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+++ÖSTERREICH
Verschärfung der Asylpolitik – «Schlepper machen jetzt einen Bogen um Österreich»
Die Regierung in Wien fühlt sich in ihrem härteren Kurs bestätigt – und bringt einen asylpolitischen Tabubruch ins Spiel.
https://www.srf.ch/news/international/verschaerfung-der-asylpolitik-schlepper-machen-jetzt-einen-bogen-um-oesterreich
+++TUNESIEN
nzz.ch 20.05.2024
Keinen Pardon gegenüber Migranten und ihren Helfern: In Tunesien nimmt die Repression extreme Ausmasse an
Migranten, Anwälte, Medienschaffende und NGO-Vertreter stehen gleichermassen im Visier der Behörden. Der autokratische Präsident Kais Saied lässt keine kritischen Stimmen mehr zu – die anstehende Wahl kommt ihm ungelegen.
Sarah Mersch, Tunis
«L’émission impossible» – die unmögliche Sendung – hiess die Morgen-Show des tunesischen Privatradios IFM, wohl in Anspielung auf den amerikanischen Blockbuster «Mission Impossible». Der Titel hat jetzt überraschend eine neue Bedeutung erhalten: Die Sendung wurde am Mittwoch abgesetzt – denn es ist unmöglich, sie weiterzuführen, weil drei der vier Moderatoren in Haft sitzen. Übrig geblieben ist nur ein regierungsnaher Kollege.
Festgenommen wurden sie alle am 11. Mai. Fast schon filmreif war auch die Verhaftung der Anwältin und Kommentatorin Sonia Dahmani: Sie harrte im Sitz des Anwaltsverbands aus, da sie einer richterlichen Vorladung nicht nachgekommen war. Am Abend stürmten vermummte Beamte in Zivil das Gebäude und führten sie ab – zufälligerweise vor laufender Kamera des französischen Senders France24, dessen Korrespondentin gerade live auf Sendung war, bis der Kameramann abgeführt und die Ausrüstung kaputtgemacht wurde.
Dahmani drohen fünf Jahre Haft, auf Basis eines repressiven Dekrets gegen Falschmeldungen. Vergangene Woche hatte sie in einer Talkshow ironisch auf die Behauptung eines Kollegen geantwortet, Migranten aus dem Afrika südlich der Sahara wollten sich gezielt in Tunesien ansiedeln: «Was ist denn das für ein tolles Land, das selbst seine eigene Jugend verlassen will?» Auch ihren beiden Kollegen Borhen Bssaies und Mourad Zghidi drohen Haftstrafen, mutmasslich wegen politischer Äusserungen in den Medien und sozialen Netzwerken.
Migranten werden an die libysche Grenze deportiert
Die drei Medienschaffenden sind nicht die Einzigen, die es in den letzten Tagen getroffen hat. Nach einem Protest von Anwälten gegen die Festnahme Dahmanis wurde ein weiterer Anwalt am Montagabend ebenfalls im Gebäude des Anwaltsverbandes festgenommen. Mehdi Zaghroubi soll beim Protest Sicherheitskräfte angegangen haben.
Zeugen berichteten, dass Sicherheitskräfte in Zivil eingedrungen seien und ihren Kollegen mitgenommen sowie Teile der Einrichtung zerschlagen hätten. Bilder tunesischer Medien zeigen kaputte Glastüren und zersplitterte, auf dem Boden liegende Bilderrahmen. Das tunesische Innenministerium dementierte, für die materiellen Schäden verantwortlich zu sein. Gegen Zaghroubi wurde in der Nacht auf Donnerstag Untersuchungshaft angeordnet. Danach wurde er ins Krankenhaus gebracht, da er bei der Vernehmung zusammengebrochen war. Laut einer Mitteilung des Anwaltsverbands wurde er gefoltert.
Seit Anfang Mai gibt es in Tunesien eine Welle von Repressalien und Verhaftungen. Anfang des Monats wurden provisorische Lager von Migranten und Geflüchteten in der Hauptstadt Tunis und nahe der Hafenstadt Sfax aufgelöst. Rund vierhundert Personen seien an die libysche Grenze deportiert worden, so Präsident Saied bei einer Sitzung des tunesischen Sicherheitsrats. Auch Organisationen, die sich für die Belange von Migranten starkmachen, stehen im Visier der Justiz. Die vielleicht bekannteste Anti-Rassismus-Aktivistin Tunesiens, Saadia Mosbah, ist seitdem wegen Vorwürfen der Geldwäsche in Gewahrsam.
Die Büros mehrerer NGO wurden durchsucht, ihre Vertreter vorgeladen. Zwei Vertreter des tunesischen Flüchtlingsrats, eines Vereins, der im Auftrag des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR unter anderem Interviews mit Asylantragstellern durchführt, befinden sich in Untersuchungshaft. Ihnen wird vorgeworfen, eine kriminelle Vereinigung gegründet zu haben, mit dem Ziel, Personen illegal nach Tunesien eingeschleust zu haben. Auch gegen mehrere Lokalbeamte, die mit Vereinen kooperiert haben, die Migranten unterstützen, wurden Verfahren eingeleitet.
Saied spricht von Vaterlandsverrätern
Ein Ergebnis der zunehmende Repression ist es auch, dass sich in Tunesien kaum noch jemand öffentlich zum Thema Migration äussern will – aus Angst, selbst zur Zielscheibe der Justiz zu werden. Der tunesische Analyst und Essayist Hatem Nafti, der in Frankreich lebt, führt das zunehmend repressive Vorgehen der Behörden gegen kritische Stimmen auf die Präsidentschaftswahlen im kommenden Herbst zurück – falls sie denn stattfinden.
Eigentlich wollte die Wahlbehörde schon Anfang April ein Datum dafür festsetzen, was jedoch nicht geschah. Seitdem steigt der öffentliche Druck, denn das Mandat von Kais Saied läuft Ende Oktober aus. Er war 2019 zunächst demokratisch zum Präsidenten gewählt worden. Doch im Juli 2021 rief er den Notstand aus und regiert seitdem zunehmend autoritär. Er habe den Eindruck, Kais Saied habe Angst, so Hatem Nafti. «Jedes Mal, wenn er von den Wahlen spricht, wirkt er angeschlagen. Und in solchen Situationen spielt er immer wieder die gleiche Karte, nämlich Verschwörungstheorien. Er spricht von Vaterlandsverrätern und ausländischer Einflussnahme.»
Verlässliche Umfragen gibt es in Tunesien nicht, nur unter der Hand zirkulieren einige Zahlen. Es sei nicht unwahrscheinlich, so Hatem Nafti, dass Kais Saied zwar gewinnen, aber die absolute Mehrheit verfehlen würde. Dann käme es zu Stichwahlen, und da sei alles offen. «Das wird eine Art Referendum für oder gegen ihn.» Die sei Grund genug für den amtierenden Präsidenten, jetzt schon kritische Stimmen aus dem Weg zu räumen oder zu diskreditieren und den Menschen Angst zu machen.
