Medienspiegel 28. Juni 2020

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+++SCHWEIZ
NZZ am Sonntag 28.06.2020

Asyl: Bundesrat baut Stellen ab

Die Zahl der Gesuche sinkt – doch wegen des Drangs zu raschen Verfahren verstösst der Bund oft gegen gesetzliche Vorgaben

Lukas Häuptli

Beim Bund arbeiten fast 40 000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. 1100 von ihnen sind beim Staatssekretariat für Migration angestellt, unter ihnen 560 im Asylbereich. Die meisten hören Asylsuchende an, prüfen Dokumente und entscheiden über die eingereichten Gesuche.

Jetzt werden acht Prozent dieser Stellen gestrichen. «Der Bundesrat hat sich angesichts der anhaltend tiefen Zahl neuer Asylgesuche entschieden, die finanziellen Mittel für die Verlängerung von 45 befristeten Stellen im Staatssekretariat für Migration nicht zu sprechen», sagt Michaela Kozelka, Sprecherin des Justiz- und Polizeidepartements, zu dem das Staatssekretariat gehört. «Das bedeutet, dass diese bis Ende 2020 befristeten Verträge nicht verlängert werden und das Staatssekretariat für Migration diese Ressourcen abbauen muss.»

Die befristet angestellten Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen würden bis im Sommer darüber informiert, ob ihr Vertrag verlängert oder aufgelöst werde, sagt Kozelka weiter. Als flankierende Massnahme würden frei werdende Stellen im Staatssekretariat zunächst nur noch intern ausgeschrieben.

Die Zahl der Asylgesuche ist in praktisch allen europäischen Ländern seit dem Flüchtlingsjahr 2015 markant gesunken. Damals stellten in der Schweiz rund 40000 Asylsuchende ein Gesuch. Letztes Jahr waren es noch 14000.

Grund für den Rückgang ist in erster Linie die Abriegelung Europas an der griechisch-türkischen Grenze und auf dem Mittelmeer. Im laufenden Jahr wird die Zahl der Gesuche wegen der Corona-Pandemie und den damit verbundenen Grenzschliessungen nochmals deutlich sinken.

Wer ist am schnellsten?

Der Asylbereich des Bundes soll aber nicht nur schlanker, sondern auch schneller werden. Zu diesem Zweck war das Asylgesetz revidiert worden, das am 1. März 2019 in Kraft trat.

Seither ist die Schweiz in sechs Asylregionen aufgegliedert, und seither unterteilt das Staatssekretariat für Migration die eingehenden Asylgesuche in zwei Gruppen: Über die Gesuche der einen Gruppe wird in sogenannt beschleunigten Verfahren entschieden, über die der anderen in erweiterten.

In den beschleunigten Verfahren muss der Entscheid innert 29 Tagen fallen. Staatssekretär Mario Gattiker hatte angekündigt, dass künftig «die Mehrheit der Fälle» beschleunigt erledigt werde. Dazu hat er auch ein schweizweites Monitoring der Asylverfahren eingeführt.

«Zwischen den Asylregionen der Schweiz herrscht mittlerweile ein regelrechtes Wetteifern, wer am meisten Fälle in beschleunigten Verfahren erledigt», sagt ein Kadermitarbeiter des Staatssekretariats, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen will. «Dieses Wetteifern ist der Qualität der Asylentscheide aber nicht immer dienlich», fügt er an.

Das hat sich letzte Woche gezeigt: Da fällte das Bundesverwaltungsgericht ein Grundsatzurteil und erinnerte das Staatssekretariat daran, dass Asylgesuche in beschleunigten Verfahren nach spätestens 29 Tagen entschieden sein müssten.

Im Fall des iranischen Gesuchstellers, den das Gericht konkret beurteilte, dauerte es bis zum Entscheid allerdings 89 Tage. Ein solcher Fall hätte aber zwangsläufig in einem erweiterten Verfahren mit entsprechend längeren Fristen erledigt werden müssen, hielt das Bundesverwaltungsgericht fest.

Dieses Asylverfahren ist allerdings kein Einzelfall. Das Staatssekretariat für Migration kann die gesetzlich vorgeschriebene Frist nämlich auch in zahlreichen anderen beschleunigten Verfahren nicht einhalten.

In den Monaten vor der Corona-Pandemie dauerte ein solches Verfahren durchschnittlich 51 Tage, wie Lukas Rieder, Sprecher des Staatssekretariats, sagt. Das sind 12 Tage mehr als vorgeschrieben.

Bund reagiert auf Kritik

Rieder weist allerdings auch darauf hin, dass es gelungen sei, die Verfahren – verglichen mit der Zeit vor der Revision des Asylgesetzes – «erheblich» zu beschleunigen.

«Diesen Auftrag hat das Staatssekretariat für Migration klar erfüllt.» Er räumt aber ein: «Es besteht noch Optimierungspotenzial.» Deshalb habe das Staatssekretariat reagiert und «eine interne Praxisrichtlinie» erstellt. Diese berücksichtige unter anderem die Komplexität des Falles, die Verfahrensdauer, die Fristen und die Modalitäten rund um die Anhörungen.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/asyl-bundesrat-baut-stellen-ab-ld.1563565)
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/sinkende-asylzahlen-bund-will-beim-sem-zahlreiche-stellen-streichen-65732807


+++DEUTSCHLAND
Asylpolitik: Tausende Migranten klagen gegen Corona-Abschieberegelung
Die Bundesregierung will Asylbewerber auch weiterhin in andere EU-Länder überstellen können – durch Aussetzen einer Sechs-Monats-Frist. Dagegen gibt es nun Widerstand.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-06/asylpolitik-corona-krise-abschiebungen-migranten


+++FREIRÄUME
bernerzeitung.ch 28.06.2020

«Schütz»-Zukunft bleibt unklar: Anwohner zeigen sich solidarisch

Die Stadt Bern und der Verein Platzkultur müssen rasch neue Regeln für die Belebung der Schützenmatte festlegen. Verständnis seitens der Anwohner für die derzeitige Nutzung gibt es.

Christoph Hämmann

Die Berner Schützenmatte ist selbst dann ein Dauerbrenner, wenn grosse Teile der Reitschule Corona-bedingt geschlossen sind und die Zwischennutzung des ehemaligen Parkplatzes vor dem alternativen Kulturzentrum darniederliegt. Im Stadtparlament wurden in der laufenden Woche drei Vorstösse behandelt, in denen nach der Perspektive für die «Schütz» gefragt wird, nachdem Anfang April die Zwischennutzung abrupt beendet worden ist.

Vor gut zwei Wochen gab Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) an einem runden Tisch das Bekenntnis ab, dass der Platz weiterhin durch den Verein Platzkultur belebt werden soll. Doch noch immer sind die neuen Rahmenbedingungen unklar – und das eine Woche vor den Schulferien, während derer die Verwaltung höchstens noch auf Sparflamme köcheln wird.

Unterstützung erwünscht

Die Verantwortlichen des Vereins Platzkultur liessen während des Betriebs immer mal wieder durchblicken, dass sie sich von der Stadt mehr Unterstützung wünschten, etwa als im vergangenen Sommer immer mehr Gewaltprobleme auftraten. Nun äussert sich Christoph Ris vom Verein bloss zurückhaltend – mit der Stadt würden konstruktive Gespräche laufen, er sei «zuversichtlich, dass wir nächste Woche Klarheit haben und eine gute Lösung finden».

Allerdings zeigt die aktuelle Antwort des Gemeinderats auf eine Kleine Anfrage der SVP, dass der bisherige Betrieb des Projekts erst noch abgerechnet werden muss. Auf die Frage, auf wie viel der ihm vertraglich zugesicherten 450’000 Franken der Verein Platzkultur verzichten muss, da das Projekt nicht wie geplant bis Ende September 2021 fortdauert, schreibt der Gemeinderat: Es könne nicht von einer streng anteilsmässigen Abgeltung ausgegangen werden, da der Verein in den Sommermonaten jeweils überdurchschnittlich hohe Einnahmen erwirtschaftet hätte.

«Die Abrechnung des Projekts wird derzeit erarbeitet», heisst es in der Antwort weiter. «Der genaue Umfang der nicht erfolgten Abgeltung an den Verein Platzkultur wird daraus hervorgehen.» Und: «Für die künftige Bewartung des Platzes wird eine neue Regelung mit einer transparenten Finanzierung erarbeitet.»

Kontraproduktive Fundamentalopposition

Das Projekt beendet und kurzum abgerechnet, der künftige Bedarf: Platzwarte. Das klingt nicht wirklich nach der Perspektive, über die sich Christoph Ris zwei Wochen vorher freute. Ris sagt zu den Finanzen bloss, dass sein Verein es «unter widrigsten Bedingungen» geschafft habe, auf eine schwarze Null hinzuarbeiten.

Derweil warten die Teilnehmer des runden Tischs auf Taten, die den Worten des Stadtpräsidenten folgen – und auch im Altenberg wächst die Ungeduld. Schon im April, als die «Schütz»-Belebung aus ihrem Quartier vorerst gebodigt wurde, meldeten sich Anwohnerinnen und Anwohner auf allen Kanälen zu Wort, die für «einen anderen Altenberg» stehen. Ihre Darstellung: Einige wenige betreiben Fundamentalopposition – und verhalten sich damit kontraproduktiv gegenüber ihren eigenen Anliegen für eine ruhige Schützenmatte.

Besonders stossend finden Unterstützer des Projekts, dass die Einsprecher aus dem Altenberg freimütig zugeben, nichts gegen den geregelten Betrieb auf der Schütz zu haben – sondern gegen die Partys auf dem Vorplatz der Reitschule, gegen die sie juristisch aber nicht vorgehen können. «Man schlägt den Sack und meint den Esel», sagt die 38-jährige Anna Sommer, die daheim vom anderen Ende der Lorrainebrücke auf die Schützenmatte hinübersieht.

