Medienspiegel 3. März 2024

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+++BERN
derbund.ch 03.03.2024

Asylbewerber stirbt im Taxi: Angehörige gehen vor Bundesgericht

Obwohl Umstände des Todes eines Kurden im Berner Seeland Fragen offenlassen, stellte die Staatsanwaltschaft die Untersuchung ein. Dagegen wehrt sich die Familie.

Naomi Jones

Hätte Sezgin Dağ gerettet werden können, wenn er statt im Taxi mit der Ambulanz ins Spital gefahren worden wäre? Diese Frage soll ein Gericht beurteilen.

Darum gehen die Angehörigen des Mannes und ihre Anwälte vor das Bundesgericht, wie der «Blick» berichtete. Sie wehren sich dagegen, dass die Staatsanwaltschaft vor einem Jahr die Untersuchung eingestellt hat. Das Obergericht stützte diesen Entscheid. Die Angehörigen verlangen jedoch eine gründliche Untersuchung des Falls.

Herz- statt Magenprobleme

Der Kurde Sezgin Dağ war in die Schweiz geflüchtet und lebte im Bundesasylzentrum in Kappelen im Berner Seeland. Am 12. November 2020 fühlten sich sein Arm und sein Kiefer taub an, und sein Magen schmerzte. In der Türkei hatte der Mann einen Herzinfarkt gehabt und kannte die Symptome.

Die Ärztin, die den 41-Jährigen an jenem Nachmittag im Spital Aarberg untersuchte, deutete die Symptome aber anders. Vielleicht, weil Dağ sich nicht gut verständigen konnte und eine Bekannte von ihm nur am Telefon übersetzte. Die Ärztin diagnostizierte ein Refluxproblem und schickte Dağ mit einer Packung Schmerztabletten wieder ins Asylzentrum.

Dort verschlechterte sich sein Zustand. Er bekam heftige Krämpfe und hatte Mühe mit dem Atmen. Ein Sicherheitsmitarbeiter und ein Betreuer des Zentrums kümmerten sich um den Kranken. Beide waren aber keine medizinischen Fachleute. Sie beschlossen, Dağ per Taxi wieder ins Spital zu schicken. Der Security-Mann sagte später, der Kranke sei noch auf den eigenen Füssen gestanden.

Anwälte kritisieren Staatsanwaltschaft

In der Beschwerde, die dieser Zeitung vorliegt, erheben die Anwälte schwere Vorwürfe gegen die bernische Staatsanwaltschaft und das Berner Obergericht. Die Staatsanwaltschaft habe «keinerlei Interesse» gezeigt, den Fall gründlich zu untersuchen.

Im Asylzentrum war Sezgin Dağ komplett vom Staat, beziehungsweise der Betreiberin des Zentrums, abhängig. Deshalb hätten die Verantwortlichen des Zentrums dafür sorgen müssen, dass er die nötige Behandlung seiner Herzprobleme bekommen würde, argumentieren die Anwälte: etwa indem sie ihm einen Dolmetscher oder eine Dolmetscherin zur Seite gestellt hätten; oder indem das Asylzentrum medizinisch ausgebildetes Personal beschäftigt hätte, das die Situation besser hätte einschätzen können. «In einer mit Defibrillator ausgestatteten Ambulanz hätte er vielleicht gerettet werden können», sagt der Anwalt Philip Stolkin.

Doch die Staatsanwaltschaft hat nur die beiden Mitarbeitenden des Asylzentrums und den Taxifahrer befragt. Was die Mitbewohner und Mitbewohnerinnen des Verstorbenen beobachtet hätten, habe die Staatsanwaltschaft nicht wissen wollen, schreiben die Anwälte. Und schliesslich bleibe die Frage offen, ob die Ärztin mit der nötigen Sorgfalt gearbeitet habe.

Stolkin benutzt harte Worte. «Es war eine schäbige Untersuchung, und das Obergericht stützte sie.»
(https://www.derbund.ch/toter-asylbewerber-in-lyss-familie-zieht-vor-bundesgericht-634213920170)
-> https://www.blick.ch/schweiz/kritik-an-privaten-betreibern-sind-das-drei-opfer-des-spardrucks-in-berner-asylzentren-id19486374.html


+++SCHWEIZ
NZZ am Sonntag 03.03.2024

Asylverfahren im Ausland: Jetzt könnte dieser umstrittene Ansatz auch in der Schweiz mehrheitsfähig werden

Ohne Gegenstimme hat der Ständerat diese Woche einem FDP-Postulat zugestimmt. Neu ist, dass die Sympathien bis in die Mitte reichen.

Andrea Kučera

Beat Jans markiert Härte. Der neue SP-Asylminister will aussichtslose Gesuchsteller mit einem 24-Stunden-Verfahren abschrecken. Er will härter gegen kriminelle Asylsuchende durchgreifen. Und wie sich diese Woche zeigte, will er nun sogar Asylverfahren im Ausland prüfen lassen. Im Ständerat plädierte Jans am Mittwoch für die Annahme eines Postulats von FDP-Ständerat Andrea Caroni, das den Bundesrat dazu auffordert, zu dieser umstrittenen Praxisänderung eine Auslegeordnung zu machen. Das ist insofern bemerkenswert, als sich die Landesregierung bis jetzt immer gegen Asylverfahren im Ausland ausgesprochen hat.

Im Rat begründete Jans die Neubeurteilung des Bundesrats damit, dass man der Entwicklung der letzten Jahre Rechnung tragen wolle: «Es ist interessant und lehrreich, einen Überblick über die Projekte und Überlegungen in anderen europäischen Ländern zu schaffen, ohne Scheuklappen und ohne die Schlussfolgerungen vorwegzunehmen.» Für einen Sozialdemokraten sind das erstaunliche Worte. Vielleicht fast noch überraschender: Caronis Postulat wurde von der kleinen Kammer widerstandslos durchgewinkt.

