Medienspiegel 18. Februar 2024

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++SCHWEIZ
Geheimgespräche mit Kantonen: Jans will Asyl-Container aufstellen – Kantone sollen zahlen
Das Parlament ist dagegen, doch das SEM drängt auf mobile Notunterkünfte für Geflüchtete. Hinter den Kulissen tobt bereits wieder ein Streit um die Finanzierung.
https://www.blick.ch/politik/geheimgespraeche-mit-kantonen-jans-will-asyl-container-aufstellen-kantone-sollen-zahlen-id19444322.html


Asylsuchende in der Romandie – «Schweiz muss mehr tun im Asylbereich – im Interesse aller»
Schulevakuierung, Suizide, Geiselnahme: Was ist los im Westschweizer Asylsystem?
https://www.srf.ch/news/schweiz/asylsuchende-in-der-romandie-schweiz-muss-mehr-tun-im-asylbereich-im-interesse-aller


+++EUROPA
Europawahl: Ex-Frontex-Chef Leggeri tritt für Rassemblement National an
Nach Pushback-Vorwürfen musste Fabrice Leggeri als Leiter der EU-Grenzschutzagentur Frontex gehen. Nun steht er auf Platz drei der Liste der französischen rechtspopulistischen Partei Rassemblement National für die Europawahl.
https://www.spiegel.de/ausland/ex-frontex-chef-leggeri-tritt-fuer-rassemblement-national-zur-europawahl-an-a-10361d6b-3ee3-4644-bcc9-3f5b69242fdb
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1180116.frankreich-fabrice-leggeri-der-vertuscher.html


+++GASSE
Armut in der reichen Schweiz – Seit sie 13 ist, kämpft sie gegen die Armut
Die Familie von Vian Tobal lebt seit Jahren mit Geldsorgen. Also arbeitet Vian schon als Teenagerin neben der Schule. Der Weg aus der Armut ist steinig.
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/armut-in-der-reichen-schweiz-seit-sie-13-ist-kaempft-sie-gegen-die-armut


Armut und Sozialhilfe – «Unser Sozialsystem ist gut, aber es weist eklatante Löcher auf»
750’000 Menschen in der Schweiz gelten als arm – Tendenz steigend. Das geht aus den Angaben des Bundesamts für Statistik (BFS) hervor. Noch viel mehr sind armutsgefährdet, nämlich 1’244’000 Menschen. Wieso ist das so? Wo kommt der Schweizer Sozialstaat an seine Grenzen und wer fällt durch die Maschen des Systems? Wir haben nachgefragt: bei Raphael Golta, Sozialvorsteher der Stadt Zürich.
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/armut-und-sozialhilfe-unser-sozialsystem-ist-gut-aber-es-weist-eklatante-loecher-auf


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
SKKG und Co. Enteignen
Wohnung in Winterthur Wülflingen besetzt!
Stadtaufwertung und die damit verbundene Vertreibung von armen und marginalisierten Personen ist ein ständig fortschreitender Prozess in den Metropolen Europas.
Auch in Winterthur wird es immer schwieriger, bezahlbaren Wohnraum zu finden – besonders in der Innenstadt.
https://barrikade.info/article/6322


Landesweite Kundgebungen: Die Bauern protestieren auch in der Schweiz – fürchten aber um ihren Ruf
Aus Frust über ihre Arbeitsbedingungen haben Landwirte am Wochenende vielerorts ihre Traktoren auf Brücken gefahren. Der Bauernverband versucht, eine Eskalation zu verhindern.
https://www.derbund.ch/landesweite-kundgebungen-die-bauern-protestieren-auch-in-der-schweiz-fuerchten-aber-um-ihren-ruf-297312099878


+++POLIZEI NE
nzz.ch 18.02.2024

Nach Geiselnahme bei Yverdon im Kanton Waadt: Familie des Täters erstattet Anzeige

obe. In einem Regionalzug zwischen Yverdon und Sainte-Croix kam es vor zehn Tagen zu einer Geiselnahme. Der Täter, ein 32-jähriger Asylbewerber aus Iran, nahm 12 Passagiere und den Lokführer als Geisel.

Beim Rettungseinsatz der Polizei wurde der Täter von einem Polizisten erschossen, weil er mit einer Axt auf die Rettungskräfte losging. Der Mann starb noch vor Ort.

