Medienspiegel 29. Juli 2018

+++SCHWEIZ
Die SVP macht Flüchtlinge reicher, als sie sind
Eine Stammtischthese findet den Weg ins Bundeshaus: Asylsuchende erhielten mehr Geld als Schweizer AHV-Rentner. Mit der Realität hat das wenig zu tun.
https://www.tagesanzeiger.ch/schweiz/standard/die-svp-macht-fluechtlinge-reicher-als-sie-sind/story/31753216

+++DEUTSCHLAND
Demo für Seenotrettung in Dresden: Mal etwas anderes als Pegida
1.300 demonstrieren in Dresden für die Seenotrettung von Geflüchteten. Überall in der Stadt tauchen symbolische Rettungsringe auf.
https://www.taz.de/Demo-fuer-Seenotrettung-in-Dresden/!5520341/

Wieder einmal: AfD fordert Schusswaffeneinsatz an Grenze
Bereits die Berliner AfD-Chefin von Storch plädierte dafür. Nun fordert der sächsische AfD-Generalsekretär Zwerg, an der Grenze notfalls auch Schusswaffen einzusetzen. Die CDU reagiert prompt und kritisiert die „Geschichtsvergessenheit“.
https://www.n-tv.de/politik/AfD-fordert-Schusswaffeneinsatz-an-Grenze-article20550060.html

+++MITTELMEER
Kriminalisierung der Seenotrettung: „Dass Menschen ertrinken, ist Kalkül“
Warum Demos für Seenotrettung mehr sind als nur Symbolpolitik, erklären Verena Papke von SOS Méditerranée und die Rapperin Sookee.
https://www.taz.de/Kriminalisierung-der-Seenotrettung/!5520342/

Press Release on the Sarost 5 Disembarkation Announcement
Watch the Med Alarm Phone has been in regular contact with crew members as well as rescued people of the Sarost 5 since the first distress call that took place in the Maltese SAR zone on Friday 13.07.18. The 40 rescued people have been at sea for more than two weeks. The rescued people and the crew of the supply vessel Sarost 5 have been stationed off the port of Zarzis since Monday 16.07.18 and have endured unbearable living conditions on board. We are relieved that the Tunisian government will let the people disembark for ‘humanitarian reasons’. However, we remain extremely concerned about the following points:
https://alarmphone.org/en/2018/07/29/press-release-on-the-sarost-5-disembarkation-announcement/

Tag der Seenotretter: Tausende gegen das Sterben im Meer
Interessierte können sich am Sonntag über die Arbeit der Seenotretter informieren. In vielen Städten wird zudem für eine humanitäre Flüchtlingspolitik demonstriert.
http://www.taz.de/!5523911/

Seenotrettung: „Wir werden sie niemals zurück in diese Hölle bringen“
Italien hat die Koordination der Seenotrettung auf dem Mittelmeer an die libysche Küstenwache abgegeben. Das bringt Retter in einen juristischen und moralischen Konflikt.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-07/seenotrettung-aquarius-fluechtlinge-mittelmeer-libyen-eu/komplettansicht

Bootsunglück: Türkische Flüchtlinge vor Lesbos ertrunken
Sechs Menschen sind bei einem Bootsunglück vor Lesbos gestorben, darunter drei Babys. Bei den Flüchtlingen soll es sich um türkische Staatsbürger gehandelt haben – vermutlich Anhänger der Gülen-Bewegung.
http://www.spiegel.de/politik/ausland/tuerkei-fluechtlinge-vor-lesbos-ertrunken-angeblich-guelen-anhaenger-a-1220679.html

Steigende Flüchtlingszahlen: Spanien fordert europäische Lösung
Immer mehr Menschen machen sich auf den Weg von Afrika nach Spanien. Die Regierung bemüht sich, sie zu versorgen. Sie macht aber auch klar, dass eine europäische Lösung her muss.
https://www.tagesschau.de/ausland/spanien-fluechtlinge-113.html

Straße von Gibraltar: Migranten erreichen spanischen Badestrand
Die Route von Nordafrika nach Spanien ist dieses Jahr die beliebteste für Migranten auf dem Weg nach Europa. In Spanien sind 2018 bislang mehr als 20.000 Personen eingetroffen. Nun gibt es seltene Bilder aus Tarifa.
https://www.welt.de/politik/ausland/article180127094/Von-Marokko-nach-Spanien-Migranten-erreichen-Badestrand-bei-Tarifa.html
-> https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/Innert-zwei-Tagen-Mehr-als-1200-Fluechtlinge-landen-in-Spanien/story/14277654?utm_source=twitter&utm_campaign=Ed_Social_Post&utm_medium=Ed_Post_TA
-> https://www.zdf.de/nachrichten/heute/das-fluchtziel-heisst-nun-spanien-100.html
-> http://www.20min.ch/ausland/news/story/Mehr-als-1400-Fluechtlinge-landen-binnen-drei-Tagen-in-Spanien-an-10454271

+++EUROPA
1200 Migranten in zwei Tagen: Spanien fordert europäische Migrationslösung
Nach neuen Rettungsaktionen im Mittelmeer mahnt Madrid eine schnelle Lösung an – auf EU-Ebene.
https://www.srf.ch/news/international/1200-migranten-in-zwei-tagen-spanien-fordert-europaeische-migrationsloesung

