Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
+++SCHWEIZ
Gastfamilien für Geflüchtete – Chance trotz Herausforderungen?
Menschen in der Schweiz haben infolge des russischen Angriffskriegs grosszügig private Unterkünfte für Geflüchtete aus der Ukraine angeboten. In einer Studie wurden die Herausforderungen und Chancen dieser sogenannten Gastfamilien untersucht.
https://www.neo1.ch/artikel/gastfamilien-fuer-gefluechtete-chance-trotz-herausforderungen
Asyl-Schnellverfahren soll für Nordafrikaner ausgeweitet werden
Der Bund will die 24-Stunden-Schnellverfahren gegen Asylsuchende aus nordafrikanischen Ländern auf alle Bundesasylzentren ausweiten. Diese Länder haben eine sehr tiefe Anerkennungsquote für Asylgesuche. Seit Herbst 2023 lief ein entsprechendes Pilotprojekt in Zürich.
https://www.baerntoday.ch/schweiz/asyl-schnellverfahren-soll-fuer-nordafrikaner-ausgeweitet-werden-156283321
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tagesanzeiger.ch 17.02.2024
Massnahmen gegen Asylmissbrauch: Beat Jans geht gegen «Bed and Breakfast» in Asylzentren vor
Manche Asylsuchende kommen am Freitag und gehen am Montag. Nun will der Justizminister Schnellverfahren ausweiten.
Charlotte Walser
Sie kommen am Freitag und reisen am Montagmorgen wieder ab – bevor ihr Asylgesuch amtlich registriert wird.
Wer in ein Bundesasylzentrum will, muss sich zwar auch am Wochenende einer Eintrittskontrolle unterziehen und das Personalienblatt ausfüllen, bevor sie oder er ein Zimmer zugeteilt erhält. Eine eigentliche Registrierung mit der Abnahme aller Fingerabdrücke und einer Befragung findet am Wochenende aber aus Ressourcengründen nicht statt.
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) beobachtet das Wochenend-Phänomen im Bundesasylzentrum in Zürich seit Monaten, wie es auf Anfrage bestätigt. Laut dem SEM handelt es sich vor allem um Personen aus nordafrikanischen Staaten, meist junge Männer. Diese haben geringe Chancen auf Asyl: Weniger als ein Prozent der Asylsuchenden aus Algerien, Marokko und Tunesien werden als Flüchtlinge anerkannt.
Vor allem bei Grossereignissen
Manche scheinen indes gar kein Asylverfahren zu wollen. «In vielen Fällen geht es offensichtlich darum, eine Unterkunft für das Wochenende zu haben», schreibt das SEM. Obwohl kein Schutzbedürfnis und kein Interesse an einem Asylverfahren bestehe, beanspruchten diese Personen Ressourcen und Betten, die dann im Asylsystem fehlten.
Das SEM nennt auch Zahlen dazu. Von Montag bis Freitagmittag stellten im Bundesasylzentrum Zürich in den vergangenen Monaten jeweils drei bis vier Personen aus Maghreb-Staaten ein Asylgesuch, von Freitagmittag bis Sonntagabend waren es zwischen 20 und 35 Personen.
Im Zentrum gibt es Betten, Verpflegung, Duschen. Wo sich die Personen vor und nach dem Wochenende aufhalten, ist unbekannt. Ein Teil von ihnen ist möglicherweise in Nachbarländern unterwegs. Auffällig ist aber, dass sich an manchen Wochenenden überdurchschnittlich viele im Bundesasylzentrum in Zürich meldeten – beispielsweise an den Wochenenden mit Sonntagsverkauf, beim Züri-Fäscht oder bei der Street Parade. «Ein Teil fällt leider durch straffälliges Verhalten auf», schreibt das SEM.
Pilotprojekt zeigte Wirkung
Nun will der Bund Massnahmen ergreifen. Dabei setzt er nicht nur auf Rückkehr, sondern auch auf Abschreckung. Bereits letzten Herbst startete das SEM – noch unter der Verantwortung von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider – in Zürich einen Pilotversuch mit 24-Stunden-Verfahren für Asylsuchende aus nordafrikanischen Staaten: Sämtliche Arbeitsschritte, die für den Asylentscheid relevant sind, werden am ersten Tag nach der Ankunft in der Schweiz durchgeführt.
Ein solches Verfahren bedeutet nicht, dass die Betroffenen die Schweiz sofort wieder verlassen. Die Identifikation nimmt Zeit in Anspruch, und es gibt Rekursmöglichkeiten. Die Behörden hofften aber, dass sich die Massnahme herumsprechen und eine abschreckende Wirkung entfalten würde.
Tatsächlich ist der Bestand von Asylsuchenden aus Maghreb-Staaten in Zürich während der Pilotphase gesunken, und zwar um rund 34 Prozent. Manche wichen allerdings auf andere Standorte aus: In den übrigen Bundesasylzentren stieg die Zahl im gleichen Zeitraum um gut 8 Prozent.
Justizminister Beat Jans will nun die 24-Stunden-Verfahren für Asylsuchende aus Maghreb-Staaten auf alle Bundesasylzentren ausweiten, wie das SEM schreibt. Es handelt sich um die sechs Zentren mit Verfahrensfunktion in Zürich, Bern, Boudry NE, Altstätten SG, Chiasso und Basel.
Dem Vernehmen nach sind weitere Massnahmen geplant, spezifisch gegen das Wochenend-Phänomen. So prüfen die Behörden offenbar, den Zugang zu Bundesasylzentren an bestimmten Tagen einzuschränken. Das SEM äussert sich nicht dazu, hält aber fest, der Schutz vulnerabler Personen – dazu zählen allein reisende Frauen, Familien oder unbegleitete Minderjährige – werde auf jeden Fall gewährleistet bleiben.
Flüchtlingshilfe skeptisch
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) steht solchen Massnahmen kritisch gegenüber, auch den Schnellverfahren. Schon als das Pilotprojekt lanciert wurde, warnte sie, bei diesem Tempo steige die Gefahr von Fehlentscheiden. «Unsere Position hat sich nicht verändert», sagt SFH-Sprecher Lionel Walter.
Asylgesuche müssten gründlich geprüft werden, zumal auch Personen aus Libyen betroffen seien. Die Schutzquote von Libyerinnen und Libyern ist höher als jene von Asylsuchenden aus anderen nordafrikanischen Staaten. Betroffen sind sie deshalb, weil manche Personen aus Tunesien, Marokko oder Algerien als Herkunftsstaat Libyen angeben.
Die Flüchtlingshilfe bezweifelt auch, dass die Schnellverfahren längerfristig abschreckende Wirkung haben. In jedem Fall fordert sie nicht nur eine quantitative, sondern auch eine qualitative Evaluation des Pilotprojekts, bevor in allen Zentren Schnellverfahren durchgeführt werden. Als Alternative sieht die SFH mehr personelle Ressourcen in den Bundesasylzentren – auch am Wochenende. «Der Zugang zu einem Asylverfahren und zu einer angemessenen Unterkunft muss jedenfalls allen Asylsuchenden jederzeit gewährt werden, unabhängig davon, wie viel Erfolgsaussichten ihr Gesuch hat.»
Wichtige Herkunftsländer
Die Maghreb-Staaten gehören zu den wichtigen Herkunftsländern von Asylsuchenden. Zuletzt hat die Zahl der Gesuche von Personen aus Marokko und aus Algerien zugenommen: 2023 verzeichnete das SEM rund 1800 Asylgesuche von Algeriern (plus 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr), 1600 von Marokkanern (plus 200 Prozent) und 570 von Tunesiern.
Gestiegen ist aber auch die Zahl der Ausreisen. Vor allem mit Algerien konnte das SEM die Zusammenarbeit stark verbessern: Algerien ist das Land, in das 2023 am meisten weggewiesene Asylsuchende zurückkehrten.
