Medienspiegel 13. September 2019

+++SCHWEIZ
Trotz Volks-Ja: SVP-Angriff auf Baukredit – Bundesasylzentrum Altstätten ist im Nationalrat umstritten
Im Nationalrat wehrt sich die SVP gegen den 43-Millionen-Baukredit für das Bundesasylzentrum Altstätten – obwohl das Volk dem Vorhaben zugestimmt hat.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/trotz-volks-ja-svp-angriff-auf-baukredit-bundesasylzentrum-altstaetten-ist-im-nationalrat-umstritten-ld.1151423


+++DEUTSCHLAND
Zivile Seenotrettung vor deutschen Gerichten
Das NGO-Schiff „Mare Liberum“ darf weiterhin ausfahren
https://verfassungsblog.de/zivile-seenotrettung-vor-deutschen-gerichten/


+++BALKANROUTE
In Bosnien baut sich eine neue Migrationskrise auf – und bald wird es kalt
Die Kleinstadt Bihac an der Grenze zu Kroatien sieht sich durch die steigende Zahl von Migranten überfordert. Viele lagern in improvisierten Camps oder unter freiem Himmel. Der nahende Winter setzt Helfer und Verantwortliche unter Handlungsdruck.
https://www.watson.ch/international/eu/588341718-im-nordwesten-bosniens-baut-sich-eine-neue-migrationskrise-auf
-> https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/in-bosnien-baut-sich-eine-neue-migrationskrise-auf-und-der-winter-steht-vor-der-tuer-135615147
-> https://www.srf.ch/news/international/fluechtlingswelle-in-bosnien-das-rote-kreuz-schlaegt-in-bihac-alarm
-> https://www.zdf.de/nachrichten/heute/migranten-hausen-auf-alter-muellhalde-tausende-in-bosnischen-lagern-100.html


+++GRIECHENLAND
Angespannte Situation in den Flüchtlingslagern auf Lesbos – Echo der Zeit
Auf den griechischen Inseln kommen derzeit mehr Flüchtlinge und Migranten an als gewohnt. Sie werden in die chronisch überfüllten Aufnahmezentren gebracht. Immer wieder kommt es zu gewaltsamen Ausschreitungen. Beitrag aus Griechenland und Fragen an den Migrationsexperten Gerald Knaus.
https://www.srf.ch/play/radio/popupaudioplayer?id=e4720d52-7a06-40e1-a2b6-73d9173a9231


Katastrophale hygienische Verhältnisse und Gewalt: Andrea Wegener hilft auf der Insel: «Die Griechen baden es für uns aus!»
Schmutz, Gewalt und Frust sind Alltag auf der griechischen Insel Lesbos. Das Flüchtlingslager Moria kämpft mit neuen Flüchtlingsrekordzahlen, musste allein im Juli und August 6300 Neuankömmlinge bewältigen. Am Mittwoch schmiss der Camp-Leiter hin.
https://www.blick.ch/news/ausland/katastrophale-hygienische-verhaeltnisse-und-gewalt-andrea-wegener-hilft-auf-der-insel-die-griechen-baden-es-fuer-uns-aus-id15513655.html


+++MITTELMEER
Kurz vor EU-Treffen in Malta- Offenbar Einigung mit Italien: Jeder vierte Bootsflüchtling soll nach Deutschland
Jahrelang tat sich die EU schwer mit einer Regelung, wie die Bootsflüchtlinge aus dem Mittelmeer in Europa verteilt werden sollten. Italienischen Medienberichten zufolge soll nun eine Einigung kurz bevorstehen. Deutschland und Frankreich sollen sich bereiterklärt haben, künftig je 25 Prozent der Migranten aufzunehmen.
https://www.focus.de/politik/ausland/kurz-vor-eu-treffen-in-malta-offenbar-einigung-mit-italien-jeder-vierte-mittelmeerfluechtling-soll-nach-deutschland_id_11138734.html
-> https://www.afp.com/de/nachrichten/3966/bundesregierung-will-jeden-vierten-italien-anlandenden-fluechtling-aufnehmen-doc-1k95v93
-> https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-09/seenotrettung-fluechtlinge-italien-horst-seehofer-migration
-> https://www.tagesschau.de/inland/bundesregierung-fluechtlinge-101.html
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/seenotrettung-deutschland-will-italien-25-prozent-der-geretteten-abnehmen-a-1286786.html


EU verweigert Rettung
Mittelmeer-Militäreinsatz »Sophia« weiterhin ohne Schiffe. Flüchtlinge werden zunehmend in Kriegsgebiete abgeschoben
https://www.jungewelt.de/artikel/362769.seenotrettung-eu-verweigert-rettung.html


+++EUROPA
Mehr Flüchtlinge via Türkei – «Wenn das Abkommen platzt – dann wegen der EU»
Erhalte Griechenland keine Unterstützung der EU, drohe eine Katastrophe, sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus.
https://www.srf.ch/news/international/mehr-fluechtlinge-via-tuerkei-wenn-das-abkommen-platzt-dann-wegen-der-eu


Migrations-Vereinbarungen der EU: Diese Deals stoppen die Flüchtlinge
Die Migrations-Vereinbarungen, die Europa mit Ländern des Südens abgeschlossen hat, sind eine diplomatische Gratwanderung.
https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/migrations-vereinbarungen-der-eu-diese-deals-stoppen-die-fluechtlinge-135612665


+++TÜRKEI
Umstrittene Umsiedlungspläne – Wie Erdogan sein Flüchtlingsproblem lösen will
Der türkische Präsident plant Massenumsiedlungen im kurdischen Grenzgebiet. Millionen Flüchtlinge im Land, das kostet – Geld und Zustimmung. Nun macht Erdogan Druck auf EU und USA.
https://www.zdf.de/nachrichten/heute/erdogans-umsiedlungsplaene-wohin-nur-mit-den-fluechtlingen-100.html