Saied mischt sich in den Schwimmsport ein
Dabei ist kaum jemand vor dem Präsidenten sicher. Ende vergangener Woche tauchte Saied überraschend bei einem internationalen Schwimmturnier in einem Vorort von Tunis auf. Zuvor hatte die Welt-Anti-Doping-Agentur (Wada) Tunesien am 30. April mit Sanktionen belegt, weil die Regelungen der tunesischen Behörde nicht konform mit internationalen Standards seien. Deshalb durfte die tunesische Flagge nicht mehr bei Wettbewerben gezeigt werden. Auch beim Schwimmturnier war sie notdürftig mit einem Tuch verhängt worden.
Sichtlich erregt über das «Verbrechen», forderte Saied die umgehende Bestrafung der Verantwortlichen und berief eine Kabinettssitzung ein. In der Folge löste der Sportminister den Nationalen Schwimmverband auf. Gegen dessen Vorsitzenden, den Direktor der Nationalen Anti-Doping-Agentur sowie sieben weitere Funktionäre wurde ein Strafverfahren eingeleitet. Ihnen werden unter anderem die Schändung der tunesischen Flagge und ein Komplott gegen die Staatssicherheit vorgeworfen. Bei Verurteilung droht ihnen theoretisch die Todesstrafe. Diese wird jedoch seit mehr als dreissig Jahren nicht mehr vollstreckt.
Die Wada forderte die umgehende Freilassung des Vorsitzenden der tunesischen Anti-Doping-Agentur. Inzwischen hob sie ihre Sanktionen wieder auf, nachdem Tunesien sein Regelwerk entsprechend angepasst hatte.
Hatem Nafti zweifelt inzwischen daran, dass die Tunesierinnen und Tunesier im Herbst wirklich einen neuen Präsidenten wählen werden. Zwar erklärte die Wahlbehörde kürzlich, der Präsident habe noch bis Ende Juli Zeit, die Wähler an die Urnen zu rufen. Doch laut Nafti ist es nicht ausgeschlossen, dass Saied sich auf eine imminente Bedrohungslage berufen wird, um den Termin zu verschieben. Auf diese hatte er sich schon im Sommer 2021 gestützt, um den Notstand auszurufen und die Macht bei sich zu konzentrieren.
(https://www.nzz.ch/international/tunesien-eskalierende-repression-gegen-migranten-und-kritiker-ld.1830770)
+++DROGENPOLITIK
nzz.ch 20.05.2024
Legales Kokain? «Gefährlich.» Die Drogenpolitik? «Vor einem Backlash» – ein Drogenpionier spricht Klartext
Vor 30 Jahren wurde in der Schweiz das erste Mal legal Heroin abgegeben. Der damals federführende Arzt André Seidenberg fordert nun neue Ansätze.
Giorgio Scherrer, Fabian Baumgartner
I. Der Pionier
Zürich, Juli 1986. Ein junger Arzt schaltet im städtischen «Tagblatt» ein provokantes Inserat. Darin steht: «Sehr geehrter Herr Polizist, darf ich Sie dringend bitten, frische Spritzen von Fixern nicht mehr einzuziehen. (. . .) nachweislich wird Leib und Leben der Fixer bedroht, und durch ansteckende Viren wird die Gesundheit des Volkes gefährdet.»
Das Inserat war eine Kampfansage gegen die Behörden, die damals ihrerseits gegen eine wachsende Drogenszene in Zürich kämpften. Auf dem Platzspitz – diesem Park zwischen den zwei Stadtflüssen, mitten in der Stadt – entstand im selben Jahr der «Needle Park». Offener Drogenkonsum, Dreck, Gestank, Süchtige, die mit gebrauchten Nadeln am Körper herumstocherten, auf der Suche nach einer Vene.
Darauf hatten die Behörden vor allem eine Antwort: Repression. Das Verteilen sauberer Spritzen – von engagierten Ärzten früh begonnen – bezeichnete der Kantonsarzt gar als illegal und drohte den Medizinern mit dem Verlust ihrer Lizenz. Dagegen richtete sich das Inserat, geschaltet von einem, der damals von offizieller Seite beargwöhnt wurde, heute aber als einer der Väter der modernen Schweizer Drogenpolitik gefeiert wird.
André Seidenberg – Buchhändlersohn, Hausarzt, Rebell – ist heute 73 und hat eigentlich gewonnen. Was er damals forderte, ist nun seit genau 30 Jahren Realität: eine pragmatische Drogenpolitik mit Fokus auf die Gesundheit der Süchtigen, inklusive der Abgabe von illegalen Substanzen.
Und doch ist Seidenberg, als ihn die NZZ zum Gespräch trifft, alles andere als zufrieden.
Herr Seidenberg, Sie haben kürzlich den Schweizer «Tatort» geschaut und sich sehr geärgert. Können Sie uns sagen, warum?
In einer Szene sitzt der Freund der Kommissarin auf dem Sofa und spritzt sich flüssiges Methadon. Das ist so ungefähr die gefährlichste Art der Drogeninjektion, sogar gefährlicher als Heroin. Man hat das früher gelegentlich gemacht, aber heute wird kaum irgendwo spritzbares Methadon abgegeben.
Ungenauigkeiten in Filmen sind doch nichts Neues.
Aber dann will der Mann auch noch einen Entzug machen! Das begrüsst die Kommissarin im Krimi sehr. Dabei ist ein Entzug etwas vom Schwersten, was ein Suchtkranker machen kann. Das ist oft mit Abstürzen und einer kompletten Destabilisierung verbunden. Wenn die Öffentlichkeit nun derart schräge Bilder über Drogen serviert bekommt, von Hollywood abgekupfert, dann hat das gravierende Folgen. Wir könnten auch in der Schweiz vor einem Backlash in der Drogenpolitik stehen.
Nur wegen eines «Tatorts»?
Es ist nur ein Beispiel für einen grösseren Trend: Der realitätsgerechte Blick auf die Sucht geht verloren. Und Abstinenz wird wieder als Ziel propagiert.
Und das ist falsch?
Ja, denn nicht die Abstinenz ist das Wichtigste, sondern die Existenz. Man muss normal leben können. Aber genau das ist nicht möglich, wenn die komplette Abstinenz gepredigt wird. Bei Opioid-Abhängigen braucht es eine Behandlung, etwa mit Methadon. Dass das erfolgreich ist, hat sich gerade in der Schweiz gezeigt.
II. Das Elend
Zürich, Februar 1992. 2000 Süchtige verkehren auf dem Platzspitz. Freiwillige verteilen bis zu 10 000 saubere Spritzen und Nadeln pro Tag. Rund 25 Mal täglich müssen Personen mit Überdosis beatmet und wiederbelebt werden.
Und dann ist Schluss, von einem Tag auf den anderen. Die Stadtpolizei räumt am 2. Februar den «Needle Park» und riegelt ihn ab. Doch das Elend der Süchtigen wird grösser denn je.
Sie ziehen durch die Quartiere, spritzen sich ihren Stoff in Hauseingängen. Dann formiert sich 1993 eine noch elendere Szene beim ehemaligen Bahnhof Letten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit versammeln sich dort etwa 300 Dealer und 800 Fixer. Die Süchtigen werden aggressiver, paranoider. Neben Heroin wird zunehmend auch Kokain konsumiert.
Rund 300 Drogentote pro Jahr verzeichnet Zürich Anfang der 1990er – in den schlimmsten Zeiten waren es mehr als einer pro Tag. Die Folgen des Konsums – Überdosis, Infektionen, Aids, Hepatitis – sind damals die häufigste Todesursache von Schweizerinnen und Schweizern mittleren Alters.
