Justice4Mike: Rückblick auf das Berufungsverfahren

Mike Ben Peter wurde 2018 als Opfer rassistischer Staatsgewalt von sechs Polizisten getötet. Im Jahr 2023 wurden die sechs Polizisten vor dem Lausanner Bezirksgericht freigesprochen und nun, am 8. Juli 2024 in der zweiten Instanz, erfolgte ein erneuter Freispruch. Hier ein Rückblick auf die Tage am Gericht sowie einige Analysen des Kiboko-Kollektivs* aus Lausanne.

Urteil vom 8. Juli 2024
Wenn es noch einer Bestätigung bedarf, erinnern uns die beiden Prozesse gegen die 6 Polizisten, die Mike Ben Peter getötet haben, daran, dass die Justiz die Polizei niemals verurteilen wird. Aus dem einzigen Grund, dass beide den Staat schützen. Staatsanwaltschaft, Polizei, Gerichte, Politik – das Postulat einer Gewaltenteilung gibt es nur in der Theorie. Es war immer nur ein Deckmantel, der verbarg, dass die einzige Macht die des Staates ist, repräsentiert durch die verschiedenen Arme seiner Organisation.
Wir werden auch einmal mehr daran erinnert, dass diese Institutionen so stark von Rassismus durchdrungen sind und davon profitieren, dass es nicht in ihrem Interesse liegt, ihn zu bekämpfen.

Die Allegorie der Gerechtigkeit ist eine Frau mit einer Augenbinde, angeblich ein Zeichen der Unparteilichkeit: Sie sehe nicht, über wen sie urteile. Doch das ist der Unterschied zwischen einer Allegorie und der Realität: In der Realität ist die Justitia befangen, sie ist rückwärtsgewandt – und sie schwindelt: Sie hebt mit einem Finger die Binde, die sie über den Augen hat. Dieser Finger ist der Finger von Individuen, die im Staatsdienst stehen, und er macht die Justiz zu einer Realität, die alles zerquetscht, was sie (noch) nicht sehen kann, selbst wenn die Beweise dafür vor ihren Augen liegen.​​​​​​​

Rekonstruktion
Trotz aller neuen Elemente, die der Familienanwalt von Mike Ben Peter vorbrachte, entwickelte sich die Debatte während dieses Prozesses in zweiter Instanz nicht wesentlich weiter. Die wichtigsten neuen Elemente, die der Anwalt der Familie, Simon Ntha, in die Akte eingebracht hat, sind die Beurteilungen, die auf seinen Wunsch hin von verschiedenen internationalen Expert*innen der medizinisch-juristischen Welt vorgenommen wurden. Und diese zeigen klar: Die Art der Fixierung Mikes in Bauchlage am Boden ist eine direkte Ursache seines Todes.
Diese Rekonstruktion gibt Informationen zu den Hauptthemen der Debatte vor Gericht und den jeweiligen Positionen (Familienanwalt, Richter*innen und der Verteidigung) sowie zum entsprechenden Kontext preis, deren Festhaltung uns als wichtig erschien.

Hintergrund der Operation
Herr Favre, der Anwalt des Polizisten, der Mike am Abend seines Todes als erster körperlich angegriffen hatte, erinnerte am Prozess zunächst daran, dass der Grund für die Kontrolle Teil einer umfassenderen Mission der Lausanner Polizei gegen den Drogenhandel gewesen sei und lobte dessen angeblich positive Auswirkung auf die Sicherheit der Bevölkerung. Diese Mission soll in den letzten 15 Jahren zu verschiedenen Operationen geführt haben (Strada, Heracles, Bermudes usw.). Herr Favre beschrieb die Operation Bermudes, wie es bereits Stéphane Dumoulin, operativer Chef der Polizei von Lausanne, während des Prozesses vor erster Instanz getan hatte: Die Operation Bermudes folgte auf „die medienpolitische Krise von 2011 im Zusammenhang mit Strassenhandel, Bettelei und Einbrüchen, Schlägereien und Unhöflichkeiten. Zu dieser Zeit war Lausanne laut dem Bundesamt für Statistik die Stadt mit der höchsten Kriminalitätsrate. Bermudes war konkret eine Sichtbarkeits- und Abschreckungsoperation im Zusammenhang mit dem Strassenhandel, der auf grossen Plätzen, einschliesslich dem Bahnhof Lausanne, bedeutend war.“
Wir erinnern daran, dass die Operation Bermudes mit der Operation Strada und anderen Tools des Anti-Deal-Arsenals der Stadt und des Kantons einherging. Diese Operationen zielten darauf ab, „den Handel durch kontinuierliche Belästigung der Dealer*innen und deren Ergreifung auf frischer Tat zu unterbinden. Dies um eine schnelle strafrechtliche Verurteilung der Täter*innen oder die Ergreifung administrativer Massnahmen nach dem Ausländergesetz zu erreichen.“ Die willkürliche und entmenschlichende Gleichsetzung von illegalem Handel und ausländischen Personen ist offensichtlich. In diesem Kontext und mit diesem rassistischen Vorurteil haben die Polizist*innen eine „Handlungsfreiheit“ an „freien Tagen“, an denen sie keine spezifischen Missionen haben, rassifizierte Personen zu belästigen, was die von den Polizisten angewendete Gewalt wenig überraschend macht.
Herr Favre führte weiter aus, dass, wenn es nicht den Tod eines Mannes in diesem Stadtteil von Sainte-Luce gegeben hätte, die Anwohner möglicherweise weiterhin über die Schlägereien zwischen Dealern klagen würden, womit er andeutet, dass sein Mandant nicht auf der Anklagebank sitzen sollte, sondern den Dank der Nachbarschaft verdienen würde.​​​​​​​

Abgebildet ist ein während dem Berufungsprozess gezeichneter Comic, der Bridget, die Dolmetscher*in und Roger darstellt, wie sie dem Geschehen beiwohnen.