+++MAROKKO
Boat-people nach Spanien: Hierarchien in den Communities brechen ein
In der aktuellen marokkanischen Wochenzeitung Telquel (Nr. 822) wird ausführlich berichtet, wie in den letzten Jahren die Hierarchien in den migrantischen westafrikanischen Communities zusammengebrochen sind. Befragte Repräsentanten der landesspezifischen Zusammenschlüsse in Marokko berichten, dass sie früher in allen größeren marokkanischen Städten ein regelrechtes Personenregistrierungssystem hatten, um Ankunft, Aufenthalt, Abfahrt und Reiserichtung ihrer Landsleute festhalten. Ertranken Boat-people im westlichen Mittelmeer, so zogen die Gerichtsmediziner  die Identifizierungsfähigkeiten dieser Community-Repräsentanten heran. Inzwischen sind die meisten Repräsentanten in Marokko legalisiert, während die neuen, jüngeren Durchreisenden der Registrierung durch ihre jeweilige Community in Marokko zu entgehen versuchen. Diese sind nicht mehr so sehr auf die kleinen sozialen Dienste der etablierten migrantischen Communities angewiesen, sondern sind von Abfahrt aus ihrem Herkunftsort bis Ankunft in Europa viel besser vorbereitet und organisiert. Fehlt es an Geld, so nutzen sie die Social Media zusammen mit den transnationalen Geldüberweisungsmöglichkeiten, anstatt auf die innercommunitäre Solidarität zurückzugreifen. – Die Identifizierung Ertrunkener sei dadurch schwieriger geworden. Aus der neuen Generation der Durchreisenden kann es sich niemand erlauben, zur Identifizierung Ertrunkener beispielsweise zur Gerichtsmedizin nach Nador zu reisen, weil man dort sofort festgenommen und nach Südmarokko zurückgebracht werde, auch wenn man ein Visum für den Aufenthalt in Marokko habe. – Die Reportage wurde u.a. in Nador im Krankenhaus El Hassani, bei der Rechtsmedizin und am Friedhof der Stadt sowie in Rabat und Tanger geführt. Die Menschenrechtsorganisation AMDH Nador sowie Repräsentanten von Communities werden zitiert. – Es heisst, die marokkanische Rechtsmedizin habe eine Datenbank mit DNA-Angaben Ertrunkener aufgebaut. Überprüfen lässt sich diese Angabe nicht. Laut UNHCR seien von den mehr als 46.000 Personen, die zwischen 2000 und 2016 im Mittelmeer ertrunken seien, 71 % nicht geborgen worden.
http://ffm-online.org/2018/07/29/boat-people-nach-spanien-hierarchien-in-den-communities-brechen-ein

+++ERITREA
Sonntagszeitung 29.07.2018

Und plötzlich kehrt das Leben zurück

In Eritrea weckt die Aussöhnung mit Äthiopien Hoffnung auf Veränderung. Besuch in einem Land im Aufbruch.

Bernd Dörries

Wenige Minuten vor Asmara sieht es kurz so aus, als würde dieser historische Flug sein Ziel doch nicht erreichen, nach dem sich viele an Bord seit Jahrzehnten sehnen. Es ist kurz nach Mittag am Mittwoch vergangener Woche, die grosse Boeing 787 Dreamliner der Ethiopian Airlines nähert sich der Hauptstadt Eritreas, der erste Direktflug seit 20 Jahren. Es sind nur noch Minuten bis zur Landung, man sieht schon Menschen auf den Strassen, aber noch immer stehen Passagiere in den Gängen, trinken Champagner, filmen mit Handys. Auch nicht durch die zunehmend eindringlichen Durchsagen sind sie auf ihre Plätze zu bewegen – eine Landung im Stehen, erst im letzten Moment werden sie von den Stewardessen auf ihre Sitze geschubst, alle lachen.

An Bord sind Menschen, die ihre Kinder, Väter und Mütter seit zwanzig Jahren nicht gesehen haben, deren engste Verwandte zu Feinden wurden, als Äthiopien und Eritrea 1998 in den Krieg gegenander zogen, zu denen es keinen Kontakt mehr geben durfte. Manche hatten nicht mehr geglaubt, ihre Liebsten je wiederzusehen, es gab bis vor wenigen Wochen keinerlei Grund, zu glauben, dass sich daran etwas ändern sollte. «Ich war am Leben, aber doch schon tot», sagt Adisalem Abu. Ein hagerer Mann, der seinen besten Anzug angezogen hat für diesen Tag, mit einem Kugelschreiber in der Tasche des Jacketts, so, als gebe es etwas zu notieren. Seit 16 Jahren hat er seine Töchter nicht mehr gesehen, seit 16 Jahren, sagt er, «war mein Leben ohne Geschmack, ohne Bedeutung». Abu ist Äthiopier, er hatte eine Eritreerin geheiratet, es war eine von vielen Ehen über die Grenzen hinweg, die auf den Karten existierten, aber nicht in allen Köpfen.

Als der Krieg ausbrach, war seine Frau nicht mehr erwünscht, durfte nicht arbeiten und ging 2002 ins Nachbarland mit den beiden Töchtern. Die Grenzen schlossen sich. «Ich habe mir oft gewünscht, ich wäre tot», sagt Abu im Flugzeug. Am Flughafen wartet das neue Leben, stehen die beiden Töchter und nehmen den Vater in den Arm, es gibt keine Worte, nur Tränen.

Das «Nordkorea Afrikas»

Es ist ein Schauspiel, das sich jeden Tag wiederholt, mit jedem Direktflug ändern sich Schicksale, finden Leben wieder zusammen. Die Menschen drücken sich so fest, als könnten sie selbst nicht glauben, was da passiert. «The State of Eritrea» steht auf den Visa-Formularen am Flughafen von Asmara, wo nun die Neuankömmlinge in der Schlange stehen. «The State of Eritrea» hat im Englischen eine interessante Doppeldeutigkeit, weil es den Staat benennt, aber auch den Zustand des Landes.

Hunderttausende Eritreer haben in den vergangenen Jahren mit den Füssen über den Zustand ihres Landes abgestimmt: Aus keinem anderen afrikanischen Land fliehen so viele in die Schweiz. Sie fliehen vor dem Wehrdienst, der ein Leben lang dauern kann, und einer Zukunft, die nur aus Warten besteht. Diejenigen, die geblieben sind, wollen nun wissen, ob sich das Bleiben gelohnt hat. «Wie seht ihr uns?», fragt ein Junge auf dem Basketballplatz, ein Jugendclub in einem Hinterhof in Asmara. Zwei Körbe stehen da und eine kleine Tribüne, auf der eine Handvoll Jugendlicher herumhängt und darauf wartet, dass das Leben losgeht. «Wie seht ihr uns?», bedeutet letztlich: Wo stehen wir? Gibt es Hoffnung? Viele Jahre lang galt Eritrea als das «Nordkorea Afrikas», in dem die Zustände derart katastrophal sind, dass Flüchtlinge von dort meist ohne grosse Prüfung anerkannt wurden. Die Erzählungen über die Zustände kamen meist von denen, die gerade geflüchtet waren – und wenig Interesse hatten, das Bild auch nur ein wenig aufzuhellen.

Asmara gilt vielen als die schönste Hauptstadt Afrikas

Was man in Asmara nun aber sieht, entspricht nicht dem Nordkorea Afrikas, man ist eher in der Toskana gelandet. Asmara gilt vielen als die schönste Hauptstadt Afrikas, die Italiener kamen 1882 hier an und gründeten ihre erste Kolonie, gegen den heftigen Widerstand der Eritreer. Die Italiener sind seit ihrer Niederlage im Zweiten Weltkrieg wieder weg, geblieben sind ihre Gebäude und ein Teil der Lebensart. Die koloniale Attitüde, die Rassentrennung und die Grausamkeiten haben die Eritreer den Italienern nicht verziehen, den Latte macchiato, die vielen Cafés und die grandiose Architektur haben sie aber gerne behalten und gepflegt. Es wird flaniert, mit einem Panino in der Hand, es ist so angenehm und gemütlich wie in kaum einer anderen afrikanischen Metropole. Es macht nicht den Eindruck, als geschähen hier unangenehme Dinge, ausser dass der Cappuccino manchmal zu kalt serviert wird.

