Neue Verschärfungen des Asylregimes, pro-palästinensische Besetzungen der Universitäten, antirassistischer Ausblick auf die Sommersession

Was geht ab beim Staat?

Ausblick auf die Sommersession

Vom 27. Mai bis 14. Juni 2024 findet in Bern die Sommersession statt. Ein Überblick, welche rassistischen Geschäfte uns in diesen Tagen erwarten.  

Eritrea: Die Symbolpolitik auf dem Rücken von Geflüchteten aus Eritrea geht auch in der Sommersession weiter. Wie der Ständerat möchte auch die zuständige Nationalratskommission abgewiesene Eritreer in einen Drittstaat zurückführen. Sie empfiehlt dem Nationalrat die Motionen von Thomas Minder (23.4038), Petra Gössi (23.4440) und Andrea Caroni (23.4447) zur Annahme. 

Die Motion Gössi verlangt vom Bundesrat, er solle einen Staat finden, mit dem ein Transitabkommen für abgewiesene Eritreer*innen ausgehandelt werden kann. Dieses Land ausserhalb Europas sollte diese Menschen vorübergehend, also befristet, aufnehmen, bis sie von dort nach Eritrea reisen könnten. Solidarité sans frontières beschreibt die praktischen Hürden eines solchen Abkommens: «Abgesehen davon, dass die Schweiz auf der diplomatischen Ebene schon länger – erfolglos – ein zum Transitabkommen bereites Drittland sucht, müsste der Transitaufenthalt im Abkommen zeitlich befristet werden. Mit Sicherheit würde kein Staat auf eine Befristung des Aufenthalts verzichten», und schlussfolgert: «Vor [diesem] Hintergrund […] scheint es sehr unwahrscheinlich, dass die Motion Gössi jemals in die Praxis umgesetzt wird […]. Symbolpolitik ohne praktische, aber wohl mit ideologischer Auswirkung […].»

Afghanistan: Seit dem Sommer 2023 erhalten afghanische Frauen und Mädchen nach einer Einzelfallprüfung grundsätzlich Asyl in der Schweiz und können Ehegatten und Kinder nachziehen. Die SVP und FDP Parlamentarier*innen in der zuständigen Nationalratskommission möchten diese Praxis nun rückgängig machen. Der Nationalrat wird in der Sommersession darüber entscheiden. 

Eine Einordnung der entsprechenden Motionen findet sich hier: https://www.sosf.ch/de/article/die-sondersession-asylpraxis-fuer-afghanische-frauen

Ukraine: Benedikt Würth von der Mitte fordert Anpassungen beim Schutzstatus S (Motion 24.3022). Auch hier dominiert ein Narrativ des Missbrauchs. Würth schreibt in der Motion: «Die Akzeptanz des Schutzstatus S nimmt ab. Aktuell ist es möglich, dass Personen auf den Schutzstatus S verzichten, Rückkehrhilfe beziehen und nach einigen Wochen wieder einreisen. Sie erhalten dann wiederum den Schutzstatus S. Dieser «Tourismus» kann nicht akzeptiert werden.» Er fordert entsprechende Massnahmen. Laut dem Bundesrat sind solche jedoch nicht nötig, «die geltenden Vorschriften [schützten] genügend vor Missbrauch».

https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2024/20240516093115205194158159026_bsd064.aspx
https://www.sosf.ch/de/article/die-sondersession-asylpraxis-fuer-afghanische-frauen

Was ist aufgefallen?

Die GEAS, Untergang der Menschenrechte?

Jahrelang wurde über sie gestritten – nun wurde ihr final zugestimmt: Der Reform des gemeinsamen europäischen Asylsytems (GEAS). Die Einigung zwischen dem EU-Rat und dem EU-Parlament ist ein deutliches Zeichen, dass sich die EU-Staaten – und als Frontex-Mitglied auch die Schweiz – dem Druck rechtspopulistischer Kräfte endgültig gebeugt haben.

Eine der zentralen Funktionen des europäischen Asylregimes ist die Entmenschlichung flüchtender oder migrierender Personen of Color. Die kontinuierliche Anwendung dieser Praxis materialisiert sich in der faktischen Entrechtung oben genannter Personen.

Mit der Zustimmung wurde gleichzeitig auch eine dramatische Absage erteilt. Während die EU-Abgeordneten die Scheinwerfer auf den sogenannten Solidaritätsmechanismus richten, zeichnen sich in dessen Schatten die kläglichen Hüllen des ohnehin eurozentristischen Konzepts der Menschenrechte ab. Fakt ist: Die Reform wird zu mehr Leid, mehr Pushbacks, mehr Gewalt und mehr Toten an Europas Aussengrenzen führen.