Die Kontrolle, die Mike das Leben kostete
Am Abend des 28. Februar sind drei Beamte im Bahnhofsbereich im Einsatz. Sie haben keine genauen Anweisungen und dürfen frei eine Strategie entwickeln, um möglichst viele Personen zu kontrollieren und idealerweise festzunehmen, die den Kriterien entsprechen, d. h. Schwarze Personen, die sich in einer prekären Situation befinden und des Verkaufs kleiner Mengen von Betäubungsmitteln verdächtigt werden. Die Polizisten beschliessen, eine «Treibjagd» zu starten (so nennen sie es und es passt in die entmenschlichte Vision, die wir später noch erläutern werden), bei der sich einer der Beamten am Ende der Rue Sainte-Luce positioniert, sein Blaulicht einschaltet und so möglichst viele Menschen in die Richtung seines Kollegen am anderen Ende der Strasse treibt. Dieser sollte dann alleine so viele Personen wie möglich festnehmen. Diese Strategie, die natürlich völlig absurd, unrealistisch und vor allem gefährlich ist, wird nicht einmal umgesetzt, da der erste Polizist auf Mike Ben Peter trifft. Dieser versteckt oder holt (je nach Version) gerade ein Tütchen Marihuana unter einem Auto hervor. Der Beamte ist der Meinung, dass der Mann den Kriterien des Einsatzes entspricht und beschliesst, ihn anzuhalten und alleine zu versuchen, ihn festzunehmen, indem er ihm eine Reihe von Schlägen in die Genitalien versetzt. Zeugen sagen aus, dass Mike Ben Peter zu keinem Zeitpunkt gewalttätig geworden sei oder Schläge ausgeteilt habe. Die unverhältnismässige Aktion des Beamten: eine Reihe von Schlägen auf die Genitalien, Pfefferspray ins Gesicht und damit in die Augen und das Atmungssystem, gefolgt von einem heftigen Niederwerfen auf den Boden. All dies geschieht vor dem Eintreffen der fünf anderen Polizisten, die ihn erneut schlagen, während sie ihn in Bauchlage halten. Während der Anhörung wird alles getan, um Hinweise auf die Position der Polizisten und vor allem des auf seinen Körper ausgeübten Drucks zu verbergen. Es ist jedoch bekannt, dass vier Polizisten, jeder zwischen 70 und 100 Kilogramm schwer, auf ihm lagen und ihn fast drei Minuten lang auf dem Boden festhielten. Ein Polizist bleibt auf ihm liegen, ein anderer zerquetscht seinen Oberarm mit dem Knie. Als sie befinden, dass Mike «unter Kontrolle» ist, ruft ein Polizist die Zentrale an, um sie zu informieren. Die Nachricht ist laut Rechtsanwalt Ntah, der sie während der Anhörung vorliest, deutlich: «Die Person ist mit Handschellen gefesselt und unter Kontrolle». Doch sie halten Mike trotz seiner Qualen und Schmerzensschreie noch über zwei Minuten lang in Bauchlage fest.

Wir geben diesen Ablauf der Ereignisse so wieder, wie er während der gesamten Dauer der beiden Prozesse zu hören war. Es ist die Version der Polizei, die getimt, präzise abgesprochen und einstudiert und Teil ihrer Verteidigung ist. Wir können nur vermuten, dass diese Ereignisse chaotisch und brutal abgelaufen sind und dass sie ein Interesse daran haben, zu lügen.

«Die ‹übermenschliche Kraft› erinnert an das Klischee der ‹Bestialität›, das Rassisten gegenüber Schwarzen Menschen oft kolportiert haben, um die entfesselte Gewalt zu rechtfertigen, die sie an deren Körpern ausüben.»

Rassistische Entmenschlichung
Darin bestand die gesamte Strategie der Verteidiger*innen, um die Gewalt der Polizei zu legitimieren: Mike zu entmenschlichen. In der Argumentation wird er immer wieder als gefährlich und widerständig dargestellt, und das trotz der eklatanten Asymmetrie der Gewaltausübung bei diesem Einsatz: Mike hat die Polizisten nie angegriffen, sogar ein Polizist hat das bezeugt.

Die angewandte Rhetorik betont immer wieder Mikes körperliche Überlegenheit, sein «kräftiger» Körperbau wird mit dem der Polizisten verglichen, man diskutiert über sein Gewicht und die «übermenschliche» Kraft, die er bei der Festnahme gezeigt habe, bei der Mike wohlgemerkt allein gegen sechs Polizisten stand.

Die Schläge, der Einsatz von Pfefferspray und das Festhalten in Bauchlage werden damit legitimiert, dass die Polizisten trotz ihrer zahlenmässigen und materiellen Überlegenheit nicht mit Mikes Körper zurechtkamen, der als schmerzunempfindlich beschrieben wird. Ein Körper, bei dem die «üblichen» Polizeitechniken nicht funktionierten und der immer wieder versuchte, «sich zu erheben» oder sogar «abzuheben», als ob er mit einer mystischen Kraft ausgestattet gewesen wäre.