(https://www.derbund.ch/asylmissbrauch-beat-jans-will-schnellverfahren-ausweiten-935759887399)
-> https://www.blick.ch/politik/ein-teil-faellt-durch-straffaelliges-verhalten-auf-asylzentren-werden-als-bed-and-breakfast-missbraucht-id19443079.html
-> https://www.20min.ch/story/schweiz-wochenend-plausch-in-asylzentren-beat-jans-sagt-basta-103045067
+++GROSSBRITANNIEN
Abschiebung nach Ruanda – Sunaks Ruanda-Projekt steht auf der Kippe
Rishi Sunaks Ruanda-Projekt gerät immer mehr in die Kritik. Weshalb er trotzdem an seinem Plan festhalten muss.
https://www.srf.ch/news/international/abschiebung-nach-ruanda-sunaks-ruanda-projekt-steht-auf-der-kippe
+++FREIRÄUME
Leeres Verwaltungsgebäude: Hat Thun zu wenig Ausgangsangebote für Jugendliche?
Das Bärfussgebäude an der Hofstettenstrasse in Thun steht leer. Die Stadtverwaltung zog wie geplant aus. Zwei grüne Stadträtinnen sind der Meinung, dass die Stadt nun über ein «ideales Kultur-, Jugend- und Quartierzentrum» verfügt. Der Thuner Gemeinderat ist anderer Meinung.
https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/hat-thun-zu-wenig-ausgangsangebote-fuer-jugendliche-156250663
+++GASSE
Homeless Harmonies – Eine CD von und für obdachlose Menschen
Die beiden Gymnasiastinnen Lia und Anouk verwirklichten in ihrer Maturaarbeit ein Projekt mit obdachlosen Strassenmusiker: innen. Resultat davon ist eine CD mit Künstler: innen von der Strasse, die für einen guten Zweck verkauft wird.
https://www.neo1.ch/artikel/eine-cd-von-und-fuer-obdachlose
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Basler Zeitung 16.02.2024
Kontrollaktion im Dreirosenpark: Plötzlich kommen die Polizisten von allen Seiten
Neben den täglichen Patrouillen sollen grössere Polizeieinsätze im Dreirosenpark die Kriminalität eindämmen. Die BaZ wurde zufällig Zeuge eines solchen Einsatzes.
Sebastian Schanzer
Für die Bevölkerung des Kleinbasler Klybeckquartiers ist es unübersehbar: Seit wenigen Wochen bemüht sich die Basler Polizei verstärkt darum, der Kriminalität rund um die Dreirosenanlage Herr zu werden. Mehrmals täglich wird die Anlage von Patrouillen kontrolliert, regelmässig finden auch grössere Einsätze mit einem Aufgebot von mehreren Dutzend Polizisten statt. Drogenhandel, Streitereien, Gewalt – die Polizei will Ordnung im geplagten Quartier schaffen.
So auch am Mittwoch vor einer Woche, als sich die BaZ zufällig vor Ort befindet. Plötzlich stehen mindestens vier graue Kastenwagen um die Anlage. Ruhig treiben mehr als ein Dutzend Polizisten von allen Seiten auf der Anlage anwesende Personen zusammen. Sie zwingen sie schliesslich, sich in einer Reihe aufzustellen. Einer nach dem anderen müssen sich die Männer – sofern möglich – ausweisen. Die Polizei nimmt teils Fotos von Personen auf und beschlagnahmt illegale Gegenstände.
Gleich vier – teils gesuchte – Personen werden festgenommen und drei Männer angezeigt, weil sie sich nicht auf Basler Kantonsgebiet aufhalten dürften, wie die Polizei später auf Anfrage schreibt. Weiter werden Betäubungsmittel und ein verbotenes Reizstoffsprühgerät sichergestellt. «Es war eine Kontrolle mit durchschnittlichem Aufwand und überdurchschnittlichem Ergebnis», schreibt die Polizei. Nicht bei jeder Aktion würden mehrere Personen festgenommen.
Polizei allein kann die Probleme nicht lösen
Die erhöhte Polizeipräsenz auf der Dreirosenanlage ist eine von mehreren Massnahmen, welche die Stadt Basel bereits ergriffen hat, um die Gewalt und den Drogenhandel rund um das Areal zu bekämpfen. Seit vergangenem August wird der Park videoüberwacht, und jüngst wurde zudem die öffentliche Beleuchtung verstärkt.
Weitere Massnahmen – etwa den Einsatz von Sicherheitspersonal an den Schulen – will die Basler Regierung in einer ihrer nächsten Sitzungen beschliessen und diese dann bis im Frühling umsetzen. Ende Januar kündigte Regierungsrätin Stephanie Eymann an, dabei nicht nur auf Repression zu setzen. An einem vom Stadtteilsekretariat Kleinbasel und «Bajour» organisierten Drogenstammtisch gab sie zu bedenken, dass es etwa bei den Drogendealern oft zu einem Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei komme, das heisst, die Polizeipräsenz allein könne die Probleme nicht nachhaltig lösen.
Bestandteil des Massnahmenpakets der Basler Regierung sollen deshalb auch erweiterte Öffnungszeiten der Kontakt- und Anlaufstellen für Drogenkonsumenten oder eine verstärkte Präsenz von Sozialarbeitern vor Ort sein. Letzteres würde auch ein Passant begrüssen, der sich an besagtem Tag auf dem Sportplatz der Dreirosenanlage befindet und sich an der Kontrollaktion stört. «Alles war hier friedlich. Ich verstehe nicht, warum die Polizei so eingreift», sagt er genervt, packt seinen Ball und geht.
(https://www.bazonline.ch/kontrollaktion-im-dreirosenpark-ploetzlich-kommen-die-polizisten-von-allen-seiten-210218485923)
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bzbasel.ch 17.02.2024
Mehr Bettelnde in Basel: In der Markthalle dürfen alle die Infrastruktur nutzen, aber das Fragen nach Geld hat Konsequenzen
Rund 30 Bettelnde halten sich gemäss Kantonspolizei Basel-Stadt täglich in der Stadt auf. Ein Teil von ihnen nutzt die Infrastruktur der Markthalle, um sich frisch zu machen oder aufzuwärmen.
Nora Hoffmann Bader
«Betteln verboten» stand vor bald vier Jahren erstmals auf einem an die Türe geklebten Blatt in der Basler Markthalle. Und dies, obwohl sich deren Co-Leiterin und Grossrätin Alexandra Dill (SP) politisch für die Aufhebung des Verbots einsetzte. Sie begründete damals gegenüber dieser Zeitung, dass die Markthalle Privatgrund und nicht Allmend sei.
Auch wenn das Transparent an der Markthalle längst verschwunden ist: In der Stadt sind aktuell wieder mehr Bettelnde aus Osteuropa sichtbar. Dies, nachdem der Kanton Basel-Stadt den Umgang mit Bettelnden im Sommer verschärft hatte und Menschen, die zum Betteln hierherkommen, wegweist.
Wie «20 Minuten» berichtete, «werden rumänische Bettelgruppen nach Basel gefahren». Sie umgingen das Verbot, indem sie in Mulhouse übernachten würden. Diese Menschen werden gemäss der Boulevardzeitung vor der Markthalle ausgeladen, um sich dort umzuziehen. Wer regelmässig morgens die Markthalle passiert, kann das tatsächlich beobachten.
Markthalle zeigt sich kulant beim Benutzen der Infrastruktur
Eine Nachfrage bei den Betreibern zeigt, dass auch ihnen auffällt, dass sich Bettelnde vermehrt in der Markthalle aufhalten. Ein Grund sieht Lukas Marsoner, der die Angebote koordiniert, in der Nähe zum Bahnhof. Somit befänden sich unter dem Publikum auch zwangsläufig suchtkranke, obdachlose und armutsbetroffene Menschen.
«Manche laden ihr Smartphone auf, ruhen sich aus oder wärmen sich auf. In solchen Fällen sind wir kulant und versuchen, menschlich zu handeln. Wenn nötig bieten wir auch Hilfe in Form eines warmen Getränks oder eines Café Surprises an.» Die Infrastruktur der Markthalle dürfe genutzt werden.