In der Theorie proklamiert die AEMR (Allgemeine Erklärung der Menschenrechte), dass alle Menschen frei, gleich an Würde und Rechten geboren werden und dass jeder Mensch das Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit habe. Das konstitutive Prinzip der Menschenrechte gründe in der Maxime, dass bestimmte Rechte inhärent und unveräußerlich seien, einfach weil jemand ein Mensch ist. Diese Rechte seien nicht von der Zustimmung einer Regierung, einer Gesellschaft oder einer bestimmten Kultur abhängig, sondern sie gelten universell für alle Menschen, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Geschlecht, ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer Religion, ihrer sozialen Stellung oder anderen Merkmalen.

In der Praxis dienen sie jedoch seit ihrer Entstehung mehrheitlich der Rechtfertigung (neo-)kolonialer Interventionen des Westens über den Rest der Welt. Die Einlösung des Rechtsprinzips der Gleichheit ist bedrohlich für diejenigen, die im kapitalistischen Sinne etwas zu verlieren haben, denn es greift bestehende Macht- und damit Besitzverhältnisse an, drängt auf Veränderung und Teilung von Herrschaft und Eigentum. So wurden und werden sie von westlichen Staaten bis zum heutigen Tag zu Propagandazwecken missbraucht. Das ideologische Werkzeug der Menschenrechte diente dazu, kolonisierte Personen zu „zivilisieren“. Wenn Europa – der Teil der dieser Welt welcher jahrhundertelang kolonisiert, destabilisiert und entwurzelt hat und bis heute durch ungleiche Tauschbedingungen von der Armut anderer Länder und Menschen profitiert – von den Menschenrechten spricht, meint es vorwiegend die traditionell-liberalen, bürgerlichen Freiheitsrechte. Eines der Kernstücke der AEMR ist die Absicherung der Besitzverhältnisse. Die dubiose Bezeichnung „Solidaritätsmechanismus“ kann sich unter Berücksichtigung des Art.17 der AEMR offensichtlich nur auf die Solidarität der herrschenden Klassen unter sich beziehen.

In ihrer rückwärtsgewandten Funktion – welche den Zweck verfolgt die weisse moralische Überlegenheit (sic) gegen nicht weisse Personen und deren barbarische Kultur (sic) in Stellung zu bringen – wird rechte Hetzte betrieben, in dem die „Wiege der Menschenrechte Europa“ als durch migrierende, prekarisierte Personen of Color als bedroht dargestellt wird.
Die Befreiung der Unterdrückten entstand noch nie durch die Dekrete besitzender, weisser Cis-Männer, sondern wurde seit je her durch die Unterdrückten Selbst erkämpft! Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht: Get angry get organized.

Wie und wo die Rechte geflüchteter Menschen durch das neue Asylrecht eingeschränkt oder zunichte gemacht werden, hat Pro Asyl in einer Broschüre anhand einiger Beispiele dargestellt. Hier der Link zum Überblick: https://www.proasyl.de/material/der-europaeische-asylpakt-und-seine-folgen/

Demonstration von Amnesty International, ProAsyl und dem Flüchtlingsrat Berlin gegen die EU-Asylrechtsreform am 9. Juni 2023 vor dem Bundestag in Berlin.

EU: Neue Verschärfungen des Asylregimes gefordert

Die entrechtende GEAS-Reform war noch kaum unter Dach und Fach, da erhielt die EU-Kommission rassistische Post. 15 der 27 EU-Staaten fordern erneut Asylverschärfungen. Was steht im Brief von Bulgarien, Tschechien, Dänemark, Finnland, Estland, Griechenland, Italien, Zypern, Lettland, Litauen, Malta, der Niederlande, Österreich, Polen und Rumänien? 

Die folgenden Vorschläge im Brief könnten von ultrarechten oder faschistischen Parteien stammen, doch unterzeichnet wurden sie von Innenminister*innen.

1. Glaubwürdigkeit durch Repression: Ein glaubwürdiges Asylregime, das „die Gefahr einer Polarisierung der europäischen Gesellschaften und eines Verlusts der Einheit in der Familie der EU-Mitgliedstaaten vermeiden“ könne, bedinge den konsequenten Kampf gegen abgewiesene Asylsuchende innerhalb von Europa und einen Kampf gegen „irreguläre Migration“ Richtung Europa – sprich gegen Migrant*innen, die ohne Asylgründe sondern aufgrund von Armut, Arbeit oder Klima Richtung Norden unterwegs sind.

