Medienspiegel 21. April 2019

+++BERN
Widerstand gegen die Anwesenheitspflicht in den Asylcamps im Kanton Bern planen
Mittwoch 24. April | 18:30 Uhr | Güterstrasse 8 (2. Stock) | Bern
Um die Idee einer Schlafdemo zu planen, laden wir alle zu einer offenen Sitzung ein.
In den Asylcamps im Kanton Bern gibt es eine neue Anwesenheitspflicht. Das Migrant Solidarity Network will, dass die Behörden die Anwesenheitspflicht aufhebt. Wegen dieser neuen Regel erhalten die Camps einen starken Gefängnischarakter und die Grundrechte auf Bewegungsheit und persönliche Kontakte werden verletzt.
Um Widerstand zu leisten, planen wir eine „Schlafdemo“. Wir wollen aufzeigen, was die Anwesenheitspflicht konkret für Folgen hat. Wir wollen zum Einen, dass die Menschen in Asylcamps gehört werden. Um Erfolg zu haben, brauchen wir zum Enderen auch die Unterstützung von solidarischen Menschen und Gruppen, Kollektive, Organisationen oder Parteien. Die Demo ist ein Weg doch es braucht auch andere Interventionen.
Programm
1. Schlafdemo planen
2. Andere Ideen für politische, juristische, parlamentarische Widerstandsmöglichkeiten
3. Informationen bezüglich dem juristischen Widerstand
4. Nächste Schritte
https://migrant-solidarity-network.ch/2019/04/21/widerstand-gegen-die-anwesenheitspflicht-in-den-asylcamps-im-kanton-bern-planen

+++SCHWEIZ
Schweiz bei Wegweisung von Asylsuchenden europaweit an der Spitze
“Europameister” bei der Abschiebung: Knapp 57 Prozent der Wegweisungen von Asylsuchenden zurück in deren Heimatstaat hat die Schweiz 2017 vollzogen, während der Wert in der Europäischen Union nur bei knapp 37 Prozent lag.
https://www.cash.ch/news/politik/korr-schweiz-bei-wegweisung-von-asylsuchenden-europaweit-der-spitze-1320097
-> https://www.watson.ch/schweiz/international/733564824-schweiz-bei-abschiebungen-europaweit-an-der-spitze

Erste Abschiebungen seit Jahren nach Afghanistan und Somalia: Schweiz schafft wieder in Kriegsgebiete aus
Reisen nach Somalia und Afghanistan sind lebensgefährlich. Doch die Schweiz schafft in diese Länder aus. Sie ist darin Europameister.
https://www.blick.ch/news/politik/erste-abschiebungen-seit-jahren-nach-afghanistan-und-somalia-schweiz-schafft-wieder-in-kriegsgebiete-aus-id15282884.html
-> https://www.20min.ch/schweiz/news/story/Zwei-Asylbewerber-wieder-ausgeschafft-23099946
-> https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/wieder-zwei-ausschaffungen-in-krisengebiete/story/21802197

Keine Ausschaffungen um jeden Preis!
Die Schweiz vollzieht Zwangsausschaffungen in Herkunftsländer mit prekärer Sicherheits- und Menschenrechtslage. Sie führt auch Dublin-Überstellungen in Staaten durch, in denen die Rechte der Schutzsuchenden nicht gewährleistet sind – Ausnahmen für besonders verletzliche Personen gibt es kaum. Das Ziel: die Abschreckung von Asylsuchenden. Die SFH kritisiert diese äusserst restritive Praxis seit Jahren und fordert die Behörden auf, beim Vollzug von Wegweisungen keine Menschenrechtsverletzungen in Kauf zu nehmen.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/medien/medienmitteilungen/2019/keine-ausschaffungen-um-jeden-preis.html

Sonntagszeitung 21.04.2019

Sommarugas Asyl-Aktion ist ein Flop

Die Bundesrätin liess das Bleiberecht Tausender Eritreer überprüfen – 14 Personen wurde es nun entzogen. Politiker kritisieren die Aktion.