Gestohlene Lampen oder Getränke
Klare Regeln gibt es dennoch: «Betteln wird untersagt, weil es direkt an den Gast gerichtet ist. Wird gebettelt, verweisen wir die Person aus dem Saal», so Marsoner. Das komme schon hin und wieder vor. Meist würden die Bettelnden die Markthalle dann widerstandslos verlassen.
Nicht immer verläuft die Konfrontation aber reibungslos: «Hausverbote und Polizeieinsätze gibt es nur, wenn zum Betteln auch Diebstahl oder Taschendiebstahl hinzukommt.» Es sei schon Infrastruktur wie Lampen entwendet, oder Getränke aus Kühlschränken von Ständen gestohlen worden. «Das kommt aber selten vor.»
90 Aufforderungen zum Verlassen der Schweiz
Die Kantonspolizei Basel-Stadt sei sich der Tatsache bewusst, dass sich derzeit vermehrt Bettelnde auf dem Kantonsgebiet aufhalten, sagt Mediensprecher Rooven Brucker. «Dies schliesst auch Beobachtungen ein, wo und wie diese Personen anreisen.» Die Kantonspolizei Basel-Stadt habe bislang rund 90 formlose Aufforderungen zum Verlassen der Schweiz ausgesprochen. «Die Anzahl der Bettelnden auf Kantonsgebiet schwankt täglich, wir schätzen sie momentan auf etwa 10 bis 30 Personen.»
Was die bevorstehende Fasnacht betreffe, so bleibe abzuwarten, ob diese das Betteln eher verdränge oder anziehe. «Die Kantonspolizei Basel-Stadt wird ihren Beitrag dazu leisten, um einen möglichst reibungslosen Ablauf der Fasnacht zu gewährleisten», so Brucker.
Im Sommer waren plötzlich weniger Bettelnde da
Anfang Juli letzten Jahres änderte das Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement (JSD) die Praxis im Umgang mit Bettelnden. Jene unter ihnen ohne Schweizer Pass werden seither als Personen ohne gültigen Aufenthaltstitel angesehen und müssen die Schweiz verlassen.
Zu dieser drastischen Verschärfung kam es nach einem Urteil des Bundesgerichts vom Frühling 2023, welches das Bettelverbot teilweise abgeschwächt hatte. Das Bundesgericht hiess Beschwerden gegen das Bettelverbot teilweise gut: So könne man das Betteln in Parks nicht generell verbieten.
Dennoch: Die Verschärfung des JSD betreffend Ausweisungen zeigte Wirkung. Von den rund 70 Personen waren im Sommer nur noch 15 anzutreffen, wie die Kantonspolizei Basel-Stadt damals auf Anfrage sagte.
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/bettelverbot-mehr-bettelnde-in-basel-in-der-markthalle-duerfen-alle-die-infrastruktur-nutzen-aber-das-fragen-nach-geld-hat-konsequenzen-ld.2581056)
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aargauerzeitung.ch 17.02.2024
Polizei am Anschlag, Justiz hilflos: Was kann man gegen die Deliktswelle von Algeriern im Aargau tun?
Allein am letzten Wochenende sind 18 Personen aus Maghrebstaaten festgenommen worden. Sie sollen innert kurzer Zeit über 50 Diebstähle und Einbrüche im Aargau begangen haben. Die Polizei war mit ihren Ressourcen am Limit. Die Werkzeuge der Justiz greifen nicht.
Daniel Vizentini
In letzter Zeit vergeht praktisch kein Tag ohne Meldung über einen Diebstahl oder Einbruch von Männern aus Nordafrika, meistens junge Algerier. Den Eindruck, dass es sich dabei um eine regelrechte Welle handelt, bestätigen auch die Zahlen: In den ersten sechs Wochen dieses Jahres wurden im Kanton Aargau 75 Prozent mehr Delikte von Menschen aus den Maghreb-Staaten Marokko, Algerien, Tunesien oder Libyen registriert als ein Jahr zuvor.
Dabei war schon 2023 betreffend der Anzahl Delikte ein absolutes Rekordjahr: 1782 Diebstähle aus Fahrzeugen im Aargau wurden letztes Jahr erfasst – im Jahr 2022 waren es nur 848 gewesen. 83 Prozent der aufgeklärten Taten wurden von Personen aus den Maghrebstaaten begangen, allen voran von Algeriern. In den ersten sechs Wochen 2024 waren im Aargau bei 33 von 34 aufgeklärten Diebstählen aus Autos Menschen aus diesen Staaten involviert.
Die festgenommenen Personen waren ausschliesslich Asylbewerber, oft mit bereits abgewiesenem Gesuch und nicht selten auch minderjährig – jedenfalls gemäss den Angaben, die sie beim Migrationsamt machten.
Einen markanten Anstieg der Anzahl Delikte von Männern aus Nordafrika gab es zuletzt 2011/2012, als die Aufstände im Rahmen des Arabischen Frühlings aktuell waren und auch die Anzahl der Asylgesuche aus diesen Staaten stieg. Nach einem Tiefstand um 2019 herum gibt es seit 2022 wieder deutlich mehr Asylgesuche und Delikte von Algeriern. Dabei erhalten Menschen aus Maghreb-Staaten kaum Asyl: In den ersten neun Monaten des letzten Jahres stellten 1485 Personen aus Algerien ein Asylgesuch in der Schweiz. Nur 9 wurden als Flüchtlinge anerkannt.
In der diese Woche veröffentlichten Asylstatistik 2023 standen Algerien und Marokko bezüglich der Anzahl Gesuchen auf den Rängen vier und fünf hinter Afghanistan, der Türkei und Eritrea, aber noch vor Syrien. 84 Prozent der Gesuchstellenden aus Syrien erhalten Asyl, bei denjenigen aus Algerien oder Marokko sind es nur rund 1 Prozent.
«Man kann nicht einfach mit ihnen reden»
Die Menschen aus den Maghrebstaaten, die in der Schweiz zuletzt kriminell aufgefallen sind, kamen fast ausschliesslich als Asylsuchende hierher, wie Corina Winkler, Dienstchefin Kommunikation der Kantonspolizei, erklärt. Hinweise, dass die Verbrechen organisiert seien, gebe es keine. Es sei nicht so wie bei den Rumänenbanden, die zum Beispiel vom Elsass her eigens für Delikte in die Schweiz gefahren werden. Man beobachte aber, dass die algerischen Männer sehr oft mit dem öffentlichen Verkehr aus anderen Kantonen anreisen, um im Aargau zu delinquieren.
Für die Behörden war besonders das letzte Wochenende vom 9. bis 11. Februar stark belastend, als 18 Personen aus Nordafrika festgenommen wurden. Sie sollen verantwortlich sein für rund 50 Fälle von Diebstählen aus Fahrzeugen in verschiedenen Aargauer Ortschaften.
«Da waren wir mit unseren Ressourcen ganz klar am Limit», sagt Polizeisprecherin Corina Winkler. Dies vor allem, weil es sich um sehr aufsässige Personen handelte, die sich kaum beruhigen liessen. Sie berichtet von Tätlichkeiten gegenüber Polizeikräften, von unaufhörlichem Schreien, Urinieren und Stuhlgang in der Haftzelle. Eine Person, die in der Zelle rebelliert, müsse beobachtet werden, sagt Winker. Am Wochenende dauerte es pro Täter teils bis zu acht Stunden, bis die verantwortlichen Polizeikräfte überhaupt mit der eigentlichen Erfassungsarbeit der Delikte beginnen konnten.
Oft seien noch Drogen und Alkohol im Spiel, was vor einer Inhaftierung eine ärztliche Untersuchung nötig mache. Dazu müssten Dolmetscher beigezogen werden. Die Kantonspolizei Aargau sei mit einem noch nie da gewesenen Ausmass von Fällen und hochrenitentem Verhalten konfrontiert, stellt Corina Winkler klar. «Man kann nicht einfach mit ihnen reden.» Dies führe zu massiver Verzögerung und binde sehr viele Ressourcen. Es sei definitiv «eine aussergewöhnliche Situation» und eine Grenze nun erreicht.