«Das Leben hier ist die Hölle, wir haben keine Hoffnung», sagt der Junge auf dem Basketballplatz, der seinen Namen nicht nennen will. Seit Jahren sieht er seine Freunde wegziehen, seit Jahren überlegt er, ob er mitgehen soll. Er ist 23 Jahre alt, seit mehr als fünf Jahren ist er im National Service, einer Art Wehr- und Arbeitsdienst, der nach Ansicht von Menschenrechtlern der Versklavung recht nahe kommt – und der Hauptgrund ist, warum Eritreer in Europa so häufig Asyl bekommen. Nach dem Gesetz darf der Dienst nur 18 Monate dauern, das Regime hat ihn aber für jeden unbegrenzt verlängert, den Menschen das Recht genommen, über ihr eigenes Leben zu bestimmen. «Ich kann mir nichts eigenes aufbauen, ich muss kommen, wenn man mich ruft», sagt der junge Mann. Wer Glück und gute Beziehungen hat, der sitzt den Dienst in einer gemütlichen Amtsstube eines Ministeriums ab. Wer Pech hat, der muss in die Küstenebene, wo die Sonne töten kann, muss mit Spitzhacke und ohne Wasser Strassen bauen. Man trifft in Asmara jeden Tag Menschen, die der Dienst zu Krüppeln gemacht hat, mit kaputten Rücken, ausgeleierten Gliedern, seit Jahrzehnten in Ketten gelegt vom Staat. Egal, wen man fragt, die Alten in den Gassen oder die Jugendlichen auf dem Basketballplatz: Das Ende des National Service ist das Erste, was sich alle wünschen.

Osmanen, Ägypter, Italiener, Briten und Äthiopier

Dabei begann dieser Dienst einmal als gute Idee. Es war das Jahr 1991, Eritrea war gerade das erste Mal eigenständig geworden, hatte die Unabhängigkeit von Äthiopien erhalten, war zum ersten Mal in der Geschichte frei, so haben es damals viele empfunden. Es gibt wohl nur wenige Nationen auf der Welt, deren Bürger ein so empfindsames kollektives Gedächtnis haben. In Eritrea kann fast jeder die Epochen der Geschichte aufzählen, in denen man unter Fremdherrschaft stand: Osmanen, Ägypter, Italiener, Briten und Äthiopier – sie alle dachten zuerst an sich, nicht an Eritrea.

Mit der formalen Unabhängigkeit 1993 sollte alles anders werden, der National Service ein patriotischer Beitrag aller für alle, ein Dienst zum Aufbau der Nation. Es waren ein paar goldene Jahre voller Euphorie, voller Glück, das Schicksal in der eigenen Hand zu haben. Dann zogen Eritrea und Äthiopien wegen des Zugangs zum Meer, ein paar Grenzstreitigkeiten und der Dickköpfigkeit ihrer Führer in den Krieg – zwei Jahre lang mit 80’000 Toten.

Seitdem rechtfertigt das Regime den ewigen Frondienst mit der Bedrohung durch den aggressiven Nachbarn. Schiebt den ganzen Zustand des Landes auf den Feind. Ganz falsch ist das nicht. Nach dem Krieg hatten beide Länder vereinbart, einen neutralen Schiedsspruch zur Grenzfrage anzuerkennen. Als der zugunsten Eritreas ausfiel, überlegte es sich Äthiopien anders. Immer wieder forderten die Eritreer die UNO auf, den Schiedsspruch umzusetzen, immer wieder passierte nichts. Die USA und andere Grossmächte hatten sich auf die Seite Äthiopiens geschlagen, den Partner im Kampf gegen Terror, der selbst seine Bevölkerung terrorisierte. Eritrea zog sich zurück, machte die Bedrohung von aussen zur Staatsräson.

Aus Befreiungskriegern wurden Unterdrücker

Nun ist die Bedrohung auf einmal weg. Seit April regiert ein neuer Ministerpräsident in Äthiopien, der Liebe anstatt Hass predigt, der Frieden schliesst und Demokratie verspricht. Der dem Regime in Eritrea die Handlungsgrundlage der vergangenen Jahrzehnte unter den Füssen weggezogen hat. «Wir müssen das erst einmal verdauen», sagt Yemane Gebremeskel, der Informationsminister Eritreas. «Für uns kommt das völlig überraschend.» Gebremeskel sitzt in seinem Büro, ein riesiges Ministerium auf einem grossen Hügel, den damals die Italiener als ersten eingenommen hatten. Von hier aus kontrolliert der Informationsminister nun das, was Zeitungen, Radio und Fernsehsender verbreiten. Alle Medien des Landes sind – um die Arbeitswege zu verkürzen – gleich im selben Gebäude untergebracht. Jahrelang war die Botschaft klar, Äthiopien war der Feind und Präsident Isayas Afewerki der strenge Vater der Nation, dem zu widersprechen Verrat am Befreiungskampf ist.

In diesen Tagen sieht man den Präsidenten oft lächeln im Fernsehen, einmal sogar in Tränen, für viele Eritreer bisher undenkbar und schon allein ein Zeichen der Hoffnung, dass sich etwas ändert. Aber tut es das auch? Kann sich ein Regime, das sich bisher jedem Wandel widersetzte, selbst reformieren? «Der National Service wird normalisiert, das Gesetz ist klar, es sind nur 18 Monate», sagt der Informationsminister. Der jetzige Zustand sei eine Folge des Kriegszustandes, der nun aber beendet werden soll. Wann genau? «Das kann ich nicht sicher sagen», sagt der Minister.

Nach der Unabhängigkeit hatten die Befreiungskrieger in der Hauptstadt Asmara eine riesige Sandale aufgestellt, Monument und Symbol der Kampfes, in dem alle gleich waren, alle das gleiche Schuhwerk trugen. Mit den Jahren wurde das System ungleicher und korrupter, aus Befreiungskriegern in der Regierung wurden Unterdrücker. Die Sandale verschwand plötzlich von ihrem Sockel, sollte modernisiert und mit einem zeitgemässen Design versehen werden – was bis heute nicht gelang, der Platz auf dem Sockel ist leer. Das Regime muss nun wohl versuchen, das zu schaffen, was mit der Sandale bisher nicht gelang: den Übergang in eine neue Zeit. Nur wie soll das gehen? «Niemand hat vorhergesagt, dass sich die Dinge in diesem Tempo bewegen. Die Erleichterung und Freude ist riesig», sagt der Informationsminister. Er drückt aber auch nicht unbedingt aufs Tempo. «Niemand kann sagen, was in fünf Monaten ist.»