«Die einzigen Verlierer wären die Schlepper»

Die Entwicklungen dieser Woche zeigen, dass sich der Diskurs im Asylwesen verschoben hat. Wurden Asylverfahren im Ausland bis jetzt nur von rechts und besonders vehement von der SVP propagiert, so geniesst das Anliegen inzwischen bis in die politische Mitte Sympathien: «Sofern ein Drittland gewillt und fähig ist, die Rückführung der abgewiesenen Asylsuchenden in ihr Herkunftsland nach rechtsstaatlichen Kriterien durchzuführen, wäre eine solche Praxisänderung ein Fortschritt, denn dann würde das Schlepperwesen eingedämmt», sagt etwa Mitte-Präsident Gerhard Pfister. Schwenkt die Mitte-Partei auf diesen Kurs ein, könnte sie der Idee im Parlament gemeinsam mit FDP und SVP zum Durchbruch verhelfen. Ein Novum.

Noch hat Pfister indes Zweifel an der Durchsetzbarkeit und der Praktikabilität dieses Ansatzes. Besser wäre gemäss ihm, wenn die europäischen Länder die Auslagerung im Verbund an die Hand nehmen würden. Er verweist auf die Pläne der EU, Asylverfahren künftig gemeinsam an der EU-Aussengrenze durchzuführen und die Asylsuchenden anschliessend auf die Staaten zu verteilen. Die grünliberale Ständerätin Tiana Moser sagt, das könnte ein sinnvoller Weg sein, auch um den Druck auf das Asylsystem im Inland zu reduzieren: «Damit würde es mehr Spielraum für den Schutz von Frauen und Kindern mit den humanitären Kontingenten geben. Denn im Moment bleiben die Schwächsten aussen vor.»

Auch Caroni hält einen gemeinsamen EU-Ansatz für vielversprechend. «Ideal wäre, es gäbe rund um die EU-Aussengrenze einen Ring mit Zentren, zum Beispiel in Nordafrika, in denen Asylverfahren nach europäischen Standards durchgeführt würden», sagt er. Es sei absurd, dass sich Asylsuchende heute «durch die Todes-Lotterie des Mittelmeers kämpfen müssen», bevor sie einen Asylantrag stellen könnten. Er glaubt, Verfahren ausserhalb Europas vereinfachten den Ablauf für alle: «Wer Anrecht hat auf Asyl, könnte gefahrenfrei nach Europa reisen und würde lastengerecht zugeteilt. Und diejenigen, die einen Negativentscheid erhalten, hätten nicht vergebens ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Die einzigen Verlierer wären die Schlepper.»

Was in der Theorie simpel tönt, ist in der Umsetzung jedoch sehr anspruchsvoll, das weiss auch Caroni: «Welche Länder kommen infrage? Bekommen sie Geld? Wie garantiert man einen europäischen Rechtsstandard?» Genau solchen Fragen müsse der Bundesrat in seiner Auslegeordnung nun nachgehen.

«Reine Symbolpolitik»

Skeptisch sind Grüne und SP. «Ich zweifle daran, dass der Bundesrat zum Schluss kommt, Asylverfahren im Ausland seien eine gute Lösung», sagt Grünen-Nationalrätin Greta Gysin. Sie hat grosse Bedenken, ob in einem nordafrikanischen Land die Einhaltung der Menschenrechte gewährt werden könnte. SP-Nationalrätin Céline Widmer sieht es ähnlich. Alle bisherigen Erfahrungen zeigten, Asylverfahren im Ausland seien weder praxistauglich noch mit der Flüchtlingskonvention vereinbar, sagt sie. «Solche Ideen sind reine Symbolpolitik.»

In der Tat ist Grossbritannien vor kurzem vom Obersten Gericht gestoppt worden, als das Land seine Asylverfahren nach Rwanda auslagern wollte. Auch Dänemark ist mit diesem Ansatz gescheitert. Beide Länder verfolgen die Idee aber weiter. Dänemark strebt nun eine Lösung im Verbund mit anderen EU-Staaten an. Ähnliche Ideen verfolgen auch Deutschland und Österreich. Am weitesten ist zurzeit Italien, das ab diesem Frühling in Albanien zwei Asylzentren betreiben will. Die Schweiz wäre gewissermassen in guter Gesellschaft.
(https://www.nzz.ch/schweiz/asylverfahren-im-ausland-jetzt-koennte-dieser-umstrittene-ansatz-auch-in-der-schweiz-mehrheitsfaehig-werden-ld.1820337)


+++MITTELMEER
Seenotrettung im Mittelmeer Schwere Vorwürfe gegen Libyens Küstenwache
Die Organisation SOS Humanity gibt an, 77 Menschen im Mittelmeer gerettet zu haben. Sie sei dabei aber behindert worden – von der libyschen Küstenwache, die ins Wasser geschossen habe. Mindestens ein Mensch sei ertrunken.
https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/sos-humanity-libyen-bedrohungsvorwurf-100.html