Keine gemeinsame Datenbank unter den Kantonen
Ein gravierendes Problem, auf das Winkler aufmerksam macht, ist der fehlende Datenaustausch zwischen den Kantonen: Es gebe keine landesweite Plattform, wo die Polizei eines Kantons nachschauen könnte, ob eine Person bereits in einen anderen Kanton Delikte verübt hat. Will man dies bei einer Festnahme wissen, müsse man bei jedem der 25 anderen Kantonen individuell nachfragen.
Dabei müsse «die Polizei im Aargau wissen, was die Polizei in anderen Kantonen weiss», sagt Corina Winkler. Eine gesamtschweizerische Datenbank sei aktuell in Bern in der Vernehmlassung. «Das wäre sicher eine Massnahme, die der Polizei konkret helfen würde.»
Die Werkzeuge der Justiz greifen bei diesen Fällen nicht
Auf ein anderes Problem macht Adrian Schuler, Mediensprecher der Oberstaatsanwaltschaft Aargau, aufmerksam: Weil es sich bei diesen Fällen um Kriminelle handelt, die nirgends in der Gesellschaft eingebunden sind, greifen die Massnahmen kaum, die der Justiz zur Verfügung stehen.
Kommt zum Beispiel eine in der Schweiz integrierte Person in Untersuchungshaft, hat sie normalerweise Angst, dass dies etwa der Arbeitgeber oder die Familie erfährt. Eine Person aber, die zu nichts und niemandem hierzulande einen Bezug hat, hat auch nichts zu verlieren und deshalb auch wenig Anreiz, sich kooperativ zu verhalten.
Selbst eine Ersatzfreiheitsstrafe, die höchstmögliche Sanktion, beeindrucke diese Personen wenig. Je nachdem sei eine Zweierzelle in einem Gefängnis samt serviertem Essen gar angenehmer als das Leben in einem Asylheim. Als grosse Strafe werde dies nur geringfügig empfunden.
«Ohne Einordnung in die Gesellschaft greifen die Werkzeuge der Strafverfolgung nur bedingt», bringt es der Sprecher nochmals auf den Punkt. Die heutigen Gesetze seien nicht für solche Fälle gedacht. Gefragt wäre nun die Politik wohl auf Bundesebene.
Türen und Autos stets verschlossen halten
Polizei und Staatsanwaltschaft täten derweil, was sie können. Letzten Sommer wurde erneut eine Taskforce «Crime Stop» gebildet, um die aktuelle Deliktwelle gezielt anzugehen. Dazu kommunizieren die Behörden proaktiv, wollen die Bevölkerung sensibilisieren, geben Tipps.
Eine gute Aussenbeleuchtung könne sehr abschreckend wirken, sagt Corina Winkler zum Beispiel. Verdächtige Bewegungen im Quartier sollte man unbedingt über die Nummer 117 melden. Und man sollte Dieben keine Gelegenheiten lassen: Haustüren, Garagentore oder Autos sollten immer abgeschlossen sein. Bei nur gerade 20 Prozent der Diebstähle seien Fahrzeuge aufgebrochen worden. «Die meisten Personen überschreiten die Grenze einer Sachbeschädigung nicht.»
Wird etwas geklaut, solle man umgehend Anzeige erstatten, damit die Spurensicherung stattfinden kann. Gestohlen werden meistens Bargeld, Computer, Handys oder teure Sonnenbrillen. Wertgegenstände sollte man nie im Auto lassen. In anderen Ländern sei es inzwischen normal, dass man etwa das leere Handschuhfach offenlasse, damit man von draussen sieht, dass es da nichts zu holen gibt.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/kriminalitaet-im-aargau-nordafrikaner-auf-diebestour-warum-der-aargau-von-einer-welle-an-delikten-ueberrollt-wird-ld.2580670)
-> https://www.blick.ch/politik/die-autoknacker-aus-dem-maghreb-nordafrikaner-sorgen-fuer-rekorde-bei-diebstaehlen-id19444496.html
+++PSYCHIATRIE
hauptstadt.be 17.02.2024
Und das Wohl der Patient*innen?
UPD und Kanton haben eine Beziehungskrise. Und doch machen sie keine Therapie. Eine Auslegeordnung.
Von Marina Bolzli und Flavia von Gunten (Text) und Manuel Lopez (Bilder)
Waldau heissen die Universitären Psychiatrischen Dienste Bern (UPD) im Volksmund bis heute. Das Klinikareal befindet sich am Rande der Stadt, in zum Teil denkmalgeschützten Gebäuden. Seit längerer Zeit ist die Psychiatrie chronisch überlastet – und kaum einmal wird positiv über die Klinik berichtet.
Stattdessen wird über Sparmassnahmen debattiert, wie zuletzt bei der Schliessung von präventiven Angeboten wie dem Metro und dem Holzplatz. Es gibt Schlagzeilen, wenn ein Patient randaliert, wie im vorletzten Sommer, als es einen Axtangriff gab. Das Personal schreibt öffentlichkeitswirksam Briefe, in denen es auf den Personalnotstand aufmerksam macht.
Seit die psychiatrischen Kliniken 2017 vom Kanton in gemeinnützige Aktiengesellschaften (die dem Kanton gehören) ausgelagert und so in die Schein-Selbstständigkeit entlassen wurden, haben sich die finanziellen Probleme der Kliniken verschärft. Sie müssen wirtschaftlich arbeiten, sind aber eigentlich immer noch in allen Belangen vom Kanton abhängig. Die UPD hat in den letzten Jahren Defizite geschrieben, die sich jährlich vergrössert haben.
Die Psychiatrie hat es schwer.
Die UPD ist zwar mit über 1’700 Mitarbeitenden an mehr als 25 Standorten und über 12’000 Patient*innen pro Jahr ein wichtiger Bereich des Gesundheitssektors. Aber auch einer, bei dem in der Öffentlichkeit nicht mit grossen Erfolgsergebnissen aufgetrumpft werden kann. Stattdessen gibt es Druck von allen Seiten: Vom Kanton, der Eigner ist; von der Öffentlichkeit, die Ansprüche hat; vom Budget, das nirgends ausreicht.
Plötzlich geht etwas
Unter diesen Vorzeichen teilten die Verwaltungsräte von UPD und Psychiatriezentrum Münsingen (PZM) im Februar 2023 mit, dass sie eine Fusion prüfen. Es brauche diese Zusammenlegung, um die Versorgung im Kanton sicherzustellen. Probleme wie Fachkräftemangel, nicht kostendeckende Tarife und Investitionen in Infrastruktur stehen einer steigenden Zahl von Patient*innen gegenüber.
Kurz zuvor hatte der Regierungsrat eine interessante Personalie vermeldet: Alexandre Schmidt wurde zum neuen Generalsekretär der Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI) gewählt, deren Vorsteher Pierre Alain Schnegg (SVP) ist.
Schmidt war von August 2021 bis Februar 2022 sieben Monate lang Vorsitzender der Geschäftsleitung der UPD. Bis diese am 24. Februar 2022 in einer dünnen Medienmitteilung seinen Rücktritt verkündete: Alexandre Schmidt habe sich entschieden, die Zusammenarbeit mit der UPD zu beenden. Aufgrund «unterschiedlicher Vorstellungen über die Entwicklung der UPD und das Tempo der Reformen».
Verschärfter Ton
In der Zeit nach Verkündigung der Fusionsabsicht beobachtete UPD-Verwaltungsratspräsidentin Patricia Kellerhals eine Veränderung: «Der Ton aus dem GSI verschärfte sich.»