Nun wird von der Stadtregierung bis zum Bundesrat auch den Letzten klar: Mit Gewalt lässt sich die Drogenhölle nicht beenden.
Aus der Not entsteht eine radikal neue Drogenpolitik. Neben der Repression des Drogenhandels, der Prävention von Konsum und der Therapie von Süchtigen steht dabei die Schadensminderung im Zentrum. Also der kontrollierte Konsum, jenseits von Beschaffungskriminalität und unhygienischen Zuständen.
Dieser Mix wird unter dem Namen «Vier-Säulen-Modell» zur nationalen Drogenpolitik – und macht die Schweiz international zum Vorbild.
Herr Seidenberg, die vier Säulen waren damals ein Erfolgsmodell. Sind sie es immer noch?
Heute kann man sagen: Wirklich effektiv sind vor allem zwei Säulen, Schadensminderung und Repression. Prävention und Therapie sind dagegen kaum wirksam. Die Leute auf dem Platzspitz haben nicht wegen Präventionskampagnen ihr Verhalten geändert. Das Gleiche gilt für die Therapie. Es ist eine Illusion zu glauben, es liesse sich eine Therapie für alle Abhängigen finden, geschweige denn finanzieren. Das können wir vergessen. Man kann Hilfestellungen geben, aber wenn es partout nicht klappt, wenn die Sucht lebensgefährlich wird, dann kann der Fokus nicht darauf liegen.
Sondern?
Auf der Schadensminderung. Man muss den Betroffenen die Möglichkeit geben, sich in ihrem Alltag, ihrem Job, ihrem Umfeld zurechtzufinden – mit den Drogen.
Und die vierte Säule, die Repression?
Repression ist auch wichtig. Die Polizei muss die öffentliche Ordnung sicherstellen, nicht zuletzt auch für die Drogenkonsumenten selbst.
Für viel Aufsehen hat im letzten Jahr die Bildung einer Crack-Szene rund um die Zürcher Bäckeranlage gesorgt. In einigen Grossstädten in Deutschland oder Frankreich, aber auch in Genf spricht man bereits von einer Crack-Epidemie.
Es kann sein, dass sich hier gerade wieder eine sichtbarere Szene entwickelt. Um das Schlimmste aufzufangen, dafür sind wir in Zürich auch einigermassen gut gerüstet. Aber: Wir sind nicht nachhaltig gut gerüstet. Und zwar weil wir die Abgabepolitik, die wir in den neunziger Jahren begonnen haben, nicht wirklich weitergeführt haben.
III. Die Abgabe
Zürich, November 1993. An einer Pressekonferenz verkündet André Seidenberg seinen grössten Erfolg: Er und seine Mitstreiter dürfen – mit dem Segen des Bundesamts für Gesundheit – mit der Abgabe von Drogen an Süchtige beginnen.
Seidenberg ist das Gesicht dieses Experiments. In Hawaiihemd und Lederjacke, ein Opiat-Fläschchen in der Hand, verkündet er, der ärztlich kontrollierte Konsum sei das beste Mittel gegen den illegalen Drogenmarkt und die «menschenunwürdigen Konsumbedingungen».
Der Versuch beginnt mit den Ersatzprodukten Methadon und Morphium. 1994 – vor 30 Jahren also – kommt der umstrittenste Stoff hinzu: das medizinische Heroin. Erst in flüssiger Form und später als Tabletten. Gleichzeitig scheitern Versuche, Heroin wie auch Kokain in Zigarettenform abzugeben.
An dieser Abgabepolitik hat sich bis heute wenig verändert. Opioide wie Methadon und Morphium dominieren das Feld. Beim Heroin ist jenes in Tablettenform – seit 2001 unter dem Namen Diaphin als Heilmittel zugelassen – das wichtigste Mittel beim kontrollierten Konsum.
Die Bedingungen für die Abgabe wurden dabei erst kürzlich gelockert, ausgelöst durch die Covid-19-Pandemie. Im Zürcher Suchtzentrum Arud kann ein Süchtiger, sofern er sich bewährt hat, eine Dosis für bis zu sieben Tage aufs Mal beziehen. Eine Praxis, die auch auf Kritik stösst.
Die «Rundschau» von SRF hat kürzlich über Süchtige berichtet, die am Hauptbahnhof Zürich mit medizinischem Heroin dealen, das sie bei der Abgabestelle erhalten haben. Mit dem Geld kaufen sie sich illegal Kokain. Herr Seidenberg, ist die Abgabepolitik zu lasch geworden?
Die Patienten machen nicht immer, was wir Ärzte wollen. Das ist ein Risiko, das wir nicht ignorieren können. Aber mehr Kontrolle hat auch immer ihren Preis: Wenn man die Substanzen täglich abholen muss, kann man weniger normal leben. Man kann keine Ferien machen, nicht normal arbeiten. Einzelnen Missbrauchsgeschichten stehen Hunderte gegenüber, die dank der Abgabe ein reguläres Leben führen können.
Kritisiert wird ja vor allem der Umgang mit Heroin-Tabletten, dem Diaphin.
Das hat seine Gründe. Diese Tabletten wirken genau gleich wie Morphium, wenn man sie schluckt. Es gibt aber einen Unterschied: Man kann sie zerkleinern, auflösen und dann fixen, sniffen oder rauchen. Das gibt dann einen Flash – und macht das Diaphin auch zum Dealen attraktiv.
Braucht es wieder strengere Regeln?
Im Einzelfall muss man sicher genau hinschauen, wem man die Tabletten mit nach Hause gibt. Das passiert aber jetzt schon und betrifft nur wenige Problemfälle. Viel wichtiger wäre etwas anderes: Wir müssen endlich neue Formen der Drogenabgabe entwickeln.
Sie sagen, es brauche neue Abgabeprodukte. Wie sähen diese aus?
Wir müssen bei dem ansetzen, was wir in den 1990ern vorschnell aufgegeben haben. Das heisst: bei den inhalierbaren Konsumformen. Damals waren das die Heroin- oder Kokain-Zigaretten. Heute wären das wohl eher Sprays zur Kaltinhalation, potenziell mit Fingerabdruck-Scanner gesichert. Wird die Droge damit in den Mund oder die Nase verabreicht, wirkt sie gleich schnell wie beim Spritzen oder Sniffen. Aber: Der Konsum lässt sich viel besser dosieren und kontrollieren.
Im Moment führt auch das Suchtmedizinzentrum Arud einen Versuch mit nasal konsumierbarem Heroin durch.
Das ist sicher ein guter Anfang. Aber gerade wenn man das auch beim Kokain versuchen will, braucht es noch sehr viel Grundlagenforschung – gerade dazu, wie sich die korrekte Einnahme auch kontrollieren lässt.
Eine solche Entwicklung wäre also extrem teuer.
Ja. Aber sie würde auch viele der problematischen Drogenkonsumenten – gerade die Crack-Raucher – weg vom illegalen Markt und in die Abgabestellen bringen.
IV. Die Legalisierung
Zürich, August 2023. Eine Stadt, die den öffentlichen Drogenkonsum fast vergessen hat, wird von ihrer Vergangenheit eingeholt. Eine kleine offene Szene etabliert sich in den Sommermonaten auf der Bäckeranlage. Konsumiert werden vor allem Crack und Freebase – also vermischtes Kokain, das erhitzt, aufgelöst und inhaliert wird.