Re: Lebensretter auf dem Mittelmeer
Die Besatzung der Sea Punk I ist zum ersten Mal im Einsatz, um Geflüchtete in Seenot zu retten. Wie man Menschen vor dem Ertrinken rettet, haben einige der Freiwilligen erst wenige Tage zuvor gelernt. Jetzt zeigt sich, ob die zivilen Seenotretter*innen der Herausforderung des Flüchtlingsstroms auf dem Mittelmeer gewachsen sind.
https://www.arte.tv/de/videos/116706-010-A/re-lebensretter-auf-dem-mittelmeer/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
«Anti-Chaoten-Initiative» Zürich: Der Gegenvorschlag wird klar angenommen – sogar in der Stadt Zürich
Die Initiative der Jungen SVP scheitert deutlich. Trotzdem wird die Schraube für Demonstranten angezogen. Jetzt geht das Hickhack um die Umsetzung los.
https://www.tagesanzeiger.ch/abstimmung-anti-chaoten-initiative-kanton-zuerich-news-und-resultate-161970547852
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/gegenvorschlag-zur-anti-chaoten-initiative-angenommen-156451780
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/ueberraschend-deutliches-ja-zur-pistenverlaengerung-am-flughafen?id=12548687 (ab 10:40)
-> https://www.20min.ch/story/annahme-des-gegenvorschlags-anti-chaoten-initiative-das-kommt-auf-demonstranten-zu-103055824
-> https://www.tagesanzeiger.ch/abstimmungen-in-zuerich-das-schaerfste-polizeigesetz-der-schweiz-fuer-die-linke-stadt-593432104481
-> https://www.tagesanzeiger.ch/abstimmungen-in-zuerich-wie-es-nach-der-chaoten-initiative-weitergeht-123260327969
-> https://www.zueritoday.ch/videos/ja-zum-gegenvorschlag-ist-auf-jeden-fall-ein-erfolg-156449928?autoplay=true&mainAssetId=Asset:156449912
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/anti-chaoten-initiative-chancenlos-gegenvorschlag-ueberzeugte-156452370?autoplay=true&mainAssetId=Asset%3A156451942


+++POLIZEI CH
NZZ am Sonntag 03.03.2024

Die oberste Sicherheitsdirektorin schlägt wegen krimineller Asylsuchender Alarm: «Das bedroht irgendwann die innere Sicherheit»

Junge Männer aus Nordafrika begehen in der ganzen Schweiz immer mehr Delikte. Bürgerinnen montieren aus Angst Kameras an ihre Häuser. Die Polizei verstärkt die Patrouillen. Was ist da los?

Ladina Triaca

Es ist ein sehr schweizerischer Anlass. Vertreter der nationalen Behörden aus Bern und der kantonalen Behörden aus Liestal sind nach Aesch im Baselbiet gekommen, in den Chesselisaal des Gasthofs Mühle. Seit einer Stunde erklären sie den über hundert Bürgerinnen und Bürgern mit Statistiken und sorgfältig gewählten Worten, warum das Bundesasylzentrum im Dorf bleiben muss. Warum Aesch, wie alle anderen Baselbieter Gemeinden, Flüchtlinge beherbergen muss. Doch auch nach vier verschiedenen Powerpoint-Präsentationen sind die meisten im Saal nicht überzeugt davon.

«Wie viele Delikte wurden im letzten Jahr durch Flüchtlinge begangen?», fragt ein Mann.

«In unserer Strasse wurde mindestens einmal pro Woche eingebrochen. Wie kann das sein, wenn die Asylbewerber ab 20 Uhr nicht mehr raus dürfen?», fragt eine Frau.

Und ein Mann mit Glatze sagt: «Was passiert, wenn die Hunger haben? Ich sage es euch: Sie kaufen sich etwas, und etwas stecken sie in den Sack. Das habe ich oft genug gesehen!»

So geht es eine Stunde lang. Frage um Frage. Wortmeldung um Wortmeldung. Der Apéro muss warten.

Nicht nur in Aesch sorgt ein Bundesasylzentrum für Diskussionen. In Boudry im Kanton Neuenburg ist der Unmut über delinquente Männer derart gross, dass die Kantonsregierung damit droht, den Vertrag für das Bundesasylzentrum zu kündigen. Im Asylzentrum auf dem Glaubenberg im Kanton Obwalden ging Anfang Woche eine Bombendrohung ein. Und in Goldau protestierten Bürger vor einem Campingplatz gegen das geplante Bundesasylzentrum auf dem Areal. Der künftige SVP-Präsident Marcel Dettling rief ihnen zu: «Wir brauchen Druck aus den Gemeinden, Druck vom Kanton Schwyz, damit wir endlich aufräumen können.»

Was ist los im Land? Wie angespannt ist die Situation im Asylbereich tatsächlich? Welche Sorgen der Bürgerinnen und Bürger sind berechtigt? Und wo werden Vorurteile geschürt?

Ihr Ziel sind Autos

Hannes Germann, der Präsident des Gemeindeverbandes und SVP-Ständerat, sagt: «Das Thema Asyl beschäftigt die Gemeinden stark.» Die Behörden müssten einerseits Wohnraum suchen für die Flüchtlinge, andererseits deren Kinder in den Schulen integrieren und sich seit neuestem auch noch um die Bewohner kümmern, die wegen der vielen Einbrüche verunsichert seien. «Die Lage spitzt sich zu», sagt Germann. «Wegen der schieren Masse an Menschen, die kommt, aber auch wegen der steigenden Kriminalität.»

Es ist das grosse Thema in vielen Gemeinden: die kriminellen Asylsuchenden. Die Täter sind in den allermeisten Fällen junge Männer aus Nordafrika. Sie kommen aus Algerien, Tunesien und Marokko. Und sie haben oft ein klares Ziel: verschlossene und unverschlossene Autos.

Aufnahmen der SRF-Rundschau vom Dezember zeigen, wie die jungen Männer vorgehen: Sie laufen in Quartieren von Haus zu Haus und ziehen vorsichtig an den Türklinken der Autos auf den Parkplätzen. Öffnet sich die Tür, schnappen sie sich Portemonnaies, Sonnenbrillen, Laptops. Manchmal brechen sie die Fahrzeuge auch auf. Oder sie entreissen Menschen die Handtasche oder das Portemonnaie direkt auf der Strasse. So berichten es Polizeistationen.