In ihrer Schilderung, wie Mike aufhörte, sich zu bewegen; «brutal», als hätte es keine Warnsignale für eine Notlage gegeben, wird deutlich, wie die Polizisten Mike sehen. Für sie ist es unvorstellbar, dass er Schmerzen empfinden kann, sein Körper geht nahtlos von einem Zustand des Kampfes in den der Bewusstlosigkeit über.

Die Sprache, die sie verwenden, um Mikes Schreie zu beschreiben, zeigt, dass sie ihn nicht als empfindenden Menschen wahrnehmen wollen. Laut ihnen und ihren Verteidiger*innen gab er «Laute», «Grunzen» und «Gebrüll» von sich. Sie sprechen nie von den Hilfeschreien eines Mannes, der gewalttätig misshandelt wird.

Indem sie ihn nur als Bedrohung ansehen, sprechen sie ihm jede Verletzlichkeit ab, obwohl er gerade in ihren Händen stirbt.

Der Rassismus ist eng mit der Entmenschlichung von Mike Ben Peter verwoben. Während der Untersuchung sprechen die Polizisten von Mike als «das Individuum», als «der Afrikaner, der Laute machte», dann spricht einer der beiden ihm schliesslich jede Form der Existenz ab, indem er ihn verdinglicht: «‹Es› gestikulierte.»

Die ‹übermenschliche Kraft› erinnert an das Klischee der ‹Bestialität›, das Rassisten gegenüber Schwarzen Menschen oft kolportiert haben, um die entfesselte Gewalt zu rechtfertigen, die sie an deren Körpern ausüben. Der verwendete Wortschatz stammt aus einem sprachlichen Register, das üblicherweise für Tiere genutzt wird: Die Schreie werden mit «Gegrunze» verglichen, um andere «aufzustacheln», und die Intervention selbst wird mit dem Ziel inszeniert, «die Dealer zu verscheuchen». Wir erinnern auch daran, wie in dem nach den Ereignissen veröffentlichten Zeug*innenaufruf von einem gewalttätigen, mehrfach straffällig gewordenen nigerianischen Dealer ohne Wohnsitz die Rede war, der sich weigerte, zu kooperieren.

Schliesslich wird die Entmenschlichung durch die Art und Weise, wie sich die Polizisten präsentieren und vom Gericht wahrgenommen werden, asymmetrisch verstärkt: Obwohl sie wegen des Mordes an einem Menschen angeklagt sind, werden die Polizisten mit grosser Rücksichtnahme und Empathie behandelt. Ihr Beruf wird von den Richter*innen als schwierig angesehen. Wenn sie ihre Aussagen nicht gleich zu ihren Gunsten umformulieren, entschuldigen sie ihre Auslassungen und Ungereimtheiten mit der seit der Tat verstrichenen Zeit oder dem Stress des Einsatzes. Wir halten fest, dass sich einer der Polizisten viermal selbst als empfindsames Wesen bezeichnet, während er Mike jegliche Empfindungen abspricht, und dass das Benennen einer rassistischen Polizeikultur als unerträglicher Angriff auf die Polizisten in ihrer Individualität betrachtet wird. Wenn sich einer der Polizisten, um seine persönliche Situation zu beschreiben, als «glücklicher Vater» bezeichnet, kann man kaum glauben, dass es ihm so völlig an Mitgefühl für die Familie mangelt, zu deren Zerstörung er beigetragen hat.

Abgebildet ist ein Menschenmenge hinter einem Transparent, auf dem der Schriftzug „Rassismus tötet“ prangert. (ebenfalls von der Demo am Samstag)

Einschätzung von Mikes Schmerzen durch die Verteidigung
Hatte Mike Schmerzen? Bei mehreren Kniestössen in die Genitalien, einem Sprühstrahl, der in Hals und Augen brannte, einem brutalen Niederwerfen und dem Gewicht mehrerer Männer, die seinen Rücken und Kopf zerquetschten, sollte die Antwort klar sein. Dennoch widersprach die Verteidigung dem und suchte das Gericht davon zu überzeugen, dass Mikes Schreie keine Schmerzensschreie waren, sondern das wilde Gebrüll eines Übermenschen, der heftigen Widerstand leistete. Hauptargument der Verteidigung: Wenn man Schmerzen hat, lässt man sie über sich ergehen!

Dann wird ein weiteres Argument angefügt: Er habe mit seinen Schreien versucht, die Leute «aufzuwiegeln». Die Zeug*innen waren sich jedoch einig, dass es sich um Schmerzensschreie, Hilflosigkeit und Qual handelte, die noch in 80 Metern Entfernung zu hören waren. Die Polizei geht sogar noch weiter und behauptet, dass er nicht nur keine Schmerzen hatte, sondern dass ihre Massnahmen ihrem Schutz, vor allem seinem Schutz vor sich selbst dienen sollte. Sie hätten ihn am Boden festgehalten, weil er sich sonst hätte verletzen können. Sie hätten ihn nicht aufgerichtet, weil er sich sonst «den Kopf hätte anschlagen können». Selbst die Richter scheinen skeptisch zu sein und fragen, wie jemand, der aufgerichtet wäre, sich plötzlich den Kopf anschlagen sollte. Zwei der Richter fragen: «Also richten Sie nie jemanden auf?», oder: «Muss man warten, bis die Person das Bewusstsein verliert, bevor man aufhört, sie in Bauchlage zu halten?» Natürlich und wie in der ersten Instanz lautet die von allen Polizisten ständig und unermüdlich wiederholte Antwort: «Er widersetzte sich.» Als sie gefragt werden, worin genau dieser Widerstand bestanden habe, finden sie als einzigen Anhaltspunkt: «Er bewegte seinen Kopf und schrie.» Rechtsanwalt Ntah erinnert in seinem letzten Plädoyer daran, dass es 1991 im Fall von Rodney King genau dieselben Argumente waren, die die Polizisten vorbrachten, nämlich: Die Polizisten fürchteten Körperverletzung, er widersetzte sich, und sie taten, was ihnen beigebracht wurde. Mehr als dreissig Jahre später argumentiert die Verteidigung immer noch gleich.