«Die Stadt hat in diesem Perimeter eine besondere Verantwortung», sagt Sommer, die als Projektleiterin arbeitet. Schützenmatte und Reitschule seien in Bern einmalige Freiräume, getragen von Menschen, die soziale Probleme entschärften und der Stadt damit viel Arbeit abnähmen. «Gäbe es diese Orte nicht mehr, würden sich die Probleme bloss verlagern», sagt Sommer. Dies wäre ihrer Ansicht nach aber gefährlich: «Der Perimeter hat eine gewisse Übersichtlichkeit, die Jugendliche schützt.»

Überborden darf auch mal sein

Ähnlich sieht das die 34-jährige Annina Grob, Co-Geschäftsleiterin bei Avenir Social und mit ihrer Familie wie Sommer an der Schänzlihalde wohnhaft. «Räume wie die Schützenmatte erlauben Jugendlichen, beim Erfahrungensammeln auch einmal zu überborden», sagt sie. Natürlich bringe es Schattenseiten mit sich, wenn ein Ort am Wochenende weit über Tausend Jugendliche anziehe, sagt Grob. «Aber genau diese versuchte der Verein Platzkultur abzufedern, für uns ist das Vorgehen der Einsprechenden deshalb wenig konstruktiv.»

Eine Brücke weiter, am nördlichen Kopf der Kornhausbrücke, leben Ursula Hirt und Peter Eichenberger. Sie wandten sich mit einem offenen Brief an den Altenberg-Leist und die Medien und warfen den Einsprechern vor, dass Toleranz, Solidarität und Dialog für diese «offenbar leider Fremdwörter» seien. Die 61-jährige Hirt sagt, sie lebe in einem privilegierten, ruhigen Quartier, in Fussdistanz zu den vielen urbanen Angeboten, die Bern lebenswert machten. «Es gehört doch dazu, dass man manchmal ein bisschen etwas hört.»

Von Graffenrieds Versprechen

Sommer, Grob, Hirt: Sie alle finden, dass es letztlich wenige Sommernächte seien, an denen wirklich Lärm von der Schützenmatte hinübergeweht werde. Selber seien sie auch an einem ruhigen Schlaf interessiert, und in aller Regel sei dieser auch an ihrer Wohnlage zu haben. «Die Bahnhofbaustelle war jedenfalls letzten Sommer lauter», sagt Sommer.

Sie habe es geschätzt, dass die Stadt vor einem Jahr die Bewohnerinnen und Bewohner des Altenbergs zu einer Veranstaltung eingeladen und um Verständnis für die «Schütz»-Belebung geworben habe. Leider habe Stadtpräsident von Graffenried die Ankündigung, dass der Dialog fortgesetzt werde, bisher nicht eingelöst. «Dabei wäre dies doch das Wichtigste», sagt Sommer: «dass die Stadt Verantwortung übernimmt und den ständigen Dialog pflegt.»

Sie habe recht, sagt Alec von Graffenried auf Anfrage: «Die Gespräche gingen zwar weiter, aber vor allem jene mit den Einsprechergruppen.» Der Plan, wieder eine grössere Runde einzuberufen, sei von Corona vereitelt worden. «Wir finden aber auch, dass dieser Dialog dringend nötig ist», so von Graffenried. Nach den Sommerferien werde das Treffen deshalb nachgeholt.
(https://www.bernerzeitung.ch/die-bahnhofbaustelle-war-lauter-185767458954)


+++GASSE
Klagen wegen Rave-Party auf Schützenmatte: Über 100 Lärmklagen wegen Party in Bern
Trotz Corona haben in der Nacht auf Sonntag in Bern Hunderte Party gefeiert – ohne Schutzkonzept. Am Morgen hat die Polizei die Musikanlage sichergestellt.
https://www.derbund.ch/ueber-100-laermklagen-wegen-party-in-bern-384382390613
-> https://www.20min.ch/story/hunderte-feiern-illegale-techno-party-ohne-corona-schutz-650124683354
-> https://www.nau.ch/ort/bern/bern-zahlreiche-larmklagen-wegen-party-vor-der-reitschule-65732945
-> https://www.blick.ch/news/schweiz/bern/zwei-anzeigen-ueber-100-laermklagen-wegen-party-in-bern-id15960234.html
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/hunderte-laermklagen-wegen-illegaler-techno-party-vor-berner-reitschule-138302797
-> https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=a9dd0970-d95e-4654-8adf-20b4d21f5793



bernerzeitung.ch 28.06.2020

Illegale Party in BernTrotz Corona feiern Hunderte eine Technoparty

In der Nacht auf Sonntag feierten mehrere Hundert Personen eine illegale Party vor der Reitschule in Bern. Die Kantonspolizei erhielt über hundert Lärmklagen. Sie liess die Partygänger gewähren.

Johannes Reichen

Es war eine laute Party, die Hunderte Personen auf der Berner Schützenmatte feierten. In der Nacht auf Sonntag gingen bei der Kantonspolizei Bern über hundert Lärmklagen ein. Die ersten Meldungen seien am Samstagabend eingegangen, sagt Polizeisprecher Dominik Jäggi. Im Verlauf der Nacht wurden es immer mehr. Sie kamen nicht nur aus der Stadt Bern, sondern auch aus Ittigen, Bolligen, Ostermundigen und Muri.

Die Technoparty begann am Samstagmittag und dauerte bis zum frühen Sonntagmorgen. Gemäss einem Augenzeugen, der den Vorplatz der Reitschule um vier Uhr morgens passierte, feierten dort mehrere Hundert Personen zusammen. «Sie ignorierten die Schutzmassnahmen und standen dicht beieinander», sagt er und fügt an: «Der Lärm, den die Party verursachte, war enorm.»

Die Polizei versuchte vor Ort, «den Lärm zu unterbinden». Das gelang aber nicht. Auch versuchte sie herauszufinden, wer die Party organisiert hatte. «Wir haben auch mehrmals das Kontakttelefon der Reitschule angerufen.» Auch das half nicht, die Veranstalter ausfindig zu machen. Die Polizei stehe dazu in weiteren Abklärungen. Gegenüber «20 Minuten» erklärte die Reitschule, sie sei nicht die Organisatorin des Anlasses gewesen.

Eskalation möglich gewesen

Die Polizei liess die Partygänger also gewähren. Gestützt auf die Beurteilung der Einsatzkräfte, hätte eine sofortige Intervention zu einer Eskalation und damit zur Gefährdung der zahlreichen anwesenden Personen geführt, sagt Jäggi. Am Sonntagmorgen habe die Musikanlage dann sichergestellt werden können. Zwei Personen wurden auf eine Polizeiwache gebracht und angezeigt. Neben dem Tatbestand der Ruhestörung werde auch geprüft, ob ein Verstoss gegen die Covid-19-Verordnung vorliegt, so Jäggi.

Er weist zudem darauf hin, dass für Teilnehmende einer Party betreffend den Abstandsempfehlungen des Bundes primär Eigenverantwortung gilt. Bussen gebe es hier nicht mehr. Demgegenüber gelten für Organisatoren von Anlässen Vorschriften bezüglich Corona. Die Polizei stehe nun auch in Kontakt mit der Stadt Bern und dem Regierungsstatthalteramt, die für Veranstaltungen in ihrem Gebiet zuständig sind.

Kritik von der Gesundheitsdirektion

Kritik äussert Gundekar Giebel, Sprecher der kantonalen Gesundheitsdirektion. «Die Durchführung einer solchen Veranstaltung widerspricht allen Anstrengungen, die die Schweiz in den vergangenen vier Monaten unternommen hat, um das Virus einzudämmen.» Bevölkerung, Politik und Wirtschaft seien dabei erfolgreich gewesen, sodass Lockerungen hätten gewährt werden können. «Die Leute scheinen aber zu vergessen, dass das Virus immer noch genau gleich vorhanden ist.» Wer sich nicht an die Regeln halte und dem Virus erneut so viele Möglichkeiten biete, sich unkontrolliert zu verbreiten, mache alles bisher Erreichte zunichte.

Bärendienst fürs Nachtleben

Die Berner Bar- und Clubkommission (Buck) erhielt im Vorfeld Informationen über die Party. Demnach sollte sie um Mitternacht beendet sein. Sie dauerte dann aber deutlich länger – bis in die Morgenstunden. Auf der einen Seite habe er Verständnis für diese Party, sagt Buck-Geschäftsführer Max Reichen. «Eigentlich bin ich etwas verwundert, dass es so lange gedauert hat bis zu einer solch grossen illegalen Party.» Kleinere habe es hingegen schon gegeben. Das zeige, dass die Jugendlichen Verständnis hätten für die Massnahmen gegen das Coronavirus.

«Auf der anderen Seite aber erweisen uns illegale Partys einen Bärendienst.» Zum einen wegen des Coronavirus, denn dort fehlten, anders als in Clubs und Bars, Schutzkonzepte. «Es gibt keine Präsenzlisten, sodass man nicht weiss, wer dort gewesen ist.» Und zum anderen wegen des betroffenen Perimeters Schützenmatte und Reitschule: «Es gibt Leute, die differenzieren nicht und werfen alle in einen Topf.» Das führe dann etwa dazu, dass Stimmung gegen demokratisch abgestützte Projekte wie jenes des Vereins Platzkultur auf der Schütz gemacht werde.