+++LIBYEN
Libyen: „Die Zustände sind absolut erbärmlich“
Christoph Hey war von Juni bis September 2019 Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen im Nafusa-Gebirge im Westen Libyens. Sein sechsköpfiges Team leistete medizinische Hilfe im offiziellen Internierungslager für Flüchtlinge und Migranten in Sintan, in dem vor der Ankunft des Teams mehr als 20 Menschen gestorben waren. Zu seinen Aufgaben gehörte es auch, weitere Internierungslager in der Region zu besuchen. Hier sein Erfahrungsbericht:
https://www.aerzte-ohne-grenzen.de/libyen-sintan-fluechtlingslager-bericht


+++FLUCHT
Expertenbericht: Extremwetter vertreibt Millionen Menschen
Überschwemmungen und Zyklone machen immer mehr Menschen zu Flüchtlingen im eigenen Land: Im ersten Halbjahr 2019 waren es laut einem Expertenbericht sieben Millionen Menschen. Und die Zahl könnte sich noch mehr als verdreifachen.
https://www.tagesschau.de/ausland/wetter-binnenfluechtlinge-101.html
-> http://www.internal-displacement.org/mid-year-figures


+++FREIRÄUME
200 Kinder treffen sich auf der Schützenmatt
Rund 200 Kinder und Jugendliche aus den Kitas & Tagis der Stadt Bern verbringen den nächsten Mittwochnachmittag, 18. September, von 14 bis 16.30 Uhr, auf der Schützenmatte. Unter dem Titel «Kita&Tagi-Träff uf dr Schütz» treffen sich die Kinder mit ihren Begleiterinnen und Begleitern aus den verschiedenen Tagesstätten und absolvieren gemeinsam einen Parcours. Unterwegs sind zwölf Posten zum Thema «Treffen» zu meistern, wobei das Wort «treffen» durchaus in mehrfacher Weise verstanden werden kann. Den Kindern steht es auch frei, die bestehende Infrastruktur des Vereins «PlatzKultur» vor Ort zu nutzen und zu ihrem eigenen Spiel- und Experimentierlabor zu machen.
https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/200-kinder-treffen-sich-auf-der-schuetzenmatt



derbund.ch 13.09.2019

Tricolore-Wirt in der Lorraine sucht Nachfolger

Nach bald 40 Jahrzehnten in der Lorraine will der Schuhmacher und Wirt Edoardo Abbiasini sein Restaurant verpachten. Seine Werkstatt will der 83-Jährige aber behalten.

Naomi Jones

Edoardo Abbiasini steht in seiner Schuhwerkstatt an der Lorrainestrasse und bedient einen Kunden. Gleich nebenan betreibt er die Pizzeria Tricolore. Noch. Denn er sucht einen Pächter für das Restaurant, obwohl es ihm schwerfällt, aufzugeben. Den Schlüssel werde seine Tochter übergeben müssen, sagt der 83-Jährige. «Nach der langen Zeit schaffe ich das nicht selber.» Er führe die Pizzeria seit 37 Jahren. Noch heute mache er den Pizzateig täglich selbst, sagt er.

Erste Take-away-Pizzeria in Bern

Er ist stolz auf sein Lebenswerk, von dem die Pizzeria allerdings nur ein kleiner Teil ist. Doch sei sie die erste Take-away-Pizzeria in Bern überhaupt gewesen. «Ich sah, wie die Schüler der Berufsschule mittags in die Migros gingen», erzählt er. Da habe er die Pizzeria eröffnet.

Darum hätte er am liebsten, wenn der neue Pächter ebenfalls ein Italiener wäre und die Pizzeria eine Pizzeria bleiben würde. Doch entschieden ist noch nichts. Im Stadtanzeiger hat Abbiasini ein Inserat veröffentlicht.

Start als Saisonnier beim Bauer

Edoardo Abbiasini kam vor 64 Jahren aus Neapel in die Schweiz, wie er erzählt: «Am 22. April 1955.» Hier begann er als Saisonnier bei einem Bauern zu arbeiten. «Damals mähten wir das Gras noch mit der Sense, nicht mit dem Motor.»

Danach habe er im Restaurant Löwen in Worb eine Stelle gefunden. Zuerst als Aushilfe – «ich musste putzen und allerhand tun» –, später als Kellner. Als am Bärenplatz die erste Pizzeria in Bern eröffnet wurde, wechselte Abbiasini dorthin. Doch eigentlich wollte er wieder Schuhe machen. Denn in Italien habe er schon als zehnjähriger Junge begonnen, das Handwerk zu lernen. «Meine Mutter schickte mich in der Freizeit zu einem Schuhmacher», erzählt er in seiner Werkstatt in der Lorraine. Als seine obligatorische Schulzeit nach fünf Jahren beendet war, arbeitete er weiter bei dem Schuhmacher, bis er in die Schweiz auswanderte.

Erfolg in der Lorraine

Allerdings hatte sich das Handwerk verändert, als er es nach rund zwanzig Jahren wieder aufnehmen wollte. Deshalb kaufte er sich eine kleine Maschine und begann die Schuhe seiner Kollegen und Kolleginnen daheim gratis zu flicken. «Ich wollte die neuen Materialien kennen lernen.» Schliesslich mietete er einen Laden in der Lorraine und hatte Erfolg.