Der junge Premier in Äthiopien gibt den Takt vor

Und niemand kann sagen, ob die Eritreer der Regierung noch so lange Zeit geben. Der junge Premier in Äthiopien, den alle Eritreer jeden Tag im Fernsehen der Nachbarn schauen, gibt den Takt vor, verkündet jeden Tag eine Reform, öffnet jeden Tag das Fenster zur Freiheit einen weiteren Spalt. Der lächelnde Präsident im eigenen Land hat in den Augen mancher zwar Sympathien zurückgewonnen. «Wir erwarten nun aber, dass er sich von den korrupten Ministern in der Regierung trennen wird, und glauben auch, dass er das tut», sagt ein junger Mann auf dem Basketballplatz.

Bisher hat die Regierung mit keinem Wort deutlich gemacht, ob sie das auch so sieht. Alles ist anders in Eritrea, das plötzlich in Frieden lebt mit dem alten Feind. Und alles ist gleich, alle warten auf ein klares Wort des Präsidenten, der bisher wenig geredet und für seine Verhältnisse viel gelächelt hat.
(https://www.derbund.ch/sonntagszeitung/und-ploetzlich-kehrt-das-leben-zurueck/story/15680337)

+++FREIRÄUME
8000 Personen am Berner «No Borders, No Nations»-Festival
Mit dem jährlich vor dem 1. August stattfindenden Sommerfest auf der Berner Schützenmatte setzt die Reitschule ein «Zeichen gegen Nationalismus».
https://www.derbund.ch/bern/stadt/8000-personen-am-berner-no-borders-no-nationsfestival/story/29344884
-> https://www.bernerzeitung.ch/region/bern/8000-personen-bei-no-borders-no-nations/story/31500177

+++GASSE
Besuch beim Gassentierarzt: Ziemlich beste Freunde
ZÜRICH – Oft ist er noch der einzige Freund – Hunde geben Randständigen Herzenswärme und einen Lebenssinn. Beim Gassentierarzt werden Vierbeiner und Besitzer betreut.
https://www.blick.ch/news/schweiz/zuerich/besuch-beim-gassentierarzt-ziemlich-beste-freunde-id8668326.html

+++WOWOWOHNEN?
SBB nimmt eine halbe Milliarde pro Jahr an Miete ein
Weitgehend unbemerkt sind die Bundesbahnen zur zweitgrössten Immobilienfirma der Schweiz angewachsen – mit «rekordhohen» Erträgen.
https://www.tagesanzeiger.ch/sonntagszeitung/sbb-fahren-voll-auf-immobilien-ab/story/15016309

+++DROGENPOLITIK
NZZ am Sonntag 29.07.2018

Einsamkeit treibt Senioren in die Sucht

Abhängige von Beruhigungsmitteln stellen Altersheime vor Probleme. Dabei sind die Medikamente nur bei einem Drittel der Patienten notwendig.

von Laurina Waltersperger

Sie wälzt sich jede Nacht. Schlafen ist für Ulla Keller seit Jahren ein Kampf. Die Probleme kommen, wenn der Tag geht. Zuerst nimmt sie Baldrian. Später wiegen sie jahrelang mehrere Gläser Rotwein in den Schlaf. Bis zur Pensionierung. Die Arbeit ist weg, die Woche einsam. Der Wein schmeckt ihr schon lange nicht mehr. Die Schlafprobleme verstärken sich. Keller geht zum Arzt und bekommt Schlafmittel. Sie ist zehn Jahre abhängig, bis sich die heute 80-Jährige beraten lässt.

Die Schilderung stammt von der Zürcher Fachstelle für Alkoholprobleme, die auch Tablettensüchtige berät. Keller ist kein Einzelfall: Sucht im Alter ist ein grosses Problem, darüber sind sich Experten einig. Sie schätzen, dass in der Schweiz jeder dritte Alkoholabhängige, der älter als 65 Jahre ist, erst nach der Pensionierung süchtig wurde.

Die Altersgruppe der über 74-Jährigen greift am häufigsten regelmässig zu Beruhigungsmitteln. Letzteres hat alarmierende Folgen: Psychoaktive Arzneien, sogenannte Benzodiazepine, werden bei Senioren gegen zahlreiche psychiatrische Störungen verschrieben. In Pflegeeinrichtungen häufen sich Fälle solcher Langzeitpatienten.

In immer grösserer Zahl kommen Senioren wegen Tablettensucht zur Fachstelle. Sie lassen sich von Psychologin Petra Bald behandeln. Viele nehmen regelrechte Medikamenten-Cocktails. Etwa die Hälfte der über 60-Jährigen bezieht mindestens drei Arzneien gegen chronischen Leiden, bei 20 Prozent sind es über fünf Substanzen, zeigt die Statistik. «Folglich kommt es häufig zu Kognitionsstörungen, verlangsamter Reaktionsfähigkeit und Stürzen», sagt Bald.

Alkohol- und Tablettensucht würden im Alter oft bagatellisiert. Angehörige sagten: «Lasst ihm seinen Rotwein.» Öfter als bei jüngeren Menschen verschrieben Ärzte Schlafmittel. Doch es gebe Handlungsbedarf.

Riskante Nebenwirkungen

Alarmiert sind auch Ärzte. Benzos, wie die Beruhigungsmittel abgekürzt heissen, sind wie «Watte für die Seele», sagen Abhängige. «Doch die Nebenwirkungen im Alter sind bedenklich», sagt Andreas Stuck, Professor und Chefarzt für Geriatrie am Inselspital Bern. Bei Krankheiten wie Parkinson oder Demenz erhöhten Benzos die Sturzgefahr.

Wenn Senioren die Arzneien über längere Zeit einnähmen, sei eine Absetzung wegen starker Entzugserscheinungen schwierig. Zudem seien ältere Menschen überdosisgefährdet, da ihr Stoffwechsel langsamer werde und sich so die Substanzen im Körper konzentrierten. Ein 80-Jähriger brauche noch die halbe Dosis eines 70-Jährigen. «Wer Benzos über längere Zeit einnimmt, sollte die Dosis regelmässig mit dem Arzt besprechen», sagt Stuck.