Reichen glaubt dennoch nicht, dass die Party Folgen für die Buck und das Berner Nachtleben hat. «Wir werden jetzt sicher nicht in Aktivismus verfallen», sagt er. Wenn die Politik aber ein Bedürfnis habe, darauf zu reagieren, «werden wir zur Verfügung stehen». Und er sagt, dass Bern die gute Tradition kenne, dass nach Eskalationen etwas Gutes entstehe. Wie bei der «Tanz dich frei»-Party 2013, aus der das Nachtlebenkonzept hervorging.
(https://www.bernerzeitung.ch/ueber-hundert-klagen-wegen-musiklaerm-708484106517)



Süchtige, Obdachlose und mittendrin die Sip Züri – wenn Corona ganz unten ankommt
Drogen trotz geschlossenen Grenzen, Geld trotz Lockdown, obdachlos sein trotz Pandemie – die Coronakrise trifft Randständige in der Schweiz hart. Soziale Einrichtungen tun ihr bestes, um den Schwächsten im Land zu helfen. Ein Spaziergang durch die Unterschicht der Stadt Zürich.
https://www.watson.ch/schweiz/coronavirus/781082280-coronakrise-die-sip-bei-den-randstaendigen-in-zuerich


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Ein Blick in die kurdische Diaspora in Zürich
Immer wieder erscheinen Schlagzeilen über militärische Angriffe auf kurdische Gebiete. Dieser Konflikt, der so fern erscheinen mag, trägt sich aber auch hier aus. Wie Kurd*innen in der Schweiz das Geschehen im nahen Osten beeinflussen möchten und warum sich die schweizerische Bevölkerung daran beteiligen sollte, erklären Asmin Dersim* und Roni Amed*.
https://tsri.ch/zh/ein-blick-die-kurdische-diaspora-zurich/


+++POLIZEI BS
Basler Zeitung 28.06.2020

40 Schwarze treffen 6 Polizisten: Und plötzlich versteht man sich

Ein Treffen im Klybeck schafft es, die Fronten zwischen Polizisten und Dunkelhäutigen so sehr aufzuweichen, dass sich am Ende Letztere bei Ersteren bedanken.

Katrin Hauser

Das Bild, das sich am Samstagnachmittag im Kleinbasel bietet, ist ein ungewohntes. Denn für einmal sind es nicht die sechs Polizisten, die gekommen sind und Fragen stellen, sondern rund 40 Dunkelhäutige. So klein der Rahmen der Veranstaltung des Vereins Migranten helfen Migranten ist, so gross sind die Themen. Es geht um Rassismus, es geht um Machtmissbrauch und um Ungerechtigkeit. Der Anlass im Innenhof eines ehemaligen Novartis-Gebäudes hätte durchaus das Potenzial, die Fronten noch mehr zu verhärten. So ist es aber nicht. Im Gegenteil: Die beiden Seiten beginnen, einander besser zu verstehen.

Gegen Ende des Anlasses sucht Jimmy, der an diesem Tag die wohl rassistischste Erfahrung mit der Polizei teilte, den Beamten Michel Hostettler auf. Er möchte sich bei ihm bedanken.

Dass dies so enden würde, war nicht von Anfang an klar. Es ist 15 Uhr, auf den Tischen liegen Flipcharts, und Jimmy, der seinen Nachnamen und sein Gesicht nicht in der Zeitung sehen möchte, erzählt seine Geschichte zum ersten Mal einem Polizisten. Michel Hostettler ist sichtlich betroffen, setzt zu einer Erklärung an, doch in diesem Moment öffnet sich die Diskussion, und Jimmy wiederholt das Gesagte – dieses Mal vor versammelter Menge.

«Als ich 2005 mein Geschäft im Gundeli eröffnete, wollte ich am Wettsteinplatz ein paar Flyer verteilen. Plötzlich tauchten Polizisten auf. Sie nahmen mich mit, ich verstand nicht, wieso. Auf dem Claraposten musste ich meine Kleider ablegen und wurde dort in eine Zelle gesperrt. Ich verstand immer noch nicht, wieso. Zu Hause wartete meine Frau. Alles, was ich getan hatte, war, ein paar Flyer zu verteilen. Ich war fertig mit der Welt. So fertig, dass ich heftig zu weinen begann. Eine Polizistin öffnete das kleine Fenster zu meiner Zelle.» Er habe gedacht, sie würde ihm vielleicht helfen, hätte ein nettes Wort für ihn übrig. Was sie stattdessen getan habe: «Sie streckte mir die Zunge heraus.»

Entrüsteter Polizist

Die Augen der Besucher wandern zu Polizist Michel Hostettler und fokussieren nun den Mann, der das rechtfertigen muss. Er sagt zunächst: «Mir geht es schlecht, wenn ich diese Geschichte höre.» Das Problem sei, dass dieser Vorfall zu weit zurückliege, um zu überprüfen, ob er so stimme. «Oftmals haben solche Geschichten zwei Seiten.» Dann aber scheint er seine Meinung zu ändern und tut etwas Unerwartetes. Er sagt zu Jimmy: «Ich glaube Ihnen das.» Ein wichtiger Moment für die Versammelten, vielleicht der Moment, in dem das Eis bricht.

Einer aber auch, in dem sich Hostettler nun rechtfertigen muss, wie eine Kollegin auf die Idee kommt, einem offensichtlich verzweifelten Menschen die Zunge herauszustrecken: «Wissen Sie, es ist teilweise nicht einfach, in diesen Momenten auf dem Posten zu sein. Ich war auch schon in dieser Situation: Morgens um zwei Uhr, man muss Rapport schreiben, in der einen Zelle tritt jemand ständig gegen die Tür, schreit ‹Schyss Polizei!›, in einer anderen Zelle versucht sich jemand mit einem Pullover zu erhängen.» Letztlich würden unter den blauen Polizeiuniformen auch einfach nur Menschen stecken.

Und so beginnen die Menschen in den blauen Westen, mit den Menschen dunkler Hautfarbe zu sprechen. Die grosse Frage der Dunkelhäutigen ist: «Wieso müssen wir für etwas büssen, das andere getan haben? Weshalb werden wir öfter kontrolliert, auch wenn wir kein Delikt begangen haben?»

Die Gegenfrage von Polizist Sacha Lüthi lautet: «Weshalb sind wir Polizisten die Schuldigen und nicht die Straftäter aus euren Ländern?» Würde er nach Afrika auswandern, und da wären zehn weitere Schweizer, die dauernd Mist bauen würden, wäre er doch auf diejenigen wütend. Es sei ausserdem das gute Recht jedes Kontrollierten, nach dem Grund der Durchsuchung zu fragen. Auf dem Gesicht des Nigerianers John breitet sich ein zynisches Lächeln aus: «Dann kommt die Antwort: normale Kontrolle.» Das sei es oft auch, beteuert Lüthi. «Aber wenn der Kontrollierte schon bei der ersten Frage mit ‹Das geht dich nichts an!› antwortet, wird es nicht gerade einfacher.»

Weisse Gutmenschen

Die Beamten des Basler Justiz- und Sicherheitsdepartements sprechen an diesem Samstagnachmittag nicht so, wie sie es normalerweise tun, wenn Medien dabei sind. Vielleicht haben sie keine erwartet, vielleicht ist es ihnen dieses eine Mal einfach egal. In der Menge sitzt ihr Mediensprecher Toprak Yerguz, als Zuschauer. Abgesehen von der Vorstellungsrunde, sagt er kein Wort, mischt sich weder in die Diskussion ein, noch greift er ein, als Lüthi etwas später im Gespräch mit der BaZ sagt: «Ich vermeide es, wenn es irgendwie geht, jemand Dunkelhäutiges zu kontrollieren.» Sofort stehe man unter Rassismusverdacht. Besonders mühsam seien ausserdem weisse Gutmenschen, die ungefragt hinzukommen würden, um sich einzumischen. «Das passiert in Basel häufig.»

Weisse Aktivisten mit allzu extremen Tendenzen stossen auch bei Alima Diouf, die den Event organisiert hat, nicht gerade auf Begeisterung: «Sie verhindern, dass wir eine Lösung mit der Polizei finden. Sie glauben, sie könnten die Probleme besser beurteilen als wir, die betroffen sind.» Im Vorfeld hätten sich ein paar Personen, die sich radikal gegen Racial Profiling einsetzen würden, bei ihr gemeldet. «Ich habe sie ausgeladen», sagt die Gründerin des Vereins Migranten helfen Migranten.

Alima Diouf hat zusammen mit der Polizei einen kleinen Handy-Aufkleber entwickelt, der Tipps gibt, wie man sich verhalten soll, wenn man kontrolliert wird. Sie ist mit vielen Beamten per Du. Die Basler Grenzkontrolle habe bereits angekündigt, dass sie ebenfalls einen solchen Workshop durchführen wolle, sagt sie, während sich die ersten Besucher verabschieden.

Die sechs Polizisten sind noch da. Standen sie zu Beginn noch abseits und unter ihresgleichen, sind sie nun in Gespräche mit Nigerianern, Somaliern, Senegalesen und weiteren Leuten aus dem mittleren und südlichen Afrika vertieft.
(https://www.bazonline.ch/und-ploetzlich-versteht-man-sich-195473804509)


+++POLIZEI DE
Rassismus in der Polizei: „Die gesamte Polizei stemmt sich gegen Aufklärung“
Bei der Polizei gebe es Rassisten und auch Reichsbürger, sagte Polizeisoziologe Rafael Behr im Dlf. Eben alles, was es in der Bevölkerung auch gebe. Das wäre auch kein Problem, wenn es Strukturen gäbe, die dies frühzeitig erkennen und abstellen würden. Diese Strukturen erkenne er derzeit aber nicht.
https://www.deutschlandfunk.de/rassismus-in-der-polizei-die-gesamte-polizei-stemmt-sich.694.de.html?dram:article_id=479470


Wir müssen den Rechtsstaat vor der Polizei beschützen
Es kann keine Demokratie geben ohne Kritik an der Polizei.
https://www.vice.com/de/article/5dzd9k/wir-mussen-den-rechtsstaat-vor-der-polizei-beschutzen


+++POLICE USA
Tear Gas | Knowledge Exchange
Let’s be clear about this. Tear gas is a weapon of terror which is used to intimidate and disperse. It is neither a “none lethal” nor “less lethal” option.
https://enoughisenough14.org/2020/06/28/tear-gas-knowledge-exchange/


+++CRYPTO AG
derbund.ch 27.06.2020

Wie die Schweiz Codes knackt: Der gute Lauschangriff

Durch manipulierte Chiffriergeräte der Crypto AG erhielt die Schweiz wertvolle Informationen. Doch die Dimension der Abhöraktion ist noch viel grösser.