Abgebildet ist eine während dem Berufungsprozess gezeichneter Comic, der zwei der Polizisten mit ihrem jeweiligen Anwalt zeigt und die Befragung der Polizisten durch die Richter*innen darstellt.

«… dieser Prozess wird zum Prozess der Institution Polizei, sei es vonseiten derjenigen, die einen strukturellen Rassismus anprangern, oder vonseiten der Institution selbst, die die Polizeihierarchie um jeden Preis verschonen will …»

Schutz der Institution Polizei
Bekanntlich ist dieser Prozess, wie Rechtsanwalt Ntah in Erinnerung ruft, kein Prozess gegen die Polizei oder gegen Rassismus. Ntah vertritt auch die Ansicht, dass es «nicht die Polizeischule oder die Polizeikommandanten» seien, die Mike getötet hätten, sondern «Machtmissbrauch und Fahrlässigkeit». Dennoch wird dieser Prozess tatsächlich zum Prozess gegen die Institution Polizei, sei es vonseiten derjenigen, die einen strukturellen Rassismus anprangern, oder vonseiten der Institution selbst, die um jeden Preis die Polizeihierarchie verschonen und somit vermeiden will, die Sicherheitspolitik zu hinterfragen.

In diesem Verfahren wird uns die Polizei von Anfang an als Institution präsentiert, die ohne Leitplanken und praktisch autonom funktioniert. Im Einsatz würden sich Polizist*innen selber organisieren und ihre eigenen Lagebeurteilungen machen, sodass sich eine «natürliche Führung» herausbilde, wird behauptet. Die Erzählungen schwanken: Einmal ist derjenige Polizist verantwortlich, der zuerst vor Ort ist, dann sind es angeblich die Leiter der einzelnen Patrouillen, oder aber die Verantwortung liege beim Dienstältesten – dabei achten alle stets darauf, dass keine konkrete Person wirklich als verantwortlich für den Einsatz bezeichnet wird. Und schliesslich erfährt man am letzten Tag des Prozesses, dass ein Feldweibel am Tatort anwesend war, der also auch die schicksalhaften drei Minuten beobachtete, die zum Tod von Mike Ben Peter führten. Dieser Vorgesetzte ist nicht angeklagt und es wird nicht einmal in Erwägung gezogen, ihn während des Prozesses aussagen zu lassen. Dasselbe gilt für den Polizist Nummer acht, der ebenfalls vor Ort war. Auch hier zeigt sich wieder der Wille, die Verantwortlichkeiten zu verschleiern. Es wird deutlich, wie die Polizei sich selbst schützt und immer schützen wird. Dieses Muster zieht sich bis zum Schluss durch. Selbst nach drei hartnäckigen Fragen einer irritierten Richterin, wer denn in dieser Situation einen Befehl hätte erteilen müssen, antwortet einer der Polizisten dreimal hintereinander: «Einer der am Einsatz Beteiligten.» Mehr ist aus ihm nicht herauszubringen.

Wie eingangs erwähnt, wurde der Einsatzleiter in erster Instanz in einer Mischrolle zwischen Zeuge und Sachverständiger vernommen. Er wurde nie als Mitverantwortlicher für den Tod von Mike Ben Peter vorgeladen. Dies obwohl er als Polizeibeamter einen Einsatz durchführte, der sich grundsätzlich gegen eine bestimmte Bevölkerungsgruppe richtete, und obwohl er den Polizisten ein gewalttätiges und willkürliches Vorgehen befahl. Die Polizisten wurden mit dem alleinigen Ziel eingesetzt, möglichst viele prekarisierte Schwarze Menschen anzuhalten, die angeblich ein verdächtiges Verhalten aufwiesen.

Die Polizisten und ihre Anwält*innen betonten immer wieder, dass sie genau das getan hätten, was ihnen in der Ausbildung beigebracht worden sei und dass sie es in einem ähnlichen Fall wieder genauso machen würden. An keiner Stelle wurde erwähnt, dass genau diese Polizeischule in Savatan seit rund zehn Jahren dafür kritisiert wird, den Unterricht ausschliesslich auf gewalttätige Kontroll- und Festnahmetechniken auszurichten. Die Frage ist nicht nur, ob Savatan den Beamten beigebracht hat, dass eine Person nicht drei Minuten in Bauchlage fixiert werden darf. Es geht auch darum, dass keiner der Polizisten in der Lage war, die Situation zu beruhigen, mit Mike zu kommunizieren und Empathie für die ihm zugefügten Qualen zu zeigen. Dieser Prozess gilt nicht nur den sechs Polizisten, die sich gewalttätig und rassistisch verhalten haben. Es ist auch der Prozess eines Systems, das diese Polizisten angeworben, ausgebildet und angeleitet hat. Des Systems, das sie nach wie vor schützt. Um die Institution zu schützen, müssen die Verteidigung und die Staatsanwaltschaft diesen Prozess gewinnen, und dazu ist alles erlaubt.​​​​​​​

Die Verteidiger der Polizisten argumentieren mit dem «Erregungsdelirium-Syndrom»
​​​​​​​Diverse Verteidiger führten das «Excited Delirium Syndrome» an, um Mikes Tod zu erklären. Der Begriff (auch Erregungssturm, erregtes oder agitiertes Delirium genannt) war in einem der Schweizer Gutachten erwähnt worden. Damit gemeint ist ein Syndrom, das häufig in Gerichtsurteilen über tödliche Polizeigewalt erscheint. Heutzutage verneinen viele Fachleute und Staaten, dass ein solches Syndrom überhaupt existiert, da es auf wackligen, rassistischen Grundlagen aufgebaut ist, wie wir gleich sehen werden.