Die Kriminalstatistik für das Jahr 2023 erscheint erst im März. Erste Zahlen aus den Kantonen sind aber eindeutig: Im Kanton Thurgau etwa registrierte die Polizei im letzten Jahr 987 Diebstähle aus Fahrzeugen. Mehr als 90 Prozent der ermittelten Täter waren Personen aus Nordafrika mit Asylstatus. Im Kanton Aargau ist die Zahl der Delikte von Menschen aus den Maghreb-Staaten in den ersten sechs Wochen dieses Jahres um 75 Prozent gestiegen. Von 34 Diebstählen aus Fahrzeugen konnte die Polizei die Täter ermitteln. 33-mal stammten sie aus dem Maghreb.

Auch in Aesch im Baselbiet ist die Kriminalität ein Problem. 281 Asylsuchende muss die Gemeinde beherbergen. Den Grossteil, rund 120 unbegleitete minderjährige Asylsuchende, hat sie im Bundesasylzentrum am Rand des Dorfes untergebracht. Die meisten sind zwischen 15 und 18 Jahre alt.

Wer in die Zivilschutzanlage will, muss eine Einfahrt hinuntergehen, durch einen schmalen Gang aus Beton, zu einer gelben Tür. Nach einem kurzen Klopfen öffnet ein Betreuer. Er darf nichts sagen und niemanden hineinlassen. Bundesasylzentren sind für die Öffentlichkeit eine Blackbox.

Viele Bewohner von Aesch nehmen sie als Gefahrenherd wahr. Eine blonde Frau, die mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern in der Nähe des Zentrums wohnt, sagt: «In unserer Strasse haben junge Männer eine Zeitlang praktisch jede Woche versucht, irgendwo einzubrechen – sei es in die Garagen, die Autos oder die Velounterstände.»

Nachdem der Familie die E-Bikes gestohlen wurden, installierte sie eine Kamera am Haus. Auf den Aufnahmen sah das Paar regelmässig Männer, die in der Nacht um das Haus schlichen, aus dem Bild liefen und mit Werkzeugen wiederkamen. «Wenn mein Mann und ich in der Nacht ein Geräusch hören, schauen wir sofort auf die Kamera», erzählt die Frau. «Das ist sehr unangenehm. Die Einbrüche machen uns Angst, auch wegen unserer Kinder.»

Die Familie hat mehrmals die Polizei gerufen. Seit die Patrouillen verstärkt worden seien, sei es etwas besser geworden, sagt die Frau. Doch ruhig ist es im Dorf nicht. Der freisinnige Gemeinderat Stephan Hohl sagt: «Ich möchte die Situation nicht beschönigen. Die niederschwelligen Delikte haben zugenommen.» Aber: «Die Delikte haben im ganzen Kantonsgebiet zugenommen. Nicht nur in Aesch.» Ob ein Asylzentrum in der Gemeinde steht oder nicht, spielt keine entscheidende Rolle.

Denn die delinquierenden Asylsuchenden sind mobil. Sie reisen in der Schweiz von Gemeinde zu Gemeinde, von Kanton zu Kanton. Das stellt nicht nur die Polizei im Kanton Basel-Landschaft fest, sondern auch jene in der Stadt Bern. Alexander Ott, der Vorsteher der Berner Fremdenpolizei, sagt, seine Sicherheitskräfte nähmen regelmässig maghrebinische Asylsuchende aus Zentren in Freiburg und Neuenburg fest. «Dieses Jahr mussten wir sicher schon 25 zurückführen.» In den Kanton Bern dürfen sie dann nicht mehr einreisen. Ott ist überzeugt, dass die Männer aus dem Maghreb nicht aus Schutzgründen in die Schweiz kommen: «Ihr Ziel ist nicht Asyl. Ihr Ziel ist, hier Geld zu beschaffen.»

«Immenser Aufwand» für die Polizei

Das Phänomen beschäftigt auch die oberste Schweizer Sicherheitsdirektorin Karin Kayser-Frutschi. Als Co-Präsidentin der Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren kennt sie die Situation in den Kantonen gut. «Die Delikte durch maghrebinische Asylsuchende haben im ganzen Land zugenommen», sagt sie.

Die Nidwaldner Mitte-Regierungsrätin erklärt sich die hohe Kriminalitätsrate der Asylbewerber aus dem Maghreb mit deren kulturellem Hintergrund: «Viele dieser Männer stammen aus Ländern, in denen Armut zum Alltag gehört. Sie lernen früh, sich zu nehmen, was sie nicht haben.»

Für die Behörden ist die Situation herausfordernd. Zwar nimmt die Polizei regelmässig kriminelle Asylsuchende fest, weil diese nicht sehr professionell vorgehen. Das beansprucht aber einerseits viel Personal. Die Aargauer Kantonspolizei etwa spricht von einem «immensen Aufwand», der durch die Tatbestandsaufnahme vor Ort, die Befragung der Verdächtigen und den Beizug von Dolmetschern entstehe.

Andererseits sind die Vergehen der Betroffenen in der Regel zu gering, als dass sie dafür länger ins Gefängnis müssten oder ausgeschafft würden. «Viele kommen in Untersuchungshaft, was sie nicht gross stört, und stehen nach 24 Stunden wieder auf der Strasse und begehen die nächsten Delikte», sagt Kayser-Frutschi.

Sie fordert vom Bund, dass er die vielen hängigen Asylgesuche rascher erledigt und dafür das Personal aufstockt. Abgewiesene Asylsuchende könnten dann ausgeschafft werden.