Kurt Pelda

Nach mehr als 18 Monaten in libyscher Geiselhaft schreibt der Schweizer Max Göldi Anfang Februar 2010 einen Brief an die damalige Aussenministerin Micheline Calmy-Rey. Darin bittet er die SP-Bundesrätin, in den anstehenden Verhandlungen mit dem Regime von Diktator Muammar al-Ghadhafi Zugeständnisse zu machen. Er und die zweite Schweizer Geisel, Rachid Hamdani, hoffen immer noch auf ihre Freilassung. «Ich flehe Sie an, die dafür notwendigen Konzessionen gegenüber Libyen zu machen und damit unserem Leid endlich ein Ende zu setzen.»

Göldi lebt zu dieser Zeit zwangsweise isoliert in Tripolis. Ghadhafi lässt Hamdani und ihn nicht aus dem Land. In der Schweizer Botschaft hat Göldi Zugang zu einem Raum mit einem Sender, der verschlüsselte Nachrichten nach Bern übermittelt. Es ist ein Gerät vom Typ TC-007 der Firma Crypto AG in Steinhausen ZG. Diese Chiffriergeräte stehen auch heute noch in Schweizer Vertretungen rund um den Globus im Einsatz.

Verschlüsselte Nachrichten über Satellit

Was Göldi nicht weiss: Während die Libyer seine Funksprüche nicht entschlüsseln können, hören die Schweizer den über Satellit abgewickelten Verkehr zwischen der libyschen Botschaft in Bern und Tripolis ab. Und nicht nur das: Schweizer Kryptologen sind auch in der Lage, die libyschen Codes zu knacken.

Libyen war ein wichtiger Kunde der Crypto AG, die sich lange Zeit im Besitz des amerikanischen Auslandsgeheimdienstes CIA und des deutschen Bundesnachrichtendienstes befand. Für den Export bestimmte Chiffriergeräte wurden mit absichtlich geschwächten Algorithmen ausgestattet – also Rechenregeln, die Klartext in Code umwandeln. Die so manipulierten Geräte verkaufte die Crypto AG an mehr als hundert ahnungslose Staaten. Weil die Kryptologen in der Führungsunterstützungsbasis der Schweizer Armee die Schwächen in den Algorithmen kannten, konnten sie chiffrierte Nachrichten mit leistungsfähigen Computersystemen knacken, obwohl sich die verwendeten Schlüssel nicht in ihrem Besitz befanden.

Eine grosse Blamage erspart?

Ein Insider, der damals im Abhörzentrum im bernischen Zimmerwald an der Libyen-Aktion beteiligt war, sagt heute, dass die Libyer in der Geiselaffäre gar keine Crypto-Geräte benützt hätten. Andere Quellen meinen, dass Tripolis Chiffriermaschinen des Regensdorfer Unternehmens Gretag verwendete, nachdem in den späten Achtzigerjahren Zweifel an der Zuverlässigkeit der Crypto-Geräte aufgekommen waren. Ab 1991 hatte die Gretag aber ebenfalls amerikanische Besitzer. Ausserdem war die CIA angeblich durch einen Diplomaten Ghadhafis in die Verschlüsselungstechniken der libyschen Gretag-Maschinen eingeweiht worden. Es ist deshalb höchstwahrscheinlich, dass auch Zimmerwald Nachrichten mit diesen Geräten dechiffrieren konnte.

In der Geiselaffäre war der Lauschangriff auf die Libyer für die Freilassung von Max Göldi matchentscheidend, wie sich ein anderer Insider ausdrückt. Laut einer dritten, ebenfalls gut unterrichteten Quelle erfuhr die Schweiz durch die Abhöraktion, dass Libyen ohnehin vorhatte, Göldi am Ende ausreisen zu lassen. Dadurch wurde eine vom Bund und der Armee geplante Kommandoaktion zur Befreiung der Geiseln obsolet. Zuvor war sie ernsthaft erwogen worden. Allerdings bekamen Ghadhafis Leute Wind von den Plänen, wohl weil sich der damalige Schweizer Botschafter in Libyen in einer unverschlüsselten E-Mail dazu geäussert hatte. Dank der Abhöraktion blieb der Schweiz eine riskante Militäroperation erspart und vielleicht eine grosse Blamage.

Details über Geiselnehmer

Entscheidende Hinweise hat Zimmerwald auch in mindestens einem anderen Geiseldrama geliefert, und zwar bei der Entführung einer Adliswiler SP-Gemeinderätin und ihres Ehemanns Anfang 2009. Die beiden wurden von islamistischen Terroristen in der malischen Sahara verschleppt. Die Kryptologen konnten hier über Satellit abgewickelte Telefongespräche oder Datenpakete abfangen.

Populär sind in der Sahara zum Beispiel Satellitentelefone der arabischen Marke Thuraya, auch bei Terroristen. Die Geräte kommunizieren über Satelliten der amerikanischen Firma Boeing, weshalb man davon ausgehen kann, dass die amerikanischen Dienste genau wissen, wie man diese Verbindungen abhört und knackt. Dieses Wissen scheinen sich auch die Schweizer Kryptologen angeeignet zu haben.

Bei der Geiselnahme der zwei ausgebildeten Berner Polizisten David Och und Daniela Widmer in Pakistan 2011 leisteten die Abhörspezialisten ebenfalls wertvolle Hilfe, etwa bei der Lokalisierung der von den Taliban verschleppten Schweizer und bei der Beschaffung von Informationen über die Geiselnehmer.
(https://www.derbund.ch/der-gute-lauschangriff-733121261616)


+++RASSISMUS
Rassismus gegen FCZ-Stürmer: Jetzt ist die Mohrenkopf-Debatte im Fussball gelandet
Während der FC St. Gallen heftig auf die rassistische Beleidigung des FCZ-Stürmers Aiyegun Tosin reagiert, bleiben die Zürcher sehr still.
https://www.bernerzeitung.ch/jetzt-ist-der-mohrenkopf-im-fussball-gelandet-629039381814


Luzerner über (versteckten) Rassismus im Alltag: «Viele meinen, Rassismus gegenüber Asiaten sei legitim»
«Black Lives Matter», schreien die Menschen weltweit. Dabei geht vergessen: Auch Asiaten sind von Rassismus betroffen. Wir haben mit einem betroffenen Luzerner gesprochen.
https://www.zentralplus.ch/viele-meinen-rassismus-gegenueber-asiaten-sei-legitim-1829631/


+++RECHTSEXTREMISMUS
„Schulter an Schulter gegen Faschismus“
Bis zu 1500 Menschen demonstrieren am Samstag in Wien gegen die faschistischen Grauen Wölfe. Im Anschluss wurde ein Journalist mutmaßlich von Faschisten angegriffen und verletzt. Der Vor-Ort-Bericht und die Bildergalerie zum Protest.
https://www.bonvalot.net/schulter-an-schulter-gegen-faschismus-832
-> https://www.derstandard.at/story/2000118367666/kurdischer-journalist-nach-demo-in-wien-angegriffen-und-verletzt?ref=rss


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Das FBI stuft sie als Terrorgefahr ein: Rechte Verschwörungs-Sekte breitet sich in der Schweiz aus
QAnon will die angebliche «Elite» stürzen. Im Zuge der Corona-Krise gewann die Verschwörungsbewegung massiv an Zulauf. SonntagsBlick-Recherchen zeigen: Ihr grösster deutschsprachiger Kanal wird aus der Schweiz heraus betrieben.
https://www.blick.ch/news/schweiz/das-fbi-stuft-sie-als-terrorgefahr-ein-rechte-verschwoerungs-sekte-breitet-sich-in-der-schweiz-aus-id15960173.html



NZZ am Sonntag 28.06.2020

Der Kampf um die Wahrheit: Alle gegen die «Tagesschau»

Selten hatte die «Tagesschau» höhere Einschaltquoten als während der Corona-Zeit. Und selten so viele Kritiker, Gegner und Hasser. Der Informationskrieg spitzt sich zu.

Sacha Batthyany und Katharina Bracher

Es ist kurz nach zehn Uhr, ein Freitagmorgen im Juni, als Florian Inhauser in sein Auto steigt. Das Radio ist aus, das Handy verstaut. Er möge diese Ruhe auf dem Weg zur Arbeit, sagt er. Die Ruhe vor dem Informationssturm.

Inhauser ist einer von vier Moderatoren der «Tagesschau», des Informationsflaggschiffs des Schweizer Fernsehens. Als er vor ein paar Wochen, am 19. März, die Zuschauer begrüsste, sahen ihm rund 1,5 Millionen Menschen zu. Jeder vierte Deutschschweizer. Mit dem Ausbruch der Pandemie stiegen die Quoten auf Rekordhöhe. Das Informationsbedürfnis sei immens, «zum ersten Mal in meinem Leben habe ich über etwas berichtet, das ausnahmslos und unmittelbar alle betrifft», sagt Inhauser. «Die ‹Tagesschau› wurde wieder zum Lagerfeuer der Nation.»

25 Minuten hat Florian Inhauser Zeit, um die News des Tages zu verkünden, «so viel zum Stand der Dinge», sagt er am Ende jeder Sendung, bevor er die Blätter vor sich bündelt, während die Musik einsetzt. Inhauser ist bekannt für seine Eloquenz und sein akzentfreies Hochdeutsch, was ihm, im Unterschied zu so manchem Bundesrat, den er schon interviewte, etwas Weltmännisches verleiht.