Mischa Aebi

Bundesrätin Simonetta Sommarugas Befehl hat für einen Eklat gesorgt. Sie ordnete letztes Jahr die Überprüfung der Dossiers von 3200 vorläufig aufgenommenen Eritreern an. Das ihr unterstellte Staatssekretariat für Migration (SEM) musste Fall für Fall abarbeiten und prüfen, ob die betroffenen Eritreer noch in der Schweiz bleiben dürfen. Für bürgerliche Politiker war es ein längst fälliger Schritt. Linke Politiker waren entsetzt, dass die eigene Bundesrätin einen derartigen Paradigmenwechsel vollzog. Auf dem Bundesplatz fand eine Demo mit 1500 Teilnehmern statt.

Nun zeigt sich: Von einem Paradigmenwechsel kann nicht die Rede sein: Das SEM hat mittlerweile 2400 Fälle überprüft. Nur bei 14 entzog die Behörde das Bleiberecht. Das entspricht einem halben Prozent. Für alle anderen vorläufig aufgenommenen Eritreer ist eine Abschiebung laut SEM «nicht zumutbar». Es gebe «verschiedene Faktoren», die einen Rückreisebefehl unzumutbar machen, sagt SEM-Sprecher Daniel Bach, «unter anderem die fortgeschrittene Integration dieser Menschen, wenn zum Beispiel die Kinder einer Familie hier in die Schule gehen». Wegweisungen seien auch unzumutbar, wenn im Heimatland «Krieg oder Bürgerkrieg» herrscht oder wenn eine «konkrete Gefährdung» drohe.

Die marginale Erfolgsquote von Sommarugas Überprüfungsaktion lässt den Streit um die Eritreer in der Schweiz neu aufflammen. Sie sind die mit Abstand grösste Flüchtlingsgruppe im Land. 37’000 Eritreer leben hier. Spätestens seit letztem Jahr soll sich die Situation in Eritrea verbessert haben. Der nordostafrikanische Staat hat mit dem benachbarten Äthiopien ein Friedensabkommen unterzeichnet.

«Man sollte sie auf Nothilfe setzen»

Für den freisinnigen Ständerat Philipp Müller ist klar: «Man sollte ausnahmslos alle vorläufig aufgenommenen Eritreer wegweisen.» Denn die Schweiz schicke «Menschen aus Ländern in ihre Heimat zurück, in welchen viel schlimmere Zustände herrschen als in Eritrea». Ausschaffen könne man Eritreer zwar nicht, weil die eritreische Regierung unter Zwang durchgeführte Rückführungen nicht akzeptiere. «Aber man sollte sie auf Nothilfe setzen.» Das entziehe ihnen «den Anreiz, wegen der Sozialhilfe hierzubleiben». Müller weiss, dass die Behörden das anders sehen, deshalb überrascht ihn die tiefe Quote von Sommarugas Überprüfungsaktion nicht: «Die Aktion war eine reine Augenwischerei.»

Ganz anders sehen es Linke. Man dürfe «Eritreer, die bereits viele Jahre hier sind, nicht mehr einfach in ihre Heimat zurückschicken», sagt SP-Nationalrat Cédric Wermuth. Die vorläufige Aufnahme sei der Situation dieser Menschen schlicht nicht mehr angemessen. «Es würde den Staat weniger kosten, wenn man ehrlich wäre, diese Eritreer integrieren würde und ihnen ein unbefristetes Aufenthaltsrecht gäbe.» Zurückschaffen könne man sie ja ohnehin nicht. Deshalb kritisiert auch er Sommarugas Aktion. Und Peter Meier von der Flüchtlingshilfe sagt: «Die Betroffenen können nicht in ihre Heimat zurück, weil dort Menschenrechtsverletzungen nach wie vor an der Tagesordnung sind.»

