungen durcheinander und behaupten Dinge, die einfach nicht stimmen.
Neulich schrieb mir einer, ich sei im Vorstand der WHO und somit für
eine neutrale Corona-Berichterstattung ungeeignet.»
Vor mehr als 65 Jahren, am 29. August 1953, erschien die «Tagesschau»
zum ersten Mal und berichtete über die Eröffnung des Flughafens in
Zürich und die Radweltmeisterschaften. Der inhaltliche Schwerpunkt galt
damals nicht der Politik, sondern der Unterhaltung, man zeigte Menschen
auf gefrorenen Seen und besuchte Messen.
Erst Ende der sechziger Jahre rückten die «Hard News» aus Politik und
Wirtschaft ins Zentrum. Bald galt die «Tagesschau» als wichtigste
Informationsquelle, sendete Korrespondentenberichte und Live-Interviews.
Aus Moderatoren wie Léon Huber wurden Promis, deren Gesichter sich mit
den damaligen politischen Ereignissen verwoben. Als Charles Clerc sich
1987 in der Hauptausgabe ein Kondom über den Finger rollte, errötete die
halbe Schweiz vor den damals noch voluminösen Flimmerkästen.
«Ich war mir meines Bekanntheitsgrads damals nicht bewusst. Wir
zelebrierten das nicht», sagt Clerc heute. Er ist 77 Jahre alt, seine
Stimme zu hören, ist wie eine Zeitreise in die neunziger Jahre.
Plötzlich sieht man das alte Signet von damals vor sich und hört Clerc
die Worte sagen, für die er damals bekannt war: «Und zum Schluss noch
dies . . .»
Er habe einfach seinen Job erledigt, sagt Clerc, der heute das Radio dem
Fernsehen vorzieht, weil er vor dem Gerät immer mit dem Schlaf kämpfe.
Kritik an der Sendung drang selten bis zu ihm, von «Fake-News» und
«Lügenpresse» sprach damals noch niemand. Und wenn es Polemik gab, dann
entsprang sie Akademikern, die vor der schädlichen Verführungskraft der
Bilder warnten. «Wir amüsieren uns zu Tode», lautete die vielzitierte,
aber längst überholte Kritik des Medienwissenschafters Neil Postman. Das
Fernsehen sei «ein Nullmedium», meinte Hans Magnus Enzensberger – doch
da wusste er noch nicht, was Social Media mit der Welt alles anrichten
würden.
Angst vor «Deep fakes»
«Wir sind nicht unantastbar. Und das ist auch gut so», sagt Regula
Messerli, Redaktionsleiterin der «Tagesschau», in ihrem Wohnzimmer, das
ihr in Corona-Zeiten als Büro dient. An allen Institutionen werde gerade
gerüttelt, nicht nur am Fernsehen. Ihr Ziel aber sei in jeder Ausgabe,
«dass die Zuschauer mehr als die reinen News erfahren, denn die kennen
sie abends um halb acht bereits. Sie sollen ausserdem spüren, wie sehr
wir uns in die Materie hineinknien», sagt sie zwischen Zoom-Sitzungen,
in denen sie die nächsten Sendungen konzipiert.
Im Vergleich zu früher seien die Zuschauer «misstrauischer» geworden,
sagt Messerli, was das Fernsehen dazu zwinge, sich mehr zu öffnen und zu
erzählen, wie die Beiträge zustande kommen – oder ganze Sendungen, wie
die Kritik an der «Arena» Mitte Juni über Rassismus zeigt. Pascal Weber,
Nahostkorrespondent des Schweizer Fernsehens, sagt: «Wir müssen mehr
tun, um unsere Arbeit zu rechtfertigen.» Er erscheine in seinen
Berichten aus entlegenen Orten nicht deshalb immer wieder im Bild, «weil
ich meinen Kopf im Fernsehen zeigen möchte, sondern um zu beweisen,
dass ich tatsächlich vor Ort bin», damit niemand an der Echtheit
zweifle.
Die Herkunft der Bilder gibt immer wieder Anlass zu Spekulationen.
