Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel
+++BERN
Asylbewerber erzählen an Flüchtlingstagen ihr Schicksal (ab 06:40)
https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2024-06-17
+++ST. GALLEN
Im Toggenburg engagieren sich zahlreiche Organisationen für die Integration von Flüchtlingen
Der schweizerische Flüchtlingstag stand im Toggenburg unter dem Motto Integration. Im Berufs- und Weiterbildungszentrum in Wattwil fragten wir Fachleute, wie es im Toggenburg mit der Flüchtlingssituation aussieht.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/toggenburg/fluechtlingstag-im-toggenburg-engagieren-sich-zahlreiche-organisationen-fuer-die-integration-von-fluechtlingen-ld.2633754
++++URI
Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Asylwesen im Mittelpunkt
Ein Schatten lag diesmal auf dem Urner Flüchtlingstag, der am Samstag auf dem Unterlehn und im Zeughaus in Altdorf stattfand. Flyer auf den Tischen machten auf den Brand in der Asylunterkunft von letzter Woche aufmerksam und riefen zu Spenden auf.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/uri/fluechtlingstag-unbegleitete-minderjaehrige-fluechtlinge-im-asylwesen-standen-im-mittelpunkt-ld.2630819
+++SCHWEIZ
Knast oder Krieg in Russland: Schwules Paar wartet seit drei Jahren auf Asylentscheid
Ilia A. ist ein russischer LGBTQIA+-Aktivist, der wegen Morddrohungen mit seinem Ehemann in die Schweiz flüchtete. Nun droht ihnen ein Landesverweis – und in Russland Knast oder Krieg.
https://www.watson.ch/schweiz/russland/125084338-pride-schweiz-diesem-schwulen-paar-droht-in-russland-knast-oder-krieg
Asylstatistik Mai 2024
Bern-Wabern, 17.06.2024 – Im Mai 2024 wurden in der Schweiz 2357 Asylgesuche registriert, 74 mehr als im Vormonat (+3,2 %). Gegenüber Mai 2023 ist die Zahl der Asylgesuche um 312 (+15,3%) gestiegen. Wichtigste Herkunftsländer waren Afghanistan und die Türkei. Im Mai wurde zudem 1506 aus der Ukraine geflüchteten Personen der Schutzstatus S erteilt, in 1161 Fällen wurde er beendet.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-101441.html
+++DEUTSCHLAND
Ruanda-Modell: Sachverständige zweifeln an Asyl-Auslagerung
Das Bundesinnenministerium hat Sachverständige befragt, inwiefern Asylverfahren in Drittstaaten wie Ruanda ausgelagert werden können. Nach Informationen von WDR, NDR und SZ haben viele der Befragten große Zweifel.
https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/asyl-drittstaaten-100.html
-> https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/innenministerium-drittstaatenregelung-100.html
+++GRIECHENLAND
Schwere Vorwürfe gegen griechische Küstenwache – Echo der Zeit
Schon länger werfen Flüchtlingsorganisationen Griechenland sogenannte illegale Pushbacks vor. Nun zeigt ein Bericht der britischen BBC: Die griechische Küstenwache soll Migrantinnen und Migranten gar absichtlich über Bord geworfen haben. Das Gespräch mit dem Journalisten Tobias Zick.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/schwere-vorwuerfe-gegen-griechische-kuestenwache?partId=12608996
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1183019.festung-europa-griechische-kuestenwache-warf-gefluechtete-ins-mittelmeer.html
+++EUROPA
Europas Anti-Schleuser-Gesetze vor Gericht
EU Gerichtshof prüft Auswirkungen auf Menschenrechte im Kinsa-Fall
Am 18. Juni prüft der Europäische Gerichtshof (EuGH), ob der EU-Rechtsrahmen zur Kriminalisierung der Beihilfe zur unerlaubten Einwanderung mit der EU Grundrechtecharta vereinbar ist. Das Urteil könnte weitreichende Folgen für sowohl die EU- als auch nationale Gesetzgebung und hunderte laufende „Schmuggel“-Fälle haben.
https://www.ecchr.eu/pressemitteilung/europes-anti-smuggling-laws-on-trial/
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Kundgebung in Bern: Nach unbewilligter Party-Demo ermittelt die Polizei
Unbekannte zogen am Samstag durch Bern, es kam zu Sprayereien. Die Polizei sucht nun die Verantwortlichen.
https://www.derbund.ch/nach-unbewilligter-party-demo-in-bern-ermittelt-die-polizei-624461154800
Momente des Feministischen Streiks – Teil 1
Streik – Eine violette Stadt: Journal B war am diesjährigen feministischen Streik in Bern mit der Kamera vor Ort. Eine Fotoreportage von Livia Walker.
https://journal-b.ch/artikel/momente-des-feministischen-streiks-teil-1/
-> Teil 2: https://journal-b.ch/artikel/momente-des-feministischen-streiks-teil-2/
+++JUSTIZ
Während dem Haarschnitt gibt es noch eine Rechtsberatung
Für eine Rechtsberatung muss man nicht immer in eine Anwaltskanzlei gehen. Eine aussergewöhnliche Alternative ist ein Coiffeursalon in Bern. Die Inhaberin ist einerseits Coiffeuse und andererseits Juristin.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/waehrend-dem-haarschnitt-gibt-es-noch-eine-rechtsberatung-157573731
+++KNAST
Strafanstalt Witzwil BE – Gefangene als Landwirte – ein Konzept mit Zukunft
Beim Melken, Misten und Ernten lernen Gefangene fürs Leben – nach der Zeit hinter Gittern.