Der Erfolg war so gross, dass er zwei Schuhläden und die Pizzeria eröffnen konnte. Die alten Stempel hat er noch heute und kramt sie aus einer Schublade hervor: für das Schuhhaus Mary in Worb, für das Schuhhaus Tivoli in Bern und für das Restaurant Pizza Tricolore in Bern. Heute ist nur noch der Stempel für die Abbiasini AG mit der Pizzeria Tricolore gültig.

Der Schuhmacher bleibt

Und auch diesen Stempel muss der «Pizzaiolo und Schuhmacher», wie ihn Kurt Aeschbacher letztes Jahr in seiner Fernsehsendung vorstellte, bald ändern. Die Schuhwerkstatt will Abbiasini nämlich trotz seines hohen Alters weiterhin betreiben. Nur das Restaurant will er nicht mehr selber führen.

«Ich hatte ein schönes Leben», sagt er und schwärmt von seiner schönen Enkelin. «E troppo bella», sie sei zu schön, sagt er, noch immer italienischer Charmeur. Der Tod seines Sohnes war ein schwerer Moment. Sein Sohn ertrank mit neun Jahren in der Badi. Geblieben sind ihm zwei Töchter, von denen die eine mit ihrer Familie in Italien lebt, und zwei Enkelkinder, die ebenfalls schon erwachsen sind.
(https://www.derbund.ch/bern/tricolore-wirt-in-der-lorraine-sucht-nachfolger/story/23173684)



bernerzeitung.ch 13.09.2019

Neuer Pächter für das Tricolore gesucht

Seit 37 Jahren führt Edoardo Abbiasini die Pizzieria Tricolore in der Berner Lorraine. Nun sucht er einen Nachfolger für sein Lokal.

Claudia Salzmann

Es ist Punkt 12 Uhr, nur drei Gäste sitzen in der Pizzeria Tricolore an der Lorrainestrasse. Einer trinkt eine Stange, zwei jüngere Bauarbeiter sitzen draussen vor einem Rivella rot. Drinnen riecht es nach Frittieröl, am Herd steht Edoardo Abbiasini und dreht das Cordon bleu in der Pfanne um. Sein Angestellter nimmt eine Salamipizza aus dem Ofen. «Es läuft nicht mehr, schon seit Anfang Jahr nicht», sagt der 83-jährige Abbiasini.

Die Zeiten von Restaurants, in denen man italienische oder Schweizer Gerichte esse, seien vorbei. «Nun ist die Zeit der Take-aways da.» Dazu komme, dass seine langjährige Angestellte gesundheitliche Probleme habe und nicht mehr für ihn arbeiten könne. Deshalb will Abbiasini sein Lokal verpachten.

Die beste Idee gewinnt

Bis Ende Jahr hofft Abbiasini, einen neuen Mieter gefunden zu haben. Das 90 Quadratmeter grosse Lokal verfügt über 30 Innenplätze, 30 Personen können auf der Terrasse bewirtet werden. Vor 5 Jahren hat er gegen 100’000 Franken in die Küchengeräte investiert. «Ich habe bereits Interessenten. Der mit der besten Idee bekommt das Lokal», sagt er. Das Inventar müsste übernommen werden. Dafür sei der Mietpreis inklusive Nebenkosten mit 3500 Franken moderat, findet er.

Abbiasini ist Stockwerkeigentümer hier im Haus Nummer 32. Nebenan betreibt er das Schuhmachergeschäft, und die Wohnung befindet sich direkt dahinter. Mit seinen 83 Lenzen denkt er nicht daran, kürzerzutreten. In einem früheren Interview mit dieser Zeitung sagte er: «Ich höre auf, wenn ich tot bin.»

Seit 37 Jahren

Abbiasini wuchs mit vier Geschwistern, die alle bereits ­gestorben sind, in Caserta bei Neapel auf. Der Vater war Müller, die Familie wohnte in einem einzigen Raum. Im Untergeschoss befand sich der Stall mit Tieren, die der Familie das Überleben sicherten. Mit 17 Jahren verkrachte sich Abbiasini mit den Eltern. Zwei Tage und zwei Nächte verbrachte er im Zug, bis er in Bern ankam. Er liess sich als Knecht in Mattstetten anheuern, wechselte bald in die Gastronomie, in den Restaurant Löwen in Worb.

1976 zog es Abbiasini in die Berner Lorraine, und er fand Arbeit bei Gfellers am Bärenplatz. Nachdem er sich in der ersten Pizzeria von Bern – La Pizzeria – als Kellner die Sporen abverdient hatte, eröffnete er das Tricolore. Als Erster in Bern habe er Pizza zum Mitnehmen angeboten. Anfänglich hatte er mit dem Teig seine Mühe. Aber seine Schwestern halfen ihm mit telefonischen Ratschlägen. «Zum Glück wusste damals niemand, was Pizza ist, deshalb war das kein Problem», sagt er. Auch heute ist der Teig hausgemacht, und er bäckt die Pizzen im Blech aus.

Falls er keinen Pächter finde, so werde er das gastronomische Konzept anpassen und nur noch Pizzen verkaufen. Dafür reist er im Oktober nach Mailand, um ein neues Pizzasystem anzuschauen. Eines, das ihm erlaubt, alleine zu arbeiten.
(https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/neuer-paechter-fuer-das-tricolore-gesucht/story/20516550)
-> Portrait: https://podcast.newsnetz.tv/podcast/news/402319.mp4