Laut dem Sender «RTS» hat die Familie des Täters nun Anzeige erstattet. Die Familie habe bei der Waadtländer Staatsanwaltschaft vor einigen Tagen eine Beschwerden gegen «jede Person ein, die unrechtmässig zum Tod des Sohnes beigetragen hat» eingereicht.
(https://www.nzz.ch/schweiz/schweiz-familie-des-geiselnehmers-von-yverdon-erstattet-anzeige-juso-praesident-nicola-siegrist-tritt-zurueck-ld.1776603)
-> https://www.derbund.ch/nach-geiseldrama-in-yverdon-familie-des-getoeteten-geiselnehmers-klagt-an-882054251015
-> https://www.rts.ch/info/regions/vaud/2024/article/la-famille-du-preneur-d-otages-tue-par-la-police-porte-plainte-28408084.html
-> https://www.20min.ch/fr/story/prise-dotages-dyverdon-il-ne-meritait-pas-detre-tue-dit-son-frere-103045952
-> https://www.watson.ch/schweiz/waadt/767046761-nach-geiselnahme-im-zug-angehoerige-des-taeters-erstatten-anzeige
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/zug-geiselnahme-angehoerige-des-geiselnehmers-von-yverdon-erstatten-anzeige


+++RECHTSEXTREMISMUS
Interview mit Rechtsextremismusforscher und Historiker Damir Skenderovic: «Die Schweiz hat ihre rechtsextreme Vergangenheit vergessen»
Ein SVP-Politiker darf neu als rechtsextrem bezeichnet werden. Der führende Experte für Rechtsextremismus, Damir Skenderovic (59), sagt, was das Urteil für die Schweiz bedeutet, warum sie bezüglich Faschismus kein Sonderfall ist und was die SVP mit der AfD verbindet.
https://www.blick.ch/schweiz/interview-mit-rechtsextremismusforscher-und-historiker-damir-skenderovic-die-schweiz-hat-ihre-rechtsextreme-vergangenheit-vergessen-id19441668.html


++++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Reichsbürger-Kongress in der Umgebung von St. Gallen: Der «König von Deutschland» kommt in die Schweiz
An einem Anlass in der Ostschweiz soll der selbst ernannte «König von Deutschland» teilnehmen. Die Bewegung will einen eigenen Parallel-Staat aufbauen.
https://www.blick.ch/schweiz/reichsbuerger-kongress-in-der-umgebung-von-st-gallen-der-koenig-von-deutschland-kommt-in-der-schweiz-id19444431.html
-> https://www.20min.ch/story/peter-fitzek-koenig-von-deutschland-kommt-reichsbuergertreffen-in-speicher-ar-103045359


+++HISTORY
Walliser Bote 18.02.2024

Saisonnierstatut im Oberwallis – Erasmo Troia: «Meine Frau und meine Kinder mussten sich vor der Fremdenpolizei verstecken»

Das Saisonnierstatut zwang italienischen Saisonniers unmenschliche Lebensbedingungen auf. Noch leben die Zeugen des harten fremdenpolizeilichen Regimes. Zeit, ihnen zuzuhören.

Nathalie Benelli

«Ich war Saisonnier in den 1960er-Jahren», sagt Erasmo Troia. «Meine Familie und ich wurden deshalb mehrmals getrennt und meine Frau und mein Sohn mussten sich verstecken.» In seinem Zuhause in Brig-Glis betrachtet er ein Foto seines Heimatortes Sferracavallo bei Palermo auf Sizilien. Azurblaues Meer, ein malerisches Küstendorf und im Hintergrund der Monte Billiemi. «Wir wären nie aus Sferracavallo weggezogen, wenn es dort Arbeit gegeben hätte, von der wir hätten leben können», sagt Erasmo Troia. «Es war, wie es war. Das waren andere Zeiten. Heute geht es uns gut im Wallis», betont der 84-Jährige. Doch das war nicht immer so.

Erasmo Troia war 22 Jahre alt, als er 1960 von Sizilien nach Naters kam. Er war Maurer und fand eine Anstellung bei einer Oberwalliser Baufirma. Auch sein Vater, zwei seiner Brüder und ein Cousin arbeiteten bei dieser Firma. Es war eine Zeit der Hochkonjunktur. Die Italiener halfen mit, die boomende Nachkriegswirtschaft aufzubauen.

