Im Kanton Waadt unterstützen solidarische BürgerInnen und PolitikerInnen Flüchtlinge, um sie vor der Rückführung zu bewahren und ihnen die Möglichkeit zu geben, in der Schweiz einen Asylantrag zu stellen. Der Staat reagiert mit Hausdurchsuchungen und Repression darauf.
«Sie sind in die WG gestürmt, haben alle aufgeweckt und jedes einzelne Zimmer durchsucht», berichtet Pierre Conscience. Der Gemeinderat und politische Sekretär der linken Partei solidaritéS erhielt am 15. September frühmorgens Besuch von der Kriminalpolizei des Kantons Waadt. Gleichzeitig betroffen waren Léonore Porchet, Präsidentin der Grünen Partei von Lausanne, und Céline Cerny, eine waadtländische Schriftstellerin. Alle drei gehören zum «Collectif R». Das Kollektiv ist ein 200 Personen zählendes Netzwerk, das sich gegen das Dublin-Abkommen und die Praxis der Rückschaffungen wehrt. Diesen Frühling hat das Kollektiv rund 25 prominente PolitikerInnen und KünstlerInnen zusammengetrommelt, die sich um die vorliegenden Fälle kümmern. Sie bringen Flüchtlinge während der Rückschaffungsfrist von sechs Monaten unter und sorgen dafür, dass die Behörden die Asylsuchenden nicht als «untergetaucht» registrieren. So steigt die Chance, dass sie trotz Dublin-Abkommen in der Schweiz ein Asylverfahren bekommen. Läuft die Überstellungsfrist nach sechs Monaten ab, beendet das SEM das Dublin-Verfahren und eröffnet ein nationales Asylverfahren, das es wie ein Erstgesuch behandelt. Einige Wochen vor den Hausdurchsuchungen wurden zwei andere Flüchtlinge, die mit Unterstützung des Kollektivs in der Kirche Mon-Gré Unterschlupf fanden, auf offener Strasse von zivilen PolizistInnen verhaftet. Der eine wurde nach Frankreich ausgeschafft, der andere nach Kroatien; zwei Länder, die bereits stark mit der Flüchtlingskrise überfordert sind. «Seit einiger Zeit werden immer mehr Menschen, die von ‹Dublin› betroffen sind, unter Hausarrest gestellt, um sie für die Rückschaffung einfacher zu sammeln», erklärt Pierre Conscience. Personen unter Hausarrest sind gezwungen, jeden Abend nach Hause zurückzukehren, andernfalls machen sie sich strafbar und/oder werden als untergetaucht behandelt, was ernsthafte Konsequenzen für ihr Verfahren nach sich zieht, erklärt der Aktivist.
Der Bund droht dem Waadt
Polizeirazzien, Verhaftungen, Hausarrest. Seit einigen Monaten nimmt die Zahl solcher Vorfälle, die das Kollektiv als «Einschüchterungsversuche» bezeichnet, zu. Aber sie lassen es sich nicht einfach gefallen. Die Presse wurde informiert, eine Petition mit 1500 Unterschriften konnte innerhalb kürzester Zeit gesammelt werden und eine Interpellation, die von dreissig Ratsmitgliedern unterschrieben worden ist, wurde dem Kantonsparlament vorgelegt. «Es findet ein Frontalangriff auf das Asylwesen statt», entrüstet sich Conscience. Diese Verschärfung führt der Kommunalpolitiker auf den 5. Juni zurück, als die Schweizer Stimmberechtigen für die 11. Asylgesetzrevision gestimmt haben. «Ein paar Tage später zeigte Bundesrätin Simonetta Sommaruga mit dem Finger auf den Kanton Waadt und warf ihm Laschheit in Bezug auf Rückschaffungen vor.» Und Ende August wurden finanzielle Drohungen ausgesprochen, die der Bund dem Kanton aufbürdet. Auf den 1. Oktober wurde das Inkrafttreten eines «Monitoring des Wegweisungsvollzugs» angekündigt. «Kommt ein Kanton seiner gesetzlichen Vollzugsverpflichtung nicht oder nicht genügend nach, kann der Bund neu von der Ausrichtung von Pauschalabgeltungen absehen oder bereits ausgerichtete Pauschalen zurückfordern», heisst es in einer Medienmitteilung des Bundesrats.
«Es handelt sich um eine Infragestellung der Politik des Waadts. Der Kanton hatte aufgrund einer starken Mobilisierung der Bevölkerung schon immer eine tiefere Rückführungsrate. Heutzutage ist die Solidarisierung infolge des Drucks von oben zurückgegangen», analysiert Conscience. Gegenüber «le Courrier» versicherte Philippe Leuba von der FDP, der in der Kantonsregierung für die Asylpolitik verantwortlich ist, dass es keinen Druck gebe. Es gehe darum, «ein Gesetz, das vom Volk angenommen wurde und dem alle gleichermassen unterworfen sind», anzuwenden.
«Falls ein Gesetz inhumane Konsequenzen hat, ist ziviler Ungehorsam Pflicht», erwidert Conscience, der daran erinnert, dass das «Collectif R» den Flüchtlingen nur hilft, in der Schweiz einen Asylantrag zu stellen, mehr nicht.
«Besser, sie bleiben»
David Payot, PdA-Regierungsrat der Stadt Lausanne, der ebenfalls zum Netzwerk des Kollektivs gehört und einen Flüchtling beherbergt, äusserte gegenüber dem «Gauchebdo» seine Besorgnis: «Dieser Druck des Bundes und der Wille der Kantonsregierung, ihm nachzukommen, sind beunruhigend.» Wagt er es als Mitglied der Stadtregierung, auch zum zivilen Ungehorsam aufzurufen? «In Situationen, in denen Gesetze nicht mit der Realität in Einklang sind, tragen auch die Städte Verantwortung. Die Menschen werden auf ihrer Flucht blockiert, man zwingt sie, zu bleiben oder in ein Land zurückzukehren, das sie nicht aufnehmen kann. Dadurch bringt man sie in eine prekäre Lage und sie stecken in Massen an den Grenzen oder in urbanen Gebieten fest. Es wäre besser, man würde sie aufnehmen, als sie in ganz Europa hin- und herzuschicken», erklärt Payot. Für ihn muss die bisherige Politik des Kantons Waadt ausgedehnt werden, statt sie zu unterdrücken.
Pierre Conscience pflichtet bei: Der Kanton muss «sich weigern, gewisse Rückführungen durchzuführen, auch wenn es ihn finanziell etwas kostet», fügt er in Bezug auf die Drohungen der Schweizer Regierung hinzu.