Cassis schürt Hoffnungen, Eritrea macht sie zunichte

Ein zweites Problem spitzt sich zu: Immer mehr Eritreer tauchen in die Illegalität ab. Denn bei neu eingehenden Asylgesuchen von Eritreern haben Schweizer Gerichte seit einiger Zeit eine verschärfte Praxis durchgesetzt. Allein 2018 haben die Behörden 900 Asylgesuche abgelehnt und die Wegweisung angeordnet. Da Zwangsausschaffungen nicht möglich sind, tauchen viele unter. Weil sie täglich bloss 12 Franken Nothilfe bekommen, ist das Risiko zudem gross, dass diese kriminell werden. Linke Politiker wie Wermuth kritisieren: Die Schweiz mache mit dieser verschärften Praxis aus den Betroffenen Sans-Papiers. Das sei «höchst unmenschlich».

Bürgerliche Politiker propagieren ein Rezept dagegen: Man müsse mit Eritrea ein Rückübernahmeabkommen schliessen, damit Zwangsausschaffungen möglich werden. Bundesrat Ignazio Cassis schürt diese Hoffnungen seit einer Woche: Er hat angekündigt, dass er sich mit dem eritreischen Aussenminister treffen wolle.

Doch der eritreische Honorarkonsul in der Schweiz, Toni Locher, winkt ab. «Der eritreische Aussenminister hat derzeit andere Sorgen.» Ein Treffen mit Cassis habe für ihn «nicht Priorität». Zudem sei Druck auf Eritrea «kontraproduktiv und zwangsweise Rückführungen ohnehin tabu». Hingegen seien Gespräche auf Augenhöhe mit dem Ziel einer Migrationspartnerschaft erwünscht. Locher schlägt vor, dass die Schweiz den weggewiesenen Eritreern mehr Geld auf die Rückreise gibt: «Viele Eritreer würden zurück­kehren, wenn man ihnen eine ­kurze Rückkehr-Lehre hier und mehr Startgeld in Eritrea anbieten würde.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/sommarugas-asyl-flop/story/20125410)

+++MITTELMEER
Die letzten Retter auf dem Mittelmeer warnen: «Tausende könnten sterben»
Nur zwei Rettungsschiffe sind im Mittelmeer und in Libyen eskaliert die Gewalt. Was passiert, wenn nun hunderttausende von Menschen flüchten? SonntagsBlick hat mit Gorden Isler (36) von der Seenotrettung-Organisation «Sea-Eye» gesprochen.
https://www.blick.ch/news/ausland/die-letzten-retter-auf-dem-mittelmeer-warnen-tausende-koennten-sterben-id15282809.html

+++LIBYEN
1 Million Flüchtlinge sitzen im nordafrikanischen Staat fest: Welche Folgen hat das Libyen-Chaos für die Migration?
Etwa eine Million Flüchtlinge sitzen in Libyen fest. Europa bezahlt die Regierung in Tripolis dafür, dass sie nicht übers Mittelmeer kommen. Doch nun droht das Regime zu -fallen.
https://www.blick.ch/news/politik/1-million-fluechtlinge-sitzen-im-nordafrikanischen-staat-fest-welche-folgen-hat-das-libyen-chaos-fuer-die-migration-id15282927.html

+++GASSE
Brennende Container und Flaschenwürfe: Mehrere Attacken auf Polizisten an der Zürcher Seepromenade
Am Osterwochenende ist es in Zürich zu mehreren Attacken auf Polizisten gekommen. An der Seepromenade wurden mehrere Container angezündet und Flaschen auf die Einsatzkräfte geworfen. Fünf Personen wurden verhaftet.
https://www.nzz.ch/zuerich/seepromenade-in-zuerich-mehrere-attacken-auf-polizisten-an-ostern-ld.1476677
-> https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/34jaehriger-greift-zuercher-polizisten-an/story/30829420
-> https://www.blick.ch/news/schweiz/zuerich/container-brennen-flaschen-fliegen-polizisten-verletzt-gewaltsame-ostertage-in-zuerich-id15283387.html
-> https://www.20min.ch/schweiz/zuerich/story/Ausschreitungen-am-Stadelhofen-20045677
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/angriffe-auf-zuercher-stadtpolizei-und-brennende-container-00109892/
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/angriffe-auf-zuercher-stadtpolizei-und-brennende-container-134372000
-> https://www.watson.ch/schweiz/blaulicht/964529747-angriffe-auf-zuercher-stadtpolizei-und-brennende-container
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/wueste-ausschreitungen-am-bahnhof-stadelhofen-134372356
-> https://www.stadt-zuerich.ch/pd/de/index/stadtpolizei_zuerich/medien/medienmitteilungen/2019/april/mehrere_angriffeaufstadtpolizistenueberdieosterfeiertage.html