Die offizielle Schweiz erzählt oft die Geschichte von den Gastarbeitern aus Italien, die ihre Kultur, ihre Italianità mitbrachten und als Beispiel für eine gelungene Integration gelten. Doch es gibt auch die andere Seite, die bittere Realität, die gern ausgeblendet wird. Es ist die Geschichte von zerrissenen Familien, von Frauen und Kindern, die sich vor den Behörden verstecken mussten. Denn von 1934 bis 2002 galt in der Schweiz das Saisonnierstatut. Es verbot Gastarbeitern mit einer befristeten Arbeitsbewilligung, ihre Frauen und Kinder in die Schweiz zu holen. Die Schweiz verfolgte eine Politik der Familientrennung, die auch im europäischen Vergleich sehr weit ging.

Erasmo Troia heiratete im März 1964 in Sizilien Maria Grazia. Sie war 19 Jahre alt und stammte aus dem gleichen Dorf wie er. Im April reiste das Ehepaar gemeinsam nach Brig. Maria Grazia Troia wusste, dass sie mit dem Besuchervisum nur drei Monate bei ihrem Mann in Naters bleiben durfte. An ihre Ankunft am Bahnhof Brig erinnert sich Maria Grazia Troia, als wäre es gestern gewesen: «Ich war schockiert. Hunderte von Männern und Frauen aus Italien wurden zusammengepfercht wie Vieh. Wir mussten uns im Sanitätsposten des Bahnhofs ausziehen und uns einer Gesundheitskontrolle unterziehen.» Das sei menschenunwürdig gewesen. Tuberkulosetests, Blutuntersuchungen, Lungenröntgen. Bei Krankheitsverdacht wurden die Italienerinnen und Italiener zurückgeschickt. Ein rotes R für «Rifiutato», abgelehnt, wurde in den Pass eingetragen. Bleiben durfte nur, wer arbeitsfähig war.

Viel gemeinsame Zeit blieb dem jungen Paar nicht. Erasmo Troia hatte als Saisonnier jeweils eine Arbeitsbewilligung von Februar/März bis Dezember. Maria Grazia Troia musste das Wallis bereits im Juli wieder verlassen. Tränen auf dem Perron. Die Zugtüre schloss sich hinter Maria Grazia und das Paar war wieder für Monate getrennt.

1965 wurde Tochter Pietra geboren, 1967 Sohn Francesco. Immer wieder reiste Maria Grazia mit den Kindern zu ihrem Mann nach Brig. Dort hatte er eine kleine Wohnung im Rhonesand gefunden. Viel gesehen hat sie ihn allerdings nicht. Erasmo Troia sagt: «Ich habe sechs Tage in der Woche gearbeitet; 15- bis 16-Stunden-Tage waren normal. Es gab immer einen Grund, länger zu arbeiten.»

Während eines Aufenthalts in Brig wurde der kleine Francesco krank. Ein Besuch beim Kinderarzt ergab, dass er dringend für eine Herzoperation ins Inselspital nach Bern musste. «In Bern half uns eine Frau vom Sozialamt. Sie meldete Francesco bei der Invalidenversicherung an und kontaktierte den Arbeitgeber meines Mannes und dessen Frau», erinnert sich Maria Grazia Troia. Die beiden hätten das Problem sofort verstanden. Es gab keine Krankenkasse für das kranke Kind, weil Kinder von Saisonniers keinen Anspruch darauf hatten. Der Arbeitgeber stellte Erasmo Troia eine Jahresarbeitsbewilligung in Aussicht. Aber das ging nicht von heute auf morgen. Und die Fremdenpolizei war ihnen schon auf den Fersen, denn das Besuchervisum war bereits abgelaufen.

Ein Beamter der Fremdenpolizei verkörperte die ganze Härte des Regimes. Trotz des Attests des Kinderarztes und der in Aussicht gestellten Jahresarbeitsbewilligung liess er sich nicht erweichen. «‹Via, via, verreisu›, schrie der Beamte», erzählt Maria Grazia Troia. Was mit ihrem Kind sei, sei ihm «sch…egal». Die Troias baten ihn um Menschlichkeit. Man könne doch nicht die Mutter des Landes verweisen, wenn ihr krankes Kind im Inselspital liege. Der Fremdenpolizist kannte keine Gnade und so musste Maria Grazia Troia mit ihrer Tochter Pietra das Land verlassen.