+++SEXWORK
«Sihlquai» Kapitel 2: Die Fahnder machen an einem verlassenen Ort einen grausigen Fund
Christine Brand, This Wachter, Simon Meyer
Die Polizei spürt einen Verdächtigen auf. Ein entschlossener Staatsanwalt entscheidet sich zu handeln. Und dann machen die Fahnder einen grausigen Fund. Hören Sie jetzt Kapitel 2 – oder, falls Sie es verpasst haben, geht es hier zu Kapitel 1.
-> Kapitel 1: https://cdn.podigee.com/media/podcast_13783_sihlquai_episode_1_kapitel_1_die_liste.mp3
-> Kapitel 2: https://cdn.podigee.com/media/podcast_13783_sihlquai_episode_2_kapitel_2_ein_taeter.mp3
(https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/sihlquai-kapitel-2-die-fahnder-machen-an-einem-verlassenen-ort-einen-grausigen-fund-ld.1508026)


+++REPRESSION FR
Ausnahmezustand rund um den G7-Gipfel
Proteste wurden unterdrückt und zahlreiche Menschen willkürlich verhaftet. Wie immer, wenn sich die angebliche Elite der Welt trifft, wurde auch am diesjährigen G7-Gipfel vom 24. bis 26. August in Biarritz der so genannte «demokratische Rechtsstaat» ausser Kraft gesetzt. Proteste und ein Gegengipfel gab es trotzdem.
https://www.vorwaerts.ch/international/ausnahmezustand-rund-um-den-g7-gipfel/


+++JUSTIZ
Strafvollzug in der Schweiz – Gutachter des Bösen – Der Forensiker Frank Urbaniok
Frank Urbaniok war 25 Jahre lang der einflussreichste Gerichtspsychiater der Schweiz. Von Zürich aus revolutionierte er den Justizvollzug. Er fasste immer wieder heisse Eisen an und mischte sich in politische Debatten ein – von der lebenslangen Verwahrung bis zur Ausländerkriminalität.
https://www.srf.ch/sendungen/dok/gutachter-des-boesen-der-forensiker-frank-urbaniok


+++KNAST
Die Geschichte von «Ausbrecherkönig» Walter Stürm und seinem traurigen Ende
Achtmal brach Walter Stürm aus dem Gefängnis aus. Sein Kampf gegen die Isolationshaft machte den Berufsverbrecher zu einer Symbolfigur der Linken. Vor 20 Jahren nahm er sich das Leben.
https://www.watson.ch/!437807234


+++RECHTSPOPULISMUS
SVP wettert gegen Linke und Nette – mit falschen Zahlen?
Ein SVP-Inserat suggeriert eine frappante Ungerechtigkeit: Ein Asylbewerber erhält viermal soviel Geld wie ein Rentner. Doch: Stimmen die unglaublichen Zahlen?
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/svp-wettert-gegen-linke-und-nette-mit-falschen-zahlen-65583010


Neuer Anlauf, um Gelder für «Scheinflüchtlinge» erheblich zu kürzen
Die SVP spielt einen alten Schlager: Die Partei will die Sozialhilfe für «Scheinflüchtlinge» senken – jetzt mittels einer kantonalen Volksinitiative.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/neuer-anlauf-um-gelder-fuer-scheinfluechtlinge-erheblich-zu-kuerzen-135605984


Interpellation (EDU) Illegale Märkte, Drogenhandel und Unterdrückung religiöser Minderheiten in Berner Asylunterkünften: Wird unsere Rechtsordnung in der Praxis durchgesetzt?
https://www.gr.be.ch/gr/de/index/geschaefte/geschaefte/suche/geschaeft.gid-494294f4734a467f85f153c96e6d3554.html


+++FUNDIS
Evangelische Extremisten bedrohen Schwule
In Melchnau (BE) gehen Christen gegen Schwule vor. Mit der Bibel in der Hand – die zu Gewalt aufruft.
https://www.infosperber.ch/Artikel/Sexismus/Evangelische-Extremisten-Bibel-Schwule-Diskriminierung


+++ANTIRA
derbund.ch 13.09.2019

Integration ist ihnen nicht genug

Sie getrauen sich mehr als ihre Eltern: In Bern kämpft eine neue Generation von People of Color um ihren Platz in der Gesellschaft und gegen Rassismus. Was treibt sie an?

Nils Wyssmann und Simon Preisig

Er spielt nicht mehr mit. Mardoché Kabengele, Frontoffice-Mitarbeiter bei der Stadt Bern und politischer Aktivist aus Schleumen bei Hettiswil, widersetzt sich täglich dem Rat seiner Eltern. Manchmal spaziert er im Kapuzenpullover durch die Stadt, zuweilen gar in einem afrikanischen Gewand. Seine Haare trägt er kraus. Und seine Wochenenden verbringt er auf dem Vorplatz der Reitschule. Damit nimmt er in Kauf, dass ihn die Polizei häufiger kontrolliert. «Meine Eltern haben mich gelehrt, wie ich mich in der Öffentlichkeit verhalten muss, um mich ungestört bewegen zu können. Sie sagten: Kleide dich unauffällig, kämme deine Haare, passe dich an und halte deinen Ausweis bereit. Aber für mich und viele junge Leute stimmt es nicht mehr, unter dem Radar zu fliegen.»

24 Jahre alt ist Kabengele. Damit gehört er zu einer Altersgruppe, die zunehmend «ihren Platz in der Gesellschaft einfordert». So formuliert nicht er es, sondern die Fachstelle für Rassismusbekämpfung des Bundes in einem neuen Bericht. Der Bericht fördert eine erstaunliche Zahl zutage: Während im Jahr 2016 noch 28 Prozent aller 15- bis 24-Jährigen angaben, diskriminiert zu werden, lag dieser Wert 2018 bei 38 Prozent. Das ist eine Zunahme von mehr als einem Drittel. Und zwar innert zweier Jahre. Die Rassismus-Fachstelle lässt offen, ob jüngere Menschen tatsächlich häufiger von Diskriminierung betroffen sind als früher. Aber sie attestiert ihnen eine geschärfte Problemwahrnehmung. Meldet sich da gerade eine neue Generation gegen Rassismus zu Wort?