Es werden dazu vier Symptome genannt: psychomotorische Unruhe, übermenschliche Kraft, Schmerzunempfindlichkeit und Tod durch Herzstillstand. Festzuhalten ist, dass Unruhe, Kraft und Schmerzempfinden eines anderen Menschen subjektive Wahrnehmungen sind. Die Polizisten beurteilen somit eine Symptomatik, die sie potenziell selbst verursacht haben. Denkbar ist auch, dass sie bestimmte Symptome beschreiben, um die Verhältnismässigkeit der Gewalt zu rechtfertigen, die sie gegen die Person ausgeübt haben. Es liegt daher ein psychologischer Ankereffekt vor, also eine systematische Verzerrung der Wahrnehmung, da die Polizisten selber Akteure der Situation sind.

Schon die Entstehungsgeschichte dieses «Syndroms» ist problematisch. Das «Excited Delirium» wurde 1985 von dem amerikanischen Gerichtsmediziner Charles Wetli geprägt. Dieser umschrieb damit die Todesursache von 19 Schwarzen Frauen, die als Sexarbeiterinnen bezeichnet wurden und tot aufgefunden worden waren. Der Begriff entstand aus dem Nachweis von geringen Mengen Kokain im Körper der Opfer und aus Vorurteilen gegenüber ihrer Tätigkeit (siehe auch die Geschichte des Begriffs «Hysterie») sowie aus einer rassistischen Grundhaltung. Charles Wetlis Diagnose war völlig fehlgeleitet: Die Polizei fand später heraus, dass die 19 Frauen einem Serienmörder zum Opfer gefallen waren. Die für die weisse Gemeinschaft beruhigende Diagnose «Excited Delirium» hatte zur Folge, dass die Polizei zunächst wegschaute und dem Mörder ermöglichte, 13 weitere Schwarze Frauen zu ermorden, bevor er schliesslich gefasst wurde.

Nichtsdestotrotz benutzte Charles Wetli den Begriff weiterhin. Als er feststellte, dass 70 % der Menschen, die angeblich daran starben, Schwarze Männer waren, ging er sogar so weit, genetische Faktoren als ursächlich zu erwähnen. Bezeichnend ist, dass ein Gerichtsmediziner das «Syndrom» erfand, also jemand, der mit der Polizei zusammenarbeitet: Es ist natürlich bequem, eine medizinische Erklärung zu finden, die die Todesursache in der Person des Verhafteten und nicht in den Umständen der Verhaftung ortet. Bezeichnend ist auch, dass es ein weisser Gerichtsmediziner in den USA war, also in einem Land, das von der Geschichte der Versklavung und Segregation tief geprägt ist.

Das Symptom der «übermenschlichen Kraft» nimmt ein Klischee über Schwarze Männer auf, das diese entmenschlicht: Sie werden mit «Bestialität» in Verbindung gebracht und damit jedes Verbrechens verdächtig. Umgekehrt werden die weissen Polizist*innen als lammfromme Opfer wahrgenommen, obwohl sie bewaffnet auftreten.

Erwähnenswert ist auch, dass der Technologie- und Waffenhersteller Taser (jetzt Axon) den Begriff des Erregungsdelirium-Syndroms in der breiten Öffentlichkeit bekannt machte. Firmeneigene Forschende und Rechtsexpert*innen veröffentlichten viele Artikel, in denen sie sich auf das «Excited Delirium» beriefen. Das Unternehmen kaufte 2007 sogar zahlreiche Exemplare eines Buches mit Titel «Excited Delirium Syndrome» auf – geschrieben von einem seiner Verteidigungsexperten in Zusammenarbeit mit dessen Frau – und verteilte das Werk in der Folge gratis an Gerichtsmediziner*innen und Polizeipräsident*innen im Rahmen von Kongressen. Die beiden Autor*innen erklärten, sie hätten die Bezeichnung «Excited Delirium Syndrome» ausgehend von Charles Wetlis Arbeiten erfunden.

Das «Excited Delirium Syndrome» wird häufig verwendet, um Opfer von Polizeigewalt während ihrer Festnahme zu beschreiben, so z.B. bei Adama Traoré, Lamine Dieng, Cédric Chouviat, Hervé Mandundu und Roger Nzoy Whilhelm. Wie im Fall von Mike Ben Peter dient die Beschreibung und Diagnose «Excited Delirium Syndrome» dazu, die Verantwortung der Polizei abzustreiten. Risiken von Polizeitechniken wie das Fixieren in Bauchlage werden verneint. Die strukturelle Entmenschlichung Schwarzer Menschen wird totgeschwiegen.