Donald Trump hat den «Fake-News»-Begriff so schamlos oft benutzt und
salonfähig gemacht, dass nun jeder, dem ein Beitrag nicht passt, von
«Fake-News» spricht. Dabei gibt es heute sehr viel mehr Kontrollen als
früher. Das meiste Bildmaterial vom Ausland etwa stamme von der European
Broadcast Union (EBU), einem Zusammenschluss von 72 Rundfunkanstalten,
sagt Regula Messerli. Wer also in Zürich an einem «Tagesschau»-Bericht
über die Corona-Pandemie in Brasilien arbeitet, verwendet nicht wahllos
Bilder aus dem Internet, sondern Files, die von der EBU überprüft
wurden.
Dazu kommt, dass sich das Schweizer Fernsehen eine neue
Faktencheck-Abteilung leistet, die aus fünfzehn Angestellten besteht,
mehr als die Gesamtredaktion vieler Lokalzeitungen, und die sich unter
anderem auf die Verifizierung von Bildmaterial spezialisiert hat. Die
Abteilung entstand aus der Angst vor sogenannten «Deep Fakes»,
manipulierten Videos, in denen man Personen Worte in den Mund legt, die
sie so nie gesagt haben und die dabei täuschend echt aussehen. «Deep
Fakes» haben in unserer dünnhäutigen Zeit, in der sich jede Woche eine
neue Welle der Empörung entlädt, enormes destruktives Potenzial. Das
beweist ein Blick in die USA, wo eine ganze Alternativmedien-Industrie
davon lebt, Videos zu publizieren, ohne sie zuvor zu verifizieren.
Alex Jones etwa, der Betreiber von «Infowars», ist unter den wütenden
rechtsnationalen Hetzern der Lauteste und erreicht mit seinem Gebrüll
Millionen. In seiner Zeit als Moderator behauptete er nicht nur, dass
die US-Regierung hinter den Terroranschlägen in New York stehe; er hielt
auch das Schulmassaker in Newtown für eine Zeitungsente und für
Propaganda der Waffengegner. Jones ist unerträglich, nicht weil er
Unsinn verbreitet, das tun andere auch, sondern weil er Hass sät und
skrupellos ist. Und damit viel Geld verdient.
Ist die Zeit des Lagerfeuers vorbei?
Natürlich sind Daniel Stricker oder Christof Ruckli nicht mit Alex Jones
vergleichbar. Aber liest man die vielen Kommentare unter dem Video
ihres Interviews, die eigentlich alle dasselbe aussagen, nämlich dass
hier endlich zwei die Wahrheit sagen, dann stellt sich schon die Frage,
wohin das führt, wenn innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche
Fakten kursieren, mit denen sich jede Gruppe ihre eigene Wahrheit
zimmert.
Ist die Corona-Krise nur ein Vorbote künftiger «Infowars», die auf uns
zukommen? Oder anders gefragt: Ist die Idee der «Tagesschau» als
Lagerfeuer, um das sich die Bewohner eines Landes artig und
widerspruchslos drapieren, längst überholt?
Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man in den sozialen Netzwerken liest,
was die Menschen über die bekannteste Informationssendung des Landes
denken. Da ist von «Angstmacherei» die Rede, von «Corona-Lüge» und
«Einheitsgequassel». Die Freiheit der Bürger stehe auf dem Spiel. «Wenn
wir nicht handeln, wachen wir in einer Diktatur auf», schreibt ein User,
der die Schweiz mit Nordkorea vergleicht, was 129 Personen liken.
Dieses Stimmungsbild mag verzerrt sein, weil sich im Netz nur die Lauten
und Wütenden melden. Und doch geben die Äusserungen in der virtuellen
Welt Hinweise darauf, wie unzufrieden viele sind und wie weit die
«grosse Gereiztheit» gediehen ist, mit der der Medienwissenschafter
Bernhard Pörksen unsere Zeit umschreibt.
Silja Kornacher kann viel über diese Gereiztheit erzählen, weil sie ihr
seit Corona geballt begegnet. Kornacher leitet das Social-Media-Team bei
SRF-News. Dieses postet Texte und Videos auf Instagram, Facebook und
Twitter und liest alle Kommentare. «Wir sind während der Pandemie stark
gewachsen, auf Instagram haben wir über 50 Prozent mehr Follower.» In
dieser Zeit sei aber auch «der Ton rauer geworden», vieles müssten sie
zensurieren, weil es rassistisch oder gewaltverherrlichend sei «oder
weil die User falsche Informationen verbreiten». Jeder dritte Kommentar
auf der Website wird gar nicht erst veröffentlicht, weil er die
SRF-Netiquette verletzt.