Karin Kayser-Frutschi warnt vor der aktuellen Entwicklung. Zwar handle es sich bei den Tätergruppen nicht um organisierte Kriminalität. Aber: «Die Delikte führen zu Verunsicherung und Angst in der Bevölkerung und zu enormem Arbeitsaufwand für die Polizei. Das bedroht irgendwann die innere Sicherheit und die Akzeptanz des Asylsystems.»

Junge Asylsuchende leben unterirdisch

Der neue Migrationsminister Beat Jans will das Problem angehen. Bei seinem Besuch in Chiasso vor knapp zwei Wochen kündigte der SP-Bundesrat verschiedene Verschärfungen an: Asylbewerber mit geringen Aussichten auf Asyl – das sind besonders jene aus Algerien, Tunesien und Marokko – sollen ihr Asylgesuch künftig vorab schriftlich begründen müssen. Sämtliche Verfahrensschritte sollen bei ihnen innert 24 Stunden durchgeführt werden. Und die Migrations- und die Strafverfolgungsbehörden sollen in Zukunft enger zusammenarbeiten, um gezielt gegen eine «kleine Anzahl krimineller Intensivtäter» vorgehen zu können.

Bei Nichtregierungsorganisationen stossen Jans’ Pläne auf Kritik. Alicia Giraudel von Amnesty International sagt: «Der Bund schafft eine Zwei-Klassen-Justiz: Die Rechte einer Gruppe von Asylsuchenden sollen eingeschränkt werden. Das geht nicht.» Sie findet es gut, dass der Bund gegen Kriminalität vorgeht. «Aber auf strafrechtlichem Weg und nicht, indem er das Asylrecht aushöhlt.»

Sie fürchtet auch, dass durch die Delikte alle nordafrikanischen Asylsuchenden stigmatisiert würden: «Das Problem ist, dass nur einzelne Personen delinquent sind, aber eine ganze Gruppe vorverurteilt wird.» Im vergangenen Jahr stellten rund 4000 Personen aus Algerien, Tunesien und Marokko in der Schweiz ein Asylgesuch. Das entspricht einem Sechstel der rund 24 000 Erstgesuche, die letztes Jahr eingingen.

In Aesch ist die Situation kurz vor Weihnachten eskaliert. Wegen einer Handtasche. Ein Ehepaar war spätabends in der Nähe des Asylzentrums unterwegs, als ein junger Mann von hinten angriff und der Frau die Handtasche entriss. Beim Täter handelte es sich um einen 17-jährigen Asylsuchenden aus Gambia.

Das Ehepaar lancierte daraufhin eine Petition zur «sofortigen Schliessung der Asylantenunterkunft». Innert weniger Wochen unterschrieben mehr als 300 Personen. Die Wut war gross. Auch deshalb hat die Gemeinde diese Woche zu einem Informationsanlass geladen. In einer Facebook-Gruppe schrieb jemand dazu: «E Märlistund vermutlich.»

Das beraubte Ehepaar konnte am Anlass im Gasthaus nicht teilnehmen. Es habe im Vorfeld mit zwei Gemeinderätinnen gesprochen, schreibt der Mann auf Anfrage. Weiter will sich das Paar nicht äussern. Die Petition sei eine Aktion gewesen, um die Bewohner von Aesch «wachzurütteln».
(https://www.nzz.ch/schweiz/die-oberste-sicherheitschefin-schlaegt-wegen-kriminellen-asylsuchenden-alarm-ld.1820273)