https://www.srf.ch/news/schweiz/strafanstalt-witzwil-be-gefangene-als-landwirte-ein-konzept-mit-zukunft
Suizide in Gefängnissen vermeiden
https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2024-06-17
+++FRAUEN/QUEER
Gemeinderatsantwort auf Interfraktionelle Motion SP/JUSO, AL/GaP/PdA (Mohamed Abdirahim, JUSO/Tabea Rai, AL): Die Stadt Bern setzt ein Zeichen gegen Homo- und Transphobie und Diskriminierung wegen der Geschlechtsidentität und/oder sexuellen Orientierung (PDF, 97.4 KB)
https://www.bern.ch/politik-und-verwaltung/gemeinderat/aktuelle-antworten-auf-vorstosse
+++RECHTSPOPULISMUS
Zu radikal: Junge GLP stoppt Zusammenarbeit mit Jung-SVP
Die Junge SVP Schweiz falle wiederholend durch menschenverachtende Äusserungen auf, teilen die Jungen Grünliberalen am Sonntag mit.
https://www.derbund.ch/junge-glp-stoppt-zusammenarbeit-mit-jung-svp-402053572033
-> https://jungegrunliberale.ch/medienmitteilung/jungen-gr-ue-nliberalen-stoppen-zusammenarbeit-mit-der-radikalen-jungen-svp
-> https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft-politik/256450256-junge-glp-distanziert-sich-von-jsvp-sollte-auch-andere-alarmieren
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/junge-glp-stoppt-zusammenarbeit-mit-jung-svp-66780592
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/knatsch-bei-jungparteien-junge-glp-stoppt-zusammenarbeit-mit-jung-svp
-> https://www.20min.ch/story/junge-svp-fiechter-katapultiert-sich-ins-aus-junge-glp-beendet-zusammenarbeit-103129183
+++HISTORY
Stolpersteine auch im Tessin – Schweiz Aktuell
Vier Stolpersteine erinnern nun auch im Tessin an die Verbrechen der Nazizeit. Die Familie Gruenberger wurde 1941 auf der Flucht in Brissago zurückgewiesen. Für viele Jüdinnen und Juden damals ein Todesurteil.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/stolpersteine-auch-im-tessin?urn=urn:srf:video:b07127bf-06ca-45ad-9da7-9b51dee412b7
Wie Schweizer Museen von NS-Flüchtlingen profitierten
Der jüdische Bankier Hugo Simon floh 1933 vor den Nationalsozialisten nach Paris. Seine Kunst brachte er wie viele andere Sammler in Schweizer Museen unter. Neue Forschung zeigt, wie seine Notlage als Verfolgter durch Schweizer Akteure skrupellos ausgenutzt wurde.
https://www.srf.ch/audio/kontext/wie-schweizer-museen-von-ns-fluechtlingen-profitierten?id=12606338
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nzz.ch 17.6.2024
Wie geht die Schweiz mit der NS-Geschichte um? Ein Grabmal auf dem Churer Friedhof hat eine alte Debatte neu entzündet
In Chur wird über den Umgang mit dem wohl einzigen nationalsozialistischen Denkmal der Schweiz gestritten:
dem «Nazi-Stein».
Leonie C. Wagner, Chur
Lange hatte sich niemand für das Soldatengrab auf dem Churer Friedhof interessiert. Doch als letztes Jahr eine SRF-Recherche den nationalsozialistischen Hintergrund des Grabsteins offenlegte, änderte sich das schlagartig.
Plötzlich war im SRF von dem Churer «Nazi-Stein» die Rede. Selbst die BBC kam vorbei und titelte: «Nazi monument at Swiss cemetery sparks controversy». Ein Nazi-Denkmal auf einem Schweizer Friedhof – das musste eine alte Kontroverse auslösen: Wie geht die Schweiz mit der NS-Geschichte um?
Ein Kriegerdenkmal wie viele andere?
Alles begann mit dem Artikel von Stefanie Hablützel. Die Journalistin wuchs in Chur auf und entdeckte das Grabmal zufällig. Ein mannshoher, 13 Tonnen schwerer Granitstein auf dem Friedhof Daleu, wuchtig und grob behauen. Auf Augenhöhe ist ein Reichsadler in den Stein gemeisselt, links und rechts verwitterte Schriftzüge, die kaum noch zu entziffern sind. Darunter steht in Fraktur: «Hier ruhen deutsche Soldaten 1914–1918.» Ein Kriegsdenkmal für deutsche Soldaten, die im Ersten Weltkrieg gefallen waren. Auf den ersten Blick ein Kriegerdenkmal wie viele andere.
Als Hablützel herausfand, dass der Gedenkstein erst 1938 aufgestellt worden war, wurde sie stutzig. Ihre Recherche ergab: Auftraggeber des Steins war der deutsche Volksbund Kriegsgräberfürsorge, der sich um Gräber von im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten kümmerte. Ab 1933 war der Volksbund eine stramm nationalsozialistische Organisation.
Seit Hitlers «Machtergreifung» liess der Volksbund überall im Ausland Kriegsgräber bauen. Denn die Nationalsozialisten nutzten den Ersten Weltkrieg für ihre Propaganda. Hitler feierte die Soldaten als Vorkämpfer des «Dritten Reiches», liess ihnen Denkmäler errichten und feierte sie am sogenannten «Heldengedenktag». Auch in Chur sollen Nazis 1938 Grabkränze mit Hakenkreuzen auf dem Denkmal abgelegt haben.