Der Kommunikationswissenschafter Otfried Jarren glaubt trotzdem nicht,
dass die traditionellen Medien generell an Glaubwürdigkeit verloren
haben. Im digitalen Zeitalter würden Nutzer jedoch nach spezialisierten
Informationen suchen, was Massenmedien mit ihrem Fokus auf eine breite
Berichterstattung gar nicht leisten könnten. Sie würden zu sehr über
Institutionen berichten, sagt Jarren, und hätten sich damit allzu oft
«von der Lebenswelt der Menschen verabschiedet».
Die Mugglis gegen die «Fuckers»
Die Nacht bricht ein über Oerlikon. Andrea Vetsch, die mit Florian
Inhauser die «Tagesschau» moderiert, steht vor dem SRF-Gebäude und geht
nach Hause. Sie versuche mit jedem Bericht und jeder Moderation so nahe
wie möglich an die Lebenswelt ihrer Zuschauer zu gelangen. Sie frage
sich dann immer: «Interessiert das auch Herrn und Frau Muggli?»
Die Mugglis, das sind für Vetsch so etwas wie ihr Durchschnittspublikum,
interessierte, neugierige Menschen, die das Zeitgeschehen verfolgen. So
stellt sie sich die Mugglis vor: Sie leben gut, aber nicht in Saus und
Braus, und sie interessieren sich für lebensnahe Themen wie Arbeit,
Steuern, Kinderbetreuung und Altersvorsorge. Die Mugglis, sagt Vetsch,
trügen Sorge zu anderen Menschen und zur Umwelt. «Sie wollen verstehen.»
Es sind Vertreter einer idealen Schweiz, diese Mugglis, die Vetsch
erreichen will. Daniel Stricker hingegen will die «Fuckers». Beide
schwärmen von ihrem Publikum. Vetsch erzählt, wie sie von alten Damen
angesprochen werde, die sie vom Fernsehen kennen. Stricker sagt, er sei
kürzlich in Weinfelden gewesen, als ihm jemand zugerufen habe: «Hey
Fucker, weiter so!» Er lacht, während er sich daran erinnert. Dann fällt
ihm ein, wen er am liebsten als nächsten Studiogast hätte: einen
Journalisten der «Tagesschau». Einen wie den Inhauser. Oder wie die
Vetsch. Für seine «Fuckers» wäre das ein Fest.
(https://nzzas.nzz.ch/magazin/srf-institution-tagesschau-schlacht-um-die-wahrheit-ld.1563210)
—
tagesanzeiger.ch 27.06.2020
Grossaufgebot in Bern: Corona-Skeptiker und Gegendemonstranten halten Polizei auf Trab
Kritiker der Anti-Corona-Politik haben sich zu einer bewilligten
Kundgebung auf dem Bundesplatz versammelt. Das hat auch linke Kreise auf
den Plan gerufen.
Auf dem Berner Bundesplatz haben am Samstagnachmittag rund 300 Personen
gegen die vom Bund eingeschlagene Politik im Zusammenhang mit dem
Coronavirus demonstriert. Mobilisiert dazu hatte allen voran eine
Vereinigung mit dem Namen Bürgerforum Schweiz.
Das Forum kritisiert die vom Bundesrat ergriffenen Massnahmen gegen die
Ausbreitung des Coronavirus. «Weil das Volk Souverän ist wehren wir uns
gegen die weitgehend angstgetriebene Führung des Bundesrats» ist etwa
auf der Internetseite des Forums zu lesen.
Das Forum gruppiert sich um den umstrittenen ehemaligen Zürcher SVP-Mann
Daniel Regli, der auch Präsident des Vereins «Marsch fürs Läbe» ist,
der schon mehrfach Kundgebungen gegen Abtreibungen durchgeführt hat.
Die Skeptiker der bundesrätlichen Corona-Politik sind eine heterogene
Gruppe, zu der sich sowohl Personen Personen mit esoterischem
Hintergrund, Impfgegner, Betroffene des Lockdowns, aber auch
rechtskonservative Kreise zählen. Herumgeboten werden mitunter auch
gängige Verschwörungstheorien.