+++RASSISMUS
Angriff mit Stichwaffe: Teenager verletzt orthodoxen Juden in Zürich schwer
Am späten Samstagabend hat im Zürcher Kreis 2 ein 15-Jähriger einen orthodoxen Juden mit einer Stichwaffe angegriffen. Die Polizei schliesst ein antisemitisch motiviertes Verbrechen nicht aus.
https://www.tagesanzeiger.ch/angriff-mit-stichwaffe-teeanger-verletzt-orthodoxen-juden-lebensbedrohlich-669524849932
-> https://www.20min.ch/story/zuerich-messerangriff-teenager-greift-orthodoxen-juden-an-reaktion-sig-103055469
-> https://www.watson.ch/schweiz/polizeirapport/677191906-15-jaehriger-sticht-in-zuerich-auf-orthodoxen-juden-ein
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/taeter-lachte-bei-verhaftung-messerangriff-auf-orthodoxen-juden-in-zuerich-id19493540.html
-> https://www.20min.ch/story/zuerich-messerangriff-auf-orthodoxen-juden-mann-verletzt-103055433
-> https://www.stadt-zuerich.ch/pd/de/index/stadtpolizei_zuerich/medien/medienmitteilungen/2024/03/ein_verletzter_nachangriffmitstichwaffeeinepersonverhaftet.html
-> https://www.stadt-zuerich.ch/pd/de/index/stadtpolizei_zuerich/medien/medienmitteilungen/2024/03/erhoehte_sicherheitsmassnahmenvorjuedischeninstitutionennach.html
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/zurich-orthodoxer-jude-nach-messerangriff-im-spital-66719167
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/sicherheitsvorkehrungen-nach-angriff-auf-orthodoxen-juden-erhoht-66719430
-> https://taz.de/Antisemitischer-Angriff-in-der-Schweiz/!5995711/
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/orthodoxer-jude-attackiert-zuercher-polizei-verstaerkt-schutz-von-juedischen-einrichtungen
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/zuerich-orthodoxer-jude-angegriffen-und-lebensbedrohlich-verletzt-war-es-eine-antisemitisch-motivierte-tat-ld.2587008
-> https://www.20min.ch/story/messerattacke-in-zuerich-die-verletzungen-sind-schwerwiegend-103055475?version=1709448956773
-> https://www.20min.ch/video/zuerich-so-ist-die-stimmung-in-der-orthodoxen-gemeinschaft-des-opfers-der-messerattacke-vom-samstagabend-103055516?version=1709457201094
-> https://www.juedische-allgemeine.de/allgemein/der-taeter-rief-allahu-akbar-und-tod-allen-juden-messerangriff-auf-orthodoxen-juden-in-zuerich/
-> https://taz.de/Antisemitischer-Angriff-in-der-Schweiz/!5995711/
-> https://www.tachles.ch/artikel/news/ich-bin-hier-um-juden-zu-toeten
-> https://www.tachles.ch/artikel/news/solidaritaet-mit-juedischem-opfer
-> https://www.tagesanzeiger.ch/attacke-auf-juden-in-zuerich-solche-angriffe-bedrohen-uns-alle-und-ein-friedliches-zusammenleben-493736399809
-> https://www.20min.ch/story/familie-unter-schock-er-sagte-es-sei-seine-aufgabe-alle-juden-zu-toeten-103055769?version=1709479484734
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/ueberraschend-deutliches-ja-zur-pistenverlaengerung-am-flughafen?id=12548687
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/angriff-jude-schweiz-100.html
-> https://taz.de/Antisemitischer-Angriff-in-der-Schweiz/!5995711/
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/hunderte-menschen-halten-in-zuerich-mahnwache-gegen-antisemitismus-1-00233534/
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/sicherheitsvorkehrungen-nach-angriff-auf-orthodoxen-juden-erhoeht-00233505/
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/15-jaehriger-verletzt-mann-lebensbedrohlich-00233490/
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/er-ist-mit-stichwunden-uebersaet-schwager-von-opfer-aeussert-sich-zur-messerattacke-in-zuerich-id19495841.html
-> https://weltwoche.ch/daily/exklusiv-der-messerstecher-der-in-zuerich-einen-orthodoxen-juden-lebensgefaehrlich-verletzte-ist-ein-eingebuergerter-schweizer-tunesischer-herkunft/
-> https://www.telezueri.ch/zuerinews/15-jaehriger-attackiert-orthodoxen-juden-mit-messer-156451747
-> https://www.telem1.ch/aktuell/lebensgefaehrlich-verletzt-15-jaehriger-attackiert-orthodoxen-juden-mit-messer-156451719
-> https://www.20min.ch/story/experte-zur-messerattacke-die-tat-ist-eine-zaesur-fuer-juedinnen-und-juden-103055781
-> https://www.20min.ch/story/zuerich-wir-sind-staerker-als-ihr-hass-juden-treffen-sich-zu-mahnwache-103056245
-> https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/messerattacke-auf-juedisch-orthodoxen-mann-in-zuerich?urn=urn:srf:video:69f37824-a9ca-4944-a085-99f829eaaedd
-> https://www.watson.ch/schweiz/polizeirapport/433452624-stapo-zuerich-erhoeht-sicherheitsmassnahmen-vor-juedischen-institutionen
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/hunderte-menschen-halten-in-zurich-mahnwache-gegen-antisemitismus-66719656
-> https://www.tagesanzeiger.ch/angriff-auf-juden-in-zuerich-hunderte-menschen-halten-mahnwache-464972205897
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/zuerich-orthodoxer-jude-angegriffen-und-lebensbedrohlich-verletzt-war-es-eine-antisemitisch-motivierte-tat-ld.2587008
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/hunderte-menschen-halten-mahnwache-gegen-antisemitismus-156451476
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stapo-zuerich-erhoeht-sicherheitsmassnahmen-vor-juedischen-institutionen-156449490?autoplay=true&mainAssetId=Asset%3A156448007
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/es-ist-ein-schockerlebnis-juedische-gemeinden-weltweit-bestuerzt-156448829?autoplay=true&mainAssetId=Asset%3A156448007
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/15-jaehriger-sticht-im-kreis-2-auf-orthodoxen-juden-50-ein-schwer-verletzt-156447441?autoplay=true&mainAssetId=Asset%3A156448007
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/hunderte-menschen-halten-in-zuerich-mahnwache-gegen-antisemitismus-1-00233534/
-> https://www.tagblatt.ch/limmattal/zuerich/zuerich-orthodoxer-jude-angegriffen-und-lebensbedrohlich-verletzt-war-es-eine-antisemitisch-motivierte-tat-ld.2587008
-> https://www.tagesanzeiger.ch/messerattacke-auf-juden-in-zuerich-wir-fordern-eine-oeffentliche-verurteilung-dieses-terrorakts-138271571083
-> https://www.20min.ch/story/zuerich-wir-sind-staerker-als-ihr-hass-juden-treffen-sich-zu-mahnwache-103056245?version=1709492507088
-> https://www.spiegel.de/panorama/orthodoxer-jude-in-zuerich-niedergestochen-15-jaehriger-festgenommen-a-ec3de8f1-f30e-4d04-ab91-b1d296ac1b58



nzz.ch 03.03.2024

Ein jugendlicher Muslim sticht in Zürich einen orthodoxen Juden nieder. Rabbiner Noam Hertig sagt: «Es hätte auch mich oder meine Kinder treffen können»

Eine antisemitische Bluttat erschüttert Zürich.

Fabian Baumgartner, Jan Hudec, Daniel Fritzsche

Noam Hertig steigt auf einen Glaskubus vor der ehemaligen Börse beim Bahnhof Selnau. Der Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich hält ein weisses Megafon in der Hand. Er ist umringt von mehreren hundert Personen mit gelben Regenschirmen und Transparenten: «Never again is now» ist darauf zu lesen oder «Jewish lives matter too».

Er sei zutiefst schockiert darüber, was sich letzte Nacht ereignet habe, sagt Hertig. Seine Gedanken seien beim Opfer und dessen Familie. «Ich selbst bin nur wenige Stunden zuvor mit meinen Kindern am späteren Tatort vorbeigelaufen. Es hätte auch mich treffen können oder meine Kinder.»