Dann traf eine Einladung des Regierungsrates ein: Die UPD-Leitung solle ihm ihre Strategie präsentieren. Solche Treffen gibt es jedes Jahr mit dem Inselspital und der Berner Kantonalbank BEKB. Sie sind von langer Hand geplant, die Unternehmen können sich ausreichend vorbereiten. Für die UPD war es eine Premiere. «Für uns kam die Einladung überraschend. Wir mussten uns innerhalb kürzester Zeit vorbereiten», so Kellerhals.
Laut Kellerhals hat die UPD-Leitung den Regierungsrat, der in corpore erschien, auf die finanziellen Schwierigkeiten hingewiesen und eine Ansprechperson im GSI gefordert. Die Regierungsrät*innen ihrerseits hätten sich interessiert und sinnvolle Fragen gestellt.
Nach dem Treffen hatte Patricia Kellerhals ein gutes Gefühl.
Im November stimmten die Verwaltungsräte von PZM und UPD einer Fusion zu. Sie sei «der einzig richtige Weg», um die Versorgung und die wirtschaftliche Stabilität sicherzustellen.
Da der Kanton sämtliche Aktien von UPD und PZM hält, muss der Regierungsrat einer Fusion zustimmen. So schreibt es das Gesetz vor. Die beiden Verwaltungsräte rechneten mit einem Entscheid des Kantons bis Ende Jahr. Doch der traf nicht ein.
Mitte Januar 2024 präsentierte Pierre Alain Schnegg den Rückblick seiner Direktion aufs vergangene und den Ausblick aufs kommende Jahr. Oberstes Thema: der «hohe Migrationsdruck». Es ging auch um die Umsetzung der Pflegeinitiative und des Behindertenleistungsgesetzes.
Die Herausforderungen der Psychiatrie wurden mit keinem Wort erwähnt. Offenbar überragen andere Themen auf der Prioritätenliste von Regierungsrat Schnegg die Psychiatrie.
Auch wenn der Kanton auf Nachfrage der «Hauptstadt» betont: «Der Stellenwert der Gesundheitsversorgung ist für die GSI sehr hoch, dies gilt auch für die Psychiatrieversorgung.»
Kanton vs. UPD
Nur drei Tage nach der GSI-Jahresmedienkonferenz verkündete die UPD eigenhändig beschlossene Sparmassnahmen. Betroffen sind vor allem Präventionsangebote.
Das hat einen Grund: Im Bereich der Grundversorgung hat die UPD einen Leistungsauftrag vom Kanton. Diese Angebote muss sie zur Verfügung stellen. Die Prävention hingegen ist nicht Teil der Grundversorgung.
Seit einigen Jahren schreibt die UPD selbst im Bereich der Grundversorgung Verluste. «Wir können nicht aus unterfinanzierten Angeboten andere Angebote quersubventionieren», erklärt Patricia Kellerhals.
Der Kanton seinerseits distanziert sich gegenüber der «Hauptstadt» von den Sparmassnahmen: «Die Angebote wurden von der UPD ohne vorgängige Diskussion mit und Information an uns eingestellt», schreibt GSI-Sprecher Gundekar Giebel.
Die Sparrunde spült somit die Dissonanzen zwischen UPD und Kanton an die Öffentlichkeit.
In einem «Schweiz aktuell»-Beitrag verlangt UPD-CEO Oliver Grossen öffentlich von der GSI, dass beide gemeinsam über sämtliche Angebote sprechen und die GSI sagt, welche Leistungen sie von der UPD will – und diese kostendeckend bezahlt.
Gesundheitsdirektor Schnegg zeigt sich im gleichen Beitrag nicht besonders gesprächsbereit in dieser Sache: Was die UPD anbiete, liege in ihrem Entscheidungsbereich. Das Gesundheitssystem sei komplex. Wer sich aufrege, dem würden Elemente fehlen, um zu verstehen, worum es genau gehe.
Patricia Kellerhals bewegt sich seit 35 Jahren im Gesundheitswesen. «Es ist hochkomplex. Selbst ich lerne jeden Tag Neues dazu», gibt sie zu. Nach dem Medizinstudium arbeitete sie kurz als Assistenzärztin, bevor sie auf die Managementseite wechselte.
Alle wüssten, was das Beste wäre
Die Krux ist: Eigentlich wüssten alle Seiten, was gut wäre. Gut für die Patient*innen und die Finanzen. Wenn mehr ambulante Behandlungen – also solche, bei denen die Patient*innen daheim übernachten – durchgeführt würden und mehr in die Prävention investiert würde. So sagt Patricia Kellerhals: «Ambulantisierung wäre an vielen Orten möglich, so etwa bei Borderline-Patient*innen oder mit Tagesklinik-Angeboten für Junge.» An Ideen fehle es nicht. Wohl aber an Geld.
Wobei der Kanton laut eigenen Angaben der Finanzierung dieser ambulanten Angebote Gewicht beimisst: «Die kantonale Versorgungsplanung verfolgt den Ansatz ambulant vor stationär», teilt Sprecher Gundekar Giebel mit. Aus diesem Grund unterstütze die GSI die ambulanten Spitalleistungen der Psychiatrieversorgung seit Jahren zusätzlich finanziell. Die ambulanten Kantonsbeiträge seien in den letzten Jahren stetig gestiegen. Aktuell lägen sie bei etwa 37,5 Millionen Franken pro Jahr, 2022 hätten sie noch 31,5 Millionen betragen.
Das klingt nach viel. Ist aber offensichtlich immer noch zu wenig, denn die Kosten des ambulanten Angebots steigen schneller als die Kantonsbeiträge. So sagt die Grossrätin Manuela Kocher (SP): «Ambulante Angebote sind unterfinanziert.» Ausserdem kranke das Gesundheitssystem daran, dass man zu wenig in der Prävention mache. Gerade bei jungen Menschen wäre in diesem Bereich sehr viel möglich, ergänzt die Gesundheitspolitikerin.
Laut Kocher liegt das auch am System. Krankenkassen und Kantone zahlen fix aufgeteilte Tarife für stationäre Patient*innen. Deshalb sind stationäre Plätze in Psychiatrien in aller Regel bezahlt.
Überspitzt gesagt: Je kränker ein Patient oder eine Patientin, desto besser für die Finanzen.
Bei ambulanten Behandlungen ausserhalb des Leistungskatalogs der Krankenversicherungen und präventiven Angeboten ist aber die Klinik, allenfalls unterstützt vom Kanton, allein für deren Finanzierung zuständig. Der Kanton hat dabei viele Freiheiten zu bestimmen, welche Leistungen er finanzieren will. Angebote, die nicht direkt zur Grundversorgung gehören, sind für die Klinik schwierig zu finanzieren.
Denn ein Präventionsgesetz gibt es nicht, obwohl ein solches vor etwas mehr als zehn Jahren auf Bundesebene zur Diskussion gestanden habe, erklärt Gesundheitsrechtsexperte Dario Picecchi. Der Rechtswissenschaftler hat eine Dissertation über das Wirtschaftlichkeitsgebot im Krankenversicherungsrecht geschrieben.
Er beobachtet, dass viele Akteur*innen auf die kurzfristigen Kosten, statt den langfristigen Nutzen fokussieren – und deswegen die Prävention eher hinten ansteht: «Ganz nach dem Motto: sparen, um gespart zu haben. Dabei wird zu wenig darüber nachgedacht, wie sich das auf die betroffenen Personen und die Gesundheit auswirkt», so Picecchi. «Wie viel Geld für die Prävention eingesetzt werden soll, ist aber letztlich eine politische Frage. Das muss die Gesellschaft aushandeln.»