+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Bern: Polizeieinsatz wegen Party bei unbewohntem Haus
In der Nacht auf Sonntag ist es in Bern zu einem Polizeieinsatz wegen einer Party bei einer unbewohnten Liegenschaft gekommen. Da sich unter anderem vermummte Personen vor Ort befanden, Sachbeschädigungen festgestellt wurden und Lärmklagen aus der Bevölkerung eingingen, mussten verschiedene Einsatzkräfte zusammengezogen werden. Schliesslich zogen die Personen nach wiederholter Vorsprache ab. Ermittlungen wurden aufgenommen.
https://www.police.be.ch/police/de/index/medien/medien.meldungNeu.html/police/de/meldungen/police/news/2019/04/20190421_1802_bern_polizeieinsatzwegenpartybeiunbewohntemhaus
-> https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/polizei-loest-party-auf/story/13967873

+++ANTIFA
(Fabian Eberhard, Sonntagsblick)
Neonazis haben an der Demo gegen den Ku-Klux-Klan-Aufmarsch in Schwyz ein Transparent entwendet. Nun taucht es in einem Video wieder auf, aufgenommen vom Schweizer Ableger von Combat 18 (Kampftruppe Adolf Hitler), ein bewaffneter Arm des Blood-and-Honour-Netzwerks. Blood and Honour ist in Deutschland und anderen Ländern verboten, Combat 18 als Terrororganisation eingestuft. Die Schweiz behandelt deren Aktivitäten noch immer stiefmütterlich. Dabei sollte uns allein die Existenz dieser Gruppierung hierzulande beunruhigen.
https://www.facebook.com/EberhardFabian/videos/667573287016975/

Rechsextreme Tempelritter
Der Rechtsterrorist und Attentäter von Christchurch erwähnt in seinem Manifest, er habe sich für die Tat Segen bei einem Tempelritter geholt. Auch Anders Breivik, der 2011 die Anschläge in Oslo und auf der Insel Utøya, bei denen 77 Menschen ums Leben kamen, begangen hatte, sah sich als ein Tempelritter.
Welche Überschneidungen gibt es mit Tempelrittervereinen in Deutschland?
Ein Feature.
https://www.freie-radios.net/94937

+++ANTIRA
«Homos sind perverse Schweine und gehören kastriert»
Heute ist eine solche Aussage, wie sie mir ein fremder Mann einmal um die Ohren geschmettert hat, in der Schweiz nicht strafbar – und soll gemäss über 70’000 Schweizer Bürger*innen auch zukünftig nicht strafrechtlich verfolgt werden. Letzten Mittwoch wurde im SRF Club über die kommende Abstimmung zur Ausweitung der Rassismus-Strafnorm diskutiert. Mit dabei waren unter anderen «Weltwoche»-Redaktor Rico Brandle und der Philosoph Philipp Tingler.
https://tsri.ch/zh/homos-sind-perverse-schweine/
-> SRF Club: https://www.srf.ch/play/tv/club/video/voll-schwul—was-darf-man-noch-sagen?id=e4b7bb34-80a4-44f2-abda-976cf4355035

+++SEXWORK
Sonntagszeitung 21.04.2019

Der Männerstrich – Sexarbeit im Verborgenen

Ist die Rede von Prostitution, geht es stets um Frauen. Dabei ist die Schweiz für Stricher sehr lukrativ. Wie ergeht es Männern, die ihren Körper verkaufen?

Tina Huber

Tarek war der Mann, den die Männer wollten. Für ein paar Stunden, eine Nacht, für immer. Die Heiratsanträge lehnte er ab, nur sie. Tarek ist 40 Jahre alt und hat zehn Jahre seines Lebens als Escort gearbeitet, hat seinen muskulösen, makellosen Körper verkauft. Schon eine Weile sitzt er da, auf einem Holzstuhl, der unter ihm zum Stühlchen wird, und sagt, wie er ins Gewerbe rutschte, erzählt vom Russen und dem Lexus, vom kuwaitischen Prinz. Aber jetzt hat er auch eine Frage: «Können wir darüber sprechen, was es mit dir macht, wenn du mit Menschen schläfst, obwohl du es nicht willst?»