Eine nationalsozialistische Parallelgesellschaft
Nationalsozialisten in Chur? Davon hätten in der Stadt die wenigsten gewusst, sagt Stefanie Hablützel. Auch deswegen habe ihre Recherche so viel ausgelöst. Sie sagt: «Die NS-Zeit ist im kollektiven Gedächtnis verdrängt worden.» Das Denkmal habe den Leuten gezeigt, wie wenig man wisse. Der Stein sei wie die Spitze eines Eisberges.
«Bestimmte NS-Organisationen, die man aus Deutschland kennt, hat es auch in der Schweiz gegeben: NSDAP, Hitlerjugend, Deutsche Arbeitsfront», sagt Martin Bucher. Er ist Historiker und hat ein Buch über die Hitlerjugend in der Schweiz geschrieben. Auf ihrem Höhepunkt sei die Hitlerjugend mit rund 50 Standorten in der Schweiz präsent gewesen. Über 2500 deutsche Kinder und Jugendliche waren Mitglieder. Familien, die sich weigerten, wurde gedroht. Etwa damit, Reisepässe nicht zu verlängern. So sollte die deutsche Bevölkerung ideologisch beeinflusst werden.
Und was hielt die Schweiz von dieser nazideutschen Parallelwelt? Martin Bucher sagt: «Die Schweizer Behörden haben die NS-Organisationen toleriert und gewähren lassen.» Man habe gewusst, dass sie ihre Leute indoktrinierten. Zwar sei das Deutsche Reich für die Schweiz eine Bedrohung gewesen. Aber auch ein wichtiger Handelspartner.
Die Duldung führte so weit, dass 1942 im Zürcher Hallenstadion einer der grössten nationalsozialistischen Anlässe ausserhalb Deutschlands stattfinden konnte. 12 000 Deutsche haben dort, gesäumt von riesigen Hakenkreuz-Bannern, das Erntedankfest gefeiert. Damit die Veranstaltung stattfinden konnte, drohte Deutschland, im Fall einer Verweigerung einen wichtigen Kohleliefervertrag nicht zu unterschreiben. Also fand das Fest mit bundesrätlicher Unterstützung statt.
Stefanie Hablützel sagt: «Wir schauen Fotos aus dem Hallenstadion von 1942 an und denken: Was? Hier? Unglaublich!» Ähnlich hat Hablützels Recherche zum Kriegerdenkmal in Chur aufgerüttelt. «Die Leute waren bewegt», sagt Hablützel. In den Tagen nach der Veröffentlichung setzte eine Art Friedhofstourismus ein. Auch an der Migros-Kasse sprach man über den «Nazi-Stein».
Keine unabhängige Forschung
Als Tino Schneider Hablützels Artikel las, wurde er hellhörig. Schneider kommt aus Chur, ist Mitte-Politiker und Historiker und brachte den Stein in die Politik. Gemeinsam mit der SP reichte die Mitte-Partei einen Vorstoss im Churer Stadtparlament und im Bündner Kantonsparlament ein. Die Forderung: eine vertiefte Aufarbeitung der Bündner NS-Geschichte.
Der Kanton wurde aktiv und lancierte ein mehrjähriges Forschungsprojekt zur Geschichte des Faschismus und Nationalsozialismus in Graubünden.
Die Churer Stadtregierung aber lehnte ab. «Weitere Forschungsarbeiten würden voraussichtlich keine weiteren Erkenntnisse zur Geschichte des Nationalsozialismus in Chur liefern», hiess es im Bericht. «Das Thema Nationalsozialismus empfinde ich in der Lokalpolitik wie eine heisse Kartoffel», sagt Schneider. Niemand wolle sich die Finger verbrennen.
Zwar wollte die Stadt keine weiteren Nachforschungen, aber man willigte in die Errichtung einer Informationstafel ein. Die Tafel soll zukünftig neben dem Stein stehen und über den Wissensstand zum Hintergrund des Grabsteins informieren. Als der Textentwurf im März veröffentlicht wurde, stellte sich heraus: Das städtische Parlament hatte den eigenen Stadtarchivar Ulf Wendler beauftragt. Ein grober Fehler.
Es wurde Kritik am Vorgehen der Stadt Chur laut. Mit dem intern vergebenen Auftrag sei keine faktenbasierte und unabhängige Forschung gegeben, sagte Sacha Zala, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte, dem SRF. Den eigenen Stadtarchivar zu beauftragen, berge die Gefahr der politischen Einflussnahme.
Mehr Fragen als Antworten
Vor allem aber der Inhalt der Tafel wurde angeprangert. Historiker Martin Bucher sagt: «Die Tafel wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet.» Es fehlen Ausführungen zum Nationalsozialismus in Chur, zur Rolle der Churer Behörden und zur Nutzung des Denkmals an Feiertagen des «Dritten Reichs». Auch die nationalsozialistische Gesinnung des Volksbunds wird lediglich angedeutet. «Das erweckt den Eindruck, dass die Stadt Chur den Bezug des Denkmals zum Nationalsozialismus bagatellisieren möchte», so Bucher.