Die Geschichte wiederholt sich
So fest die jüngsten Ereignisse in der Berner Psychiatrie die Öffentlichkeit und den Kanton umtreiben – neu sind sie nicht. Wer alte Zeitungsberichte liest, wähnt sich in der Gegenwart. 2001 zum Beispiel schloss die UPD je eine Station in der Rehabilitation und der Alterspsychiatrie und stellte ein Drogen-Nachbetreuungsprogramm ein, weil sie das Budget um fünf Millionen Franken überschritten hatte. Damit wollte man die Sparvorgaben des Kantons erfüllen und «den Grundstein für eine zeitgemässe Versorgung legen», wie der damalige UPD-Verwaltungsdirektor Bruno Guggisberg dem «Bund» erklärte. Das Personal wehrte sich in einem offenen Brief gegen den Abbau. Im gleichen Jahr titelte die Zeitschrift «Puls-Tip»: «Notstand in der Psychiatrie», weil sich die Zahl der Patient*innen in den Berner Psychiatrien innert zehn Jahren mehr als verdoppelt hatte, während gleichzeitig Sparmassnahmen ergriffen wurden.
2015 reduzierte der damalige Gesundheitsdirektor Philippe Perrenoud (SP) das Budget der Psychiatrie um 34,5 Millionen Franken bis 2017. Dem Jahr, in dem die drei psychiatrischen Kliniken Münsingen, Bern und Bellelay aus der Kantonsverwaltung ausgelagert und in Aktiengesellschaften umgewandelt wurden. Daraufhin baute die UPD 57 Stellen ab und das PZM schloss zwei Stationen. Von dieser Sparrunde war das ganze Gesundheitswesen betroffen; rund 20’000 Menschen protestierten dagegen auf dem Bundesplatz.
Was nun?
Auf die geforderte offizielle Ansprechperson beim Kanton warten die UPD bisher vergeblich. Klar ist nur, dass sie nicht Alexandre Schmidt heissen wird. Auf detaillierte Fragen der «Hauptstadt» zu seiner Rolle als Generalsekretär im Bezug auf die UPD antwortet der Kanton nur mit einem dürren Satz: «Herr Generalsekretär Alexandre Schmidt ist nicht an den Gesprächen beteiligt.»
Trotzdem gibt es leise Zeichen, dass sich die psychiatrischen Kliniken und der Kanton annähern. Anfang Februar haben UPD, PZM und Kanton eine Absichtserklärung unterzeichnet. Ihr Ziel: Die Fusion der beiden Unternehmen. Der Regierungsrat unterstütze das «Zielbild dieses Zusammenschlusses», heisst es in der Medienmitteilung.
Vorgesehen ist die Fusion per Anfang 2025, spätestens aber per 2027. Bevor der Regierungsrat über die Fusion beschliesst, müssen UPD und PZM detailliertere Angaben zum Geschäftsmodell und zur Bauplanung machen und einen Businessplan liefern. Im Auftrag der GSI unterstützt die Beratungsfirma KPMG die beiden Unternehmen dabei.
Wie fest der Problemberg der Berner Psychiatrie mit einer Fusion schrumpfen würde, lässt sich schwer abschätzen. Doppelspurigkeiten könnten abgebaut und dadurch Kosten gespart werden, meint Rechtsexperte Dario Picecchi. Er warnt aber vor überrissenen Erwartungen: «Der medizinische Bedarf der Patient*innen verändert sich nicht. Es braucht weiterhin Personal, um sie ausreichend zu betreuen. Dort lässt sich kaum sparen.»
SP-Gesundheitspolitikerin Manuela Kocher ist da zuversichtlicher. «Mit einer Fusion kann man Skaleneffekte erzielen, ohne dass die Leistungserbringung für die Patient*innen geschmälert wird», sagt sie. Sie denke da etwa an Administration oder IT. Eine Fusion bedeute immer eine Anfangsinvestition, bevor sich der Mehrwert zeige.
Auch Patricia Kellerhals ist optimistisch – ganz wie es ihre Rolle erwarten lässt. Wenn es statt zwei nur noch eine Notfallstation gebe, könne dort Personal gespart werden. Und durch eine modernere Infrastruktur würde das fusionierte Unternehmen attraktiver als Arbeitgeberin – was angesichts des Fachkräftemangels nicht zu unterschätzen sei.
Aber auch Kellerhals sieht in der Fusion nicht das Allheilmittel für die Probleme in der Berner Psychiatrie. Wie CEO Oliver Grossen im «Schweiz aktuell»-Interview fordert auch sie Gespräche mit dem Kanton über die gegenseitigen Erwartungen und den Ausbau des ambulanten Angebotes.
Unterstützung könnte es vom Grossen Rat geben. Grossrätin Manuela Kocher bereitet momentan einen Vorstoss vor. Er fordert, dass die präventiven Angebote, die von der UPD in Eigenregie abgebaut wurden, in Zukunft vom Kanton unterstützt werden sollen.
Und es gäbe Möglichkeiten, noch weiter zu gehen. Denn das Parlament kann dem Regierungsrat die Richtung vorgeben, in die er sich in Psychiatriefragen bewegen soll.
Einschränkend dabei wirken die Finanzen. Aber wenn sich alle einig sind, dass Investitionen in Prävention und ambulante Psychiatrie Folgekosten verhindern, sollten sich dafür Mehrheiten finden lassen.
Zum Wohle der Patient*innen und damit zum Wohle der ganzen Gesellschaft.
(https://www.hauptstadt.be/a/und-das-wohl-der-patientinnen)
++++DEMO/AKTION/REPRESSION
Walliser Bote 17.02.2024
Demo gegen Veranstaltung: 200 gewaltbereite Eritreer erfordern Grossaufgebot der Polizei
In Villars-sur-Glâne gab es am Samstag eine kleine Veranstaltung von Eritreern. Demonstranten aus der ganzen Schweiz reisten dazu an. Die Polizei konnte mit einem Grossaufgebot Schlimmeres verhindern.
Philipp Herrgen (phh)
Rund 20 Personen hatten sich am Samstagmorgen in Villars-sur-Glâne (FR) getroffen. Dabei handelte es sich um Angehörige einer eritreischen Gemeinschaft, die für ihr Treffen eigens einen Raum angemietet hatten. Wie die Kantonspolizei Fribourg mitteilt, habe es deswegen auch keine Demonstrationsgenehmigung gebraucht.
Den Einsatz der Polizei brauchte es dagegen dennoch. Gegen 8 Uhr meldeten die Eritreer der Notrufzentrale, dass sie befürchteten, gewaltbereite Landsleute könnten ihre Versammlung stören. Die Einsatzkräfte reagierten mit einem Grossaufgebot: Über 100 Ordnungskräfte wurden alarmiert und vor Ort eingesetzt.
Mehrere Polizeipatrouillen, die in der Gegend von Cormanon in Villars-sur-Glâne eingesetzt wurden, kontrollierten präventiv Autos mit Kennzeichen aus verschiedenen Kantonen. Dabei wurden einige Fahrzeuge mit Insassen eritreischer Herkunft angehalten. In den Autos wurden gefährliche Gegenstände wie Stöcke oder Steine gefunden, die daraufhin von der Polizei beschlagnahmt wurden.
Rund 200 Gegner wollten letztlich die Versammlung stören – mit ähnlicher Bewaffnung: Einige trugen Stöcke, Axtstiele und Steine bei sich. Gemäss Polizei sei der Einsatz von Pfefferspray notwendig gewesen, um die Unruhestifter auf Distanz zu halten. Glücklicherweise habe es aber keine Verletzten gegeben, weder bei der Polizei, noch bei den an der Versammlung teilnehmenden Personen. Auch konnten kein Vandalismus bei umliegenden Gebäuden oder Infrastrukturen festgestellt werden.