2. Externalisierung durch Migrationsdeals: Aussenpolitisch brauche es „umfassende, für beide Seiten vorteilhafte und dauerhafte Partnerschaften“ mit Drittstaaten. Tolle Beispiele für solche Partnerschaften seien der EU-Türkei-Deal, in dem die EU den Autokraten Erdogan bezahlt, damit dieser als brutaler Gatekeeper Migration Richtung Europa unterbindet. Das neue italienisch-albanische Abkommen wird ebenfalls als Beispiel erwähnt. Darin verpflichtet sich Albanien, für Italien die Asylverfahren durchzuführen, damit Meloni die Geflüchteten los ist.

3. Weniger abgewiesene Asylsuchende aufgrund von Rückkehrcamps in Drittstaaten: Die EU-Staaten sollen die Abschiebequote steigern. Aktuell würden nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Zusätzlich sollen abgewiesene Geflüchtete in Drittstaaten auf ihre Abschiebung ins Herkunftsland warten. Dort sollen zu diesem Zweck sogenannte „Rückführungszentren“ entstehen.

4. Asylverfahren in „sichere Drittstaaten“ durch Ausweitung der Dublin-Logik: Auf der Flucht durchqueren Personen gezwungenermassen verschiedene Staaten. Teilweise leben sie dort einige Zeit, bevor es weitergeht. Der Brief fordert, Asylsuchende, auf die dies zutrifft, „in diese Länder zu überstellen“. Ähnlich dem Dublin-System würde und bliebe das erste „sichere Land“, das eine Person nach der Flucht betritt, zuständig für die schutzsuchende Person.

5. Weniger sichere Migrations- und Fluchtrouten durch eine Verschärfung der Visa-Politik: Gemäss den 15 Staaten seien „viele Asylanträge in der EU von Personen aus Ländern, die von der Visumpflicht befreit sind, oder von Personen mit einem Schengen-Visum“. Das sei schlecht, daher sollen die Regeln verschärft werden.

https://uim.dk/media/12635/joint-letter-to-the-european-commission-on-new-solutions-to-address-irregular-migration-to-europe.pdf
https://de.euronews.com/my-europe/2024/05/16/15-eu-lander-fordern-scharfere-asylregeln

Folgende Staaten haben das Schreiben unterzeichnet.

Wo gab es Widerstand? 

Repression gegen pro-palästinensische Unibesetzungen 

Endlich bewegt sich auch in der Schweiz mehr, um den Genozid im Gazastreifen zu stoppen. In den vergangenen Wochen wurden in Genf, Lausanne, Zürich, Bern, Basel, Freiburg und Neuenburg Universitäten besetzt. Die Unileitungen reagierten mit polizeilicher Repression und haltlosen Argumentationen. In Dominanzmedien wurde ein negatives Bild der Besetzenden gezeichnet. Zu Unrecht, denn die Besetzungen sind ein wichtiger und richtiger Beitrag, um das Fenster der Rechtfertigung für das unsägliche Töten im Gazastreifen endlich zu schliessen.

Die Unibesetzungen richten sich gegen die Gewalt der israelischen Armee im Gazastreifen. Diese entfesselte sich nach dem verwerflichen Angriff der Hamas und anderen Milizen am 7. Oktober 2023. Innert sieben Monaten hat die israelische Armee im Gazastreifen über 35’000 Personen getötet und gezielt eine Hungersnot auslöst. Der internationale Gerichtshof spricht von einem „plausiblen Risiko“, dass gerade ein Genozid geschehe. Dieses Risiko wird in den vorherrschenden Meinungen jedoch tabuisiert oder geleugnet. Die westlichen Regierungen lassen die israelische Führung bisher machen oder unterstützen sie sogar aktiv. Immer mehr Menschen erkennen jedoch, dass das Töten im Gazastreifen weniger ein Krieg gegen Hamas, als eine Intensivierung der Apartheidpolitik und des Siedlungskolonialismus des israelischen Staates oder zumindest seiner Regierung darstellt. 

Die westlichen Universitäten folgen dem vorherrschenden Mainstream auch diesmal opportunistisch. Als der Mainstream nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine forderte, die Kontakte zu russischen Unis mehrheitlich abzubrechen, taten sie es. Diesmal liegt diese Forderung im Mainstream nicht vor, also tun sie es nicht. 

Dabei wurden im Gazastreifen 12 Universitäten und 370 Schulen zerstört und mindestens 90 Professor*innen, hunderte Dozent*innen und Lehrpersonen, über 5’000 Studierende und unzählige Kinder und Jugendliche im schulpflichtigen Alter von der israelischen Armee getötet. Eine Solidarisierung der Unileitungen mit diesen Palästinenser*innen des Bildungswesens wäre das Mindeste.