Die Informationstafel ist in drei Kapitel gegliedert. Eines widmet sich dem «deutschen Grabdenkmal», eines den Begrabenen und ein drittes dem Volksbund in der Schweiz. In dem Text heisst es, dass der spezifisch nationalsozialistische Kontext des Churer Denkmals nicht ohne weiteres erkennbar und ohne Hintergrundwissen leicht übersehbar sei. Aber auch aus der Tafel geht nur bedingt der Wille zur Aufarbeitung dieses Kontexts hervor.
Der letzte Satz lautet: «Die Regierung des Kantons Graubünden sowie der Gemeinderat und der Stadtrat von Chur gedenken mit dieser Tafel der Opfer, welche die Kriege des 20. Jahrhunderts gefordert haben.» Kein Wort zu den Opfern des Nationalsozialismus. Stattdessen eine Pauschalformel für das gesamte 20. Jahrhundert.
Tino Schneider ist unzufrieden. Wieder meldete er sich im Stadtparlament zu Wort. Der Text gehe allen kritischen Fragen aus dem Weg und müsse ergänzt werden, damit die Bevölkerung offen und ehrlich informiert werde. Aber der Stadtpräsident lehnte jede Änderung ab. Es sei nicht Sache der Politik, die Arbeit des Stadtarchivars zu korrigieren. Schneider sagt: «Der Stadtrat macht es sich zu einfach.»
«Bitte kein Tamtam»
Doch das sehen nicht alle so. Nach der Publikation von Hablützels Artikel meldete sich der Churer Kunsthistoriker Leza Dosch zu Wort. Es seien keine Nazis in dem Denkmal begraben, sondern Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg, sagte er auf Radio Südostschweiz. Auch eine nationalsozialistische Ästhetik sei nicht erkennbar. Von einem «Nazi-Stein» könne also keine Rede sein.
In einigen Kreisen wurde die gesamte Recherche infrage gestellt. «Für mich ist das ‹populistische› Mediensprache und keine Geschichtsforschung», so Jan-Andrea Bernhard, Titularprofessor für Kirchengeschichte an der Universität Zürich, gegenüber der «WoZ». Und der FDP-Politiker Rainer Good sagte im SRF-Interview, man wisse jetzt über die Hintergründe des Steins Bescheid und solle nicht so ein «Tamtam» machen.
Der freisinnige Churer Stadtrat Urs Marti zeigt sich irritiert über die polarisierte Debatte. Die Stadtregierung sei offen für Kritik, sagt er im Gespräch mit der NZZ. Man könne die Informationstafel in Zukunft durchaus anpassen und korrigieren. Marti spricht vom «Dazulernen», von verschiedenen «Varianten» der Aufarbeitung. Dass die Stadt grundsätzlich etwas falsch gemacht hat, bezweifelt er. Zwei Fachleute des Kantons hätten den Text des Stadtarchivars gegengelesen. Marti sagt: «Ich habe den Eindruck, man versucht, das Haar in der Suppe zu suchen.»
«Die politische Diskussion kam nie richtig vom Fleck», sagt Journalistin Stefanie Hablützel. Das Parlament habe eine kritische Umsetzung gescheut. Für sie geht es um die grundsätzliche Frage: «Wie wollen wir mit problematischer Geschichte umgehen?»
Der Fall passe zum Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus, sagt Martin Bucher. Die sei zwar aufgearbeitet worden, aber nur unter Druck. «Ich erinnere an die Bergier-Kommission, die auf Druck des Auslands eingesetzt wurde.» Da sei es ähnlich gewesen: «Man hat einen Bericht gemacht. Aber wirkliche Schlüsse, die in Politik und Gesellschaft geflossen sind, hat man daraus nicht gezogen.»
(https://www.nzz.ch/panorama/wie-geht-die-schweiz-mit-der-ns-geschichte-um-ein-stein-auf-dem-churer-friedhof-hat-eine-alte-debatte-neu-entzuendet-ld.1834789)
+++DROGENPOLITIK
Was tun gegen den wachsenden Crack-Konsum? – Echo der Zeit
In den letzten zwei Jahren hat der Crack-Konsum in Schweizer Städten deutlich zugenommen. Die nationale Suchtkommission schlägt deshalb Alarm und verlangt innovative Ansätze, um das Angebot und die Sichtbarkeit von Crack in der Öffentlichkeit einzuschränken. Doch eine Abgabe – ähnlich wie bei Heroin – ist umstritten.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/was-tun-gegen-den-wachsenden-crack-konsum?partId=12608999
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KOKSENDE JUGENDLICHE: «EINE UNSICHTBARE KOKAIN-WELLE ROLLT AUF DIE SCHWEIZ ZU»
Die Droge verbreitet sich stark. Ihre Folgen wie Aggression und Gefühlskälte verfestigen sich bei Jungen besonders stark. Nun steht eine staatliche Kokainabgabe zur Debatte.
Anielle PeterhansDavid Sarasin
(David Sarasin, Anielle Peterhans, derbund.ch 16.06.2024)
«Mit 21 habe ich es das erste Mal an einem Familienfest probiert. Eigentlich absurd. Ich dachte mir, so ist es ja am sichersten, ein Safespace», sagt Kim (Name geändert), heute 24 Jahre alt, aus Zürich.
Kokserinnen und Kokser in der Schweiz zu finden, ist einfach. Ihre Geschichten ähneln sich. Bei Kim hatte der Vater ihres damaligen Freundes Kokain dabei. Sie probierte es einfach aus. Bei anderen ist es der Freund, der Bruder einer Freundin oder der Nachbar. «Am nächsten Tag wusste ich bereits, ich werde es wieder tun. Ich hatte Lust dazu. Es fühlte sich so erwachsen an», sagt Kim.