Die Corona-Skeptiker hatten bereits während des Lockdowns
verschiedentlich in Bern demonstriert, damals ohne Bewilligung. Für die
Veranstaltung am Samstag hatten sie eine solche eingeholt. Damit die
Teilnehmenden ohne Schutzmasken teilnehmen konnten, wurde die
Teilnehmerzahl begrenzt.
Drei Sektoren für je 300 Leute wären zur Verfügung gestanden, doch so
viele Teilnehmer kamen bei Weitem nicht. Das Häufchen von rund 300
Personen versammelte sich vor einer kleinen, mit einer grossen
Schweizerfahne behängten Bühne, wo Ansprachen gehalten wurden.
Gegendemonstration
Die Veranstaltung hatte am Samstag auch Gegendemonstranten aus
linksautonomen Kreisen auf den Plan gerufen. Rund 80 Personen zogen vom
Hirschengraben her zum Bundesplatz und skandierten lautstark
antifaschistische Parolen.
Vor dem Bundesplatz wurde der Zug von der Polizei aufgehalten. Die
Gegendemonstranten machten sich im Laufschritt davon, um andernorts in
der Nähe des Bundesplatzes erneut aufzutauchen – Ein Katz und Mausspiel
mit der Polizei.
Diese hatte den Bundesplatz schon vor Beginn der bewilligten Kundgebung
abgesperrt und verhinderte ein Zusammentreffen der beiden Lager.
(oli/sda)
(https://www.tagesanzeiger.ch/corona-skeptiker-und-gegendemonstranten-halten-polizei-auf-trab-649032223563)
—
„Wir finden eure Namen und dann gucken wir mal weiter“ Attila Hildmann droht Journalisten bei Corona-Demonstration
Bei einer Kundgebung gegen die Pandemie-Beschränkungen kam es am Samstag
zu einer Auseinandersetzung mit einem Presseteam. Die Polizei griff
nicht gleich ein.
https://www.tagesspiegel.de/berlin/wir-finden-eure-namen-und-dann-gucken-wir-mal-weiter-attila-hildmann-droht-journalisten-bei-corona-demonstration/25956998.html
-> https://www.morgenpost.de/berlin/polizeibericht/article229404810/Attila-Hildmann-bedroht-Journalisten-bei-Demonstration.html
-> https://www.spiegel.de/panorama/berlin-journalisten-auf-kundgebung-von-verschwoerungsideologen-angegriffen-a-a6bb0b63-da5b-4577-ba64-1e7c06c65426
+++HISTORY
NZZ am Sonntag 28.06.2020
Mit Blut und Schweiss: Wie Amerika und Europa dank der Sklaverei reich wurden
Ist die Sklaverei die Grundlage unseres Wohlstands? Darüber ist eine
heftige Debatte entbrannt. Der Menschenhandel habe eine historische
Bedeutung für die Entwicklung des Kapitalismus, schreiben zwei
Harvard-Forscher.
Sven Beckert und Pepijn Brandon
Solche Meldungen überraschen längst nicht mehr: Eine grosse Firma, eine
vermögende Familie, eine wichtige Institution war in den Sklavenhandel
verwickelt, hatte von der Sklavenarbeit profitiert. Allein letzte Woche
haben sich die Bank of England, die Lloyds Versicherungsgruppe und die
Greene King Brauerei formell dafür entschuldigt, dass ihre Gründer auch
dank der Sklaverei reich wurden. Jetzt versprechen sie finanzielle
Kompensationen.
Die Schweizer Familie Escher besass im 19. Jahrhundert eine
Kaffeeplantage auf Kuba, auf der Sklaven schuften mussten. Dies
bescherte den Eschers einen erheblichen Teil ihres Vermögens. Alfred
Escher erbte das Geld und verwendete es für den Bau der Gotthardbahn.
Forscher an der University of Cambridge in England und der Harvard
University in den USA untersuchen, wie ihre Hochschulen von der
Sklaverei profitierten und diese politisch und wissenschaftlich
stützten. Vor wenigen Tagen riss eine Menschenmenge im englischen
Bristol die Statue des einstigen Sklavenhändlers Edward Colston vom
Sockel.
Diese Beispiele zeigen: Europäische Unternehmer, die mit Sklaverei ein
Vermögen anhäuften, bestimmten die europäische Geschichte mit. Sie
betrachteten Investitionen in die Sklaverei als Teil ihres Portfolios.