Der unmittelbare Auslöser für die Bildung der Szene – die Schliessung einer Anlaufstelle in der Nähe – ist rasch gefunden. Doch die Crack-Episode wirft auch ein Schlaglicht auf einen wachsenden Widerspruch: Die Beschaffung von inhalierbarem Stoff ist für Schwerstabhängige bis heute nicht legal möglich.
Gleichzeitig verlagert sich der Drogenkonsum genau in diese Richtung: Die Stadt Zürich beobachtet seit über 20 Jahren eine stetige Abnahme beim Konsum von Heroin – während gleichzeitig mehr geraucht wird, vor allem Kokain.
Die Szene auf der Bäckeranlage – mit vielen jüngeren Konsumenten, die direkt, also ohne Umweg über das Heroin, mit Crack beginnen – sei «ein neues Phänomen», sagte der Drogenarzt Thilo Beck im Herbst zur NZZ. Er plädierte für Versuche mit der legalen Abgabe von Kokain. Mehr noch: Auch Gelegenheitskonsumentinnen und -konsumenten sollten sich den Stoff legal in einem Geschäft besorgen können.
Herr Seidenberg, manche finden, man müsse Kokain und harte Drogen im Laden oder in der Apotheke kaufen können. Ihre Haltung?
Das ist nicht zu Ende gedacht. Sie können im Laden kein Stück Brot kaufen, das nicht gewissen Qualitätsstandards entspricht. Und das wäre beim Kokain gewiss nicht der Fall. Im Gegenteil: Es ist nachweislich gefährlich.
Man kann doch bereits Zigaretten und Alkohol kaufen – die haben auch Schädigungen zur Folge.
Das stimmt. Man muss sich immer überlegen, wie viel Kontrolle der Staat ausüben darf und wie stark er in die Gewohnheiten seiner Bürgerinnen und Bürger eingreift. Das will ich gar nicht bestreiten.
Aber?
Kokain birgt krasse Gefahren. Man kann diese Substanz nicht einfach im Laden verkaufen, ohne dass die Situation ausser Kontrolle gerät. Das wäre ein Versuch am lebenden Patienten. Bevor man sich eine Legalisierung überlegt, braucht es neue, sicherere Abgabeformen.
Können Sie diese Gefahren konkreter benennen?
Wenn jemand in meinem Alter Kokain konsumiert, dann ist beispielsweise die Gefahr eines Schlaganfalls erheblich. Und weil der Durchschnitt der Konsumenten immer älter wird, sieht man solche Fälle immer häufiger auf den Notfallstationen. Es gibt auch Langzeitfolgen bei lebenswichtigen Organen. Ausserdem ist das Schadenspotenzial sehr gross: Wenn Sie immer wieder am Wochenende Kokain konsumieren, besteht die Gefahr, dass Sie es irgendwann auch unter der Woche tun, Ihren Job, Ihre sozialen Beziehungen verlieren und aus dem gesellschaftlichen Netz fliegen.
Früher waren Sie selbst für eine Liberalisierung von Kokain. Was hat Sie skeptisch werden lassen?
Ich bin nicht mehr 18, schon lange Arzt und habe zu viele tragische Suchtgeschichten erlebt. Ich habe als junger Mann meine Grenzen und Freiheiten ausgetestet und vieles ausprobiert, auch alle möglichen Drogen. Aber als Arzt will ich letzten Endes die Not meiner Patienten lindern. Und auch als Gesellschaft haben wir die Aufgabe, jenen zu helfen, die sich selbst nicht mehr helfen können. Wir dürfen sie nicht dem unkontrollierten Kokainkonsum überlassen. Was beim Heroin gelungen ist, kann man dort schlicht nicht eins zu eins anwenden.
V. Die verlorene Illusion
Zürich, Mai 2024. Eigentlich könnte André Seidenberg sich gerade feiern lassen. 30 Jahre legale Heroinabgabe und moderne Drogenpolitik – er, der Pionier, der Angefeindete, der am Ende recht behielt, könnte sich noch einmal sonnen in seinen Erfolgen aus den 1990ern.
Aber das tut Seidenberg nicht, es wäre auch nicht sein Stil. Er, der stets lieber Rebell als Verwalter war, wird in Kürze einen Vortrag halten an einem Kongress zum Thema «30 Jahre heroingestützte Behandlung in der Schweiz». Doch statt das «Erfolgsmodell» zu feiern, das im Titel erwähnt wird, wird er sein Referat mit diesem Satz beginnen: «Der Erfolg der Schweizer Drogenpolitik ist mindestens so gross wie ihr Scheitern.»
Was er vor allem kritisiert: Die Abgabe von Suchtmitteln sei zu einem dauerhaften Provisorium geworden. Der Mut für neue Ansätze, der früher vorhanden war, er ist für Seidenberg verlorengegangen.
Sie wirken desillusioniert, wenn Sie über die heutige Drogenpolitik sprechen.
Irgendwann habe ich resigniert. Es hat mich kaputtgemacht, dass es bei der Entwicklung neuer Abgabemöglichkeiten nicht weiterging. Das passiert, wenn die Ideologie übernimmt.
Welche Ideologie?
Es gibt zwei gegensätzliche ideologische Modelle. Das eine nimmt es mit Timothy Leary: «Turn on, tune in, drop out.» Die Vertreter dieses Modells suchen die Freiheit im Drogenkonsum, im Rausch. Aber sie blenden die Kehrseite dieser freiheitliche Geschichte aus. In den 1980ern hat man sich unter dem Slogan «No Future» Heroin reingeknallt. Mehr konnte man seine Alten gar nicht provozieren. Aber in dieser Zeit haben sich auch Hunderte mit HIV infiziert! Es gab viele Drogentote.
Und welche ist die andere Ideologie?
Das Modell, das eine drogenfreie Gesellschaft propagiert. Alles, was gefährlich oder bedrohlich sein kann, soll bekämpft werden. Das ist der Krieg gegen Drogen, der in den USA gegen die Schwarzen und die weisse Unterschicht oder in Afghanistan gegen die «Ungläubigen» geführt wird. Dort haben die Taliban den Anbau von Opium relativ erfolgreich gestoppt. Dieser Krieg wird aber letztlich gegen die Süchtigen geführt und zerstört sie. Ideologische Konstrukte – egal ob für oder gegen den Konsum –haben in der Drogenpolitik nichts zu suchen. Sie werden den Problemen und den Menschen und der Gesellschaft nicht gerecht.
Sie bleiben auch mit 73 ein scharfer und kritischer Beobachter der Drogenpolitik. Was treibt Sie an?
Es sind die Gespenster von früher, die mich nicht loslassen. Zum Beispiel, wenn ich über die Kornhausbrücke laufe. Die war damals in den 1990ern verkotet und von gebrauchten Spritzen übersät. Einmal sass da eine hochschwangere Frau auf einem der Gleise, mit riesigem Bauch. Sie versuchte mühsam, eine Vene zu finden. Ich kannte sie, manchmal putzte sie bei uns in der Abgabestelle. Ich habe sie gefragt, ob ich ihr helfen könne. Sie sagte nur: «Geh mir aus der Sonne.»