Heute kokst sie im Schnitt jedes zweite Wochenende. Wenn sie im Ausgang etwa zu viel Alkohol getrunken hat, dann macht sie das Koks wieder «klar im Kopf», wie sie sagt. In ihrem Umfeld würden die meisten koksen, irgendjemand habe immer etwas dabei – «ist ja wie kiffen, nicht so schlimm».
Kokain gehört zum Alltag breiter Kreise
«Nicht so schlimm», «immer dabei», «gehört dazu», solche Sätze fallen im Gespräch mit Konsumierenden immer wieder. Sie zeigen: Die Droge ist längst nicht mehr nur die Droge von Bankern oder Ärzten, sondern gehört zum Alltag breiter Kreise. Sie wird in Chefetagen ebenso konsumiert wie in den Kurven der Fussballstadien. (Mehr dazu: Polizist fährt mit 2,2 Promille und Kokain im Blut zum Dienst)
Durch die grosse Verbreitung und einfache Verfügbarkeit wird die illegale Droge, auch das zeigt das Beispiel von Kim, auch bei jungen Personen beliebter. Der Konsum der Droge birgt zwar höhere Risiken als jener von Cannabis, und doch kann Kokain heute wie dieses bequem an der Theke in einer Bar oder per Mausklick in den sozialen Medien gekauft werden – für unter 100 Franken pro Gramm. Das Zürcher Drogeninformationszentrum (DIZ) teilte jüngst mit, dass der Reinheitsgrad der Droge derzeit bis zu 90 Prozent beträgt, was teilweise doppelt so hoch ist wie noch vor ein paar Jahren.
Verfügbarkeit, Verbreitung, Normalisierung: Das ist für Boris Quednow, Professor für Pharmakopsychologie an der Universität Zürich, ein Problem. Er wählt drastische Worte: «Es rollt eine unsichtbare Kokainwelle auf uns zu. Bei der momentan grossen Verbreitung können wir damit rechnen, dass wir in zehn Jahren ein grösseres Problem mit der Substanz haben werden.»
In einer noch nicht publizierten Studie haben Lilly Shanahan, Professorin für Klinische Entwicklungspsychologie an der Universität Zürich, und er mittels Haarproben nachgewiesen, dass über 20 Prozent der knapp 900 Studienteilnehmenden im Alter von 24 Jahren in den letzten drei Monaten mindestens einmal Kokain konsumiert haben. Vier Jahre zuvor waren es in dieser Stichprobe etwa halb so viele Personen. Der Studie fehlt noch der Peer-Review, also die Begutachtung anderer Wissenschaftler, doch an den Zahlen werde sich nichts mehr ändern, sagt Quednow.
Dass der Kokainkonsum bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen deutlich zunimmt, sagen neben Boris Quednow mehrere angefragte Expertinnen und Experten sowie Beratungsstellen. Und auch auf Bundesebene kommt etwas in Bewegung. Das Bundesamt für Gesundheit hat sich letzten Donnerstag mit Städten, Kantonen und Fachorganisationen an einem runden Tisch zur aktuellen Situation von Kokain und deren Unterform Crack ausgetauscht. Mit dem Ergebnis, dass neue Kontakt- und Anlaufstellen aufgebaut werden sollen – um, wie es in der Medienmitteilung heisst, für «zukünftige Entwicklungen vorbereitet zu sein».
Suchtpotenzial doppelt so hoch wie bei Cannabis und Alkohol
Man kann solche Entwicklungen in gewissen Subkulturen und Kreisen heute schon beobachten. Aus Fussball-Fankurven ist zu vernehmen, wie normal Kokain in den vergangenen Jahren unter Fans geworden ist. «Es gehört heute dazu, dass weisse Säckchen kursieren», sagt ein 17-jähriger Fan, der anonym bleiben möchte, im Gespräch. Eingenommen werde mit Schlüsseln in der Kurve selbst oder in den Toilettenkabinen, die immer belegt seien an den Spielen. Auf das Phänomen angesprochen, nennen Experten im Gegenzug vermehrt auch die Wirtschaftsuniversitäten als Orte, an denen der Konsum normalisiert sei.
«Was zuvor mit Cannabis und Alkohol geschah, weitet sich nun auf das Kokain aus», sagt Boris Quednow. Das sei auch die Kehrseite der Enttabuisierung der Substanzen, sie würden für den Alltagsgebrauch tauglich. Dabei gehe gerne vergessen: Das Suchtpotenzial von Kokain sei etwa doppelt so hoch wie jenes von Cannabis und Alkohol. Ebenso belastet die Substanz stark das Herz-Kreislauf-System. So steigt beispielsweise das Risiko, direkt nach dem Konsum einen Hirnschlag oder einen Herzinfarkt zu erleiden, um das 20-Fache. Das gelte insbesondere im häufig angewandten Mischkonsum mit Alkohol.
Zudem könne die Droge bisher unbekannte körperliche Schäden anrichten, die sich je länger, desto mehr bemerkbar machen, sagt ein Arzt aus der Ostschweiz, der nicht genannt werden will. In seltenen Fällen tritt bei seinen Patientinnen und Patienten eine durch Kokain ausgelöste neue Autoimmunerkrankung auf, die zu Entzündungen im Bereich der Nase, aber auch zu Reaktionen an anderen Organen oder an den Gelenken führt. Um die Erkrankung besser zu verstehen und sie zu behandeln, hat der Arzt jüngst einen Fachkreis gebildet.