Eine Stellungnahme der Unileitungen wäre aber auch aufgrund diverser problematischen Partnerschaften mit israelischen Universitäten angebracht. Es bestehen zahlreiche Forschungspartnerschaften, über die Wissen, Technologie und Ideologie zuhanden der israelischen Streitkräfte erarbeiten werden. Statt diese offenzulegen und zu beenden, weisen Universitätsleitungen den von den Besetzenden geforderten „Boykott israelischer Universitäten“ zurück. Boykott verhindere freie Wissenschaft und Forschung. Statt sich der Frage ihrer Mitverantwortung zu stellen, riefen die Unileitungen lieber die Polizei, um gegen die Besetzenden vorzugehen.

Eine problematische Rolle spielten auch die Mainstream-Medien. Sie wirkten wie Stenograph*innen der vorherrschenden Macht. Statt die Hauptabsicht der Besetzungen – nämlich ein Ende der Gewalt in Gaza durch einen sofortigen, nachhaltigen Waffenstillstand – zu beschreiben oder die Vielfalt der Protestierenden und deren aktive Abgrenzung von Antisemitismus festzustellen, schrieben sie vom Bürotisch aus verleumdende Vorurteile nieder. Quasi reflexartig kamen sie zum Schluss, die Besetzungen seien nicht legitim, weil von einer Minderheit, von zu links und von ausserhalb der Uni unterwandert. Inhaltlich wiesen sie die zentralen Begriffe der Besetzenden wie „Siedlungskolonialismus“, „Apartheid“ und „Genozid“ als extrem oder gar antisemitisch zurück. Dass diese Begriffe nicht von den Besetzenden erfunden wurden, sondern immer wieder auch vom internationalen Gerichtshof, der UNO, der Forschung sowie von anerkannten NGOs und Hilfswerken verwendet werden, wurde selten bis nie erwähnt.

Der weitergehende Genozid gegen die palästinensische Bevölkerung in Gaza, die Reaktionen der Universitäten und der Mainstreammedien verlangen weiteren Protest – von allen, nicht nur von Studierenden.

https://www.babanews.ch/kommentar-ein-hoch-auf-die-pro-palaestina-proteste-an-schweizer-universitaeten/
https://www.derbund.ch/nahostkonflikt-das-steckt-hinter-studentischen-boykott-forderungen-669721224710
https://alencontre.org/moyenorient/palestine/israel-dementir-levidence-au-nom-de.html

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Nicolas Rimoldi und der Rechtsextremismus: Eine Chronologie
https://www.antifa.ch/nicolas-rimoldi-und-der-rechtsextremismus-eine-chronologie/

Report Mainz: Braune Burschenschaften – Das rechtsextreme Netzwerk der AfD
Ausländerhetze und Hitlergrüße: Immer wieder fallen Burschenschaften mit rechtsextremen Umtrieben auf – und mit einer Nähe zur AfD. Das ARD-Politikmagazin REPORT MAINZ deckt erstmals das Netzwerk zwischen Partei und Burschenschaftern auf.
https://www.ardmediathek.de/video/report-mainz/report-mainz-braune-burschenschaften-das-rechtsextreme-netzwerk-der-afd/das-erste/Y3JpZDovL3N3ci5kZS9hZXgvbzIwNDk4OTQ

Gleiche Rechte für alle? Die vorläufige Aufnahme im Vergleich zum Schutzstatus S
Der neue Fachbericht setzt sich mit der vorläufigen Aufnahme auseinander und vergleicht diese mit dem Schutzstatus S. Die SBAA prüft dabei, ob zwischen den beiden Personengruppen eine Ungleichbehandlung vorliegt und stellt Forderung zur Verbesserung der vorläufigen Aufnahme.
https://beobachtungsstelle.ch/news/gleiche-rechte-fuer-alle/

»Abschiebungen in den Iran sind absolut gefährlich«
Trotz massiver Menschenrechtsverletzungen im Iran und Gefahren für Frauen und andere Gruppen, wird aus Deutschland wieder dorthin abgeschoben – denn der Abschiebestopp aus 2023 gilt nicht mehr. Im Gespräch mit PRO ASYL erzählt die deutsch-iranische Frauen- und Menschenrechtsaktivistin Daniela Sepehri, was das für betroffene Menschen bedeutet.
https://www.proasyl.de/news/abschiebungen-in-den-iran-sind-absolut-gefaehrlich/