(https://www.nzz.ch/zuerich/drogenpolitik-in-der-schweiz-pionier-andre-seidenberg-warnt-vor-legalem-kokain-ld.1829759)
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Soligrüsse aus Basel: Wir haben eine Verabredung / Free Benni
Soligrüsse aus Basel zum kommenden Gerichtsprozess „Wir haben eine Verabredung“ in Berlin und an Benni, der in Leipzig in U-Haft sitzt.
https://barrikade.info/article/6450
Tägliche Demo bei der Uni Basel: Pro-Palästina-Aktivisten künden «Aktionswoche» an
Nach der Bernoullianum-Besetzung: Die Gruppierung Unibas4palestine ruft zur täglichen Kundgebung auf dem Petersplatz auf.
https://www.bazonline.ch/palaestina-aktivisten-kuenden-aktionswoche-an-uni-basel-an-633613393838
Zeichen der Sorge und des Dialogs
Im Anschluss an die Besetzung der Uni Basel äussert die Jüdische Gemeinschaft in Basel Besorgnis.
https://www.tachles.ch/artikel/news/zeichen-der-sorge-und-des-dialogs
++++REPRESSION DE
#01 Link-Extremismus
Aktuell muss sich ein Journalist in Karlsruhe vor Gericht verantworten. Ihm drohen bis zu drei Jahre Gefängnis. Der Grund: Er hat eine Website verlinkt. Episode #1 unseres Doku-Podcasts „Systemeinstellungen“ erzählt die erstaunliche Geschichte hinter dem Strafprozess.
https://netzpolitik.org/2024/systemeinstellungen-01-link-extremismus/
++++RASSISMUS
ANTIRA-WOCHENSCHAU: Neue Verschärfungen des Asylregimes, pro-palästinensische Besetzungen der Universitäten, antirassistischer Ausblick auf die Sommersession
https://antira.org/2024/05/20/neue-verschaerfungen-des-asylregimes-pro-palaestinensische-besetzungen-der-universitaeten-antirassistischer-ausblick-auf-die-sommersession/
+++RECHTSEXTREMISMUS
Die Familienpolitik der Rechten soll die patriarchale Kleinfamilie stärken
Vögeln fürs Vaterland
In der völkischen Ideologie spielen die patriarchale Familie und eine rassistisch grundierte Geburtenpolitik eine zentrale Rolle. Einige rechte Parteien in Europa setzen sich daher für eine Politik ein, die für mehr Nachwuchs sorgen und die klassische Familie stärken soll; sie verbinden dies mit einer migrationsfeindlichen Politik.
https://jungle.world/artikel/2024/20/voegeln-fuers-vaterland
+++HISTORY
Nazi-Stein in Chur #1: Vermoost und vergessen (Wdh. 2023)
Mitten in Chur steht inkognito ein nationalsozialistisches Denkmal. Das Mini-Mausoleum wurde 1938 auf dem Daleu-Friedhof aufgestellt. Wie kommt ein Nazi-Stein nach Chur? Wieso machten die Nationalsozialisten Propaganda mit toten Soldaten des Ersten Weltkriegs? (Wiederholung Januar 2023)
https://www.srf.ch/audio/zeitblende/nazi-stein-in-chur-1-vermoost-und-vergessen-wdh-2023?id=12591680
Nazi-Stein in Chur #2: Sprengen oder erhalten? (Wdh. 2023)
Ein Nazi-Denkmal steht mitten in seiner Stadt. Die Vermutung des Churer Stadtpräsidenten: «Man wollte es nach dem Zweiten Weltkrieg nicht aufarbeiten». Was jetzt mit dem Stein – sprengen oder stehen lassen? Und wie präsent waren die Nationalsozialisten in den 30er-Jahren? (Wiederholung Februar 2023)
https://www.srf.ch/audio/zeitblende/nazi-stein-in-chur-2-sprengen-oder-erhalten-wdh-2023?id=12591683
Nazi-Stein in Chur #3: Eine unliebsame Vergangenheit
Der politische Wille zur Aufklärung war gross. Vor einem Jahr machte SRF publik, dass auf einem Friedhof in Chur ein Denkmal der Nationalsozialisten steht. Doch jetzt sorgt der Umgang mit der Geschichte des Nazi-Steins für eine Kontroverse. Was passiert, wenn die Vergangenheit zum Politikum wird?
Von: Stefanie Hablützel, Redaktion: Philippe Odermatt, Silvan Zemp, Projektleitung: Nina Blaser (SRF Investigativ), Sounddesign: Andreas Gerber
https://www.srf.ch/audio/zeitblende/nazi-stein-in-chur-3-eine-unliebsame-vergangenheit?id=12591686
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Woke Wissenschaft – Was ist denn das?
Gewisse Forschungsrichtungen stehen aktuell stark in der Kritik. Sie werden mit Ideologie und politischem Aktivismus gleichgesetzt und als unwissenschaftlich bezeichnet. Dieser Beitrag spürt dem medialen Diskurs nach und fragt: Was hat es mit diesen Vorwürfen auf sich und wie berechtigt sind sie eigentlich?
https://www.studizytig.ch/allgemein/woke-wissenschaft-was-ist-denn-das/
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DER AUFBRUCH ZU EINER GEMEINSAMEN GEGENWART
Die postkoloniale Forschung sei zu simpel, zu woke und antisemitisch noch dazu, wird kritisiert. Doch diese Angriffe sind unredlich und folgen einem rechtskonservativen Aktivismus, schreiben drei der renommiertesten postkolonialen Forscherinnen der Schweiz.
(Ein Essay von Patricia Purtschert, Barbara Lüthi und Francesca Falk, republik.ch 13.05.2024)
Der Postkolonialismus ist zu einem neuen Feindbild geworden. Seit Wochen erscheint in deutschsprachigen und angelsächsischen Feuilletons Artikel um Artikel, der im «Postkolonialismus» die Ursache vieler Probleme sieht – vor allem sei er verantwortlich für inadäquate Reaktionen aus Politik und Wissenschaft auf die Massaker vom 7. Oktober in Israel.
Zentral ist dabei die Behauptung, postkoloniale Forschung hantiere mit unzureichenden und gefährlich vereinfachenden Analysekategorien. Diese Kritik wird in Bezug auf die Verhältnisse in Israel und Palästina geäussert. Sie wird aber zugleich generell auf postkoloniale Studien bezogen.
Der Postkolonialismus fördere das dichotome Denken, er trenne die Welt schablonenhaft in «Täterinnen» und «Opfer». Deshalb stelle postkoloniale Forschung, so heisst es, eine «Ideologie» dar und keine Wissenschaft.
Diese Vorwürfe sind nicht neu. Aber in den letzten Monaten erfuhren sie in vielen Ländern eine neue Konjunktur.
Der Wirtschaftsgeograf Stefan Ouma etwa bezeichnet die Angriffe auf die postkoloniale Forschung als Teil einer aktuellen «autoritär-illiberalen Wende», befeuert durch rechtskonservative Aktivisten wie Christopher Rufo. Dieser setzt sich in den USA für die Zensur von Unterrichtsplänen an Schulen und Universitäten ein, beriet Donald Trump und war unter anderem Fellow an einer christlichen Denkfabrik, die für ihre Ablehnung der Evolutionstheorie bekannt ist. Am 13. Oktober 2023 schrieb Rufo auf Social Media: «Die Konservativen müssen in der Öffentlichkeit eine starke Assoziation zwischen Hamas, BLM [Black Lives Matter], DSA [Democratic Socialists of America] und akademischer ‹Entkolonialisierung› herstellen. Die Punkte verbinden, dann angreifen, delegitimieren und diskreditieren. Bringt Mitte-links dazu, sie zu desavouieren. Macht sie zu politisch Ausgestossenen.»