Mutter und Tochter kamen bei Bekannten in Domodossola unter. Maria Grazia organisierte, dass sich Verwandte in Sizilien um Pietra kümmerten. Sie selbst wollte zu ihrem kranken Sohn ins Inselspital nach Bern. Ihr blieb nichts anderes übrig, als illegal in die Schweiz einzureisen. Sie holte ihren Sohn im Spital ab und fuhr mit ihm zurück nach Brig. Maria Grazia Troia erzählt: «Monatelang versteckte ich mich mit meinem Sohn in der Wohnung im Rhonesand. Die Fensterläden auf der Strassenseite blieben geschlossen und ich konnte die Wohnung nicht verlassen.» Die Gefahr, entdeckt zu werden, war zu gross.

Das lange Warten hatte ein Ende, als nach zehn Jahren Saisonnierstatut endlich die Jahresarbeitsbewilligung für Erasmo Troia eintraf. «Von da an wurde unser Leben einfacher», sagt er. 1971 kam Tochter Maria Rosa auf die Welt. Die Kinder gingen zur Schule. Doch auch mit einer gültigen Aufenthaltsbewilligung erlebte die Familie Schwieriges.

Die Schwarzenbach-Initiative schürte die fremdenfeindliche Stimmung im Land. Am 7. Juni 1970 stimmten die Schweizer über eine Volksinitiative ab, die eine Begrenzung des Ausländeranteils auf zehn Prozent der Bevölkerung forderte. Die Initiative wurde mit 54 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. Eine Annahme hätte die Ausschaffung von 300’000 Menschen zur Folge gehabt. Doch der Feldzug gegen die Ausländer blieb nicht ohne Folgen. Der Begriff «Überfremdung» hielt sich hartnäckig in manchen Köpfen.

Maria Grazia Troia kann konkrete Beispiele von Fremdenfeindlichkeit erzählen. Ihre Tochter Pietra besuchte als kleines Mädchen die Schule der Missione Cattolica Italiana. «Wenn ich sie am Morgen dorthin brachte, begegneten wir immer einer alten Frau, die auf dem Weg zur Messe in der Kirche von Naters war. Jedes Mal spuckte sie vor uns auf den Boden und beschimpfte uns als Tschinggini», sagt Maria Grazia Troia.

Bei der Einschulung in die Primarschule weigerte sich eine Lehrerin, Pietra in die erste Klasse aufzunehmen. Sie teilte die Meinung einiger Lehrpersonen, dass die Kinder von italienischen Gastfamilien nicht in der Lage seien, Deutsch zu lernen, weil sie zu Hause nur italienische Dialekte sprächen. «Hätte sich nicht die Familie Heinzen für unsere Tochter eingesetzt und ihr Nachhilfe in Deutsch gegeben, wäre sie einfach wieder in den Kindergarten zurückgeschickt worden», sagt Erasmo Troia. Heute sei das anders, betont er. Aber damals habe es kaum Hilfe gegeben. Und er weiss von Bekannten, deren Kinder um ein Haar für zurückgeblieben erklärt worden wären, nur weil sie kein Deutsch sprachen. «Und wenn unsere Kinder später bessere Noten hatten als die Kinder von Einheimischen, wurde reklamiert und Betrug vermutet», sagt er.

Die Schicksale der anderen Familien, deren Männer als Saisonniers im Wallis arbeiteten, blieben der Familie Troia nicht verborgen. Das Drama, sich von den Kindern trennen zu müssen, war bei den Gastarbeitern stets gegenwärtig. «Viele Kinder dieser Familien lebten zuerst in einem Heim nahe der Grenze in Gravegna und dann in der Casa del Fanciullo. Später gab es in Baceno Croveo Osso bei Domodossola eine Siedlung mit ausrangierten Eisenbahnwaggons, in denen die Kinder untergebracht wurden», erinnert sich Erasmo Troia. Ein Franziskanerorden kümmerte sich zusammen mit Ordensschwestern um Hunderte Kinder von Saisonniers, die nicht bei ihren Eltern in der Schweiz leben konnten.