Derartige Veranstaltungen oder eritreische «Kulturfestivals» sind häufig getarnte Propaganda-Anlässe. Dabei kam es in der Vergangenheit wiederholt zu Auseinandersetzungen mit Regime-Gegnern. (phh)
(https://pomona.ch/story/376497/demo-gegen-veranstaltung-200-gewaltbereite-eritreer-erfordern-grossaufgebot-der-polizei)
-> https://www.20min.ch/fr/story/villars-sur-glane-fr-desaccords-entre-erythreens-tensions-autour-dune-ecole-103045030
-> https://frapp.ch/fr/articles/stories/important-deploiement-policier-a-villars-sur-glane
-> https://frapp.ch/de/articles/stories/grosses-polizeiaufgebot-in-villars-sur-glane
-> https://www.bzbasel.ch/schweiz/villars-sur-glane-fr-demo-gegen-veranstaltung-200-gewaltbereite-eritreer-erfordern-grossaufgebot-der-polizei-ld.2581512
-> https://www.20min.ch/story/villars-sur-glane-fr-sie-kamen-mit-stoecken-eritreer-wollen-fest-von-landsleuten-stoeren-103045163
-> https://www.tagblatt.ch/schweiz/villars-sur-glane-fr-gewaltbereite-eritreer-eskalation-in-der-schweiz-verhindert-strassenschlachten-in-den-haag-ld.2581512
.-> https://www.watson.ch/schweiz/polizeirapport/490047496-freiburger-polizei-muss-eritreer-veranstaltung-schuetzen
-> https://www.nau.ch/ort/fribourg/villars-sur-glane-fr-storung-der-offentlichen-ordnung-66709909
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Spontane Kundgebung: Hunderte gedenken in Zürich Nawalnys
Der Verein «Russland der Zukunft» hat zur spontanen Kundgebung aufgerufen. Mit Lichtern, Plakaten und Reden gedachten rund 300 Menschen des verstorbenen russischen Politikers.
https://www.tagesanzeiger.ch/tod-von-nawalny-hunderte-gedenken-in-zuerich-alexei-nawalny-483434184657
Während der Fasnacht: Rund 50 Teilnehmende an Palästina-Demo in Bern
Am Samstag hat sich eine Gruppe von Demonstrierenden unter die Fasnächtlerinnen und Fasnächtler gemischt.
https://www.derbund.ch/palaestina-demo-in-bern-rund-50-teilnehmende-ziehen-waehrend-der-fasnacht-durch-die-stadt-622893827575
Mehr Bauern protestieren in der Region
Die Wut der Bäuerinnen und Bauern wird auch in der Schweiz immer grösser. In ganz Europa wie zum Beispiel in Frankreich protestieren die Landwirtinnen und Landwirte schon seit Monaten. Der Kampf für einen gerechten Lohn, fairere Preise, weniger Auflagen und für mehr Anerkennung ihrer Arbeit, hat mittlerweile auch die Region erreicht.
https://www.toponline.ch/tele-top/detail/news/mehr-bauern-protestieren-in-der-region-00232321/
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bernerzeitung.ch 16.02.2024
Bauerndemo im Kanton Bern: Rund 100 Traktoren machen den Anfang
Mit rund 20 Traktoren protestierten Landwirte bei Schüpbach gegen Regulierungen und tiefe Preise. Im ganzen Kanton sollen es gegen 100 gewesen sein.
Susanne Graf
«Was sie in der Ostschweiz können, können wir auch», sagte sich Manuel Wüthrich. Der Bowiler Landwirt hatte mitbekommen, dass die Gruppe «Bauern für euch» für Freitagabend zu einem Brückentag aufgerufen hatte. Zwischen 19.30 und 21 Uhr sollten Bauern Traktoren auf Brücken abstellen und so auf sich und ihre Anliegen aufmerksam machen.
Im Kanton Bern war eigentlich nichts dergleichen geplant. Aber Wüthrich suchte über die sozialen Medien zehn Landwirte. Sie sollten ihre Traktoren auf der Brücke postieren, die bei Schüpbach über die Umfahrungsstrasse zwischen Signau und Langnau führt.
Die Resonanz bei den Bauern habe ein Ausmass angenommen, das er nicht erwartet hätte, sagt Wüthrich. Gegen hundert Berufskollegen hätten sich spontan gemeldet. Doch er und seine Mitstreiter wollten weder den Verkehr behindern noch die Brücke selbst gefährden.
«Wir mussten die Leute aufteilen», sagt Wüthrich. So sollten sich die Bauern auch im Raum Burgdorf, zwischen Richigen und Grosshöchstetten, bei Tägertschi und etwa im Grauholz sichtbar machen.
In Schüpbach hatten sich bis um 20 Uhr 19 Traktoren im Land neben der Umfahrungsstrasse aufgereiht. Die Warnblinker leuchteten. Es war eine stumme Kundgebung. Adrian Müller aus Grosshöchstetten, einer der teilnehmenden Landwirte, sagte: «Wir wollen uns einfach sichtbar machen.»
Gegen die Bürokratie mit den starken Regulierungen wollen die Bauern protestieren. Gleichzeitig erhoffen sie sich von den Verarbeitern und Grossverteilern mehr Wertschätzung für ihre Produkte.
Nächsten Freitag geht es weiter
Was am Freitagabend stattfand, war erst der Anfang. Nächsten Freitagabend soll es in Thun zu einer Kundgebung kommen, von weiteren Mahnwachen an anderen Orten munkelten die Landwirte in Schüpbach.
«Es ist bedauerlich, dass sich der Schweizer Bauernverband erst bewegt, wenn die Basis aktiv wird», sagte Heinz Siegenthaler. Der Truber Landwirt ist Präsident des Bäuerlichen Zentrums Schweiz. Er kritisiert, dass sich der Bauernverband «mit lauen Stellungnahmen» zu den Bauernkundgebungen in Deutschland geäussert habe.
Am Donnerstagabend hatte der Berner Bauernverband noch mitgeteilt, dass ihm keine Aufrufe für Proteste am Freitagabend bekannt seien. Aber die Proteste aus Deutschland, Frankreich und Italien sind definitiv im Kanton Bern angekommen.
(https://www.bernerzeitung.ch/bauerndemo-im-kanton-bern-rund-100-traktoren-machen-den-anfang-922172822402)
+++JUSTIZ
Skandalisierung der Justiz – Mit einer Demo die Rechtsprechung ändern?
Die Öffentlichkeit versucht vermehrt, Einfluss auf Gerichtsurteile zu nehmen. Für die Unabhängigkeit der Justiz ist das eine problematische Entwicklung.
https://www.srf.ch/news/schweiz/skandalisierung-der-justiz-mit-einer-demo-die-rechtsprechung-aendern
+++RECHTSPOPULISMUS
Baselbieter SVP-Politikerin verwendet rechtsextremen Kampfbegriff
Auf X verwendet die Baselbieter SVP-Politikerin Sarah Regez den rechtsextremen Begriff Remigration als Hashtag. Das gibt auch parteiintern zu reden.
https://www.20min.ch/story/remigration-baselbieter-svp-politikerin-verwendet-rechtsextremen-kampfbegriff-103044059
-> https://www.baseljetzt.ch/svp-jungpolitikerin-sarah-regez-schlaegt-in-tweets-rechtsextreme-toene-an/186746
-> https://primenews.ch/articles/2024/02/erfolgreichste-jungpolitikerin-ich-befuerworte-remigration
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Aufwändige Staatsverweigerer
Grosse Zusatzbelastung für die Behörden durch wenige Personen
Auch in Stadt und Kanton St.Gallen geben Staatsverweigerer Probleme auf. Vor allem während der Covid-19-Pandemie und danach kam es zu vermehrten Einsätzen gegenüber Staatsverweigerern. Betroffen sind namentlich die Polizeikorps und das Konkursamt.
https://st-galler-nachrichten.ch/st-gallen/detail/aufwaendige-staatsverweigerer
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luzernerzeitung.ch 17.02.2024
Naturromantiker und Staatskritiker: Wo sind die Coronaskeptiker geblieben?
Die Gegner der Coronamassnahmen sind politisch gescheitert. Viele von ihnen haben sich vom Thema abgewandt. Aber nicht alle.
Simon Mathis
Während der Coronapandemie äusserten sie sich häufig und schrill: Politische Gruppierungen wie Mass-voll, die Freunde der Verfassung und die Freiheitstrychler zeigten in der Zentralschweiz regelmässig Präsenz. Nach dem Ende der Coronamassnahmen und nach mehreren deutlich verlorenen Volksabstimmungen wurde es naturgemäss stiller um die sogenannten Coronaskeptiker.