Vielleicht sei es naiv von ihm gewesen, zu glauben, dass man als Jude in Zürich sicher sei. «Doch nun ist mein Sicherheitsgefühl erschüttert.» Was es nun brauche, sei eine klare öffentliche Verurteilung dieses antisemitischen Terrorakts. «Es darf keine Toleranz geben für Hass und Gewalt. Wir lassen uns nicht einschüchtern!» Die Zuhörer klatschen lautstark.

Rund zwanzig Stunden vor dieser Mahnwache ist es im Zürcher Kreis 2 zu einer Bluttat gekommen, die nicht nur Zürich aufgewühlt hat, sondern weltweit Schlagzeilen machte.

Ein Jugendlicher hatte am späten Samstagabend einen orthodoxen Juden angegriffen und mit einer Stichwaffe lebensbedrohlich verletzt. Laut Zeugenangaben stach der Täter mehrfach auf das Opfer ein.

Der Angriff fand laut Angaben der Stadtpolizei Zürich an der Verzweigung Brandschenkestrasse/Selnaustrasse statt. Um 21 Uhr 35 war bei der Einsatzzentrale der Stadtpolizei Zürich die Meldung über einen Streit unter mehreren Personen eingegangen. Vor Ort stiessen die Einsatzkräfte auf den Täter, der von Passanten festgehalten wurde, und das blutüberströmte 50-jährige Opfer. Der Mann wurde anschliessend in ein Spital gebracht. Sein Zustand ist laut Angaben von Bekannten kritisch, aber stabil.

Glühender Antisemit und Al-Aksa-Brigaden-Anhänger

Der tatverdächtige Jugendliche, ein 15-jähriger Schweizer, wurde laut Mitteilung der Stadtpolizei Zürich noch vor Ort festgenommen. Das Forensische Institut Zürich habe die Spuren am Tatort gesichert. Das Motiv war zunächst unklar, doch im Verlaufe des Sonntags verdichteten sich die Hinweise, dass es sich um eine antisemitisch motivierte Gewalttat handelt.

Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG), sagt zwar auf Anfrage, man müsse die Ermittlungsergebnisse abwarten, bevor man endgültige Schlüsse ziehen könne. Er sagt aber auch: «Wir gehen von einem antisemitischen Hassverbrechen aus. In einer Schwere, wie wir es in der Schweiz nicht kennen.»

Darauf weisen auch Aussagen hin, die der Täter laut Zeugenangaben beim Angriff gemacht hatte. Der Jugendliche bekannte sich gegenüber Familienangehörigen des Opfers zu den Al-Aksa-Brigaden und sagte ihnen, es sei seine muslimische Pflicht, zur Tat zu schreiten. Gegenüber dem jüdischen Magazin «Tachles» sagten Zeugen zudem, der Täter habe gerufen: «Ich bin Schweizer. Ich bin Muslim. Ich bin hier, um Juden zu töten.» Laut «20 Minuten» soll er auch «Allahu akbar» und «Tod allen Juden» gerufen haben.

Diese Informationen haben die Behörden bisher zwar nicht bestätigt. Die Ermittlungen der Polizei schliessen aber explizit auch die Möglichkeit eines antisemitisch motivierten Verbrechens mit ein. Weitere Auskünfte könne man aufgrund der laufenden Untersuchung nicht machen, schreibt die Zürcher Jugendanwaltschaft, welche die Ermittlungen in diesem Fall übernommen hat.

Zum mutmasslichen Täter ist erst wenig bekannt. Er hat laut gut unterrichteten Quellen arabische Wurzeln. Die Familie stammt ursprünglich aus Tunesien. Er ist vor der Tat jedoch nie wegen extremistischer Handlungen auf dem Radar der Strafverfolgungsbehörden erschienen. Die Ermittler versuchen nun zu klären, wie sich der Jugendliche radikalisiert und in welchem Umfeld er sich vor der Tat bewegt hat.

«Man kann nicht jede jüdische Person mit Bodyguard ausstatten»

Der Zürcher FDP-Gemeinderat Jehuda Spielman kennt das Opfer gut. Auch er sagt, man müsse aufgrund der Äusserungen des Täters von einem klar antisemitischen Hintergrund sprechen. «Es ist ein Schock, doch ganz überraschend kommt die Tat angesichts der Stimmungsmache nach dem 7. Oktober leider nicht.»

Die Polizei hat nach der Messerattacke die Präsenz rund um jüdische Einrichtungen sichtbar erhöht. Dabei wird sie auch von der Kantonspolizei Zürich unterstützt. Solche Taten liessen sich jedoch kaum verhindern, sagt Spielman. «Man kann nicht jede jüdische Person mit einem Bodyguard ausstatten.» Aus seiner Sicht ist nun ein gesellschaftliches Umdenken gefragt. «Wir müssen uns fragen, was für eine Stimmung in den letzten Monaten erzeugt wurde, damit jemand denkt, eine solche Tat sei gerechtfertigt.»

Spielman hofft, dass sich nun einige Leute hinterfragen – beispielsweise auch hinsichtlich der Art und Weise, wie gewisse propalästinensische Demonstrationen ablaufen. Kritik an der israelischen Politik sei legitim, aber man müsse sich schon fragen, mit wem man zusammen an den Demonstrationen marschiere und welche Parolen man unwidersprochen toleriere.