Mit dieser Situation sind Pflegeeinrichtungen gefordert. Mehr als ein Zehntel aller Pflegeheimbewohner bezog 2016 ein mittellang wirksames Benzodiazepin, schreibt Helsana im neuesten Arzneimittelreport. Der Konsum sei in der Schweiz im internationalen Vergleich sehr hoch, sagt Luca Gabutti, Chefarzt für Innere Medizin am Regionalspital Bellinzona. Nur gerade ein Drittel der Verschreibungen sei als angemessen einzustufen.

Das heisst: Meistens werden Benzos verschrieben, obschon es andere Möglichkeiten oder Mittel gäbe. Die gegenwärtige Situation sei eine regelrechte «Epidemie». Gabutti kritisiert die Verschreibungsstrategie der Ärzte – und die Patienten: Viele von ihnen fragten gezielt nach Benzos, nachdem sie diese von Dritten erhalten hätten.

Gabuttis neuste Studie zeigt, dass mehr Aufklärungsarbeit bei Patienten und eine Offenlegung der Verschreibungsquote in fünf Tessiner Spitälern den Benzos-Konsum senken konnten. Diese Sensibilisierungsarbeit brauche es in den hiesigen Altersheimen bei Patienten und Pflegern. Denn: Suchtpatient sind unbequem. Sie sind oft aggressiv, schwierig und stören andere. «Mit den Benzos können Patienten ruhiggestellt werden», sagt Gabutti. Es brauche Massnahmen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

Häufig fehlten umfassende Abklärung und Aufklärung, wenn Senioren unter Schlafstörungen litten, sagt Thomas Leyhe, der Leiter der Alterspsychiatrie in Basel-Stadt. «Oft steckt eine Depression hinter dem Schlafproblem. Mit Benzos werden dann nur Symptome bekämpft.» Antidepressive Behandlung oder Anleitungen zur Schlafverbesserung seien sinnvoller. Eine engere Zusammenarbeit zwischen Hausärzten, Heimen und Alterspsychiatern verbessere die Versorgung.

Neue Strukturen gefragt

Es brauche strukturelle Massnahmen in der Heimpflege, sagt Andreas Stuck. Wenn eine Einrichtung um 17 Uhr das Abendessen serviere, die Senioren um 18 Uhr zu Bett gingen, sei ein guter Schlaf nicht möglich. Deshalb seien Heime gefordert, den Tages- und Abendrhythmus den älteren Menschen anzupassen.

Die Suchtproblematik sei «eine sehr komplexe und herausfordernde Aufgabe für Pflegefachkräfte», lässt Curaviva wissen. Der Verband Heime und soziale Institutionen Schweiz arbeite an einem neuen Konzept. Verschrieben werden Benzos oft vom Hausarzt. Beim Ärzteverband FMH will man von einer laxen Praxis nichts wissen: Insgesamt sei der Konsum stabil. Es fehle an Daten zu Beurteilung, ob auf eine Mehrheit der Verschreibungen verzichtet werden könnte.
(https://nzzas.nzz.ch/schweiz/einsamkeit-treibt-senioren-in-die-sucht-ld.1407308)

+++POLIZEI DE
Weder Freund noch Helfer
Bewusstes Lügen und verhinderte Aufklärung: Experten fordern Maßnahmen gegen Polizeigewalt und Korpsgeist der Beamten
https://www.jungewelt.de/artikel/336875.weder-freund-noch-helfer.html

+++ANTIFA
Pascal Mancini (29) – der braune Athlet: Schweizer Sprinter zeigt sich mit Rechtsextremisten
Pascal Mancini tritt regelmässig für die Schweizer 100-Meter-Staffel an. Gleichzeitig bewegt er sich in rechtsextremen Kreisen.
https://www.blick.ch/news/schweiz/westschweiz/pascal-mancini-29-der-braune-athlet-schweizer-sprinter-zeigt-sich-mit-rechtsextremisten-id8668059.html
-> https://www.tagesanzeiger.ch/sport/leichtathletik/schweizer-athlet-postet-video-von-rechtsextremen/story/25831463

Rechtradikale Gewalt in Basel, Staat auf dem rechten Auge blind
Nach den hier publizierten Ereignissen mit rechtsextremem Hintergrund in Basel (siehe https://barrikade.info/Ereignisse-mit-rechtsextremem-Hintergrund-in-Basel-1229?lang=de ) sind leider weitere Gewalttaten in unserer Stadt dazugekommen.
https://barrikade.info/Rechtradikale-Gewalt-in-Basel-Staat-auf-dem-rechten-Auge-blind-1297

+++ANTIRA
Kompass – AntiRa – Newsletter Nr. 71, Juli/August 2018
Gegen die Achse der Schande: Für Offene Häfen und Solidarische Städte +++ Seebrücken: Tausende auf den Strassen und Demonstrationen gehen weiter +++ Ab 23.7. quer durch Deutschland: Women in Exile on Summer-Tour +++ Ab 23.7. in vielen Städten: Film zur Iuventa/Kriminalisierung von Jugend Rettet +++ Am 24./25.8. in Hamburg: große Ballhaus Versammlung und bundesweites Koordinationstreffen von We`ll Come United +++ Ab 29.8. in Frankfurt: Yallah-Ausstellung und Veranstaltungen +++ Alarm Phone mit unzähligen Anrufen von Booten aus Marokko +++ (Ketten)Push Backs von Slowenien und Kroatien nach Bosnien +++ Kalender im September: von Schutzräumen für Solidarische Städte bis zur großen We`ll Come United Parade am 29.9. in Hamburg +++ 20.9. in Salzburg: Demo gegen den Gipfel der Abschottung und sozialen Kontrolle +++ Rückblicke: Summercamp We`ll Come United, Internationale Demo in Ventimiglia +++ Ausblicke: 13.10. in Karlsruhe: Landesweite Demo gegen Nationalismus, Rassismus, Abschiebung; Transnational Social Strike Treffen im November 2018 in Stockholm
http://ffm-online.org/2018/07/29/kompass-antira-newsletter-nr-71-juli-august-2018/

+++SEXWORK
Ist käuflicher Sex künftig strafbar? Die Frauenzentrale will die «Vergewaltigungs-Kultur» beenden
Vor einem Monat hat die Frauenzentrale die Kampagne «Für eine Schweiz ohne Freier. Stopp Prostitution» lanciert. Zahlreiche Sexarbeiterinnen wehren sich gegen die «absurde» Forderung.
https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/ist-kaeuflicher-sex-kuenftig-strafbar-die-frauenzentrale-will-die-vergewaltigungs-kultur-beenden-132856687

NZZ am Sonntag 29.07.2018

Fünf Jahre Sexboxen in Zürich: Prostitution im Verborgenen

Vor fünf Jahren wurden in Zürich die Verrichtungsboxen eröffnet. Die Stadt wollte ein saubereres Milieu und weniger Gewalt. Doch nicht alle Ziele wurden erreicht. Die Prostituierten beklagen sich, die Preise sind im Keller, die Angst geht um.

von Sacha Batthyany und Carole Koch

Jedes Mal, wenn er den Strichplatz besucht, will er sich erst «das ganze Angebot» ansehen, er dreht dann mehrere Runden, er kann sich so schwer entscheiden. Ungefähr elf Frauen stehen an diesem vor Hitze flirrenden Mittwochabend Ende Juli bereit, er hält neben einer Blonden in rotem Minirock und lässt das Fenster runter: «50 – für alles?», fragt er, und als sie nickt, verschwinden sie in einer der acht Boxen für etwa zwanzig Minuten.