Aggressive Wutbürger

«Es geht darum», sagt er, «dass man sich an die Fakten hält und präzise ist», das sei das Wichtigste. Aber um diese Fakten wird gestritten und gezerrt, wie vielleicht noch nie in diesem Land. Ein Unmut breitet sich aus, nicht nur gegenüber der «Tagesschau», sondern gegenüber allen traditionellen Medien, zu denen auch diese Zeitung gehört.

Und es sind nicht nur aggressive Wutbürger, die auf Twitter herumpöbeln und das Schweizer Fernsehen als «linksversifftes Pack» abkanzeln. Die gibt es auch – und nicht zu knapp. Dazu gesellen sich neuerdings aber gemässigtere Kreise, die ihr Unbehagen leiser formulieren und die kultivierter auftreten, aber im Kern dasselbe tun: an der Institution sägen.

Der Medienwissenschafter Bernhard Pörksen spricht von einem neuen «Lügenpresse-light-Milieu», das die Glaubwürdigkeit traditioneller Medien immer häufiger infrage stelle. Das Coronavirus hat die Menschen zwar vor den Bildschirmen ver­­sammelt, doch was sie sehen und hören, gefällt vielen nicht.

Inhausers Fahrt von seinem Wohnort in Erlenbach bis ins Fernsehstudio in Oerlikon dauert eine halbe Stunde und ist wie eine Reise durch die verschiedenen sozialen Milieus dieses Landes: Erst kommen die Villen am Zürichsee mit ihren weiss gebleachten Terrassen, dann die Bauernhöfe, später die Einfamilienhäuschenschweiz auf der Forch mit den Golden-Retriever-Mamas, bis Inhauser ab Dübendorf nur mehr an grauen Überbauungen vorbeifährt, auf deren Balkonen sich das Altglas häuft.

Bis in die nuller Jahre hielt das Fernsehen diese verschiedenen Milieus zusammen. Egal, ob man auf dem Land lebte oder in der Stadt, ob man Vegetarierin war oder Mitglied eines Jodelchors, um 19 Uhr 30 versammelte man sich zur «Tagesschau», wie in einer Kirche. Durch das Aufkommen des Internets aber hat diese Lagerfeuerfunktion gelitten. Als plötzlich alles nur noch einen Klick entfernt war, sank die Quote, weil die Vegetarier und Jodler und Stadtneurotiker begannen, sich um verschiedene Feuer zu setzen.

Florian Inhauser bindet sich im Parkhaus eine Maske um, seit Corona ist das in den SRF-Gebäuden Pflicht, und fährt mit dem Lift in den neuen Newsroom, wo normalerweise ein reges Gewusel herrschen würde. Doch viele der Tische sind leer, die Bildschirme schwarz; weil die meisten im Home-Office arbeiten, wirkt das hier wie ein verwaistes Flughafengate. Inhauser wird in den nächsten Stunden an seinen Moderationstexten arbeiten und Interviews mit Korrespondenten vorbereiten, bis er um halb acht Uhr abends im dunkelblauen Anzug in die Kamera lächeln und sagen wird: «Guten Abend, meine Damen und Herren. Willkommen zur ‹Tagesschau›.»

Wachhund der traditionellen Medien

Keine fünfzig Kilometer vom Newsroom des Schweizer Fernsehens entfernt, im thurgauischen Tobel, sitzt ein Mann in seiner Küche, der von sich behauptet, die «echte Tagesschau» auszustrahlen. «Ich bin das Anti-Lagerfeuer», sagt Daniel Stricker, der auch äusserlich wenig mit Inhauser teilt: Stoppelbart, zerzauste Frisur, Kapuzenpullover. Er ist Betreiber seines eigenen Internet-Videokanals Stricker.tv, auf dem er seine Zuschauer mit den Worten begrüsst: «Liebe Fuckers», so nennt er seine Fans und Freunde und meint das liebevoll. Oft singt er noch eine Strophe der amerikanischen Hymne, Land of the free, Home of the brave!, während Rugeli durchs Bild läuft, eine Katze älteren Jahrgangs, die ihm vor Jahren zugelaufen ist.

«It’s like a fucking flu. Corona ist wie eine Grippe», lautet Strickers Verdikt über die Pandemie. Dass diese Aussage von der Fachwelt bestritten wird, stört ihn nicht. Er beruft sich auf eine Minderheit von umstrittenen Epidemiologen, die andere Schlüsse ziehen. Im Unterschied zur Redaktion der «Tagesschau», die auf die Recherche und Gewichtung von Nachrichten fokussiert, kommentiert Stricker, was andere berichten. Er ist eine Art Wachhund der traditionellen Medien, Stricker sieht sich als «Aufklärer», wobei ihm seine Wahrnehmung als alleiniger Gradmesser dient.

Täglich durchforstet er die Berichterstattung nach angeblichen Widersprüchen. Er lese alles, sagt er, gemäss seinem Motto «Know your enemy» auch Medien, die er eigentlich verachtet – darunter den «Spiegel». Stricker nennt das deutsche Nachrichtenmagazin unverblümt «ein Drecksblatt», weil es etwa sämtliche positiven Informationen über die Präsidentschaft Donald Trumps ignoriere, weil es einseitig über Wladimir Putin und Boris Johnson berichte und damit die Spaltung der Gesellschaft befeuere.

Auch die SRF-Informationssendungen hätten ein «abgrundtief schlechtes Niveau», was in der Corona-Krise deutlich geworden sei, behauptet er. «Die ‹Tagesschau› macht Hofberichterstattung der Regierung.» Sie habe die Zahlen der Behörden heruntergebetet, ohne sich kritisch damit auseinanderzusetzen. Über die Massnahmen gegen die Pandemie sei nie diskutiert worden. Auch den anderen Medien wirft Stricker Fahrlässigkeit vor. «Sie schüren Panik, statt aufzuklären.» Von der Wahrheit über Corona seien sie weit entfernt.

Der Wahrheit? Strickers Wahrheit? Warum sollte man eher ihm trauen als den traditionellen Medien? Mit dieser oder ähnlichen Fragen haben Stricker schon einige Journalistinnen konfrontiert. Meistens seien sie ihm nicht mit Wohlwollen begegnet und hätten ihm zu Unrecht die Nähe zu Verschwörungstheoretikern vorgeworfen. «Ich spreche mit allen – aber bin ich deshalb automatisch wie sie?»

Statt die traditionellen Medien als «Lügenpresse» zu bezeichnen, spricht Stricker lieber von «Lückenpresse», was ohnehin korrekter sei. «Gelogen wird ja eher selten», räumt Stricker ein. Aber Informationen, die nicht genehm seien, würden unterdrückt, behauptet er. SRF sei ein gutes Beispiel für ein «Lückenmedium». Der Chefredaktor selbst habe in einem Video gesagt, «abstrusen» Meinungen zu Corona räume man keinen Platz ein. «Ich dachte, die Wissenschaft entscheide, was abstrus ist? Bei SRF ist es der Chefredaktor!»

Bergamo in Endlosschlaufe

Natürlich hat dieser Stricker im Vergleich zur «Tagesschau» nur wenige Zuschauer, rund 3000 Abonnenten, um genau zu sein, «keine schlechte Reichweite für einen, der gerade erst begonnen hat», findet Stricker, doch er ist Teil einer wachsenden globalen Bewegung gegen die etablierten Medien.

In der Schweiz gibt es inzwischen unzählige Strickers, von «Uncut-News» über «New Swiss Journal» bis zu «Anti-Corona-Depro», die aus ihren Küchen und Kellern alles Mögliche berichten und kom­mentieren. Es sind keine Journalisten, zumindest nicht im herkömmlichen Sinne, die meisten haben weder eine Ausbildung noch Erfahrung in diesem Bereich, dafür ein grosses Ego und ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Kein Wunder, sind es fast ausschliesslich Männer, die auf Websites und Youtube-Channels verkünden, wie die Welt funktioniert und wie dem Virus beizukommen wäre. Abwägen und Hinterfragen? Nicht so ihr Ding. Datenanalyse? Fehlanzeige. Investigativrecherche? Ein Fremdwort.

In vielen der sogenannten Alternativmedien wird vor allem behauptet, die wahre Wahrheit zu kennen: Hinter den Anschlägen auf die Twin-Towers steckt die CIA; hinter dem Corona­virus Bill Gates. Überhaupt gibt es für alles einen klaren Schuldigen, und wenn es nicht 5G ist, dann ist es das Weltjudentum.

Manche Vertreter dieser Alternativmedien haben einen rassistischen oder antisemitischen Hintergrund oder sind derart verblendet, dass man sie am besten gar nie erwähnen würde. Aber eben nicht alle. Rechtsradikale, Anthroposophen und Impfgegner in einen Topf zu werfen und zu behaupten, es handle sich bloss um eine Auswahl irrer Verschwörungstheoretiker, hiesse, genau das zu tun, was Verschwörungstheoretiker tun: pauschalisieren und vereinfachen.

Kriegsrhetorik als Selbstverständlichkeit

Und möglicherweise ist ja auch etwas dran an Strickers Kritik, die etablierten Medien hätten zu einseitig berichtet und den Bundesrat zu wenig kritisch hinterfragt. Von den insgesamt 513 Beiträgen der «Tagesschau» im März und April befassten sich 436 mit dem Coronavirus, wie eine Auswertung zeigt – eine gewisse thematische Verengung ist nicht von der Hand zu weisen.