Rufos Appell bezeugt die systematische Begriffsarbeit, die hinter den Kampagnen gegen postkoloniale Ansätze steht. Auch einige Schweizer Medien und andere Exponentinnen scheinen dieser Strategie zu folgen, indem sie die postkolonialen Studien ohne differenzierte Auseinandersetzung mantrahaft negativ besetzen.
Damit schaffen sie ein Zerrbild, in dem diese Wissenschaft und ihre Errungenschaften nicht mehr erkennbar sind.
Auch die Schweiz ist postkolonial
Als Forscherinnen, die sich seit vielen Jahren mit postkolonialen Ansätzen beschäftigen, wollen wir ein paar Dinge geraderücken. Wir gehen nicht auf die Situation im Nahen Osten ein, sondern antworten auf diesen Pauschalvorwurf aus unserer Forschungsexpertise, der Auseinandersetzung mit der Schweiz.
Vor über zehn Jahren haben wir den Sammelband «Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien» herausgegeben. Darin haben wir die Anwendung postkolonialer Fragestellungen, Theorien und Methoden auf die Geschichte und Gegenwart der Schweiz angeregt. Seither ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld entstanden, das grundlegend verändert hat, wie Schweizer Akteure und ihre Einbindung in koloniale Machtverhältnisse wahrgenommen werden.
Darüber hinaus zeigen postkoloniale Ansätze, dass sich die Bedeutung des Kolonialismus nicht darin erschöpft, ungleiche ökonomische oder politische Verhältnisse herzustellen. Vielmehr verschränken sich diese Verhältnisse mit kolonialen Wissensstrukturen, die in unserem Alltag fortwirken und unser Denken, Fühlen und Wahrnehmen auf problematische Weise prägen.
Postkoloniale Studien sind nicht als ein Monolith zu verstehen. Sie stellen ein breites Forschungsfeld dar, das sich über Jahrzehnte entwickelt hat. Verbindend ist dabei, dass sie den Blick auf Macht- und Unrechtverhältnisse richten.
Postkoloniale Forschung untersucht Zusammenhänge zwischen kolonialen Herrschafts- und Gewaltverhältnissen, kapitalistischen Besitz- und Ausbeutungslogiken, patriarchalen Geschlechterordnungen und Sexualitätsregimes sowie der Entstehung einer globalen, nationalstaatlichen Weltordnung. Weil den modernen Wissenschaften in diesen Prozessen eine wichtige Rolle zukommt, beinhaltet die postkoloniale Forschung auch eine selbstkritische Auseinandersetzung mit bestehendem Wissen. Und sie beschäftigt sich mit der Frage, wie anderes Wissen möglich gemacht werden kann.
Postkolonialismus und Antisemitismus
Ein besonders gravierender Vorwurf, der gegenwärtig an die postkolonialen Studien gerichtet wird, besagt, sie seien antisemitisch oder würden antisemitischem Denken Vorschub leisten. Weil der Postkolonialismus angeblich in einer Entweder-oder-Logik verhaftet sei, schlage er Jüdinnen unkritisch auf die Seite von Weissen und damit der «Täter».
Die postkolonialen Studien und die Antisemitismusforschung können und sollen voneinander lernen, etwa in Bezug auf die spezifischen Logiken von Antisemitismus oder Kolonialrassismus. Und die Aufgabe, antisemitische Positionen und Inhalte zu untersuchen und Kritik daran zu üben, geht die ganze Wissenschaft an und damit auch die postkolonialen Studien.
Doch der Antisemitismus-Vorwurf gegen den Postkolonialismus gründet in einer groben Verzerrung postkolonialer Ansätze und ignoriert ihre Potenziale. Ausserdem macht er eine lange Tradition von Denkerinnen unsichtbar, die schon kurz nach dem Zweiten Weltkrieg begannen, Überschneidungen und Unterschiede zwischen kolonialer Gewalt und dem Holocaust zu benennen – etwa Hannah Arendt, W. E. B. Du Bois oder Aimé Césaire.
Postkoloniale Ansätze haben einiges beizutragen, um komplexe und miteinander verbundene Macht- und Unrechtsverhältnisse zu verstehen.
Reconquista und Rassenforschung
Zwei historische Ereignisse zeigen anschaulich, wie zentral die Verbindungen zwischen kolonialen Rassismen und Antisemitismus sind – auch für die postkolonialen Studien.
Zum einen markierte der Abschluss der Reconquista auf der Iberischen Halbinsel Ende des 15. Jahrhunderts einen wichtigen Wendepunkt für den Umgang mit inneren und äusseren «Anderen» in Europa. Damit wurde eine christliche Herrschaft errichtet und damit verbunden waren Zwangskonversionen, Vertreibungen und die Ermordung von muslimischen und jüdischen Menschen. In der gleichen Zeit begann die koloniale Expansion in die Amerikas und nach Nordafrika.
Auch wenn das weder den Beginn des Antijudaismus markiert (der zu diesem Zeitpunkt bereits eine jahrhundertealte Geschichte in Europa aufwies) noch von antimuslimischen Ausgrenzungen, ist diese Überschneidung bemerkenswert. Denn die Unterwerfungstechniken und die Kontrolle «äusserer» Anderer in den Kolonien und «innerer» Anderer innerhalb Europas sind historisch eng miteinander verbunden. So wurde der brutale Umgang mit diesen Anderen etwa durch das Christentum legitimiert: Jüdinnen und Muslime hatten aus Sicht der Machthabenden die falsche Religion, indigene Menschen in den Amerikas gar keine, oder keine ernst zu nehmende.
Zum anderen entstand im späten 18. Jahrhundert die moderne Rassenforschung, die jüdische und kolonisierte Menschen mit wissenschaftlichen Mitteln als anders und minderwertig festschrieb. Damit verschob sich ein religiös definierter Antijudaismus hin zu einem biologistisch und «wissenschaftlich» untermauerten Verständnis der angeblichen jüdischen Andersheit. In der Schweiz zeigte sich die anhaltende Bedeutung des Antisemitismus für das nationale Selbstverständnis gerade im «Überfremdungsdiskurs», der seit dem frühen 20. Jahrhundert für das Verständnis von nationaler Zugehörigkeit und Fremdheit prägend war. Er zielte, wie die Historikerin und Antisemitismusforscherin Christina Späti ausführt, in erster Linie auf Juden ab, war aber auch von «Beginn an mit anderen Varianten des Rassismus, dem Antiziganismus oder dem Kolonialrassismus» verknüpft.
Verbundene Formen des Othering
Antisemitismus und kolonialer Rassismus sind nicht immer, aber oft ähnlich in ihren Mechanismen. Der Kulturhistoriker Sander Gilman hat aufgezeigt, wie jüdische und Schwarze Menschen, insbesondere Frauen, von der aufkommenden modernen Medizin oft zu Menschen mit «anderen Körpern» gemacht wurden. Jüdinnen wurden in der ethnologischen Literatur des 19. Jahrhunderts denn auch teilweise als «schwarz» oder «schwärzlich» beschrieben, was auf eine weitere Verschränkung zwischen Antisemitismus und anti-Schwarzem Rassismus hinweist. Diese Zusammenhänge gehen vergessen, wenn heute (insbesondere aschkenasische) Juden zuweilen pauschal als «weiss» gelesen werden.