Koks-Hotspots Zürich, Genf – und Chur
Die «unsichtbare Welle» lässt sich auch deshalb schwer nachzeichnen, weil das Suchtmonitoring 2016 eingestellt wurde. Da die Daten auf Telefonbefragungen beruhten, waren sie zu ungenau. Dafür zeigen die Abwasserdaten, die die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und Drogensucht jährlich in europäischen Städten erhebt, dass sich der Konsum in den letzten zehn Jahren in der Schweiz etwa verdoppelt hat – und zwischen 2022 und 2023 noch einmal deutlich anstieg.
Zürich und Genf gehören schon lange zu den Top 10 der europäischen Städte mit dem meisten Kokainkonsum. Seit 2021 gibt es zudem ein Schweizer Abwassermonitoring namens DroMedArio, das Substanzen im Abwasser von zehn Schweizer Städten vergleicht. Auf vergleichbar hohem Niveau wie Zürich, das stets obenaus schwingt, liegt hier auch Chur.
Was Boris Quednow an der weiten Verbreitung der Droge schon heute Sorgen bereitet: Bei jungen Konsumierenden ist die Gefahr einer Sucht sowie die Gefahr für dauerhafte kognitive Beeinträchtigungen höher als bei älteren Personen. «Junge Gehirne sind sensibler für die belohnende Wirkung des Dopamins, der Kick fällt stärker aus», sagt er. Zudem seien die negativen neuropsychologischen Folgen von Kokain – Veränderungen des Arbeitsgedächtnisses, der Aufmerksamkeit und der Empathiefähigkeit – bei jungen Erwachsenen schwieriger rückgängig zu machen.
Philip Bruggmann, Co-Chefarzt für Innere Medizin im Arud-Zentrum für Suchtmedizin, sieht die Gefahren von Kokain für junge Menschen ohne Vorerkrankungen vor allem im sozialen Abstieg. «Ein junger Körper mit gesunden Gefässen hält Kokain relativ lange aus, wenn es nicht gerade exzessiv konsumiert wird», sagt Bruggmann. Doch auch er will den Konsum nicht verharmlosen. In der Arud fielen jüngst vor allem junge Leute auf, die Kokain mit Alkohol mischten, was eine besonders starke soziale Abwärtsspirale in Gang setzen könne.
Eine von fünf Personen wird abhängig
Die Wissenschaft geht davon aus, dass jede fünfte Person, die Kokain nimmt, eine Abhängigkeit entwickelt. Einer, der nicht mehr davon loskam, ist Noah aus dem Aargau. Mit 21 hat er die Droge an einer Party «mal ausprobiert». «Am Anfang war es jeweils am Wochenende, dann habe ich das so richtig in meinen Alltag eingebaut. Mehrere Jahre zog ich vier bis fünf Gramm täglich», sagt der heute Mitte 20-Jährige. «Ich funktionierte besser auf Koks, ich war leistungsfähiger, konnte meine Gedanken ordnen und planen.» Weil Noah ADHS hat, gelang ihm das ohne Koks deutlich schlechter.
Der Nebeneffekt: Noah verlor seinen Appetit und sein soziales Umfeld, er gab sehr viel Geld aus. «Ich ass nicht mehr, zog mich zurück. Als meine damalige Beziehung in die Brüche ging, bin ich dem Schnee ganz verfallen. Es half mir, nichts mehr zu fühlen.» Auch Noah ist nicht der Einzige in seinem Umfeld, der konsumierte. Verheimlicht hat er es deshalb auch nie. «Das war irgendwie lange für alle okay, alle finden es halt harmlos», sagt er.
Und so bleibt das, was der Kokainkonsum bei jungen Erwachsenen auslöst, meist lange unsichtbar – und die Auswirkungen zeigen sich erst mit den Jahren. Das weiss Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt am Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst (KJPD) in der Luzerner Psychiatrie AG. Er sei froh, spreche man diese «stille Thematik» an, sagt er am Telefon. «Viele Junge konsumieren relativ lange, bis sich erste negative Effekte zeigen.» Das gelte insbesondere für junge Männer, die in ihren Jobs in der Privatwirtschaft oder auf Anwaltskanzleien von gesteigerter Leistungsfähigkeit und einer gewissen Aggressivität profitieren könnten. «Kokain ist die ideale Leistungsdroge», sagt Bilke-Hentsch.
Wie Quednow glaubt aber auch er, dass sich die negativen Folgen des derzeit gestiegenen Kokainkonsums unter jungen Personen in ein paar Jahren akzentuieren werden. «Mit der Zeit werden die Aggressivität und die fehlende Empathie während des Rauschs zum festen Charakterzug einer Person.» Man könne Vorboten dieser Art Verrohung des Umgangs bereits heute sehen, sagt Bilke-Hentsch. Zum Beispiel in der niederschwelligen Anlaufstelle für Süchtige des KJPD Luzern. «Der respektlose und aggressive Ton gegenüber den Mitarbeitenden ist mit der Verbreitung der Droge gestiegen.»
Fast unerkannt blieb bisher auch das jüngste, seit Herbst 2023 angelaufene Selbsthilfeangebot der Suchtfachstelle Zürich, das sich explizit an eine jüngere Klientel mit Suchtproblemen richtet und den Titel «Cocktails, Kokain & so weiter» trägt. Der Zulauf sei bisher noch bescheiden, gibt die Suchtfachstelle bekannt.