Über die Zustände, die in diesen Heimen geherrscht haben sollen, gibt es unterschiedliche Berichte. Einige italienische Medien berichteten von unvorbereiteten und gewalttätigen Ordensbrüdern und Ordensschwestern. Der Film über die Kinder der Saisonniers mit dem Titel «Non far rumore. La storia dimenticata dei bambini nascosti» (Mach keinen Lärm. Die vergessene Geschichte der versteckten Kinder) wurde vom italienischen Fernsehen Rai 3 ausgestrahlt. Ausdrucksstark sind die Ausschnitte der Super-8-Filme der Familie von Fabrizio, einem Interviewpartner von Rai 3. Sie zeigen, wie das Leben dieser Kinder ein Wechselbad der Gefühle war: das Gefühl des Verlassenseins während der Woche im Kinderheim, die Freude über den Besuch der Eltern am Wochenende und der Schmerz über ihre Abreise am Sonntag. Den höchsten emotionalen Preis des Schweizer Saisonnierstatuts zahlten die Kinder.

Toni Ricciardi, Migrationshistoriker der Universität Genf, kommt zum Schluss, dass zwischen 1949 und 1975 fast 50’000 Kinder versteckt in den Wohnungen ihrer Familien in der Schweiz leben mussten. Eine halbe Million Kinder von Gastarbeitern aus Italien, Spanien, Portugal, Jugoslawien, Türkei durften nicht bei den Eltern in der Schweiz leben und mussten in ihren Herkunftsländern bleiben. Der Familie Troia ist bekannt, dass es in der übrigen Schweiz auch viele «versteckte Kinder» von Saisonniers gegeben hatte. Darüber hat Marina Frigerio das Buch «Verbotene Kinder – Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität» geschrieben. Marina Frigerio lässt diese «verbotenen Kinder» erzählen. Sie schildern, wie es war, die meiste Zeit daheim eingesperrt und ohne Kontakt zu anderen Kindern zu sein. Sie durften auch nicht zur Schule gehen.

Maria Grazia Troia sagt, die Saisonniers im Oberwallis hätten ihre Kinder eher ins Heim bei Domodossola gegeben oder ihre Kinder bei Verwandten in Kalabrien oder Sizilien gelassen, als dass man sie über Jahre daheim versteckt hätte.

Das erhoffte Wohlergehen haben viele der italienischen Gastarbeiter im ausbeuterischen System nicht gefunden. Schlimmer noch, einige bezahlten die schlechten Arbeitsbedingungen mit ihrem Leben, so wie zum Beispiel die 56 italienischen Arbeiter, die beim Bau des Mattmark-Staudamms ums Leben kamen.

Erasmo und Maria Grazia Troia schauen nicht verbittert auf ihre Vergangenheit. Immer wieder sagen sie: «Es waren andere Zeiten.» Jetzt gehe es ihnen gut und sie wüssten das gute Gesundheitswesen und die Sozialversicherungen der Schweiz zu schätzen. Sie haben Freundschaften mit Schweizer Familien geschlossen. Trotzdem haben sie nie den Schweizer Pass beantragt. Warum nicht? «Ich habe über sechzig Jahre hart für dieses Land gearbeitet», sagt Erasmo Troia, «und jetzt soll ich noch für den Schweizer Pass bezahlen?» Er habe zum Wohlstand der Schweiz beigetragen, seine drei Kinder und seine Enkelkinder seien gut ausgebildete Bürgerinnen und Bürger geworden, sie seien anständige Menschen. «Wenn man mir nach all den Jahren den Schweizer Pass schenken würde, würde ich ihn annehmen. Aber ich habe meinen Beitrag dazu geleistet», sagt Erasmo Troia.

Santino Biondo stammt aus demselben sizilianischen Fischerdorf wie die Familie Troia. Er war jahrelang Präsident des Vereins der italienischen Familien im Oberwallis. Santino Biondo kennt viele Schicksale von Saisonnierfamilien. An der 75-Jahr-Feier des Simplontunnels 1981 sagte er in einer Rede zu den anwesenden Politikern: «Sie haben arbeitende Hände gesucht und es sind viele Köpfe gekommen.» Eine Reaktion habe er nicht erhalten.