Kabengele ist davon überzeugt. Er sagt: «Wir haben das Wissen und die Netzwerke, um gegen Rassismus einzutreten.» Der Aktivist engagiert sich beim Kollektiv Berner Rassismusstammtisch, das seit drei Jahren mit künstlerischen, wissenschaftlichen und politischen Beiträgen in die öffentliche Debatte eingreift. Mal lädt das Kollektiv zu einem öffentlichen Austausch zu «Racial Profiling», also zu verdachtsunabhängigen Polizeikontrollen nicht weisser Personen. Mal wird über das «Schweizer Demokratiedefizit» diskutiert, über den Umstand also, dass Menschen ohne Schweizer Pass von Wahlen und Abstimmungen ausgeschlossen sind. Und kürzlich rief Kabengele mit anderen Mitgliedern des Stammtischs zum «Guerilla Wellness» auf: Unter dem Motto «Wellness für den antirassistischen Geist» wurde bei türkischem Essen und portugiesischer Musik in einer Shisha Lounge in Köniz über die Fasnacht, Rassismus und Humor diskutiert.

Hoffen auf gute Fehler

Der Abend war voller Pannen, die Lautsprecher streikten, und so schrien die Anwesenden durch den Raum, um sich Gehör zu verschaffen. «Unsere Anlässe sind frech, urban und ziemlich hässig», sagt Kabengele. «Uns geht es darum, zu einem eigenen Ausdruck zu finden. Dass dabei Fehler passieren, ist unvermeidlich. Aber hoffentlich sind es gute Fehler.»

Mit ihrem Programm wollen die Mitglieder des Stammtischs die Schweiz in ihrer ganzen Vielfalt zeigen. Mindestens ein Drittel der Schweizer Wohnbevölkerung hat Migrationserfahrung, doch diese Realität spiegle sich kaum in der öffentlichen Wahrnehmung. «In den Schweizer Geschichtsbüchern, aber auch in unseren Parlamenten kommt die Schweizer Migrationsbevölkerung kaum zu Wort», sagt Kabengele. Die Veranstaltungen sollen dies ändern: Sie sprechen vom «Migrationsuntergrund» der Schweiz, der an Anlässen wie dem «Guerilla Wellness» auftaucht und zum Vorschein kommt.

Ein ähnliches Anliegen verfolgen auch die Mitglieder von Bla*Sh. «Dies ist ein Netzwerk ‹Schwarzer› Frauen*», sagt Dshamilja Gosteli, die dort dabei ist. Sie setzt bewusst ein Sternchen hinter den Begriff Frauen und nutzt damit eine inklusive Sprache, die alle Personen mitmeint, die sich selbst als weiblich verorten. Das Netzwerk Bla*Sh wurde vor einigen Jahren in Zürich gegründet, seit kurzem finden auch in Bern Treffen statt, zum Beispiel in Form eines Brunchs oder eines Abendessens. Ausgangspunkt dieser Treffen bilden häufig die eigenen Erlebnisse im Alltag; manchmal gibt es thematische Sitzungen mit Fachinputs. Die Gespräche sind intim, gemeinsam suchen die Mitglieder nach einer Sprache, um ihre Rassismuserfahrungen zu verarbeiten. «An den Bla*Sh-Treffen habe ich erfahren, dass rassistische Mikroaggressionen real sind und ich mir diese nicht einbilde», sagt Gosteli. «Dort können wir offen über Rassismus und Sexismus sprechen», sagt die Bernerin. «Das ist extrem bestärkend.»

Der Rassismusstammtisch und das Netzwerk Bla*Sh sind nur zwei Beispiele für Initiativen, wo junge Menschen Rassismus explizit thematisieren. Als weitere relativ neue Organisation liesse sich auch das Migrant Solidarity Network nennen, in dem sich Geflüchtete und weitere Personen gegen Ausschaffungen und die Isolation in Asyllagern engagieren. Eine andere Gruppe heisst «Wir alle sind Bern!» und verfolgt unter anderem das Ziel einer «City Card». Die städtische Identitätskarte soll allen einen gleichberechtigten Zugang zum öffentlichen Leben gewährleisten – auch wenn sie über keinen geregelten Aufenthaltsstatus verfügen.

Kritik statt Anpassung

«Im Kern stellen diese Organisationen die Frage: Wer soll zu Wort kommen, wenn es um Themen wie Rassismus geht?», sagt Halua Pinto de Magalhães. Der Alt-Stadtrat ist 33 Jahre jung. Doch in der rassismuskritischen Szene Berns gehört er bereits zu den alten Hasen. Schaut Pinto de Magalhães auf die Anfangsphase seines politischen Engagements zurück, stellt er weitreichende Veränderungen fest. Er sagt: «Früher gab es solche Initiativen nicht.» Und: «Wer damals öffentlich über Rassismus sprechen wollte, nahm dieses Wort kaum in den Mund. Er sprach von Integration.»

In den 2000er-Jahren gründete Pinto de Magalhães eine der ersten rassismuskritischen Vereinigungen Berns mit dem Namen Second@s Plus Bern mit. «In der Öffentlichkeit wurde damals zwar permanent über Migration diskutiert, allerdings meist unter Ausschluss von Migrantinnen und Migranten oder deren Nachkommen.» Second@s Plus wollte dies ändern. Und engagierte sich zum Beispiel für die erleichterte Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern der zweiten und dritten Generation.