Wer hinhört, kann das Rauschen der Welle aber sehr wohl vernehmen. In der Welt des Streetrap gehört Kokain dazu. Stellvertretend für viele andere rappt der aufstrebende junge Zürcher Ryan87: «D’Lüt sind am Verzwifle, ihri Nase kännt nur Winter. Mittlerwile jedes Wuchenend.»
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Der Staat soll Kokain an Süchtige abgeben
Die Eidgenössische Kommission für Suchtfragen möchte Kokain kontrolliert durch den Staat abgeben. Und zwar «je rascher, desto besser», wie Christian Schneider, Vizepräsident der Kommission, einen Bericht der «NZZ am Sonntag» bestätigt. So soll der Beschaffungsstress von Süchtigen gelindert werden.
Verschiedene Städte sind interessiert an einer solchen Abgabe und haben bereits eine Arbeitsgruppe gegründet. Es wäre eine weltweite Pioniertat. Der Abgabe erwächst aber Widerstand, etwa aus der SVP. (red)
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Kokainkonsum erhöht das Herzinfarktrisiko
Eine 2022 publizierte Studie vom Herzinfarktzentrum AMIS Plus Data Center in Zürich an über 20’000 Herzinfarktpatientinnen und -patienten zeigte, dass Herzinfarktpatienten, die angaben, Kokain zu konsumieren, deutlich jünger waren als andere Herzinfarktpatienten. Sie hatten zudem eine fünfmal höhere Sterblichkeit im Spital und ein viermal höheres Risiko für schwere kardiale und kardiovaskuläre Komplikationen. Der Kokainkonsum wurde in dieser Studie aufgrund der Selbstauskunft der Patienten erhoben. Die Leiterin des Centers, Dragana Radovanovic, rechnet mit einer wesentlich höheren Dunkelziffer.
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Eine Rekordmenge von 303 Tonnen haben die EU-Drogenfahnder im Jahr 2021 beschlagnahmt. Die Behörden vermuten, dass es sich dabei um 10 bis 20 Prozent der tatsächlich eingeführten Drogen handelt. Allein in den zwei grössten Häfen, Antwerpen und Rotterdam, hat sich das Volumen von 91 Tonnen im Jahr 2021 auf 180 Tonnen im Jahr 2023 erhöht. Diese Steigerung deuten Experten als Hinweis für die wachsende Gesamtmenge, die in den Städten Europas im Umlauf ist. Parallel hat sich die Produktion in den Exportländern Peru und Kolumbien verdoppelt beziehungsweise verdreifacht.
(https://www.derbund.ch/kokain-schweizer-jugendliche-konsumieren-mehr-aerzte-warnen-931347085678)
+++JENISCHE/SINTI/ROMA
nzz.ch 17.6.2024
Die Schweiz hat viel zu wenig Transitplätze für Fahrende: Bund und Kantone schieben sich den Ball gegenseitig zu
An Spitzentagen sind in der Schweiz über tausend Wohnwagen ausländischer Fahrender unterwegs. Bei der Suche nach Halteplätzen kommt es regelmässig zu Konflikten. Nun macht der Bund Vorschläge – und kassiert dafür Kritik.
Daniel Gerny
Die Situation läuft seit Jahren immer wieder aus dem Ruder. Letztmals im April, als zwei Gruppen französischer Roma mit je rund zwanzig Wagen von der Polizei per Ultimatum davon abgehalten wurden, sich in zwei Waadtländer Gemeinden niederzulassen.
Erst nach stundenlangen Verhandlungen gaben die Fahrenden nach und zogen auf der Suche nach freien Stellplätzen in andere Kantone weiter. Im vergangenen Jahr kam es in Lausanne sogar zu einem juristischen Seilziehen, nachdem ein Parkplatz am Stadtrand zeitweise von über hundert Wohnwagen belegt worden war. Weil viele der Roma aus Frankreich kommen, war die Westschweiz im vergangenen Jahr besonders betroffen.
Doch auch in anderen Kantonen kommt es regelmässig zu Problemen. In Bern waren in den Sommermonaten über hundert Wagen unterwegs, mitunter mit ähnlichen Folgen: Es kam zu unvorhergesehenen und von den betroffenen Gemeinden unerwünschten Aufenthalten. Sie führten zu Unmut in der Bevölkerung und lösten Auseinandersetzungen mit den Behörden aus.
Druck auf Standplätze von Schweizer Fahrenden
Die Ursache dafür ist bekannt: Die Schweiz verfügt über viel zu wenig Halteplätze. Vor allem in den Sommermonaten können an Spitzentagen über tausend Wohnwagen von Fahrenden aus dem Ausland unterwegs sein. Nicht nur Konflikte mit der lokalen Bevölkerung sind die Folge davon, sondern auch wachsender Druck auf die ohnehin knappen Standplätze für Fahrende aus der Schweiz. Dorthin weichen die ausländischen Fahrenden aus, falls sie anderswo keinen Platz finden.
Dabei steht eigentlich fest, dass die Schweiz genügend Halteplätze bereitstellen muss. Das ergibt sich nicht nur aus dem Personenfreizügigkeitsabkommen mit der EU, sondern auch aus einem Bundesgerichtsentscheid von 2003: Es besteht danach ein Recht auf eine nomadische Lebensform. Und dieses muss unabhängig von der Nationalität der Fahrenden in der Raumplanung berücksichtigt werden.