Es ist die Frage, die kaum jemand stellt – nicht, wenn es um Männer geht. Diesen Sommer forderte die Zürcher Frauenzentrale eine «Schweiz ohne Freier», die Kommentare waren heftig. Stets im Fokus: die Frauen. Unerwähnt blieb, dass sich auch Männer anbieten (und Frauen für Sex bezahlen). Doch die Frage, ob käuflicher Sex menschenwürdig ist, gilt auch für Männer, selbst wenn sie nicht ins Opferschema passen, schon gar nicht einer wie Tarek.

Nur die Aids-Hilfen setzen sich öffentlich für Stricher ein

Ist das Stigma des Strichers kleiner als jenes der Hure? Im Gegenteil, sagt Oliver Vrankovic: «Männliche Prostitution ist ein grösseres Tabu als weibliche.» Er leitet das Projekt Herrmann, ein Angebot des Checkpoint Zürich für Männer im Sexgewerbe. «Weibliche Prostituierte haben eine Lobby. Nebst Frauenverbänden solidarisieren sich viele Frauen aus der Bevölkerung. Männlichen Prostituierten fehlt dieser gesellschaftliche Rückhalt.» Sie hätten keine öffentliche Stimme, abgesehen von den Aids-Hilfen.

Vrankovics Büro liegt wenige Schritte entfernt vom Zürcher Sihlquai, früher standen dort die Mädchen am Strassenrand. Vor fünf Jahren hat die Stadt sie auf den Strichplatz umquartiert, für 2,4 Millionen Franken Steuergelder. Die Stricher – Vrankovic spricht von «Male Sexworkers» – können nirgends offiziell arbeiten, bestenfalls sind sie geduldet. Eine nationale Studie ging 2015 von jährlich bis zu 20’000 Frauen aus, die im Erotikgewerbe tätig sind. Der Schwulenstrich ist viel kleiner und nur in Zürich, Genf und Lausanne sichtbar.

Während Vrankovic für Zürich mit ungefähr 700 Strichern rechnet, nennt die Fachstelle in Genf eine Schätzung von 200 Männern. Es könnten auch gut sehr viel mehr sein: Männliche Prostitution findet im Verborgenen statt. Klassische Bordelle gibt es nicht, lediglich Schwulensaunas und einige Bars – etwa den Predigerhof im Zürcher Niederdorf –, wo Stricher toleriert werden. Darum werben viele auf Gay-Onlineportalen an.

«Soll ich in die Details gehen?»

So wie Tarek, bis vor fünf Jahren, als er seinen letzten Freund kennen lernte. Fragt man ihn nach seinem ersten Freier, erzählt er von einer nicht unangenehmen Begegnung. Tarek hat den Körper eines Türstehers und stammt aus dem Libanon, solide Mittelschicht. In Wahrheit heisst er anders. Sein erster Freier, das kam so: Während des Studiums in den USA sprach ihn auf der Strasse jemand an. Er würde bestimmt einen guten Escort abgeben, sagte der Mann, ein Russe, ohne Sex von ihm zu wollen. Tarek zuckt die Schultern, «ich sah halt gut aus».

Tarek ist einer jener Menschen, nach denen man sich umdreht, wenn sie einen Raum betreten, und er weiss das. Also probierte er es aus. Sein erster Freier war ein Mann um die 70, Harvard-Absolvent, er holte ihn mit dem Lexus ab. «Soll ich in die Details gehen?», fragt Tarek. Bitte. Der Gentleman wünschte, dass Tarek sich auszog, dann stellte er sich hinter ihn und rieb sich an ihm bis zum Höhepunkt. Dafür zahlte er 200 Dollar plus 50 Dollar Trinkgeld.