Kritik an der Berichterstattung kommt auch aus der Wissenschaft. Und sie ist verblüffend deckungsgleich mit der Medienkritik, die Stricker.tv und andere alternative Medienkanäle verbreiten. Der Kommunikationswissenschafter Otfried Jarren meint, das öffentlich-rechtliche Fernsehen hätte durch verdichtete Berichterstattung die Pandemie zu einer Krise stilisiert, auf die es nur eine Antwort gebe. «Der Eindruck der Alternativlosigkeit bei Mass­nahmen entstand. Unterschiedliche Positio­­nen wie Lösungsansätze kamen zunächst nicht vor.»

Jarren hat die Berichterstattung von ARD und ZDF zu Beginn der Pandemie untersucht, doch einige seiner Befunde liessen sich durchaus auf die Schweiz anwenden. Aufgefallen ist Jarren unter anderem, mit welcher Selbstverständlichkeit eine gewisse Kriegsrhetorik in den Medien verwendet wurde. Viele Bilder wurden mangels Alternativen in Endlosschlei­fe gezeigt: die Lastwagen von Bergamo, die nachts die Leichen abtransportieren; schwerkranke Menschen an der Beatmungsmaschine. Diese Bilder hätten nicht der sachlichen Aufklärung gedient, sondern der emotionalen Zuspitzung. «Daraus ist ein überzogenes Angstgefühl entstanden», sagt Jarren. Ausserdem hätten die Medien einzelne Epidemiologen zu «Stars» aufgebaut, statt auf eine Vielfalt von Experten zu setzen.

In den ersten Wochen des Shutdown hätten die Medien ausserdem ihre Wächterfunktion vernachlässigt, sagt Jarren. «Journalismus darf sich gerade in einer solchen Situation nicht ins Home-Office zurückziehen.»

Star der Szene

Es ist Zeit für den Studiogast. Daniel Stricker, der selbsternannte Aufklärer, verlässt seine Küche und setzt sich in seinen Tesla S, um den heimlichen Star unter den Corona-Skeptikern abzuholen: Christof Ruckli, ein Kommunika­tionsberater und ehemaliger Primarlehrer, betreibt den Videokanal «Anti-Corona-Depro», der viel Beachtung gewann. Die beiden Männer verbindet die Skepsis gegenüber der offiziellen Version der Pandemie. Vom Typ her sind sie grundverschieden. «Im Gegensatz zu mir fluchst du ja nie in deiner Sendung», sagt Stricker zu Ruckli, der zur Antwort nickt. «Ich bin eher so der Bünzli.»

In Strickers Studio, einem winzigen Raum in einem Mehrfamilienhaus, wird das Interview mit Ruckli aufgezeichnet. Assistiert wird den beiden von einem Angestellten, der auch für Strickers Immobilienfirma tätig ist. Er übernimmt die Regie. Stricker und Ruckli sitzen in tiefen Sesseln vor einer Holzwand, zwischen ihnen steht ein Beistelltisch in der Form eines Totenschädels.

«Wie soll ich dich eigentlich nennen?», fragt Stricker kurz vor Sendebeginn. «Bist du ein Video-Blogger?» Doch Ruckli verwirft die Hände, er weiss auch nicht genau, was er ist. «Mir egal», sagt er. Dann gibt der Assistent ein Zeichen, und schon begrüsst Stricker seine «Fuckers» vor dem Bildschirm mit vollem Enthusiasmus.

Es ist 13 Uhr, als Strickers Interview mit Ruckli aufgezeichnet wird – eine Art Informationsparallelgesellschaft mit eigenen Studiogästen und einer immer grösseren Anhängerschaft. Im SRF, auf der anderen Seite sozusagen, läuft derweil das Mittagsjournal.

Vor dem Fernseher einschlafen

«Tagesschau»-Moderator Florian Inhauser sitzt an einem seiner freien Tage auf der Terras­­se neben seiner Frau Katja Stauber, die bis vor wenigen Wochen ebenfalls vor der Kamera stand. «Die Kritik an uns und unserer Arbeit hat in der Masse sicher zugenommen, was mit der Digitalisierung zu tun hat. Musste man früher noch einen Zuschauerbrief auf die Post bringen, kann man heute seinen Ärger jederzeit per Smartphone loswerden», sagt Stauber, die heute als Produzentin der «Tagesschau» arbeitet, was bedeutet, dass sie für die Inhalte und Abläufe zuständig ist, die Längen und die Reihenfolge – und auch die Moderationen ihres Mannes.

Stauber beobachtet auch in ihrem privaten Umfeld eine skeptischere Haltung gegenüber ihrer Sendung, immer häufiger höre sie die Frage, warum über dies, aber nicht über jenes berichtet werde. «Früher haben sich die Zuschauer über bunte Krawatten genervt oder zu viel Lippenstift.» Heute komme eine inhaltliche Auseinandersetzung hinzu, was zwar richtig sei, sagt Stauber, «nur bringen viele Zuschauer die Sendungen durcheinander und behaupten Dinge, die einfach nicht stimmen. Neulich schrieb mir einer, ich sei im Vorstand der WHO und somit für eine neutrale Corona-Berichterstattung ungeeignet.»

Vor mehr als 65 Jahren, am 29. August 1953, erschien die «Tagesschau» zum ersten Mal und berichtete über die Eröffnung des Flughafens in Zürich und die Radweltmeisterschaften. Der inhaltliche Schwerpunkt galt damals nicht der Politik, sondern der Unterhaltung, man zeigte Menschen auf gefrorenen Seen und besuchte Messen.

Erst Ende der sechziger Jahre rückten die «Hard News» aus Politik und Wirtschaft ins Zentrum. Bald galt die «Tagesschau» als wichtigste Informationsquelle, sendete Korrespondentenberichte und Live-Interviews. Aus Moderatoren wie Léon Huber wurden Promis, deren Gesichter sich mit den damaligen politischen Ereignissen verwoben. Als Charles Clerc sich 1987 in der Hauptausgabe ein Kondom über den Finger rollte, errötete die halbe Schweiz vor den damals noch voluminösen Flimmerkästen.

«Ich war mir meines Bekanntheitsgrads damals nicht bewusst. Wir zelebrierten das nicht», sagt Clerc heute. Er ist 77 Jahre alt, seine Stimme zu hören, ist wie eine Zeitreise in die neunziger Jahre. Plötzlich sieht man das alte Signet von damals vor sich und hört Clerc die Worte sagen, für die er damals bekannt war: «Und zum Schluss noch dies . . .»

Er habe einfach seinen Job erledigt, sagt Clerc, der heute das Radio dem Fernsehen vorzieht, weil er vor dem Gerät immer mit dem Schlaf kämpfe. Kritik an der Sendung drang selten bis zu ihm, von «Fake-News» und «Lügenpresse» sprach damals noch nie­mand. Und wenn es Polemik gab, dann entsprang sie Akademikern, die vor der schädlichen Verführungskraft der Bilder warnten. «Wir amüsieren uns zu Tode», lautete die vielzitierte, aber längst überholte Kritik des Medienwissenschafters Neil Postman. Das Fernsehen sei «ein Nullmedium», meinte Hans Magnus Enzensberger – doch da wusste er noch nicht, was Social Media mit der Welt alles anrichten würden.

Angst vor «Deep fakes»

«Wir sind nicht unantastbar. Und das ist auch gut so», sagt Regula Messerli, Redaktionsleiterin der «Tagesschau», in ihrem Wohnzimmer, das ihr in Corona-Zeiten als Büro dient. An allen Institutionen werde gerade gerüttelt, nicht nur am Fernsehen. Ihr Ziel aber sei in jeder Ausgabe, «dass die Zuschauer mehr als die reinen News erfahren, denn die kennen sie abends um halb acht bereits. Sie sollen ausserdem spüren, wie sehr wir uns in die Materie hineinknien», sagt sie zwischen Zoom-Sitzungen, in denen sie die nächsten Sendungen konzipiert.

Im Vergleich zu früher seien die Zuschauer «misstrauischer» geworden, sagt Messerli, was das Fernsehen dazu zwinge, sich mehr zu öffnen und zu erzählen, wie die Beiträge zustande kommen – oder ganze Sendungen, wie die Kritik an der «Arena» Mitte Juni über Rassismus zeigt. Pascal Weber, Nahostkorrespondent des Schweizer Fernsehens, sagt: «Wir müssen mehr tun, um unsere Arbeit zu rechtfertigen.» Er erscheine in seinen Berichten aus entlegenen Orten nicht deshalb immer wieder im Bild, «weil ich meinen Kopf im Fernsehen zeigen möchte, sondern um zu beweisen, dass ich tatsächlich vor Ort bin», damit niemand an der Echtheit zweifle.

Die Herkunft der Bilder gibt immer wieder Anlass zu Spekulationen. Donald Trump hat den «Fake-News»-Begriff so schamlos oft benutzt und salonfähig gemacht, dass nun jeder, dem ein Beitrag nicht passt, von «Fake-News» spricht. Dabei gibt es heute sehr viel mehr Kontrollen als früher. Das meiste Bildmaterial vom Ausland etwa stamme von der European Broadcast Union (EBU), einem Zusammenschluss von 72 Rundfunkanstalten, sagt Regula Messerli. Wer also in Zürich an einem «Tagesschau»-Bericht über die Corona-Pandemie in Brasilien arbeitet, verwendet nicht wahllos Bilder aus dem Internet, sondern Files, die von der EBU überprüft wurden.

Dazu kommt, dass sich das Schweizer Fernsehen eine neue Faktencheck-Abteilung leistet, die aus fünfzehn Angestellten besteht, mehr als die Gesamtredaktion vieler Lokalzeitungen, und die sich unter anderem auf die Verifizierung von Bildmaterial spezialisiert hat. Die Abteilung entstand aus der Angst vor sogenannten «Deep Fakes», manipulierten Videos, in denen man Personen Worte in den Mund legt, die sie so nie gesagt haben und die dabei täuschend echt aussehen. «Deep Fakes» haben in unserer dünnhäutigen Zeit, in der sich jede Woche eine neue Welle der Empörung entlädt, enormes destruktives Potenzial. Das beweist ein Blick in die USA, wo eine ganze Alternativmedien-Industrie davon lebt, Videos zu publizieren, ohne sie zuvor zu verifizieren.