«Nenn mich Sämi», sagt er, nachdem er alles erledigt hat. Er ist schon wieder auf dem Rückweg. Seinen richtigen Namen will er in der Zeitung nicht lesen. Sämi hat eine Frau und zwei Kinder, sexuell aber laufe schon lange nichts mehr, also «gönne ich mir hie und da ein Abenteuer», sagt er in seinem flaschengrünen Skoda.

Er findet die Sexboxen in Zürich Altstetten praktisch. Natürlich sei es seltsam, dass man sich Frauen kaufen könne «wie in einem McDonald’s-Drive-In», sagt Sämi, er hat alle vier Fenster geöffnet, damit das süsse Parfüm der Blonden aus dem Skoda entweicht, aber es gebe noch viel schlimmere Orte. «Wir Männer brauchen das eben», rechtfertigt er sich und lacht verlegen. Es ist kurz nach zehn Uhr abends, Sämi muss jetzt nach Hause.

Vor fünf Jahren wurden die Verrichtungsboxen am Rande der Stadt eingeweiht, dort, wo sie niemand sieht. Im Sommer 2013. Damals war das Medieninteresse enorm. «Der erste Freier auf dem Strichplatz», jubelte der «Blick» und schrieb vom «Stossverkehr in Altstetten».

Die Stadt hatte zuvor entschieden, den Strassenstrich am Sihlquai in der Nähe des Bahnhofs zu schliessen und stattdessen am Depotweg in Altstetten den sogenannten Strichplatz zu eröffnen, eine Imitation eines Strassenstrichs, nur geregelter und sauberer – manche sagen auch beamtiger.

Es kam erst zur Abstimmung, dann zum Bau der Boxen und der Strasse, die man Corso nennt, für 2,4 Millionen Franken. Seitdem sind sie in Vergessenheit geraten, diese Boxen, und mit ihnen die Frauen, die sich den Sämis der Schweiz anbieten. Dabei sind alle noch da, die Prostituierten und die Freier und der Strichplatz, der von den Behörden als «Erfolgsgeschichte» gewertet wird.

Zahlen über die Nutzung hat die Stadt keine, der Ort werde besucht und sei «akzeptiert». Es gebe weniger Dreck als am Sihlquai, weniger Zuhälterei, weniger Gewalt. Dann ist alles in Ordnung?

In der Schweiz herrscht Mittelalter

«Niemand schaut hin. Aber ich sehe es jeden Tag, mir reicht’s», sagt eine Frau, die Fibi genannt werden will und die seit Beginn des Strichplatzes Männern wie Sämi zusieht, wie sie ihre Runden drehen. Es sei absurd, sagt Fibi, eine Künstlerin, die sich als «freidenkend» bezeichnet und ihr Atelier neben den Sexboxen hat, «dass wir diese ausbeuterischen Zustände auch noch unterstützen». Schaut Fibi aus ihrem Fenster, sieht sie halb nackte Frauen, die sie alle als Opfer bezeichnet.

Jetzt steht Fibi auf der Treppenbrüstung, von der man das Treiben auf dem Corso noch besser sieht. Ein Lattenzaun trennt nicht nur sie, sondern sämtliche Mieter des Basislagers, einer Ateliergemeinschaft, von der Welt der Freier und Frauen – und so sieht man auf der einen Seite des Zauns die Grafiker und Webdesigner, die zu Intellektuellen-Jazz Biowürste grillieren, während auf der anderen Seite Frauen aus Osteuropa in kleinen Unterständen auf Kundschaft warten, wie auf einen Bus, aber es kommt kein Bus, sondern vielleicht ein Mann mit Schnauz und der sagt: 50 Franken, anal.

«Und das finanziere ich mit meinem Steuergeld», sagt Fibi und blickt auf die Autos, vom Familien-Subaru bis zum Zweisitzer-Mercedes ist alles zu sehen. Dabei hat auch Fibi einst Ja gesagt, am 11. März 2012. Auch sie gehörte zu den 52,6 Prozent des Zürcher Stimmvolks, die für die Sexboxen waren. In der Theorie höre sich das alles gut an, sagt sie, aber die Realität sei «so was von kaputt».

Wer sich eine Prise zufügen wolle, so Fibi, der müsse nur die frauenverachtenden Kommentare lesen, die die Freier in den Foren über die Sexarbeiterinnen auf dem Strichplatz hinterlassen und in denen ein enttäuschter Mann folgende Sätze schrieb: «Kambodscha ist ein anderes Kaliber. Auf dem Strichplatz sind ja alle über 18.»

Alles, was die Stadt Zürich nicht sehen möchte, schiebe sie an den Depotweg, wo sich neben den Künstlern und Prostituierten auch eine Asylunterkunft befindet. «Wir sind die Pufferzone», sagt Fibi. Die «Asylis» stören sie nicht und die Frauen schon gar nicht. Aber Männer wie Sämi, die ertrage sie einfach nicht mehr. Heute unterstützt Fibi «Eine Schweiz ohne Freier. Stopp Prostitution».

So heisst die Kampagne der Frauenzentrale Zürich, die während der Fussball-WM medienwirksam lanciert wurde und grössere Fragen aufwirft: Ist Prostitution sexuelle Gewalt? Ist käuflicher Sex ein Verstoss gegen die Menschenwürde? Muss Sämi bestraft werden?

Ja, lautet die Antwort, wenn es nach den Schweden geht, ein Land, das im Ausland oft mit der Schweiz verwechselt wird, obwohl es, was die Behandlung von Frauen betrifft, unterschiedlicher nicht sein könnte: Schweden hat das Frauenstimmrecht 1921 eingeführt, die Schweiz 1971. Freier werden seit 20 Jahren bestraft, wogegen käuflicher Sex in der Schweiz legal ist und mitunter günstiger als eine gute Flasche Wein.