Ironiefrei nannte der niederländische Bankier und Diplomat
schweizerischer Herkunft Daniel Hogguer eine Sklavenplantage im
südamerikanischen Surinam «Die Freiheit». Sorglos und heimatverbunden
bewirtschaftete sein Onkel eine Plantage namens «L’Helvétie».
In Europa glaubte man lange, die gewaltsame Verschleppung von 12,5
Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern in die Neue Welt sei eine
Geschichte gewesen, die wenig mit dem alten Kontinent zu tun gehabt
habe. Die Sklaverei erschien als unglückliche Episode, lange her, kaum
verbunden mit Europas wirtschaftlichem Aufstieg.
Gerne erinnert man sich an die europäische Rolle bei der Abschaffung der
Sklaverei. Jedoch nicht an den zentralen europäischen Beitrag bei der
Errichtung eines Systems, das von der Uno als «Verbrechen gegen die
Menschlichkeit» verurteilt wird.
Kapitalismus und Sklaverei
Europas Selbstwahrnehmung sah lang anders aus: Man sei reich geworden
wegen der ungewöhnlichen Kultur, dem vorteilhaften Klima, wegen Werten,
die Innovationskraft förderten, sowie Institutionen, die ein wahres
Feuerwerk an technischen Neuerungen hervorgebracht hätten. Erst in den
letzten Jahren begann dieses Bild der europäischen Moderne zu bröckeln.
Neuere Forschungen verweisen auf die historische Bedeutung der Sklaverei
bei der Entwicklung des globalen Kapitalismus.
Was nicht verwunderlich ist: Bereits die Sklavenbesitzer und die
Abolitionisten sprachen häufig über das symbiotische Verhältnis. Die
einen, um die Unmöglichkeit der Befreiung ihrer Sklaven zu begründen,
die anderen, um zu zeigen, wie tief der «freie» Teil der Welt mit dem
«unfreien» verwoben war.
172000 «Schweizer» Sklaven
Kein ernsthafter Historiker behauptet, die Sklavenwirtschaft sei die
einzige Quelle unseres Wohlstandes. Investitionen in die Sklavenökonomie
des 18. und 19. Jahrhunderts gingen Hand in Hand mit Investitionen in
andere Zweige der Wirtschaft.
Kolonialer Handel, der nicht auf der Sklaverei beruhte, die Enteignung
einer grossen Zahl europäischer Bauern und die Entwicklung des
europäischen Manufaktursektors spielten eine wichtige Rolle.
Bekannt ist jedoch, dass zwischen fünf und zehn Prozent des
Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den Küstenregionen des nordwestlichen
Europas auf Sklaverei beruhte – bedeutende Zahlen.
2018 trug beispielsweise die Automobilindustrie 7,7 Prozent zur
Wirtschaftsleistung Deutschlands bei, die Informationstechnologiebranche
6,8 Prozent zum BIP der USA.
Der schwedische Historiker Klas Rönnbäck hat errechnet, dass der
britische Sklavereikomplex Ende des 18. Jahrhunderts 10,8 Prozent des
britischen BIP entsprach.
Der französische Ökonom Guillaume Daudin schätzt, dass ohne den
interkontinentalen Handel, der zu einem bedeutenden Teil auf der
Sklaverei fusste, der Kapitalstock Frankreichs um 43 Prozent kleiner
gewesen und das Wirtschaftswachstum für das gesamte 18. Jahrhundert um
75 Prozent niedriger ausgefallen wäre.
Wirtschaftliche Aktivitäten, die auf Sklaverei beruhten, machten 1770
fünf Prozent des niederländischen BIP aus, in der reichsten Provinz
Holland über zehn Prozent. Fast 20 Prozent aller Güter, die über
niederländische Häfen gingen, hatten Sklaven produziert. In den Jahren
zwischen 1738 und 1779 generierte der atlantische Sklavensektor knapp
die Hälfte des Wirtschaftswachstums Hollands.
Sklaven produzierten im 18. Jahrhundert Massenkonsumgüter für die Märkte
Europas: Zucker, Kaffee und Tabak. Der auf Sklavenarbeit basierende
Transatlantikhandel wirkte sich direkt auf weitere Wirtschaftszweige
aus: Schwedische Eisenfabrikanten lieferten das sogenannte «voyage
iron», das an der westafrikanischen Küste als Tauschmittel für Sklaven
akzeptiert wurde; schlesische Manufakturen produzierten Leinen, das auf
Plantagen die Sklaven kleidete.