Gemeindebund ruft Mitglieder zur Vorsicht auf

In einer Mitteilung schreibt der SIG, seit Samstagnacht würden die Sicherheitsdispositive jüdischer Einrichtungen überprüft und bei Bedarf angepasst. Dieses Vorgehen sei in solchen Fällen vorgesehen. Der SIG schreibt, es könne davon ausgegangen werden, dass für den Moment keine weitere Gefährdung jüdischer Menschen und Einrichtungen vorhanden sei. Trotzdem ruft der Dachverband alle Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft bis auf weiteres zu einem «vorsichtigen und besonnenen Verhalten» auf.

Der SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner sagt, die jüdische Gemeinschaft in Zürich und in der gesamten Schweiz erlebe gerade einen Schockmoment. «Die Menschen sind zutiefst erschüttert, dass ein Gemeindemitglied auf offener Strasse, mitten in Zürich, Opfer einer solchen Attacke wurde.» Die Gedanken aller seien beim Opfer und bei seinen Angehörigen. «Viele beten für seine vollständige und baldige Genesung.»

In der Schweiz seien physische Übergriffe selten, sie hätten erst seit dem 7. Oktober des letzten Jahres spürbar zugenommen. Kreutner sagt, Gewalttaten, die schwere Verletzungen verursachten oder gar den Tod des Opfers beabsichtigten, seien in der Schweiz in den letzten zwei Jahrzehnten nicht vorgekommen.

Die Tat, die Zürich letztmals in ähnlichem Mass erschüttert hat, ist inzwischen fast 23 Jahre her – und noch immer ungeklärt. Am späten Abend des 7. Juni 2001 wurde der 71-jährige Rabbiner Abraham Grünbaum beim Hallwylplatz im Kreis 4 mit zwei Kugeln aus nächster Nähe niedergestreckt. Das Opfer war allein unterwegs, von der Synagoge im Enge-Quartier zur Synagoge Agudas Achim in Wiedikon, wo der Rabbiner laut Polizeiangaben am Abendgebet teilnehmen wollte. Auf halbem Weg begegnete er seinem Mörder.

Für Schlagzeilen sorgte auch eine Attacke von Neonazis auf einen orthodoxen Juden im Juli 2015. Auf dem Heimweg von der Synagoge war damals ein jüdisch-orthodoxer Mann in Wiedikon von einer Gruppe von angetrunkenen Rechtsextremen in der Nähe des Manesseplatzes übel beschimpft und attackiert worden.

Der Rädelsführer hatte den Gläubigen als «Scheissjuden» bezeichnet und «Heil Hitler» gegrölt. Zudem spuckte er dem Opfer ins Gesicht und schubste es. Eine Passantin, die sich schützend vor den Juden stellte, konnte den Angreifer gerade noch von einem Faustschlag abhalten.

Und nun ist es also zu einer Bluttat eines Jugendlichen gekommen, die auch auf politischer Ebene zu reden geben wird.

Fehr: «Für mich ist es ein Terroranschlag»

Er habe die Tat mit grosser Betroffenheit zur Kenntnis genommen, sagt Mario Fehr, Sicherheitsdirektor des Kantons Zürich, auf Anfrage der NZZ. «Für mich ist es ein Terroranschlag, wenn jemand wegen seiner Religionszugehörigkeit niedergestochen wird; ob es aus strafrechtlicher Sicht als Terror zu qualifizieren ist, müssen die Gerichte entscheiden.»

Er sei noch am Samstagabend vom Kommandanten der Kantonspolizei über den Vorfall informiert worden. Als Regierungspräsident sei es ihm ein Anliegen, dass sich alle Menschen im Kanton Zürich sicher fühlen könnten. «Gestern Abend ist dieses Sicherheitsgefühl in der jüdischen Gemeinschaft erschüttert worden.» Umso wichtiger sei es, dass der Kanton Zürich und seine Partner alles unternähmen, damit sich alle sicher fühlten. «Ich vertraue in die Polizeikorps, dass sie ihre Ermittlungen rasch und doch sorgfältig vorantreiben und dass sie die nötigen Massnahmen treffen.»

Zum Vorgefallenen Stellung bezogen hat auch die Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch. Sie sagt auf Anfrage, dass sie zutiefst erschüttert sei über den entsetzlichen Angriff auf einen jüdischen Mann. «Meine Gedanken sind bei dem Opfer, seinen Angehörigen und der jüdischen Gemeinde.» Polizei und Jugendanwaltschaft seien daran, die Hintergründe der Tat zu klären. «Ich werde dem Opfer und den jüdischen Gemeinden persönlich meine Anteilnahme ausdrücken», sagt Mauch.

Am späten Abend nahm auch die Vereinigung der Islamischen Organisationen in Zürich Stellung zum Vorfall. In ihrer Medienmitteilung mit dem Titel «Nicht in unserem Namen!» schrieb sie, dass sie und «die gesamte muslimische Gemeinschaft im Kanton Zürich den Angriff auf unseren jüdischen Mitbürger» verurteile.

Nichts rechtfertige einen Angriff auf Unschuldige; weder eine politische Überzeugung noch irgendeine Religion. Die Attacke sei ein Angriff auf ein sicheres, respektvolles Miteinander, für das sich die Vereinigung und die hiesigen muslimischen Gemeinschaften seit Jahrzehnten einsetzten. «Antisemitismus hat keinen Platz in unserer Gesellschaft.»
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-15-jaehriger-arabischstaemmiger-schweizer-sticht-orthodoxen-juden-nieder-ld.1820408)


+++RECHTSEXTREMISMUS
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Nach der Terrorattacke der Hamas auf Israel ist die Zahl der antisemitischen Vorfälle in der Schweiz explosionsartig gestiegen. Davon betroffen sind auch jüdische Schülerinnen und Schüler.
https://www.watson.ch/digital/whatsapp/385517668-antisemitismus-in-whatsapp-chats-von-schulklassen-ist-hitler-ein-star