Dass sich heute Menschen mit Rassismuserfahrungen vermehrt organisiert zu Wort melden, hat für Pinto de Magalhães wohl auch mit der Vorarbeit von Second@s Plus zu tun. Daneben nennt er drei weitere Gründe. Erstens die demografische Entwicklung: Die Schweiz ist heute so vielfältig wie noch nie. Dies äussert sich auch politisch. Zweitens das Internet: Auf Plattformen wie Netflix fänden sich heute vermehrt Spielfilme oder Serien, die sich explizit mit Diskriminierung befassen. «Bei der jüngeren Generation kommt das an.» Als letzten Grund nennt Pinto de Magalhães die Polarisierung der Gesellschaft. «Das Erstarken der SVP und die Zunahme antimuslimischer Positionen seit 9/11 wirkte für viele wie ein Weckruf», sagt er. «Viele von uns merkten: Jetzt müssen wir handeln.»

«Schwarz» ist eine politische Selbstbezeichnung von Menschen, welche der afrikanischen Diaspora angehören. Der Begriff wird grossgeschrieben. Auch «People of Color» ist eine Selbstbezeichnung und umfasst alle rassistisch diskriminierten Personen.



Fast überall ein Problem

Ob bei der Stellensuche, auf dem Wohnungsmarkt oder im Bildungsbereich: Rassistische Diskriminierung kommt in jedem Lebensbereich vor. Dies zeigt ein Bericht der eidgenössischen Fachstelle für Rassismusbekämpfung (FRB), der nun vorliegt. Gemäss Bericht fühlt sich mehr als jede dritte Person von als «anders» wahrgenommenen Menschen gestört; jede zehnte Person bringt explizit feindselige Einstellungen gegenüber Musliminnen und Muslimen, «Schwarzen» Menschen sowie gegenüber Jüdinnen und Juden zum Ausdruck.

Andererseits findet eine Mehrheit der Befragten, Rassismus sei ein ernstes gesellschaftliches Problem; ein Drittel ist zudem der Ansicht, dass mehr dagegen unternommen werden müsste. Der Bericht bezeichnet Rassismus weniger als individuelle Verfehlung denn als strukturelles Problem: Rassismus ist aus historischen Gründen in der Gesellschaft verankert und prägt das Verhalten und die Sichtweise von Personen, zum Beispiel in Form von stereotypen Darstellungen in Schulbüchern oder von rassistischen diskriminierenden Fahndungsaufträgen der Polizei (Racial Profiling). Rassismus, ob gewollt oder unbewusst, verhindert die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben, unabhängig von tatsächlichen oder zugeschriebenen Merkmalen wie Herkunft, Hautfarbe, Sprache oder Religion. (nw)
(https://www.derbund.ch/bern/integration-ist-ihnen-nicht-genug/story/20511595)



derbund.ch 13.09.2019

«Mein Zugabteil ist oft als letztes voll»

Selbst in der linken Stadt Bern ist Rassismus allgegenwärtig. Fünf Betroffene erzählen, wie sie damit umgehen.

Aufgezeichnet: Nils Wyssmann



«Allzu freundlich zur Polizei zu sein, ist verdächtig»

«Ich wuchs im Emmental auf. Wir waren die einzige migrantische Familie weit und breit. Als wir Kinder waren, war meine Schwester mit zwei Kolleginnen in einem Supermarkt, als sie vom Ladendetektiv rausgenommen wurde. Eine ihrer weissen Kolleginnen hatte etwas mitlaufen lassen, meine Schwester war unwissend und unbeteiligt dabei. Trotzdem wählte der Detektiv meine Schwester als Kopf der Bande und damit als Schuldige aus. Sie kassierte eine Anzeige, ihre Kolleginnen nicht. Meine Mutter kämpfte wie eine Löwin, bis die Anzeige schliesslich fallen gelassen wurde.

Für mich ist es bis heute ein täglicher Kampf. Obwohl ich zugeben muss, dass mich nicht mehr jede Mikroaggression wütend macht. Ich stecke meine Energie lieber in den Aktivismus. Mittlerweile sind zudem meine Freundinnen und Freunde sensibilisiert und setzen sich für mich ein, wenn ich in der Öffentlichkeit beleidigt oder angegangen werde. Ganz kalt lassen Alltagsrassismen aber auch mich nicht. Es nervt mich zum Beispiel, dass ich nicht hinter einem Grosi spazieren kann, ohne dass sie sich dreimal umdreht und ihren Schritt beschleunigt. Oder, dass ich mir immer überlegen muss, wie ich mich bei Polizeipräsenz verhalten sollte, um nicht kontrolliert zu werden.

Ich habe gemerkt: Allzu freundlich zu sein, ist verdächtig, die Polizei zu fest auszublenden oder zu versuchen, «normal» vorbeizugehen, aber auch. Meine Eltern wollten früher für uns sechs Kinder den Schweizer Pass organisieren, aber sie konnten es sich nie leisten. Heute überlege ich mir, ob ich den Pass will. Ich kenne nichts anderes als die Schweiz und fühle mich zu 100 Prozent als Berner. Rassismus hört jedoch nicht mit der Schweizer Staatsbürgerschaft auf. Ich will nicht den integrierten Vorzeigemigranten spielen. Ohne Schweizer Pass kann ich zwar nicht abstimmen, mich einsetzen und engagieren kann ich trotzdem.

Meine persönlichen Vorbilder sind übrigens Leute wie der Schriftsteller James Baldwin oder der Rapper Kendrick Lamar. Und natürlich war ich auch «Black Panther» im Kino schauen. Das ist ein Science-Fiction-Film. Er stellt die Frage: Was wäre, wenn Zentralafrika nicht kolonisiert worden wäre? Der Film ist ein richtiger Schatz. Meine Brüder kamen in einem westafrikanischen Gewand zur Vorstellung. Das war ziemlich emotional und ein echtes Empowerment!»