Der Bund hat deshalb im März ein Konzept in die Vernehmlassung geschickt, um in der ganzen Schweiz mehr Transitplätze für Fahrende aus dem Ausland zu finden. Der Mehrbedarf ist massiv. Derzeit gibt es in der Schweiz nur gerade sieben Halteplätze mit insgesamt rund 220 Stellplätzen, welche von ausländischen Fahrenden aufgesucht werden dürfen. Notwendig aber wären gemäss Angaben des Bundes 14 bis 18 Transitplätze mit 400 bis 490 Stellplätzen.
Bund will «prüfen»
Um die nötigen Plätze zu schaffen, setzt der Bund auf eine bessere Zusammenarbeit zwischen Bund und Kantonen einerseits sowie unter den Kantonen andererseits. Wenn Bund und Kantone ihre Bemühungen besser koordinierten, seien auch die Resultate besser, so lautet die Stossrichtung eines Konzeptes, das er im März in die Vernehmlassung schickte. Der Bund soll dabei vor allem bei der Planung und Koordination mithelfen. Ausserdem will er «prüfen», ob er selber über geeignete Grundstücke verfügt.
Vor allem macht er aber in dem Konzept klar, dass er die Hauptverantwortung bei den Kantonen sieht. Sie seien dafür zuständig, die geeigneten Transitplätze zu finden und zur Verfügung zu stellen. Die Gemeinden sollen dafür im Rahmen der Nutzungsplanung geeignete Zonen ausscheiden. Auch der Betrieb der Transitplätze liegt in der Verantwortung der Standortkantone. Und schliesslich sollen die Baukosten sowie die nicht durch Gebühren gedeckten Betriebskosten «auf geeignete Weise von den Kantonen gemeinsam getragen» werden.
Kantone fordern mehr Engagement des Bundes
Diese einseitige Lastenteilung stösst allerdings vielen Kantonen sauer auf. Sie sind der Ansicht, der Bund drücke sich um eine Aufgabe, die eigentlich in seine Zuständigkeit falle. Die Hauptverantwortung liege beim Bund, schreibt beispielsweise der Kanton Bern klipp und klar in seiner Vernehmlassungsantwort.
Wegen seiner ausländerrechtlichen Zuständigkeit sei er es, der mehr Verantwortung für die Bereitstellung und den Betrieb der Transitplätze übernehmen müsse. Auch müsse sich der Bund wesentlich an den Kosten für neue Halteplätze beteiligen. Ohne eine finanzielle Beteiligung des Bundes sei das Konzept schlicht nicht zielführend.
Aus dem Kanton Waadt, wo sich die Situation in den letzten Monaten besonders zugespitzt hatte, klingt es ähnlich: Letztlich auferlege der Bund den Kantonen nur Pflichten, tue selber aber zu wenig. Die vage Zusage, der Bund wolle prüfen, ob er selber geeignete Grundstücke zur Verfügung stellen könne, bringe voraussichtlich nicht viel. Zumindest nicht, solange damit keine klare Verpflichtung verbunden sei.
Der Kanton Waadt habe nämlich in der Vergangenheit bereits Anfragen beim Bundesamt für Strassen (Astra) oder bei Armasuisse deponiert, ohne dass dabei etwas herausgekommen sei. Auch andere Kantone sind der Meinung, die Anforderungen seien so hoch, dass sich der Bund stärker beteiligen müsse.
Konflikte «vorprogrammiert»
Das Gerangel erinnert an die Suche nach Asylunterkünften, bei der sich Bund und Kantone ebenfalls regelmässig den Ball zuschieben. Luzern stellt diesen Zusammenhang in seiner Vernehmlassungsantwort sogar explizit her: Der Kanton erachtet es «als zielführender, wenn die erforderlichen Plätze für ausländische Fahrende – in Analogie zum Beispiel zu den Bundesasylzentren – auf Ebene des Bundes eruiert und geplant würden». Infrage kämen beispielsweise nicht mehr benötigte Flächen des Militärs.
Wie sehr sich die Lage in den nächsten Monaten zuspitzen könnte, zeigt die Stellungnahme der Radgenossenschaft der Landstrasse zum Konzept, der Dachorganisation der Jenischen und Sinti der Schweiz. Der Unmut, ja der Zorn sei gross, schreibt der Verband. Es sei jetzt Sache des Bundes, die Schaffung von Plätzen für Schweizer Jenische und Sinti endlich zu unterstützen – und zwar «nicht bloss in Planspielen». An zweiter Stelle braucht es Plätze für ausländische Roma, um den Druck auf Jenische und Sinti zu mindern.
Die Radgenossenschaft sieht gar die nomadische Lebensform bedroht, wenn die Schweiz nicht endlich handle. Es drohe nämlich «jede Mobilität aufzuhören und jede Rotation unmöglich zu werden». Familien, die einen Platz hätten, blieben darauf sitzen, weil sie keine nächste Haltemöglichkeit sähen. Kurz und knapp fordert die Radgenossenschaft deshalb eine Notvorlage des Bundes – sonst seien weitere Konflikte «leider vorprogrammiert».
(https://www.nzz.ch/schweiz/die-schweiz-hat-viel-zu-wenig-transitplaetze-fuer-fahrende-bund-und-kantone-schieben-sich-den-ball-gegenseitig-zu-ld.1835034)