Inzwischen haben auch die Irländer oder Franzosen das Schweden-Modell angenommen. Für Fibi ist klar: In Schweden würde man Frauen schützen, in der Schweiz hingegen Freier subventionieren. «Dies hier», sagt sie und zeigt auf den Corso, sei nichts anderes als ein Fleischmarkt. «Wir leben im Mittelalter.»

Aus den Augen, aus dem Sinn

Neuerdings darf man auch mit dem Velo ins Mittelalter, wie Fibi sagt, auf dem Strichplatz sind Radler erlaubt, das war vor fünf Jahren noch verboten. Doch offenbar wollte man Fahrradfahrer nicht vergraulen, vor allem aber wollte man mehr Freier anlocken, für die es vier Stehboxen gibt, kleine Holzkabäuschen mit gepolsterter Sitzgelegenheit, und auch einen Selecta-Automaten, damit sie sich ein wenig verpflegen können. Einen Snickers, bevor es dann zur Sache geht? Fibi verdreht angewidert die Augen.

Im Unterschied zu Fibi sagt Manuela Kleiner, stellvertretende Teamleiterin der Frauenberatungsstelle Flora Dora: «Es läuft alles sehr geordnet ab.» In einem Pavillon neben den Boxen befindet sich ihr Büro. Hier finden Gespräche statt, hier wird Informationsmaterial verteilt, hier können die Sexarbeiterinnen duschen und im Internet surfen und sich von einer Ärztin untersuchen lassen. Im Winter kommen sie, um sich aufzuwärmen und Gemüsesuppe zu essen. Es gibt einen Sandsack, um sich abzureagieren, und natürlich Kondome, die der Grösse nach geordnet neben dem Ausgang liegen. «Der Strichplatz ist ein voller Erfolg», sagt Kleiner, was man schon daran erkenne, dass man in der Bevölkerung kaum mehr darüber spreche.

Am Sihlquai erinnert in diesen Tagen tatsächlich nichts mehr an die Zustände von damals. Braungebrannte Menschen kommen vom Schwimmen oder sind auf dem Weg zum Aperol Spritz. Es ist, als wären sie hier nie gestanden, zwischen Hauptbahnhof und den Autobahnzubringern, erst die Junkie-Frauen auf spindeldürren Beinen, später die Osteuropäerinnen, die im Scheinwerferlicht mit ihren Hintern wackelten, um in den Autos zu verschwinden oder in den Büschen am Ufer, wo sich gebrauchte Gummis im Gras verfingen. Das einzige Geschäft, das heute in der Böschung verrichtet wird, ist das der Hunde.

Es ist ähnlich wie mit den Heroinsüchtigen. Auch da waren die meisten erleichtert, als die offene Drogenszene geräumt wurde, damit man nicht mehr hinsehen musste, wie sich das Elend auf dem Platzspitz ausbreitete. Auch hier schuf die Stadt mit den Fixerstuben eine Alternative, doch die Süchtigen verschwanden nicht. Sie verschwanden nur aus dem Stadtbild.

So wie die Ungarinnen vom Sihlquai. Auch die gibt es noch. Und es sind nicht weniger geworden. Einige von ihnen arbeiten legal am Strichplatz und in Bars im Langstrassenquartier oder warten in Apartmenthäusern auf Kundschaft.

Den Freiern geht es an den Kragen

Die Eröffnung der Sexboxen in Altstetten war nur eine Massnahme, um die «unhaltbaren Zustände» im Prostitutionsgewerbe, wie es damals hiess, in den Griff zu bekommen. Anfang 2013 trat die sogenannte Prostitutionsgewerbeverordnung (PGVO) in Kraft, die aus einer Fülle von Bestimmungen besteht, nicht nur für den Strassenstrich, sondern auch zum Betrieb von Bordellen und Sexsalons.

Die Stadt wollte sauber machen im Milieu, wollte mit den Restriktionen für mehr Sicherheit sorgen, nicht nur für die Frauen, auch für die Anwohner. «Die Situation im Prostitutionsgewerbe hat sich beruhigt», steht denn auch im jüngsten Bericht der Stadt Zürich. Von Sozialarbeitern hingegen hört man, dass die Probleme bei weitem nicht gelöst seien. Im Gegenteil. Hinter vorgehaltener Hand wünschen sich einige «die alten Zeiten» zurück.

Doch vor allem sind es die Frauen selbst, die sich beschweren. Frauen wie Vanessa, 31, die mit ihrer Nichte Vicky, 21, im Langstrassenquartier arbeiten. Seit sechs Jahren pendelt Vanessa zwischen ihrem Dorf in Westungarn, wo ihr Sohn lebt, und Zürich, wo sie anschafft. Auf dem Strichplatz in Altstetten war sie im vergangenen Jahr, aber nur eine Woche, weil nichts lief und sich die Frauen nur anzickten.

«100 bis 200 Franken verdiente ich früher für den vollen Service», sagt Vanessa. «Heute bekomme ich noch 50 Franken. Manche Frauen machen es auch für 30.» Neulich sei sie an einem Restaurant vorbeigelaufen und habe die Menu-Karte studiert. «Ein Wienerschnitzel kostet hier mehr als Blasen», sagt sie. «Irgendwas stimmt in Zürich nicht mehr.»

Sie sitzen auf dem Bett ihres Zimmers in einem Apartmenthaus an der Langstrasse, für das sie pro Tag 100 Franken bezahlen. Hierhin bringen sie ihre Kunden: ein Spiegel in der Ecke, Massageöle auf dem Fenstersims. Abgesehen von ein paar wenigen guten Tagen während des Caliente-Festivals, an denen sie alle halbe Stunde einen Freier in dieses Zimmer bringen und täglich bis zu 2000 Franken verdienen, sei wenig los.

Die Konkurrenz sei riesig, sagt Vanessa, der Markt gesättigt, die Frauen immer jünger. «Viele machen es auch ohne Gummi, um überhaupt zu verdienen», sagt Vanessa, was Gesundheitsorganisationen bestätigen, die sich über die Zunahme an sexuell übertragbaren Krankheiten wie Tripper oder Syphilis alarmiert zeigen.

Fragt man Vanessa, was diese Art von Arbeit mit ihr gemacht habe, schaut sie zu Boden. «Du musst stark sein, um es zu ertragen. Du musst es vergessen können.» Sie tue das alles nur für ihren Sohn, sagt sie, sie selbst habe längst aufgehört, eigene Träume zu hegen und etwas vom Leben zu wollen. 500 Franken würde sie im Monat in Ungarn etwa als Kassiererin verdienen. Auf diesem Bett in diesem schäbigen Zimmer an der Langstrasse verdient sie das in zwei Tagen.