Mardoché Kabengele ist 24 Jahre alt und engagiert sich beim Berner Rassismusstammtisch.



«An einem YB-Match fühle ich mich nicht wohl»

«Als Studentin absolvierte ich zu Beginn der berufspraktischen Ausbildung ein Praktikum, bei dem ich eine irritierende Erfahrung machte. Als ich mich während der Pause im Lehrpersonenzimmer aufhielt, fragte mich eine Lehrerin, ob eine Schülerin draussen auf dem Pausenplatz meine Tochter sei. An diesem Tag war kein Elternbesuchstag, was die Anwesenheit einer Mutter im Lehrpersonenzimmer erklärt hätte. Ausserdem hätte ich das Kind mit etwa zwölf Jahren gekriegt, wäre das Mädchen meine Tochter gewesen.

Weshalb kam die Lehrerin auf die Idee, mir diese Frage zu stellen? Ich war die einzige ‹Schwarze› Person im Raum, und draussen war ebenfalls ein ‹Schwarzes› Kind. Für die Lehrerin war offenbar schwierig, sich eine ‹Schwarze› Frau als Praktikantin in diesem Schulhaus vorzustellen. Ähnliche Erfahrungen mache ich im Alltag in einer hohen Frequenz. Sie führen dazu, dass ich mir gut überlege, wo ich hingehe und wo nicht. An einem YB-Match fühle ich mich nicht wohl. Und selbst im Zug merke ich, dass ich auffalle: Mein Abteil ist oft als letztes voll.

Was Alltagsrassismus so anstrengend macht, ist die Schwierigkeit, ihn zur Sprache zu bringen. Wenn ich problematische Vorfälle thematisiere, werde ich häufig nicht ernst genommen. Das Problem wird kleingeredet, oder ich werde als hypersensibel dargestellt. Manchmal wird mir auch vorgeworfen, dass ich schlechte Stimmung verbreite, wenn ich sage, dass für mich etwas nicht in Ordnung ist. In solchen Momenten geht es dann wieder nur um die Befindlichkeit meiner Mitmenschen. Sie sagen mir: «Warum sagst du uns, dass wir dich verletzt haben? Jetzt fühlen wir uns beide schlecht.» Sie geben mir zu verstehen: Behalt deine Erfahrungen für dich und nimm das nicht zu ernst.

Dazu kommt, dass sich Alltagsrassismus häufig in hierarchischen Beziehungen abspielt, was eine Thematisierung zusätzlich erschwert. Rassismus ist in der Schweiz nach wie vor ein Tabuthema. Wir müssen beginnen, darüber zu sprechen. Und das Problem ernst nehmen.»

Dshamilja Gosteli ist Sekundarlehrerin, engagiert sich unter anderem im Netzwerk Bla*Sh gegen Rassismus und ist Bandleaderin der Band Djeffrah.



«Auf Rassismus reagiere ich mit Lachen»

«Ich arbeite als Dolmetscher und als Betreuer in einem Asylzentrum. Kürzlich hatte ich eine Frage, es ging um die Abrechnung meiner AHV. Als ich beim zuständigen Büro vorbeiging, hörte man mir gar nicht zu. Die zuständige Beamtin sagte: «Weshalb kommst du hierher? Du musst dir einen Job suchen». Ohne etwas über mein Anliegen zu wissen, wimmelte sie mich ab. Solche Dinge kommen immer wieder vor. Zum Beispiel reagieren manche Menschen abweisend, wenn ich sie auf der Strasse anspreche, um sie nach dem Weg zu fragen. Vielleicht, weil sie denken, dass ich bettle.

Wenn ich solche Dinge erzähle, geht es mir nicht darum, mit dem Finger auf einzelne Personen zu zeigen. Rassismus ist kein individuelles, sondern ein gesellschaftliches Problem. Und er hat viel mit Chancengleichheit zu tun. Wenn dir dein Deutschkurs nicht finanziert wird oder deine Diplome von der Schweiz nicht anerkannt werden, ist dafür nicht einfach die Beamtin schuld, die dir das mitteilt. Ich denke so darüber nach: Wir leben in einem System, das gewisse Bevölkerungsgruppen bevorzugt und andere benachteiligt. Und dieses System äussert sich dann im individuellen Verhalten. Rassismusbekämpfung bedeutet für mich deshalb, benachteiligte Bevölkerungsgruppen zu «empowern». Dies versuchen wir mit der «Eritrean Diaspora Academy».

Das ist eine zivilgesellschaftliche Initiative, die mehrheitlich von Exil-Etritreerinnen und -Eritreern in der Schweiz entwickelt wurde. Wir wollen uns selbst bilden und so die gesellschaftliche Partizipation und Teilhabe der eritreischen Diaspora in der Schweiz fördern. Letztes Jahr trafen wir uns beispielsweise für eine Woche in einem Pfadihaus. Dort organisierten wir Kurse zu Themen wie Frauenförderung oder Projektentwicklung. Auf individuellen Rassismus reagiere ich übrigens meist mit Lachen und Kopfschütteln. Ich nehme solche Vorfälle gar nicht ernst und versuche, sie zu vergessen. Niemand kann mir sagen, wer ich bin. Das bestimme ich alleine.»

Mehari Ukbalidet lebt in Gümligen und hat Sozialanthropologie an der Universität Bern studiert.



«Warum wird unentwegt Hochdeutsch mit mir gesprochen?»