Selbst weit vom Atlantik entfernt stellten Unternehmer Kapital und
Leistungen für Sklavenhandel und Sklaverei: Der Historiker Thomas David
schätzt, dass Schweizer Kaufleute auf diese Weise am Handel von rund
172000 Sklaven beteiligt waren.
Im 19. Jahrhundert verbreitete sich die von Sklaven angebaute Baumwolle
in Europa. Sie stand am Anfang der industriellen Revolution und des
modernen Industriekapitalismus. Mitte des Jahrhunderts kamen über drei
Viertel der Baumwolle, die in europäischen Fabriken verarbeitet wurde,
aus den USA, fast ausnahmslos von versklavten Arbeitern angebaut,
geerntet, verpackt und verschifft. Davon hing auch die Schweizer
Textilindustrie ab.
Testfeld für die Buchhaltung
Die Bedeutung der Sklaverei für die wirtschaftliche Entwicklung Europas
geht weit über den rein quantitativen Aspekt hinaus. Weil
Sklavenplantagen zu den kapitalintensivsten Unternehmen jener Zeit
zählten, wurden sie zu einem Testfeld, etwa für die Buchhaltung und das
Management von Arbeitskräften. Sie waren zentral für Innovationen im
Finanzwesen und für die Entwicklung neuartiger Versicherungspraktiken.
Die Situation auf der anderen Seite des Atlantiks, in den USA, war
vergleichbar. Das rasante Wachstum der amerikanischen Wirtschaft im
19. Jahrhundert basierte einerseits auf der Industrie in den
Nordstaaten. Historiker haben aber den Mythos widerlegt, dass der
amerikanische Süden ein semifeudales Überbleibsel einer alten und
stagnierenden Welt gewesen sei.
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmte die Sklaverei in
vielerlei Hinsicht die US-Wirtschaft: Der Süden war ein wirtschaftlich
dynamischer Teil des Landes, seine Produkte stärkten die amerikanische
Position in der Weltwirtschaft. Die Region war ein wichtiger Markt für
die landwirtschaftliche und industrielle Produktion der Nordstaaten.
Mehr als die Hälfte aller Exporte der USA in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts bestand aus Baumwolle. Auf dem Mississippi verkehrten
mehr Dampfmaschinen, als in New England standen. Mehr Kapital war in
Sklaven angelegt als in der Industrie und der Eisenbahn. Der
wirtschaftliche Aufstieg von New York basierte zu einem grossen Teil
darauf, die Sklavenökonomie mit Krediten, Versicherungs- und
Transportdienstleistungen sowie industriellen Fertigwaren zu versorgen.
Lange Zeit ist unterschätzt worden, wie wichtig die Sklaverei für die
Entwicklung der nordatlantischen Wirtschaft war – und damit für das
Aufkommen des globalen Kapitalismus. Der Grund ist in der
weitverbreiteten Gleichsetzung des Kapitalismus mit der Entfaltung
menschlicher Freiheit zu sehen.
Es ist höchste Zeit, dass wir uns die Geschichte unseres Reichtums ohne
ideologische Scheuklappen ansehen – und verstehen, welchen bedeutenden
Beitrag die unbezahlte Arbeit vieler Generationen von versklavten
Afrikanern zum Wohlstand Europas und der USA beigetragen hat.
–
Sven Beckert lehrt an der Harvard University. Der deutsche Historiker
forscht zur Geschichte der USA und des Kapitalismus. 2015 erschien sein
Buch «King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus». Pepijn
Brandon lehrt Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Vrije
Universiteit in Amsterdam. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den
Verbindungen zwischen Krieg, Sklaverei und der Entwicklung des
Kapitalismus in den Niederlanden. Pepijn Brandon ist Assistenzprofessor
für Geschichte an der Freien Universität Amsterdam. Zur Zeit lehrt er
als Erasmus Lecturer of the History and Civilization of the Netherlands
and Flanders an der Harvard University.
(https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/wie-amerika-und-europa-dank-der-sklaverei-reich-wurden-mit-blut-und-schweiss-ld.1563544)