Alex Jones etwa, der Betreiber von «Infowars», ist unter den wütenden rechtsnationalen Hetzern der Lauteste und erreicht mit seinem Gebrüll Millionen. In seiner Zeit als Moderator behauptete er nicht nur, dass die US-Regierung hinter den Terroranschlägen in New York stehe; er hielt auch das Schulmassaker in Newtown für eine Zeitungsente und für Propaganda der Waffengegner. Jones ist unerträglich, nicht weil er Unsinn verbreitet, das tun andere auch, sondern weil er Hass sät und skrupellos ist. Und damit viel Geld verdient.
Ist die Zeit des Lagerfeuers vorbei?

Natürlich sind Daniel Stricker oder Christof Ruckli nicht mit Alex Jones vergleichbar. Aber liest man die vielen Kommentare unter dem Video ihres Interviews, die eigentlich alle dasselbe aussagen, nämlich dass hier endlich zwei die Wahrheit sagen, dann stellt sich schon die Frage, wohin das führt, wenn innerhalb einer Gesellschaft unterschiedliche Fakten kursieren, mit denen sich jede Gruppe ihre eigene Wahrheit zimmert.

Ist die Corona-Krise nur ein Vorbote künftiger «Infowars», die auf uns zukommen? Oder anders gefragt: Ist die Idee der «Tagesschau» als Lagerfeuer, um das sich die Bewohner eines Landes artig und widerspruchslos drapieren, längst überholt?

Diesen Eindruck gewinnt man, wenn man in den sozialen Netzwerken liest, was die Menschen über die bekannteste Informationssendung des Landes denken. Da ist von «Angstmacherei» die Rede, von «Corona-Lüge» und «Einheitsgequassel». Die Freiheit der Bürger stehe auf dem Spiel. «Wenn wir nicht handeln, wachen wir in einer Diktatur auf», schreibt ein User, der die Schweiz mit Nordkorea vergleicht, was 129 Personen liken.

Dieses Stimmungsbild mag verzerrt sein, weil sich im Netz nur die Lauten und Wütenden melden. Und doch geben die Äusserungen in der virtuellen Welt Hinweise darauf, wie unzufrieden viele sind und wie weit die «grosse Gereiztheit» gediehen ist, mit der der Medienwissenschafter Bernhard ­Pörksen unsere Zeit umschreibt.

Silja Kornacher kann viel über diese Gereiztheit erzählen, weil sie ihr seit Corona geballt begegnet. Kornacher leitet das Social-Media-Team bei SRF-News. Dieses postet Texte und Videos auf Instagram, Facebook und Twitter und liest alle Kommentare. «Wir sind während der Pandemie stark gewachsen, auf Instagram haben wir über 50 Prozent mehr Follower.» In dieser Zeit sei aber auch «der Ton rauer geworden», vieles müssten sie zensurieren, weil es rassistisch oder gewaltverherrlichend sei «oder weil die User falsche Informationen verbreiten». Jeder dritte Kommentar auf der Website wird gar nicht erst veröffentlicht, weil er die SRF-Netiquette verletzt.

Der Kommunikationswissenschafter Otfried Jarren glaubt trotzdem nicht, dass die traditionel­len Medien generell an Glaubwürdigkeit verloren haben. Im digitalen Zeitalter würden Nutzer jedoch nach spezialisierten Informationen suchen, was Massenmedien mit ihrem Fokus auf eine breite Berichterstattung gar nicht leisten könnten. Sie würden zu sehr über Institutionen berichten, sagt Jarren, und hätten sich damit allzu oft «von der Lebenswelt der Menschen verabschiedet».

Die Mugglis gegen die «Fuckers»

Die Nacht bricht ein über Oerlikon. Andrea Vetsch, die mit Florian Inhauser die «Tagesschau» moderiert, steht vor dem SRF-Gebäude und geht nach Hause. Sie versuche mit jedem Bericht und jeder Moderation so nahe wie mög­lich an die Lebenswelt ihrer Zuschauer zu ge­langen. Sie frage sich dann immer: «Interessiert das auch Herrn und Frau Muggli?»

Die Mugglis, das sind für Vetsch so etwas wie ihr Durchschnittspublikum, interessierte, neugierige Menschen, die das Zeitgeschehen verfolgen. So stellt sie sich die Mugglis vor: Sie leben gut, aber nicht in Saus und Braus, und sie interessieren sich für lebensnahe Themen wie Arbeit, Steuern, Kinderbetreuung und Altersvorsorge. Die Mugglis, sagt Vetsch, trügen Sorge zu anderen Menschen und zur Umwelt. «Sie wollen verstehen.»

Es sind Vertreter einer idealen Schweiz, diese Mugglis, die Vetsch erreichen will. Daniel Stricker hingegen will die «Fuckers». Beide schwärmen von ihrem Publikum. Vetsch erzählt, wie sie von alten Damen angesprochen werde, die sie vom Fernsehen kennen. Stricker sagt, er sei kürzlich in Weinfelden gewesen, als ihm jemand zugerufen habe: «Hey Fucker, weiter so!» Er lacht, während er sich daran erinnert. Dann fällt ihm ein, wen er am liebsten als nächsten Studiogast hätte: einen Journalisten der «Tagesschau». Einen wie den Inhauser. Oder wie die Vetsch. Für seine «Fuckers» wäre das ein Fest.
(https://nzzas.nzz.ch/magazin/srf-institution-tagesschau-schlacht-um-die-wahrheit-ld.1563210)



tagesanzeiger.ch 27.06.2020

Grossaufgebot in Bern: Corona-Skeptiker und Gegendemonstranten halten Polizei auf Trab

Kritiker der Anti-Corona-Politik haben sich zu einer bewilligten Kundgebung auf dem Bundesplatz versammelt. Das hat auch linke Kreise auf den Plan gerufen.

Auf dem Berner Bundesplatz haben am Samstagnachmittag rund 300 Personen gegen die vom Bund eingeschlagene Politik im Zusammenhang mit dem Coronavirus demonstriert. Mobilisiert dazu hatte allen voran eine Vereinigung mit dem Namen Bürgerforum Schweiz.

Das Forum kritisiert die vom Bundesrat ergriffenen Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. «Weil das Volk Souverän ist wehren wir uns gegen die weitgehend angstgetriebene Führung des Bundesrats» ist etwa auf der Internetseite des Forums zu lesen.

Das Forum gruppiert sich um den umstrittenen ehemaligen Zürcher SVP-Mann Daniel Regli, der auch Präsident des Vereins «Marsch fürs Läbe» ist, der schon mehrfach Kundgebungen gegen Abtreibungen durchgeführt hat.

Die Skeptiker der bundesrätlichen Corona-Politik sind eine heterogene Gruppe, zu der sich sowohl Personen Personen mit esoterischem Hintergrund, Impfgegner, Betroffene des Lockdowns, aber auch rechtskonservative Kreise zählen. Herumgeboten werden mitunter auch gängige Verschwörungstheorien.

Die Corona-Skeptiker hatten bereits während des Lockdowns verschiedentlich in Bern demonstriert, damals ohne Bewilligung. Für die Veranstaltung am Samstag hatten sie eine solche eingeholt. Damit die Teilnehmenden ohne Schutzmasken teilnehmen konnten, wurde die Teilnehmerzahl begrenzt.

Drei Sektoren für je 300 Leute wären zur Verfügung gestanden, doch so viele Teilnehmer kamen bei Weitem nicht. Das Häufchen von rund 300 Personen versammelte sich vor einer kleinen, mit einer grossen Schweizerfahne behängten Bühne, wo Ansprachen gehalten wurden.

Gegendemonstration

Die Veranstaltung hatte am Samstag auch Gegendemonstranten aus linksautonomen Kreisen auf den Plan gerufen. Rund 80 Personen zogen vom Hirschengraben her zum Bundesplatz und skandierten lautstark antifaschistische Parolen.

Vor dem Bundesplatz wurde der Zug von der Polizei aufgehalten. Die Gegendemonstranten machten sich im Laufschritt davon, um andernorts in der Nähe des Bundesplatzes erneut aufzutauchen – Ein Katz und Mausspiel mit der Polizei.

Diese hatte den Bundesplatz schon vor Beginn der bewilligten Kundgebung abgesperrt und verhinderte ein Zusammentreffen der beiden Lager.

(oli/sda)
(https://www.tagesanzeiger.ch/corona-skeptiker-und-gegendemonstranten-halten-polizei-auf-trab-649032223563)



„Wir finden eure Namen und dann gucken wir mal weiter“ Attila Hildmann droht Journalisten bei Corona-Demonstration
Bei einer Kundgebung gegen die Pandemie-Beschränkungen kam es am Samstag zu einer Auseinandersetzung mit einem Presseteam. Die Polizei griff nicht gleich ein.
https://www.tagesspiegel.de/berlin/wir-finden-eure-namen-und-dann-gucken-wir-mal-weiter-attila-hildmann-droht-journalisten-bei-corona-demonstration/25956998.html
-> https://www.morgenpost.de/berlin/polizeibericht/article229404810/Attila-Hildmann-bedroht-Journalisten-bei-Demonstration.html
-> https://www.spiegel.de/panorama/berlin-journalisten-auf-kundgebung-von-verschwoerungsideologen-angegriffen-a-a6bb0b63-da5b-4577-ba64-1e7c06c65426


+++HISTORY
NZZ am Sonntag 28.06.2020

Mit Blut und Schweiss: Wie Amerika und Europa dank der Sklaverei reich wurden

Ist die Sklaverei die Grundlage unseres Wohlstands? Darüber ist eine heftige Debatte entbrannt. Der Menschenhandel habe eine historische Bedeutung für die Entwicklung des Kapitalismus, schreiben zwei Harvard-Forscher.