Immer auf Viagra, oft auf Drogen

Tarek machte weiter, erst in den USA, später in Deutschland und der Schweiz. Er warb auf Gay-Websites, liess sich für 100 Dollar die Füsse lecken oder verbrachte für 1000 Dollar die Nacht beim Kunden. Sagte oft Ja, manchmal Nein. Etwa, als ein Kunde wünschte, dass er ihm ein Stück Arm abbeisse. Vorarephilie nennt sich der Fetisch, wenn jemand sexuell erregt wird durch die Vorstellung, verschlungen zu werden. Auch jene Kunden wies er zurück, das kam ab und zu vor, die auf ihn koten wollten. Urinieren ja, koten nein.

Seine Freier waren Singlemänner, Familienväter, heimliche Schwule. Einmal habe ihn ein Prinz aus Kuwait Businessclass nach Genf einfliegen lassen, 2000 Franken die Nacht, «er wollte gefickt werden». Immer war Tarek auf Viagra, oft auf Drogen. Weil er nicht ablehnen wollte, wenn Kunden eine Linie anboten, und ja, manchmal hätte er es ohne nicht ausgehalten.

Immer wieder fallen Tarek neue, absonderliche Anekdoten ein, über die er so pragmatisch spricht, wie man eben über eine Zeit sprechen kann, in der man Menschen intimste sexuelle Fantasien erfüllt, sich aber Tage später nicht an ihre Gesichter erinnern kann. Tareks Familie – nur die Schwester weiss, dass er schwul ist – unterstützte ihn finanziell, ausserdem blieb die Sexarbeit stets Nebenjob. Warum also? «Es ging ums Ego, um Whiskey und Koks, um einen Lifestyle eben», sagt Tarek.

Wie zerstörend es ist, realisierte er nur langsam. Je länger er gegen Geld mit Fremden schlief, desto mehr verlor er die Lust privat. «Zu viel Sex ruiniert den Sex», sagt Tarek. Ihn, der auswärts immer konnte, immer können musste, verliess zu Hause seine Manneskraft, seine Partner wurden zu Kunden. Von all den Escorts, die er kenne, sagt Tarek, schaffe es nur eine Handvoll, längere Zeit im Sexgewerbe zu arbeiten, ohne psychisch Schaden zu nehmen. Andere kommen von den Drogen nicht los – Crystal Meth, GBL, Ecstasy –, sie schlafen nicht mehr, haben Depressionen, auch Anabolika sind verbreitet.

Blowjobs ab 20 Franken

Dabei war Tarek privilegiert, konnte sich seine Kunden auslesen. Er sagte sich, er tue es freiwillig. Nicht wie die Strichjungen, die Oliver Vrankovics Team in der Zürcher Altstadt besucht. Sie verkaufen sich aus Geldnot, einige sind nicht einmal homosexuell. «Junge Roma erzählen uns, dass sie zu Hause Frau und Kinder haben», sagt Vrankovic.

Der Zürcher Schwulenstrich folgt einem klaren Gefüge: Latinos werben online, Roma und Asiaten teilen sich Schwulensaunas und Bars auf. Die meisten kommen mit Touristenvisa und reisen nach ein paar Wochen weiter: nach Berlin, London, Paris. In der Szene ist bekannt, dass sich die Zürcher Stadtpolizei – auch wenn sie dies nicht explizit bestätigen will – mit gefälschten Profilen auf Schwulenforen tummelt, um etwa Verstösse gegen das Ausländergesetz aufzudecken. Die Schweiz ist für Escorts lukrativ, ihre Dichte vergleichsweise hoch. Wobei wie überall in der Branche die Preise fallen: Ein Blowjob ist heute schon ab 20 Franken zu haben.

Klassische Zuhälter kennt der Männerstrich nicht. Vrankovic sagt: «Oft gibt aber eine Art Stammesältester, ein Silberrücken, Infos weiter: wo man Zimmer und Kondome findet, wie die Gesundheitsversorgung funktioniert.» Sind Stricher also weniger von Menschenhandel und Ausbeutung betroffen? Nur bedingt, sagt Vrankovic. Einerseits seien viele auf Zimmer zu Wucherpreisen angewiesen. Andererseits seien jene, die sich im Internet anbieten würden, zwar unabhängiger, ohne den Schutz der Community aber auch verletzlicher, etwa wenn ein Freier gewalttätig werde.