Vor 22 Jahren trat die Personenfreizügigkeit mit der EU in Kraft. Damit wurde das menschenfeindliche Saisonnierstatut abgeschafft. Es hatte über Jahrzehnte eine diskriminierte Kategorie von Arbeitskräften ohne gesicherten Aufenthaltsstatus geschaffen, die zu Tiefstlöhnen arbeiteten. Andere Personengruppen, die durch ein Gesetz benachteiligt wurden, forderten von Bund und Kantonen Entschädigungen. Wäre das auch für die Saisonniers denkbar? Santino Biondo winkt ab: «Es geht nicht um Geld. Es geht um Menschenwürde. Eine öffentliche Entschuldigung der Gemeinden wäre ausreichend.»


Publikationen zum Saisonnierstatut

Marina Frigerio ist Autorin des Buchs «Verbotene Kinder – Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität». Es ist im Rotpunktverlag erschienen. Zusammen mit Martina und Susanne Merhar veröffentlichte Frigerio auch das Buch «… und es kamen Menschen».

Die Gewerkschaft Unia widmete eine Ausgabe des Magazins «work» mit dem Titel «Baracken, Fremdenhass und versteckte Kinder» dem Saisonnierstatut.
(https://pomona.ch/story/368519/erasmo-troia-meine-frau-und-meine-kinder-mussten-sich-vor-der-fremdenpolizei-verstecken)



Maturaarbeit zum Thema Verdingkinder – Wilerin bringt das düstere Thema der Schweizer Geschichte auf den Lehrplan ihrer Klasse
Die 19-jährige Paula Ackermann hat für ihre Maturaarbeit mit ehemaligen Verdingkindern gesprochen. Dabei hatte sie vor dem Projekt noch nie etwas über das Thema gehört.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/wil/kantonsschule-maturaarbeit-zum-thema-verdingkinder-wilerin-bringt-das-duestere-thema-der-schweizer-geschichte-auf-den-lehrplan-ihrer-klasse-ld.2580354



solothurnerzeitung.ch 18.02.2024

Als das Heroin nach Olten kam – vom Summer of Love zum Winter of Desaster

Nach 20 Monaten im italienischen Gefängnis kam unser Autor im Winter 1972 nach Olten zurück. Dort kam alles anders, als er es erwartet hatte. Folge 15 unserer Serie «Yesterday in Olten – eine Zeitreise in die Provinzhauptstadt des Summer of Love».

Beat Kraushaar

Es war ein eigenartiges Gefühl, im Dezember 1972 nach so langer Zeit wieder zurück zu sein. Die Stadt zeigte sich äusserlich unverändert. Der Nebel hing wie immer über der Stadt, sie war noch immer zweigeteilt, und als ich entlang der Aare zur Holzbrücke lief, stieg mir dieser vertraute, leicht modrige Geruch in die Nase. Ich freute mich darauf, meine Freundin und die Kumpels wiederzusehen, sowie die Freiheit, die man mir so lange genommen hat, zu geniessen.

Es kam anders – und zwar knüppeldick. Meine Freundin, die mir noch kurz zuvor geschrieben hatte, dass sie auf mich wartet, schickte mich in die Wüste. Sie hatte eine neue Liebe gefunden. Meine Kumpels, in deren WG ich Unterschlupf fand, waren auf dem Sprung ins Ausland. Sie wollten in Deutschland als Musiker ihr Glück versuchen. Andere Kollegen hatten während meiner Abwesenheit Kinder bekommen und waren «seriös» geworden. Wieder andere waren nach Indien gereist, um beim durchgeknallten Bhagwan Shree Rajneesh die Erleuchtung zu finden.

Und im Oltner Tagblatt musste ich lesen, wie angebliche Kolleginnen und Kollegen mich damals nach meiner Verhaftung in Rom anonym mit hämischen Kommentaren und Lügen in die Pfanne hauten. Aus einer anderen Zeitung erfuhr ich, dass die Polizei uns «Hascher» anscheinend observierte, was mit zur Verhaftung in Rom geführt haben soll. Bestätigt wurde dieser Verdacht, weil auch Personen aus meinem Umfeld unter Beobachtung standen.