Rechtsanwalt Ntah ging bereits zu Beginn des Prozesses auf die Geschichte dieses Begriffs ein und wies darauf hin, dass diverse US-Bundesstaaten diese Erklärung nicht mehr zulassen. In seiner letzten Stellungnahme wies er darauf hin, dass die Verwendung des «Excited Delirium Syndrome» im vorliegenden Fall besonders den Verteidigern dient: Denn es ist das einzige Argument für die hypothetische Annahme, dass Mike Ben Peter auch dann gestorben wäre, wenn er aufgerichtet worden wäre. Andere Argumente gibt es nicht. Das Gericht müsse entscheiden, ob es sein Urteil auf einen Begriff stützen will, der keine wissenschaftliche Grundlage habe und inzwischen in einigen Staaten nicht mehr zugelassen sei. Die US-amerikanischen Gutachter*innen äussern sich unmissverständlich: «Das Excited Delirium hat nichts damit zu tun, und seine Adipositas auch nicht. Mike Ben Peter starb an den Folgen der gewaltsamen Handlungen, die an ihm verübt wurden.»​​​​​​​

Welche Rolle spielt der Kausalzusammenhang für das Urteil?
In diesem Verfahren gab es verschiedene Auffassungen zum Kausalzusammenhang zwischen der Fixierung in Bauchlage und dem Tod von Mike Ben Peter. Die Anklageschrift fokussierte auf die Fixierung und deren Länge. Die Kernfrage lautet: Wie sind diese Handlungen zu beurteilen und welche Rolle spielten sie für Mikes Tod? Im Folgenden werden die Positionen der Parteien zu dieser Frage zusammengefasst und dann detailliert dargestellt. Abschliessend wird die Haltung des Gerichts aufgezeigt, das die sechs Polizisten freigesprochen hat.

Zusammenfassend sagt Rechtsanwalt Ntah, der Anwalt der Familie, dass die Verletzung der Sorgfaltspflicht kausal mit Mikes Tod verbunden ist. Nach der von ihm vertretenen Äquivalenztheorie reicht es nämlich aus, dass nur einer der Faktoren, die den Tod verursacht haben, auf die Verstösse der Polizisten zurückzuführen ist, damit diese der fahrlässigen Tötung für schuldig befunden werden. Das längere Fixieren in Bauchlage ist einer von mehreren dieser Verstösse in diesem Polizeieinsatz.

Der Staatsanwalt bestreitet die Äquivalenztheorie nicht, sagt aber, dass diese eingeschränkt werden müsse, da sonst alles zu einer Ursache für irgendwas werden könnte. Zwar sagt auch er, dass das verlängerte Fixieren in Bauchlage ein schuldhafter Verstoss ist; aber das reicht ihm nicht, da zusätzlich die Vermeidbarkeit bewiesen werden müsse. Es müsse also nachgewiesen werden, dass Mike nicht gestorben wäre, wenn die Polizisten diese schuldhafte Handlung vermieden hätten. Da es jedoch unmöglich ist, zu beweisen, dass das Stoppen der Fixierung in Bauchlage tatsächlich Mikes Leben gerettet hätte, plädiert er auf Freispruch.

Die Verteidigung der Polizisten versuchte, die wichtigste Todesursache mit Faktoren ausserhalb der Anklageschrift in Verbindung zu bringen und führte Mikes Krankengeschichte als Erklärung für seinen Herzstillstand an. Sie sieht das Fixieren in Bauchlage als isoliertes Faktum, das für sich genommen gemäss zitierten Studien den Tod nicht verursacht haben könne. Wenn das Fixieren in Bauchlage also nicht die Todesursache ist, so sind die Angeklagten aus dieser Sicht unschuldig. Dabei wird verschwiegen, dass die Polizisten gelernt haben, dass das Fixieren in Bauchlage für maximal 1 bis 2 Minuten zulässig ist, und dass sie im Fall von Mike Ben Peter ihre Sorgfaltspflicht verletzt haben.

Weitere Informationen zur Kausalität in diesem Fall (französisch)

Das Urteil des Berufungsgerichts
Bezüglich Kausalität folgt das Berufungsgericht in seinem Urteil vom 8. Juli 2024 zum Teil der Argumentation des Staatsanwalts und zum Teil den Argumenten der Verteidigung. Die Haltung des Staatsanwalts hinsichtlich der Notwendigkeit, die Vermeidbarkeit zu beweisen, wird übernommen. Im Sinne der Verteidigung werden das «Excited Delirium Syndrome» sowie Mike Ben Peters medizinische Vorgeschichte erwähnt und damit angedeutet, die Todesursache liege eher in seiner Erregung als in der Fixierung in Bauchlage. Das Gericht unterscheidet somit zwei Aspekte ein und derselben Realität und kommt zum Schluss, dass der Kausalzusammenhang nicht bewiesen sei.

In Bezug auf das «Excited Delirium Syndrome» sagten die Richter*innen, dass es nicht als medizinische Diagnose zugelassen werden könne, aber dennoch eine Beschreibung biete, die für das Verständnis der Ereignisse hilfreich sei. Sie waren der Meinung, dass die Fixierung in Bauchlage wahrscheinlich keine Auswirkungen hatte, und deuteten an, dass die Todesursache wahrscheinlich eher mit Mike Ben Peters Aufgeregtheit zum Zeitpunkt seiner Festnahme zusammenhänge.

Der Hauptrichter versicherte, dass das Eingreifen des Polizisten, der Mike die ersten Schläge verpasste, völlig legitim war. Sämtliche beteiligten Polizisten hätten zwar ihre Sorgfaltspflicht verletzt, insbesondere bei der Fixierung in Bauchlage. Dennoch hätten sie zu diesem Zeitpunkt keinen Fehler begangen (d. h., sie könnten unter den gegebenen Umständen nicht für die Verletzung ihrer Sorgfaltspflicht sanktioniert werden). Er folgte auch der Version der Verteidigung, dass Mikes Schreie keine Schmerzensschreie waren, sondern die Schreie einer Person, die sich weigerte zu kooperieren.