Weibliche Prostituierte sind ihren Freiern schon rein körperlich unterlegen. Im Homosexuellen-Milieu ist das Machtgefüge komplexer, es gibt auch Berichte über gewalttätige Stricher. Im Buch «Männer kaufen» des Journalisten Oliver Demont über den Zürcher Schwulenstrich sagt ein Freier: «Im Heterobereich ist das Gefälle ja meist klar: da die Hure, das Loch, das Objekt. Anders bei den Strichern. Gerade für den heterosexuellen Stricher kann es ein Kick sein, wenn das arme, schwule Würstchen bereit ist, Geld zu zahlen, nur damit er ihm einen blasen darf.»

Gebrauchte Socken? Macht 15 Franken

Auf einem der Gay-Portale, auf Planetromeo.ch, finden wir David, wie er sich nennt. Sein Profilbild zeigt ihn nackt, von hinten. Er streicht gerade eine Dachschräge türkisblau. Das ist sein Geschäftsmodell: Handwerkerarbeiten ausführen. Und dabei nackt sein. David ist 28 und äusserlich das Gegenstück zu Tarek: schmächtige Brust, lange blonde Haare. Er hat eine Jugend in der süddeutschen Provinz und eine Malerlehre hinter sich.

Vor ein paar Jahren fragte ihn ein Kunde, ob er die Wand auch nackt streichen würde, für 25 Euro. «Also hab ich den Gürtel geöffnet und die Hose fallen gelassen», sagt David, seine Handwerkerhände auf dem Tisch. Seither macht er das regelmässig, irgendwo gibts immer eine Wand zu streichen. In Deutschland lief das Geschäft gut, manchmal verdiente er 1500 Euro Sackgeld im Monat. Der Schweizer sei vorsichtiger, warte erst mal ab.

Davids Kunden sind eher gesetzte Herren, schwul oder hetero. Da gab es den Villenbesitzer nahe Zürich, der das ganze Haus neu streichen liess, oder den Herrn aus Luzern, der sich als Schriftsteller Herbert vorstellte und eine nackte Muse wünschte. Den ganzen Tag bewegte sich David ohne Kleider frei im Haus, holte sich ab und an einen Kaffee, das war dem Herrn 300 Franken wert. Ein Kunde kaufte ihm die gebrauchten Socken ab, 15 Franken.

Beginnt Prostitution schon beim Trophy Boy?

Warum tut er das? David, der sich als bisexuell bezeichnet und meist Beziehungen zu Frauen hat, zuckt die Schultern. «Weil ich gern nackt bin, das fühlt sich so frei an.» FKK mag er auch. Keine Ahnung, woher das komme, von zu Hause nicht, die Eltern seien verklemmt. Fast immer fragen ihn die Kunden, ob ein bisschen mehr drinliege, fast immer lehnt er ab. Kein Sex, kein Blowjob. Er wisse, sagt David, dass er psychisch nicht stabil genug sei, um als «echter» Escort zu arbeiten. «Es würde mich kaputtmachen.»

Ein Verbot der Prostitution ist in der Schweiz trotz der neuerlichen Debatte nicht absehbar. Und die Männer bleiben im Schatten. Dabei sind sie, obwohl ihren Freiern körperlich ebenbürtig, genauso verletzlich wie Frauen. Tarek, heute in der Sozialen Arbeit tätig, meldet sich einen Tag nach dem Treffen per SMS: Vielleicht beginne käuflicher Sex schon beim Sugar Daddy mit seinem Trophy Boy und ende bei der Vergewaltigung, denn als das könne man Prostitution auch betrachten: als legale Vergewaltigung. «Sex ist eine wunderbare Sache, die nicht mit Geld beschmutzt werden sollte.» Mit seinem letzten Freier ist er heute gut befreundet. Es soll sein allerletzter Freier bleiben.
(https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/standard/Der-Maennerstrich–Sexarbeit-im-Verborgenen/story/22875729)