Als meine Jugendliebe damals von einer Reise aus Marokko nach Olten zurückkehrte, stand am nächsten Tag die Polizei mit einem Durchsuchungsbefehl vor der Tür. Man sagte ihr, dass sie unter Verdacht des Drogenschmuggels stehe. Später wurde mit der Fichenaffäre bekannt, dass schweizweit Hunderttausende, vor allem Linke, observiert und fichiert wurden.

Erklärbar, aber nicht entschuldbar, ist dieser übertriebene Polizeiapparat mit der damaligen Zeit. Die konservative Schweiz sah ihre Macht gefährdet. Es war die Zeit, in der Terror auch bei uns angekommen war. Die Volksfront zur Befreiung Palästina PLO verübte einen Bombenanschlag auf eine Swissair Maschine mit 38 Toten. Die Rote Armee Fraktion RAF in Deutschland sowie in Italien die Brigate Rosse, beide mit Verbindungen in die Schweiz, wurden als ernsthafte Bedrohung empfunden.

Dasselbe galt plötzlich auch für Hippies. Cannabis und LSD wurden als gefährliche Drogen taxiert, die eine ganze Jugend in den Abgrund reissen konnte. Die Schweizer Justiz ging deshalb mit grosser Härte gegen sie vor. So wie der damalige Bundesanwalt, der fand, alle «Hascher» müssten psychiatrisch untersucht und eingesperrt werden.

Sie hinkten allerdings der Realität böse hinterher – auch in Olten. Zu dieser Zeit war bereits das Heroin in der Dreitannenstadt angekommen. Auf dem Strassenstrich beim Amthausquai waren auch drogenabhängige junge Frauen aus Olten anzutreffen. Sie mussten auf den Strich gehen, um sich ihren Stoff – das Gramm Heroin kostete damals 500 Franken oder mehr – zu finanzieren.

Eine von ihnen war eine mir nahestehende Kollegin, die kurz darauf an einer Überdosis starb. Hunderte junge Menschen, darunter auch aus Olten, mussten in den folgenden Jahren wegen der repressiven Drogenpolitik einen sinnlosen Tod sterben. Der Tod der Kollegin war endgültig der Moment, als mir klar wurde: Olten, die Provinzhauptstadt des Summer of Love, ist zum Winter of Desaster geworden. Die Peace-and-Love- Bewegung war an ihrem Ende angelangt.

Weiter in Olten zu bleiben, war deshalb für mich keine Option mehr. Ich hatte das Gefühl, dass dann das Leben an mir vorbeizieht, mit Badi, Chilbi, Fasnacht und EHC. Ich wollte die mir gestohlene Zeit aufholen und in vollen Zügen ausleben. Deshalb war es Zeit, «Tschüss Olten, ich bin dann mal weg» zu sagen. Die darauffolgenden vier Jahre verbrachte ich in Zürich und bei den immer noch existierenden Hippies in Kalifornien. Noch ein letztes Mal gab es Probleme mit der Justiz. Aber dies alles hatte nichts mehr mit Olten zu tun. Um es in den Worten von Lou Reed zu sagen: Es waren die Jahre auf dem «Walk on the wild side of Life».



Autor Beat Kraushaar

Es waren wilde Zeiten, Jahre des gesellschaftlichen Aus- und Aufbruchs. In der Serie «Yesterday in Olten – eine Zeitreise in die Provinzhauptstadt des Summer of Love» berichtet Autor Beat Kraushaar über seine Jugend in der Dreitannenstadt und das Olten der späteren 1960er-Jahre.
Kraushaar, 73, wuchs im Engadin und in Olten auf. Er war Leiter der Aidshilfe Schweiz, war zu Platzspitz-Zeiten stellvertretender Drogenbeauftragter in der Zürcher Sozialdirektion der bekannten Stadträtin Emilie Lieberherr. In den 1990er-Jahren wechselte Kraushaar in den Journalismus («SonntagsBlick», später «Der Sonntag») und recherchierte diverse Primeurs, dazu gehörten Recherchen zur Affäre um den Geheimdienstmann Dino Bellasi. Kraushaar lebt mit seiner Frau im Kanton Aargau, ist aber bis heute ab und an in Olten.
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/olten/yesterday-in-olten-als-das-heroin-nach-olten-kam-vom-summer-of-love-zum-winter-of-desaster-ld.2581113)