Und trotzdem ist es nicht genug. Das sagt nicht nur Vanessa, das sagen alle. Sie verdienen zu wenig, «manche hungern, weil sie ihr Geld für ihr Zimmer ausgeben und an vielen Tagen gar nichts läuft», mahnt Christine von der Heilsarmee, die sich seit 20 Jahren um das Wohl der Prostituierten kümmert. Jeden Dienstagabend verteilt sie Brot, Suppe, diese Woche an 70 Prostituierte, so viele wie nie.

Das Milieu hat sie selten flüchtiger erlebt. Frauen kommen und gehen, manche seien nur ein paar Tage da und tauchen wieder unter. «Es ist eine grosse Verunsicherung zu spüren.  Die Frauen stehen unter Druck.»

Mit der neuen Prostitutionsgewerbeverordnung kamen auch Zonen- und Zeitbeschränkungen. Im Langstrassenquartier darf nur noch in Kontaktbars angeworben werden. Wer sich nicht an die Regeln hält, wird bestraft. Sowohl Prostituierte wie Freier bezahlen beim ersten Mal 200 Franken Busse plus 250 Franken Gebühr – ein hoher Preis, wenn man aus Ungarn kommt.

Die Polizei sei rigoros, sagen Sozialarbeiter. Es gebe Polizistinnen, die sich als Dirnen tarnen. In den letzten fünf Jahren wurden 571 Freier gebüsst. 2017 wurden ein Drittel mehr verzeigt als in den Vorjahren. Ein Rekord. Den Sämis geht es an den Kragen.

Angst hat auch Angela. Sie ist 31, sieht aus wie 21 und sitzt vor einem Teller Spaghetti. Dreimal die Woche gibt es bei der Zürcher Stadtmission Mittagessen für zwei Franken. Der kleine Raum ist geschwängert von Parfum- und Haarsprayduft der etwa 70 bis 90 Frauen, die vorbeikommen.

Angela sitzt abseits und erzählt in leisen Sätzen, dass sie aus Frankreich stamme, hier in der Schweiz aber nicht angemeldet sei, wie EU-Bürger es sein müssten, um 90 Tage lang legal arbeiten zu können. «Ich kenne niemanden, der registriert ist», sagt sie mit gesenktem Kopf. Sie wurde schon mehrmals erwischt, doch die Busse von 1100 Franken habe sie nie bezahlt.

«Ich möchte aussteigen», sagt Angela. Aber in Frankreich einen gutbezahlten Job als Kellnerin zu finden, sei schwer. Und weil Freier in Frankreich bestraft werden wie in Schweden, kommt sie nach Zürich, jeweils für ein paar Wochen.

«In Frankreich ist es als Prostituierte zu gefährlich», sagt Angela und bestätigt, was viele Kritiker des Schweden-Modells anführen, dass sich das Milieu in den Untergrund verschiebe und sich vieles im Verborgenen abspiele.

«Ich kenne ein Mädchen, das einen Monat lang im Spital lag, nachdem sie von einem Kunden verprügelt worden ist», sagt Angela, die in Zürich in einer Bar anschafft, nie auf dem Strich in Altstetten, denn sie habe auch hier Angst vor den Typen auf der Strasse, die zu «animal» seien, zu brutal. Sie wolle sich die Männer auswählen. Nicht umgekehrt.

In der Illegalität verschwunden

Das Schweden-Modell fördere die Stigmatisierung der Frauen, heisst es jeweils, ausserdem seien sie der Gewalt ihrer Kunden ausgesetzt. Doch in Zürich, wo die Prostitution legal ist, hat sich bezüglich Gewaltdelikten im Sexgewerbe in den vergangenen Jahren kaum etwas bewegt.

Genaue Zahlen gebe es nicht, da sich nicht alle Betroffenen melden, sagt die Polizei, die sich schwertut mir einer klaren Aussage. Die Lage «dürfte sich verbessert haben», seit es den Strich am Sihlquai nicht mehr gibt, und doch sei «alles gleich geblieben». Auch die «Palette an Milieu-Nebendelikten», wie Raub, Körperverletzung, Nötigung, habe sich «nicht gross verändert».

Auch sonst wurden nicht alle Ziele erreicht, die sich die Stadt 2013 gesetzt hat. Der Strassenstrich am Sihlquai ist verschwunden. Die Probleme aber sind noch da. «Wir beobachten, dass vor allem Sexarbeiterinnen in den Kleinstsalons unter Druck sind», sagt Susanne Seytter, Geschäftsführerin der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration (FIZ). Das Sexgewerbe sei mobiler geworden und schnelllebiger.

Um die viele Bürokratie zu umgehen, richten sich viele in temporären Pop-up-Salons ein. «Der Zugang zu den Frauen wurde erschwert», viele seien in die Illegalität gerutscht und von der Bildfläche verschwunden, weil es heute «weniger legale Arbeitsmöglichkeiten für Sexarbeiterinnen gibt».

Am nächsten Tag stehen Vanessa und Vicky, die beiden Ungarinnen, wieder an der Langstrasse. «Fünf Uhr abends ist eine tote Zeit», sagen sie, die Ruhe, bevor die Abendschicht beginne.

Vanessa erzählt, dass sie seit Jahren nach Zürich komme, aber noch nie am See war. Sie kennt den Strichplatz, die schäbigen Zimmer, sie kennen die Männer, die Verlegenen und die Betrunkenen. Aber am Ufer des Sees waren sie noch nie. Also steigen sie ins Tram und sehen bald glitzerndes Wasser und die Engel auf dem Dach des Opernhauses.

Vanessa und Vicky lächeln verlegen, als würde ihnen bei diesem Anblick bewusst, woher sie kommen. Schwimmen wollen sie nicht, sie seien schliesslich zum Arbeiten hier, sagt Vanessa. «Nicht zum Vergnügen.»
(https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/fuenf-jahre-sexboxen-in-zuerich-prostitution-im-verborgenen-ld.1407293)

Er geht monatlich ins Puff – Herr Wyler und sein Kampf gegen das Freier-Verbot
Die Frauenzentrale Zürich fordert ein schweizweites Freier-Verbot. «Eifersüchtige Spinnerei», sagt Marcel Wyler dazu. Seit 51 Jahren kauft er sich Sex – und will nie mehr damit aufhören
https://www.watson.ch/schweiz/sex/913585007-er-geht-monatlich-ins-puff-herr-wyler-und-sein-kampf-gegen-das-freier-verbot