Sven Beckert und Pepijn Brandon

Solche Meldungen überraschen längst nicht mehr: Eine grosse Firma, eine vermögende Familie, eine wichtige Institution war in den Sklavenhandel verwickelt, hatte von der Sklavenarbeit profitiert. Allein letzte Woche haben sich die Bank of England, die Lloyds Versicherungsgruppe und die Greene King Brauerei formell dafür entschuldigt, dass ihre Gründer auch dank der Sklaverei reich wurden. Jetzt versprechen sie finanzielle Kompensationen.

Die Schweizer Familie Escher besass im 19. Jahrhundert eine Kaffeeplantage auf Kuba, auf der Sklaven schuften mussten. Dies bescherte den Eschers einen erheblichen Teil ihres Vermögens. Alfred Escher erbte das Geld und verwendete es für den Bau der Gotthardbahn.

Forscher an der University of Cambridge in England und der Harvard University in den USA untersuchen, wie ihre Hochschulen von der Sklaverei profitierten und diese politisch und wissenschaftlich stützten. Vor wenigen Tagen riss eine Menschenmenge im englischen Bristol die Statue des einstigen Sklavenhändlers Edward Colston vom Sockel.

Diese Beispiele zeigen: Europäische Unternehmer, die mit Sklaverei ein Vermögen anhäuften, bestimmten die europäische Geschichte mit. Sie betrachteten Investitionen in die Sklaverei als Teil ihres Portfolios.

Ironiefrei nannte der niederländische Bankier und Diplomat schweizerischer Herkunft Daniel Hogguer eine Sklavenplantage im südamerikanischen Surinam «Die Freiheit». Sorglos und heimatverbunden bewirtschaftete sein Onkel eine Plantage namens «L’Helvétie».

In Europa glaubte man lange, die gewaltsame Verschleppung von 12,5 Millionen Afrikanerinnen und Afrikanern in die Neue Welt sei eine Geschichte gewesen, die wenig mit dem alten Kontinent zu tun gehabt habe. Die Sklaverei erschien als unglückliche Episode, lange her, kaum verbunden mit Europas wirtschaftlichem Aufstieg.

Gerne erinnert man sich an die europäische Rolle bei der Abschaffung der Sklaverei. Jedoch nicht an den zentralen europäischen Beitrag bei der Errichtung eines Systems, das von der Uno als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» verurteilt wird.

Kapitalismus und Sklaverei

Europas Selbstwahrnehmung sah lang anders aus: Man sei reich geworden wegen der ungewöhnlichen Kultur, dem vorteilhaften Klima, wegen Werten, die Innovationskraft förderten, sowie Institutionen, die ein wahres Feuerwerk an technischen Neuerungen hervorgebracht hätten. Erst in den letzten Jahren begann dieses Bild der europäischen Moderne zu bröckeln. Neuere Forschungen verweisen auf die historische Bedeutung der Sklaverei bei der Entwicklung des globalen Kapitalismus.

Was nicht verwunderlich ist: Bereits die Sklavenbesitzer und die Abolitionisten sprachen häufig über das symbiotische Verhältnis. Die einen, um die Unmöglichkeit der Befreiung ihrer Sklaven zu begründen, die anderen, um zu zeigen, wie tief der «freie» Teil der Welt mit dem «unfreien» verwoben war.

172000 «Schweizer» Sklaven

Kein ernsthafter Historiker behauptet, die Sklavenwirtschaft sei die einzige Quelle unseres Wohlstandes. Investitionen in die Sklavenökonomie des 18. und 19. Jahrhunderts gingen Hand in Hand mit Investitionen in andere Zweige der Wirtschaft.

Kolonialer Handel, der nicht auf der Sklaverei beruhte, die Enteignung einer grossen Zahl europäischer Bauern und die Entwicklung des europäischen Manufaktursektors spielten eine wichtige Rolle.

Bekannt ist jedoch, dass zwischen fünf und zehn Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den Küstenregionen des nordwestlichen Europas auf Sklaverei beruhte – bedeutende Zahlen.

2018 trug beispielsweise die Automobilindustrie 7,7 Prozent zur Wirtschaftsleistung Deutschlands bei, die Informationstechnologiebranche 6,8 Prozent zum BIP der USA.

Der schwedische Historiker Klas Rönnbäck hat errechnet, dass der britische Sklavereikomplex Ende des 18. Jahrhunderts 10,8 Prozent des britischen BIP entsprach.

Der französische Ökonom Guillaume Daudin schätzt, dass ohne den interkontinentalen Handel, der zu einem bedeutenden Teil auf der Sklaverei fusste, der Kapitalstock Frankreichs um 43 Prozent kleiner gewesen und das Wirtschaftswachstum für das gesamte 18. Jahrhundert um 75 Prozent niedriger ausgefallen wäre.

Wirtschaftliche Aktivitäten, die auf Sklaverei beruhten, machten 1770 fünf Prozent des niederländischen BIP aus, in der reichsten Provinz Holland über zehn Prozent. Fast 20 Prozent aller Güter, die über niederländische Häfen gingen, hatten Sklaven produziert. In den Jahren zwischen 1738 und 1779 generierte der atlantische Sklavensektor knapp die Hälfte des Wirtschaftswachstums Hollands.

Sklaven produzierten im 18. Jahrhundert Massenkonsumgüter für die Märkte Europas: Zucker, Kaffee und Tabak. Der auf Sklavenarbeit basierende Transatlantikhandel wirkte sich direkt auf weitere Wirtschaftszweige aus: Schwedische Eisenfabrikanten lieferten das sogenannte «voyage iron», das an der westafrikanischen Küste als Tauschmittel für Sklaven akzeptiert wurde; schlesische Manufakturen produzierten Leinen, das auf Plantagen die Sklaven kleidete.

Selbst weit vom Atlantik entfernt stellten Unternehmer Kapital und Leistungen für Sklavenhandel und Sklaverei: Der Historiker Thomas David schätzt, dass Schweizer Kaufleute auf diese Weise am Handel von rund 172000 Sklaven beteiligt waren.

Im 19. Jahrhundert verbreitete sich die von Sklaven angebaute Baumwolle in Europa. Sie stand am Anfang der industriellen Revolution und des modernen Industriekapitalismus. Mitte des Jahrhunderts kamen über drei Viertel der Baumwolle, die in europäischen Fabriken verarbeitet wurde, aus den USA, fast ausnahmslos von versklavten Arbeitern angebaut, geerntet, verpackt und verschifft. Davon hing auch die Schweizer Textilindustrie ab.

Testfeld für die Buchhaltung

Die Bedeutung der Sklaverei für die wirtschaftliche Entwicklung Europas geht weit über den rein quantitativen Aspekt hinaus. Weil Sklavenplantagen zu den kapitalintensivsten Unternehmen jener Zeit zählten, wurden sie zu einem Testfeld, etwa für die Buchhaltung und das Management von Arbeitskräften. Sie waren zentral für Innovationen im Finanzwesen und für die Entwicklung neuartiger Versicherungspraktiken.

Die Situation auf der anderen Seite des Atlantiks, in den USA, war vergleichbar. Das rasante Wachstum der amerikanischen Wirtschaft im 19. Jahrhundert basierte einerseits auf der Industrie in den Nordstaaten. Historiker haben aber den Mythos widerlegt, dass der amerikanische Süden ein semifeudales Überbleibsel einer alten und stagnierenden Welt gewesen sei.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestimmte die Sklaverei in vielerlei Hinsicht die US-Wirtschaft: Der Süden war ein wirtschaftlich dynamischer Teil des Landes, seine Produkte stärkten die amerikanische Position in der Weltwirtschaft. Die Region war ein wichtiger Markt für die landwirtschaftliche und industrielle Produktion der Nordstaaten.

Mehr als die Hälfte aller Exporte der USA in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestand aus Baumwolle. Auf dem Mississippi verkehrten mehr Dampfmaschinen, als in New England standen. Mehr Kapital war in Sklaven angelegt als in der Industrie und der Eisenbahn. Der wirtschaftliche Aufstieg von New York basierte zu einem grossen Teil darauf, die Sklavenökonomie mit Krediten, Versicherungs- und Transportdienstleistungen sowie industriellen Fertigwaren zu versorgen.

Lange Zeit ist unterschätzt worden, wie wichtig die Sklaverei für die Entwicklung der nordatlantischen Wirtschaft war – und damit für das Aufkommen des globalen Kapitalismus. Der Grund ist in der weitverbreiteten Gleichsetzung des Kapitalismus mit der Entfaltung menschlicher Freiheit zu sehen.

Es ist höchste Zeit, dass wir uns die Geschichte unseres Reichtums ohne ideologische Scheuklappen ansehen – und verstehen, welchen bedeutenden Beitrag die unbezahlte Arbeit vieler Generationen von versklavten Afrikanern zum Wohlstand Europas und der USA beigetragen hat.


Sven Beckert lehrt an der Harvard University. Der deutsche Historiker forscht zur Geschichte der USA und des Kapitalismus. 2015 erschien sein Buch «King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus». Pepijn Brandon lehrt Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Vrije Universiteit in Amsterdam. Sein Forschungsschwerpunkt liegt auf den Verbindungen zwischen Krieg, Sklaverei und der Entwicklung des Kapitalismus in den Niederlanden. Pepijn Brandon ist Assistenzprofessor für Geschichte an der Freien Universität Amsterdam. Zur Zeit lehrt er als Erasmus Lecturer of the History and Civilization of the Netherlands and Flanders an der Harvard University.
(https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/wie-amerika-und-europa-dank-der-sklaverei-reich-wurden-mit-blut-und-schweiss-ld.1563544)