Folglich sprachen die Richter*innen die Angeklagten frei und bekräftigten damit das Urteil der ersten Instanz. Sie bestätigten auch die Verfahrenskosten der Angeklagten, die der Staat bezahlt hatte, und erhöhten diese, um die Kosten des Berufungsverfahrens zu decken.​​​​​​​

Abgebildet ist der Demonstrationszug, wie er unter einer Brücke hindurchschreitet, von der zwei riesige Transparente hängen. Eines davon sagt „smash state racism, blast police impunity“


Anträge zu Beginn des Prozesses
Zu Beginn des Prozesses können von Anwält*innen Anträge gestellt werden. Das Gericht muss darüber entscheiden und sich positionieren, indem es sie akzeptiert oder ablehnt. Dies kann für die nächsten Schritte bedeutsam sein, da die Entscheidung des Gerichts möglicherweise weitergezogen werden kann (in diesem Fall vor das Bundesgericht). Die Verteidigung (die Anwälte der Polizisten) reichte keine Anträge ein, im Gegensatz zu Rechtsanwalt Simon Ntah, dem Anwalt von Mikes Familie, der drei Dinge forderte:

1. Verschärfung der Anklageschrift

Die Anklageschrift ist das Dokument der Staatsanwaltschaft, in dem alle Fakten dargelegt werden und das beschreibt, welche Straftaten gegen wen vorgebracht werden. Im erstinstanzlichen Urteil lautete die Anklage des Staatsanwalts auf fahrlässige Tötung im Zusammenhang mit der Fixierung in Bauchlage und deren Aufrechterhaltung durch die Polizisten. Rechtsanwalt Ntah forderte, dass die gegen die Angeklagten vorgebrachten Straftaten in folgendem Sinne verschärft werden sollten:

2. Eventualvorsätzlicher Mord. Auch wenn Mike Ben Peters Tod nicht vorsätzlich durch die Polizisten geschah, wussten sie, dass dies ein wahrscheinlicher Ausgang ihrer Handlungen war, und nahmen diese Möglichkeit in Kauf (anders als bei der fahrlässigen Tötung, bei der nur geprüft wird, ob ein Verschulden in Form einer Verletzung der Sorgfaltspflicht vorliegt).

3. Einfache Körperverletzung

4. Amtsmissbrauch (ein Delikt, das mit fünf Jahren Gefängnis bestraft wird)

Keine dieser Forderungen wurde vom Gericht akzeptiert, mit Ausnahme der Verschärfung der Anklageschrift durch die Hinzufügung von Amtsmissbrauch.

Kritik an der Staatsanwaltschaft und ihrer Untersuchung
Rechtsanwalt Ntah kritisierte wie schon beim ersten Prozess die Anklageschrift, die er als Farce bezeichnete. Sie sei nur sechs Seiten lang, obwohl die Ermittlungen fünf Jahre gedauert haben. Der Teil der Anklageschrift, der sich auf die angeklagten Taten bezieht, sei 59 Zeilen lang.

Rechtsanwalt Ntah legte unter anderem Folgendes dar:

Die Verdunkelungsgefahr (Kollusionsgefahr, Gefahr von Absprachen)
Normalerweise werden bei einem Verbrechen, das von mehreren Personen begangen wird, diese getrennt, damit sie sich nicht absprechen können. Im vorliegenden Fall blieben die Polizisten stattdessen lange Zeit am Tatort zusammen, und trafen sich nach der Tat auf der Wache. Erst nach mehr als vier Stunden wurden sie getrennt. Es besteht also eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es zu Absprachen gekommen ist. Als Antwort darauf versicherte die Verteidigung, die Polizisten wüssten, dass sie sich nicht absprechen dürften, und meinte, dass dies ausreichen müsse, damit man ihnen dies nicht unterstelle.

Die Untersuchung 
Rechtsanwalt Ntah insistierte darauf, dass die Untersuchung nicht von Anfang an so schludrig und voreingenommen geführt worden wäre, wenn die Angeklagten keine Polizisten gewesen wären und das Opfer keine Schwarze Person. Er forderte jedoch nicht, dass der Staatsanwalt in den Ausstand treten müsse. Er erinnerte daran, dass die Staatsanwaltschaft eine unteilbare Instanz und strukturell mit den Polizisten verbunden sei.

Nachbarschaftsbefragung und Zeugenaufruf 
Rechtsanwalt Ntah kritisierte, dass die Nachbarschaftsbefragung nicht sauber durchgeführt worden sei und vor allem, dass der Zeugenaufruf völlig voreingenommenen formuliert war. Mike Ben Peter sei dort als gewalttätiger, mehrfach vorbestrafter nigerianischer Dealer ohne festen Wohnsitz beschrieben worden, der nicht kooperierte und angeblich einen Schwächeanfall erlitt. Hierin zeigt sich die rassistische und entmenschlichende Voreingenommenheit der Ermittlungen.​​​​​​​​​​​​​​

Thin Blue Line
Während des Prozesses in erster Instanz hatte ein Artikel einen Skandal ausgelöst: Es wurde berichtet, dass ein Mitglied des Sicherheitsdispositifs im Gerichtssaal auf seiner kugelsicheren Weste das Abzeichen «Thin Blue Line Switzerland» trug.

Rechtsanwalt Ntah hatte die Richter*innen während der Verhandlung 2023 darauf hingewiesen, aus diesem Grund kam es zu einem kurzzeitigen Unterbruch. Später kritisierte ein Parlamentsmitglied dieses Zeichen der Zugehörigkeit zur Thin Blue Line-Bewegung öffentlich, als Folge davon ist es nun in der Polizei des Kantons Waadt verboten.