Auch die postkoloniale Forschung hat sich mit den Verbindungen zwischen Antisemitismus und kolonialen Rassismen auseinandergesetzt. Anne McClintock beschreibt etwa in «Imperial Leather», einem postkolonialen Standardwerk, wie rassische Vorstellungen aus den Kolonien in den europäischen Metropolen auf bestimmte, teilweise seit langem diskriminierte Bevölkerungsgruppen übertragen wurden. So wurden Jüdinnen auch mithilfe von kolonial geprägten «Rassenvorstellungen» als «abweichend» beschrieben und entsprechenden Kontrollmechanismen unterworfen.
Die Kulturwissenschaftlerin Claudia Bruns hat in diesem Zusammenhang aufgezeigt, wie der moderne Antisemitismus vom Kolonialrassismus inspiriert wurde.
Eine aufschlussreiche Figur ist dabei der 1819 geborene deutsche Journalist und Antisemit Wilhelm Marr. Er absolvierte eine Kaufmannslehre, zog anschliessend nach Wien und schloss sich dort republikanischen Gruppierungen an. Ab 1841 lebte er in Zürich und lernte dort wichtige deutsche Oppositionelle kennen. Wegen seiner politischen Tätigkeit wurde er aus Zürich und Lausanne ausgewiesen. Er liess sich in Hamburg nieder und wurde 1848 einer der drei Vorsitzenden der dortigen Provisorischen Demokratischen Regierung.
Enttäuscht vom Verlauf der 1848er-Revolution wanderte er 1852 nach Mittelamerika aus. Von dort übernahm er koloniale Denkmuster, die er, zurück in Hamburg, auf die lokalen Verhältnisse übertrug. So postulierte der Gründer der Antisemitenliga und Popularisierer des Begriffs Antisemitismus etwa, dass «schwarzes Blut» auch im jüdischen Körper zu finden sei.
Gemäss Claudia Bruns zeigt uns Marrs Wirken, wie bei der Entwicklung des modernen Antisemitismus die Übertragung von Kolonialrassismus in antijüdische Diskurse eine wichtige Rolle spielte.
Diese kurzen Streiflichter zeigen, dass Antisemitismus analytisch aus guten Gründen mit anderen Traditionen des Otherings und des Ausschlusses zusammengedacht werden kann und soll. Wichtig ist dabei, Unterschiede und die jeweiligen Besonderheiten zu beachten.
Unbequeme Einsichten
An Schweizer Universitäten wird mittlerweile an vielen Orten mit postkolonialen Ansätzen geforscht – institutionalisiert sind sie aber kaum. Es gibt kein einziges Zentrum für postkoloniale Studien, und viele Forschungen wurden und werden von Personen auf zeitlich begrenzten Stellen oder in nebenamtlicher Tätigkeit gemacht.
Dabei haben postkoloniale Ansätze in den letzten Jahrzehnten viele für die Schweiz wichtige Forschungsfelder eröffnet und zu zahlreichen Diskussionen und Projekten in den Wissenschaften und im Kulturbereich geführt. Die postkoloniale Forschung bezieht sich dabei auf das Wissen und Auseinandersetzungen emanzipativer Bewegungen, die viele dieser dringlichen Themen schon lange bearbeiten.
Postkoloniale Ansätze ermöglichen insbesondere das Nachdenken darüber, wie die gewaltförmigen Prozesse des Kolonialismus oder der transatlantischen Versklavung sich bis in die Gegenwart auf das Zusammenleben auswirken.
So zeigt die Politikwissenschaftlerin Noémi Michel, wie Subjektivierung auch in der Schweiz von rassistischen «color lines» geprägt wird, wie also Menschen ein belastetes Selbst- und Weltverhältnis entwickeln, weil sie als Objekte ohne Stimme behandelt werden, sexualisiert und exotisiert oder als Bedrohung gesehen werden, «die es einzudämmen gilt».
Postkoloniale Perspektiven ermöglichen es darüber hinaus, aktuelle Geschehnisse anders zu verstehen: Kolonialismus und transatlantische Versklavung behandelten Schwarze Menschen und People of Color als blosse Körper, die benutzt und entsorgt werden können. Dieser entmenschlichende Umgang setzt sich heute in der Politik des Sterben-Lassens von Migrantinnen auf dem Mittelmeer fort oder in Racial-Profiling-Praktiken. Koloniale Gewalt gehört also nicht einfach der Vergangenheit an, sie prägt auch unsere Gegenwart auf komplexe und tiefgreifende Weise.
Darin liegt vermutlich der Kern, warum postkoloniale Ansätze so heftig abgewehrt und delegitimiert werden sollen: weil sie uns mit dringlichen und unbequemen Zusammenhängen konfrontieren.
Vom Umgang mit dem kolonialen Erbe
Postkoloniale Perspektiven haben in jüngster Zeit eine neue Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Unrechtsgeschichten in der Schweiz angeregt.
So haben verschiedene Städte Forschungsaufträge zu diesen Themen vergeben: in Zürich beispielsweise einen Bericht zur Verstrickung der Stadt mit dem Sklavenhandel im 18. Jahrhundert oder einen Bericht zur Bedeutung der M-Figur im öffentlichen Raum. Genf wiederum liess eine Studie zu rassistischen Monumenten und Symbolen im öffentlichen Raum erstellen.
Auch in Schweizer Museen ist einiges in Bewegung. Für kommenden Herbst plant das Landesmuseum in Zürich eine grosse Ausstellung zur Schweizer Kolonialgeschichte. Das Bernische Historische Museum beschäftigt sich seit April mit dem «Umgang mit Rassismus in Bern», angestossen durch die Überführung eines Wandbilds mit rassistischen Elementen aus einem Primarschulhaus in das Museum. Ein anderes Beispiel dafür, wie postkoloniale Ansätze wirken, ist die globale Debatte zur Restitution von Kulturgütern, die während der Kolonialzeit aus fernen Ländern entwendet wurden und – auch in Schweizer Museen – gezeigt werden.
Auf einer ganz anderen Ebene setzt sich die Initiative «Schwarzenbach-Komplex» mit der anhaltenden Tradition von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus in der Schweiz auseinander und trägt damit zu einer vielstimmigen Erinnerungspolitik bei. «Das aktive Vergessen des historischen Unrechts im Gastarbeiterregime», schreibt Sozialanthropologe Rohit Jain, «erinnert an den Umgang mit der Rolle der Schweiz während der Shoa und der Dekolonisierung.» Diese unterschiedlichen Amnesien führen nicht nur zu einer verzerrten und unvollständigen Geschichte der Schweiz; sie schliessen all jene erneut aus, die Unrechtserfahrungen gemacht haben und sich ein Leben lang mit ihren Folgen auseinandersetzen müssen.
In diese Argumentationslinie stellte sich auch die Designerin und Historikerin Paola De Martin, als sie, selbst Kind italienischer Saisonniers, 2018 einen offenen Brief an Bundesrätin Simonetta Sommaruga schrieb: «Wie viele Betroffene reden nicht, weil das Sprechen zu schmerzhaft ist ohne den Schutz einer offiziellen Schweiz, die Verantwortung übernimmt für die ausgeübte Gewalt, zu schmerzhaft ohne die öffentliche Arbeit an einer ehrlichen, gemeinsamen Sprache?»