«Vor einigen Jahren hatte ich ein einschneidendes Erlebnis. Ich sammelte Unterschriften am Bahnhof, als ein Typ auf mich zukam und mich fragte, woher ich käme. Ich sagte «aus der Schweiz, aus der Schweiz», aber der Mann hörte einfach nicht auf zu fragen. Als ich ihm schliesslich sagte, wo meine Mutter aufgewachsen ist, begann er, mich mit rassistischen Aussagen zuzutexten. Er sagte, er habe wegen «Ausländern wie mir» seinen Job verloren, und hörte erst mit seiner Hassrede auf, als ich mich bei ihm entschuldigte. Der Vorfall ging mir lange nach. Ich merkte, das war jetzt rassistisch. Mir wurde bewusst, dass ich gegen solche Übergriffe nicht gewappnet war.

Deshalb begann ich mich über Rassismus zu informieren und besuchte einen Kurs zu Zivilcourage an der Aktionswoche gegen Rassismus. Wichtig war auch mein Erasmus-Semester in Berlin. Die Diskussion über Rassismus war damals viel weiter fortgeschritten als hier. Ich lernte Gleichgesinnte kennen, das stärkte mich sehr. Heute leite ich rassismuskritische Workshops für Jugendliche und mache Stadtführungen zu Berns kolonialer Vergangenheit. Ich bin überzeugt: Wer Rassismus verstehen will, muss sich mit seiner Geschichte befassen. Zum Beispiel mit dem Schweizer Naturforscher Louis Agassiz, der im 19. Jahrhundert die damals verbreitete Rassenlehre aktiv mitentwickelte. Er forderte, dass sich die «Menschenrassen» nicht vermischen sollten.

Mir ist diese Frage wichtig: Warum wird heute in der Schweiz mit Strassennamen und Plätzen an ihn erinnert und nicht etwa an Menschen wie Tilo Frey, die erste ‹Schwarze› Nationalrätin der Schweiz? Ich kann mich stärker mit ihr identifizieren, und ich glaube, dass ich damit nicht die Einzige bin.

Rassismusbekämpfung hat für mich viel mit Bildung und Selbstreflexion zu tun: Was bedeutet Berns koloniale Vergangenheit für die Gegenwart? Und warum wird unentwegt Hochdeutsch mit mir gesprochen, obwohl ich auf Schweizerdeutsch antworte?»

Mira Koch lebt in Bern und arbeitet bei der Stiftung Cooperaxion.



«Ich kann mit manchen Linken keine Kopftuchdebatte führen»

«Neulich war ich meinen Vater im Spital besuchen. Da fragte mich eine Pflegefachfrau: «Wohnen Sie weit entfernt von hier?» Ich antwortete: «Nein, mein Zuhause ist unweit.» Worauf sie mich fragte, ob ich dieses Wort aus dem Türkischen direkt übersetzt hätte. Ich erklärte ihr: «Unweit ist ein hochdeutsches Wort. Im Schweizerdeutschen ist es wenig gebräuchlich, aber es ist möglich, das Wort so zu verwenden.» Darauf fragte sie abermals nach, woher ich denn das Wort kennen würde. Ich merkte: Wäre ich der Lehrer eines Kindes dieser Frau, wäre da ständig eine Skepsis mir gegenüber vorhanden, meine Kompetenz würde angezweifelt.

Ich persönlich habe gelernt, negative Zuschreibungen auf Distanz zu halten und zu relativieren. Aber meine Schülerinnen und Schüler verinnerlichen solche Dinge. Kürzlich hatten wir das Thema Berufswahl. Als ich einen Schüler mit Migrationshintergrund fragte, was er später werden wolle, sagte er, er wolle Schulleiter werden. Sein Pultnachbar entgegnete: «Wir sind doch Ausländer, diesen Beruf zu erlernen, ist für uns doch nicht möglich.» Alltagsrassismen sind extrem subtil. Sie geschehen häufig ohne böse Absicht, sind aber deshalb nicht minder wirkmächtig. Deshalb braucht es eine echte Auseinandersetzung mit ihnen, auch in linken Kreisen. Ich kann mit manchen linken Kollegen beispielsweise kaum eine Kopftuchdebatte führen.

Wenn ich das Tragen des Kopftuchs verteidige, wird mir gesagt, ich dächte konservativ und stammte aus einer patriarchalen Kultur. Hiesse ich nicht Fuat, sondern Fritz und wäre christlich sozialisiert, würde dieselbe Position als tolerant eingestuft. Eine rassismuskritische Haltung hat für mich viel mit einer selbstkritischen Haltung zu tun. Es geht darum, alte Denkmuster zu hinterfragen und auf Kritik sachlich zu reagieren. Wenn Menschen im Jahr 2019 nach wie vor überzeugt sind, dass der Schokokuss ‹Mohrenkopf› heisst, frage ich nach: Weshalb ist es dir so wichtig, an diesem Begriff festzuhalten? Weshalb nimmst du dir das heraus?»

Fuat Köçer ist Berner SP-Stadtparlamentarier und Sekundarlehrer in Trimbach.



People of Color aus Bern reagieren anders auf Rassismus als früher. Während sich ältere Menschen mit Migrationshintergrund anzupassen versuchten und nicht auffallen wollten, fordert die junge Generation ihren Platz ein und thematisiert Rassismus öffentlich. Dies zeigen die vorliegenden Porträts. Und dies steht auch im kürzlich erschienen Eidgenössischen Rassismusbericht. Lesen sie hier, wie sich die Menschen, die von Rassismus betroffen sind, zur Wehr setzen.

«Schwarz» ist eine politische Selbstbezeichnung von Menschen, welche der afrikanischen Diaspora angehören. Der Begriff wird grossgeschrieben. Auch «People of Color» ist eine Selbstbezeichnung und umfasst alle rassistisch diskriminierten Personen.
(https://www.derbund.ch/bern/mein-zugabteil-ist-oft-als-letztes-voll/story/24417779)


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