Hierzu brachte Rechtsanwalt Ntah eine bisher unbekannte Anekdote ein: Als der Artikel im Juni 2023 erschien, sprach der für den Fall zuständige Staatsanwalt Laurent Maye Rechtsanwalt Ntah zum allerersten Mal persönlich in der Wandelhalle an. Der Staatsanwalt bat Simon Ntah, den Vorfall nicht weiter zu verbreiten und die Gerichtsverhandlung nicht aus diesem Grund zu unterbrechen. Angesichts dieser Reaktion des Staatsanwalts und des Verbots des Symbols durch den Kanton Waadt nach seiner öffentlichen Thematisierung ist es klar, dass alle über die Bedeutung dieses rassistischen Symbols Bescheid wussten, das sich an «White Supremacy» anlehnt. Dennoch versuchte Verteidiger Xavier de Haller mit vielen Worten zu beweisen, dass es keine Verbindung zwischen dem Schweizer Verein Thin Blue Line und der gleichnamigen Bewegung in den USA gebe.

Der Polizist, der vor einem Graffiti zu Ehren von Mike posiert
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Der andere Fall, der 2023 für Aufsehen sorgte und auch heute noch aktuell ist, betrifft ein aus einer Polizisten-WhatsApp-Gruppe geleaktes Foto. Darauf posiert ein Polizist stolz mit erhobenem Daumen vor einem Graffiti zu Ehren von Mike. Letztes Jahr wurde ein Verfahren gegen den betreffenden Polizisten eingeleitet, um ihn zu verurteilen und die Person zu finden, die das Foto aufgenommen hatte. Ein Jahr lang tat sich nichts in dieser Sache. Zwei Tage vor dem Prozess wird wie aus heiterem Himmel bekannt, dass die beschuldigte Person im August vernommen werden soll.

Verschiedene Gutachten
Die Gutachten stellen einen grossen Streitpunkt im Berufungsverfahren dar, ebenso wie für den weiteren Verlauf des Falls (vor dem Bundesgericht und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte). Die Untersuchung hatte zwei Gutachten in Auftrag gegeben, das erste bei Dr. Graeber und ein weiteres bei Dr. Scima. Für das Berufungsverfahren beauftragte Rechtsanwalt Ntah zwei weltbekannte US-amerikanische Gutachter, die an grossen Fällen wie dem von George Floyd mitgearbeitet hatten. Diese prüften die Autopsieberichte ebenso wie die Schweizer Gutachten, um ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen, die auf Dutzenden von vergleichbaren Fällen basierten. Während die beiden Schweizer Gerichtsgutachten voneinander abweichen, kommen die Privatgutachten beide zu dem Schluss, dass die Gewalt der Polizisten und das Fixieren in Bauchlage die direkten Ursachen für den Tod von Mike Ben Peter waren.

Zeugenbefragung
Ein neues Element in diesem Berufungsverfahren ist die von Rechtsanwalt Ntah beantragte erneute Vernehmung einer Zeugin, die in erster Instanz abgelehnt worden war.

Diese Frau wohnte etwa 20 Meter vom Tatort entfernt und hatte sich nach der Aufforderung zur Zeugenaussage spontan gemeldet. Gleich zu Beginn ihrer Wortmeldung versuchte der Richter, ihre Aussagen zu diskreditieren, indem er sagte: «Wir wissen, dass es dunkel war, dass Sie nicht gut sehen konnten.» Sie kann jedoch die Position der sechs Polizisten genau bezeichnen: zwei auf Mikes Schultern, zwei auf der Rückseite seines Oberkörpers und zwei auf seinen Oberschenkeln. Sie erklärte bereits in den ersten Sätzen, dass sie sehen konnte, dass die sechs Polizisten ihn am Boden festhielten. Diese Gewalt erschien ihr übertrieben und unverhältnismässig. Sie berichtete, dass sie Schmerzensschreie gehört hatte und annahm, dass eine Person überfallen wird. Sie erklärte auch, dass Mike sich zu keinem Zeitpunkt gewehrt habe oder gewalttätig gewesen sei. Der Richter und die Verteidiger zweifelten ihre Schilderung an, wobei der Richter sie fragte: «Sind Sie sich da sicher?»

*Kollektiv Kiboko
Lausanner Kollektiv, das gegründet wurde, um Zeugenaussagen über Polizeibrutalität zu sammeln und sie öffentlich zu machen. Um die Rechte von BiPOCs gegenüber der Polizei zu verteidigen. Ebenfalls, um das Bewusstsein von BiPOCs zu schärfen, wie sie sich in der Nähe der Polizei verhalten können. Eine Stimme über die Erfahrungen von BiPOCs mit der Polizei und wie sie mit Brutalität, Diskriminierung, Racial Profiling, Ungerechtigkeit und Gewalt konfrontiert wurden und umgehen.

https://renverse.co/infos-locales/article/proces-des-meurtriers-de-mike-ben-peter-un-policier-arbore-un-symbole-raciste-a-4066

https://www.blick.ch/fr/news/suisse/mathilde-marendaz-deputee-vaudoise-la-police-ne-doit-pas-porter-ce-symbole-associe-a-lextreme-droite-raciste-aux-etats-unis-id18671771.html

https://www.blick.ch/fr/news/suisse/symbole-recupere-par-lextreme-droite-cet-insigne-juge-raciste-est-desormais-interdit-dans-les-polices-vaudoises-id18939562.html