Diese und viele andere Projekte haben in den vergangenen Jahren zu einem Perspektivenwechsel geführt. Und postkoloniale Ansätze haben viel zu diesen Prozessen beigetragen.
Postkoloniale Studien sind also wesentlich vielfältiger, als es die aktuellen Darstellungen suggerieren. Sie sind unverzichtbar, wenn wir eine Geschichtsschreibung entwickeln, in der auch bislang zum Schweigen gebrachte Stimmen ihren Platz haben sollen. Es braucht die Perspektiven von jüdischen und muslimischen Personen, von Jenischen, Roma, Schwarzen, People of Color, von feministischen, migrantischen, behinderten und queeren Menschen, von ehemaligen Verdingkindern und sogenannten Gastarbeiterinnen sowie von Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Sie alle haben Wichtiges zur Schweizer Geschichte beizutragen. Nur auf diese Weise gelingt es uns, wie der Historiker Bernhard C. Schär festhält, herauszufinden, «wie wir mit den massiv ungleich verteilten Privilegien, Hürden, Bürden und Miseren umgehen wollen, die uns die gemeinsame Vergangenheit vererbt hat».
Was zurzeit despektierlich als Aufstand von «Woken» dargestellt wird, ist nicht weniger als ein historisch reflektierter Aufbruch zu einer gemeinsamen Gegenwart. Das ist kein unnötiger Luxus, sondern die Grundaufgabe einer demokratischen Gesellschaft.
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Zu den Autorinnen
Francesca Falk ist Dozentin für Migrationsgeschichte an der Universität Bern. Sie promovierte in Basel. Ihre Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Migration und Kolonialismus.
Barbara Lüthi ist Historikerin am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) der Universität Leipzig, unter anderem mit den Arbeitsschwerpunkten Migrationsgeschichte und Postcolonial Studies. Sie promovierte an der Universität Basel und habilitierte an der Universität Fribourg.
Patricia Purtschert ist Philosophin, Geschlechterforscherin und Kulturwissenschaftlerin. Sie ist Professorin für interdisziplinäre Geschlechterforschung am IZFG der Universität Bern.
Gemeinsam gaben Falk, Lüthi und Purtschert das Buch «Postkoloniale Schweiz» heraus.
-> https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-1799-3/postkoloniale-schweiz/?number=978-3-8376-1799-3
(https://www.republik.ch/2024/05/13/der-aufbruch-zu-einer-gemeinsamen-gegenwart)
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«BERNBUCH»-AUTOR VINCENT O. CARTER: ER KAM UND BLIEB ALS «FIRST NEGRO IN TOWN»
Zum 100. Geburtstag wird Carters Nachlass dem Schweizerischen Literaturarchiv übergeben – und ein Roman von ihm erscheint auf Deutsch.
(Alexander Sury, derbund.ch 17.05.2024)
Überall wurde er angestarrt, bereits bei seiner Ankunft im Juni 1953 schaute er im Berner Bahnhof verstohlen, ob sein Hosenschlitz offen sei. Vincent O. Carter (1924–1983) blieb in der Bundesstadt und verliebte sich in eine Tänzerin des Berner Stadttheaters, die seine Lebensgefährtin und später seine Nachlassverwalterin wurde.
Wie ein Ethnograf beobachtet der Fremde fortan den exotischen Volksstamm der Bernerinnen und Berner. Daraus entstand «The Bernbook», eine präzise registrierende Innensicht auf den alltäglichen Rassismus in der Schweiz. Bereits 1957 fertiggestellt, erschien das Buch 1970 auf Englisch und erst 2021 auf Deutsch.
Der Befreier wird ein «Fremder»
Zum 100. Geburtstag von Vincent O. Carter am 23. Juni übergeben nun die Lebensgefährtin Liselotte Haas und die Literaturagentin Katharina Altas seinen Nachlass dem Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. Die heute 90-jährige Liselotte Haas hat Carters Archiv bis auf den heutigen Tag aufbewahrt und mit Dokumenten zur Wirkungsgeschichte ergänzt.
Der Nachlass umfasst das gesamte literarische und künstlerische Werk Carters, insbesondere die Typoskripte der veröffentlichten und der unveröffentlichten Texte, die Korrespondenz sowie Bilder des auch als Maler tätigen Autors sowie ausgewählte Objekte, die sein Leben in Bern dokumentieren.
«Vincent O. Carters Nachlass eröffnet neue, historische Perspektiven auf aktuelle Themen wie Rassismus, Migration und Interkulturalität», sagt Lucas Marco Gisi, Co-Leiter Dienst Forschung und Vermittlung im Schweizerischen Literaturarchiv. Nach seiner Erschliessung wird der Nachlass von Vincent O. Carter künftig im SLA für die nationale und internationale Forschung zugänglich sein.
Geboren 1924 in Kansas City, wuchs Vincent O. Carter als Angehöriger der schwarzen Unterschicht auf, seine Eltern waren bei seiner Geburt noch Teenager. 1944 landete er als Angehöriger der Versorgungstruppen nach der Invasion in der Normandie. Er gehörte zu den gefeierten «Befreiern» von Paris.
1953 kehrte er als Zivilist nach Paris zurück. Nun war der Mann allerdings nicht mehr der umjubelte «Befreier», sondern der misstrauisch beäugte Fremde. Über Stationen in Amsterdam und München traf Vincent O. Carter am 18. Juni 1953 in Bern ein, wo er Freunde besuchen wollte, die auf der amerikanischen Botschaft arbeiteten. Aus einem geplanten Aufenthalt von einigen Wochen wurden 30 Jahre.
Jetzt erscheint sein grosser Roman
Angeregt durch die amerikanischen Neuauflagen und die deutschen Übersetzungen, die im Limmat-Verlag erschienen sind, wird Carters literarisches Werk gegenwärtig von einem breiteren Publikum entdeckt. Im Hinblick auf Carters 100. Geburtstag am 23. Juni 2024 gibt der Limmat-Verlag Anfang Juni auch Carters Roman «Amerigo Jones» erstmals in deutscher Übersetzung heraus.
Carter stellte den Roman bereits 1963 in Bern unter dem Titel «The Primary Colors» fertig. Zu Lebzeiten blieb der Roman unveröffentlicht, erst 2003 erschien er auf Englisch. «Amerigo Jones» ist die Geschichte einer Kindheit und Jugend im Kansas City der 1920er- und 1930er-Jahre, das einerseits als Zentrum des Jazz von einer lebendigen Musikszene, andererseits von Rassentrennung geprägt war.
Im Mittelpunkt stehen Amerigos Schilderungen der urbanen Welt, in der er selbst seinen Weg finden muss. Vincent O. Carter, der selbst in Kansas City seine Kindheit und Jugend verbrachte, hat seinen Roman über die Geschichte schwarzer Menschen in Amerika und ihren Kampf für Gleichberechtigung dem Jazzmusiker Duke Ellington gewidmet.
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Buchvernissage: 23. Juni, Mansarde, Stadttheater Bern.
(https://www.derbund.ch/schweizer-unis-studierenden-dachverband-kritisiert-besetzung-245272531872)