Was ist mit ihnen geschehen? «Die grosse Mehrheit hat die Bewegung hinter sich gelassen und sich wieder in die Gesellschaft integriert», sagt der Religionsexperte Georg Schmid, der für die evangelische Informationsstelle «Relinfo» Kirchen, Sekten und Religionen beobachtet. «Sie haben vergeben und vergessen – oder zumindest vergessen.» Einige der damaligen Massnahmengegner hingegen könnten nicht loslassen. Und verlören sich zunehmend in steileren Thesen und radikalerem Gedankengut.
Öko-Ästhetik und Naturheilkunde
Laut Schmid gibt es in der Schweiz zwei grosse Anlaufstellen für ehemalige Massnahmenkritiker: die Vereine «Graswurzle» und «Urig». Gründerin und Geschäftsleiterin von Graswurzle ist die Urnerin Prisca Würgler. Die Primarlehrerin wurde 2020 von der Schule Emmetten freigestellt, weil sie sich als Maskengegnerin positionierte. Der Verein Graswurzle sei zentralistisch und landesweit organisiert, während Urig einen eher heterogenen und föderalistischen Charakter habe, erläutert Georg Schmid. «Das macht Urig vor allem in der Innerschweiz beliebt, während Graswurzle in den restlichen Kantonen etablierter ist.»
Wer die Websites der Urig-Vereine in der Zentralschweiz betrachtet, dem fällt auf den ersten Blick nichts Erwähnenswertes auf: eine Wanderung hier, ein gemütlicher Filmabend da. Die meisten Websites kommen in einer grünen Öko-Ästhetik daher. Die Nähe zur Natur scheint ein wichtiger Grundpfeiler zu sein, ebenso die Nachbarschaftlichkeit: «Kontakt pflegen, einander unterstützen, Nachbarn kennenlernen.»
Allerdings gibt es auch Vorträge, die aufhorchen lassen – zum Beispiel bei Urig Stadt Luzern. Hier sprach vor kurzem ein Staatsverweigerer. Und im März hat der Verein eine Referentin geladen, die dem Ethnonationalismus der russischen Rodnover-Bewegung nahezustehen scheint und sich stark an der «weissen Kultur» orientiert. Vor allem Zweiteres findet Schmid «höchst problematisch». Etwas vergleichbar Radikales habe er bei Urig-Vereinen bislang nicht festgestellt.
Was wollen Gruppen wie Urig und Graswurzle überhaupt? Laut Georg Schmid verbindet sie die staatskritische Sehnsucht danach, eine alternative Gesellschaft aufzubauen. «Wie diese Gesellschaft aussehen sollte, da scheiden sich auch innerhalb der Gruppierungen die Geister», hält Schmid fest. Die «Urig»-Vereine orientierten sich offenbar vor allem am Fantasiebild der alten Eidgenossenschaft.
Staatsverweigerung? Naiv!
Viele ehemalige Massnahmengegner hätten das Wählen aufgegeben. Schmid: «Sie glauben gar nicht daran, dass der Staat gerettet werden kann.» Es gebe zwar Schnittstellen zur Staatsverweigerung. «Aber die meisten finden diese Haltung naiv. Aus pragmatischen Gründen zahlen sie nach wie vor Steuern und Bussen.»
Der erste «Urig»-Verein wurde mitten in der Pandemie gegründet: 2021 in Altdorf. Ein Jahr lang schossen die «Urig»-Ortsgruppen wie Pilze aus dem Boden. «Mittlerweile ist das Wachstum stark gedämpft, aber durchaus noch vorhanden», hält Schmid fest. Die Zahl der Lokalgruppen nehme weiterhin zu.
Dennoch: Die Mitgliederzahl der Urig-Vereine ist überschaubar. Laut offizieller Website bestehen im Kanton Luzern elf Ortsgruppen, die insgesamt höchstens hundert Mitglieder umfassen dürften. In Schwyz und Obwalden sind es etwa sechzig Mitglieder, in Uri und Nidwalden etwa dreissig und in Zug zirka zehn. Laut Schmid engagieren sich in einer Ortsgruppe ein bis mehrere Dutzend Personen. «Wenn die Gruppe grösser wird, spaltet sie sich auf.» Denn den Mitgliedern sei es wichtig, sich persönlich zu kennen. Der Rahmen müsse überschaubar und familiär bleiben.
Bei Infosekta, der Beratungsstelle für Fragen zu sektenhaften Gemeinschaften, Netzwerken und Verschwörungsglauben, stehen Vereine wie Urig und Graswurzle nicht im Vordergrund. «Die Anfragen zu diesen Gemeinschaften, die bei uns eingegangen sind, lassen sich an einer Hand abzählen», sagt Geschäftsführerin Susanne Schaaf auf Anfrage. Den betroffenen Angehörigen rate sie jeweils, zu differenzieren. «Man muss den Einzelfall anschauen», führt Schaaf aus. «In solchen Gruppierungen finden sich immer Hardliner – aber auch Naturromantiker, die einfach das Soziale und Bodenständige suchen.»
Graswurzle: «Klar unpolitische Bewegung»
Auf eine Anfrage unserer Zeitung antwortet der Verein Urig Stadt Luzern nicht. Wesentlich transparenter zeigt sich der Verein Graswurzle, der zu einem Gespräch mit unserer Zeitung bereit ist. «Wir sehen uns ganz klar als unpolitische Bewegung», sagt Graswurzle-Geschäftsleiterin Prisca Würgler. So spreche der Verein etwa keine Wahlempfehlungen aus. Das schliesse aber natürlich nicht aus, dass sich einzelne Mitglieder politisch engagieren.
Laut eigenen Angaben hat der Verein Graswurzle schweizweit rund 3500 Mitglieder. Auch Würgler betont, dass die Haltungen der Mitglieder sehr divers seien und sich nicht über einen Kamm scheren liessen. Würgler selbst war zu Beginn der Coronazeit politisch aktiv, wandte sich dann aber von diesem Weg ab. «Das war eine persönliche Entscheidung», sagt sie. «Ich empfand die Politik als spaltend und destruktiv.» Mittlerweile beschäftige sie sich kaum mehr mit dem aktuellen politischen Geschehen.
Allerdings ist die Coronapandemie bei einem Grossteil der Mitglieder noch immer präsent. «Viele beschäftigt bis heute, was während dieser Zeit passiert ist», sagt Roman Westermann vom Graswurzle-Vorstand. «Ich habe den Eindruck, dass noch Gesprächsbedarf besteht.» Ein Grossteil der «Graswurzler» sei massnahmenkritisch und ungeimpft. «Wir möchten aber nicht das Alte bekämpfen, sondern das Neue erschaffen. Es geht uns um Selbstbestimmung und Selbstermächtigung», bringt Würgler die Philosophie von Graswurzle auf den Punkt. «Wir wollen uns an der Natur und an vergessenem Wissen orientieren, stellen uns auch gegen die Anonymisierung des digitalen Zeitalters. In erster Linie wollen wir frei sein.»
Alternativen zur staatlichen Schule
Auch frei vom Staat? «Viele Mitglieder sind staatskritisch, einzelne auch staatsablehnend», sagt Roman Westermann vom Graswurzle-Vorstand. Der Verein habe Platz dafür, aber der Vorstand fördere dies nicht. Prisca Würgler sagt, sie lehne grundsätzlich ein Machtmonopol ab, dessen Methode «in letzter Konsequenz auf Gewalt» beruhe. Das sei aber ihre persönliche Meinung. Zentral für den Verein Graswurzle seien dessen Werte – «Toleranz, Friede und Freiheit» –, an denen die Mitwirkenden sich orientieren.
Westermann und Würgler stören sich daran, dass der Verein wegen einzelnen staatsablehnenden Haltungen manchmal als rechtsradikal abgestempelt werde. «Unser Durchschnittsalter ist fünfzig, unsere Mitglieder sind mehrheitlich Frauen, und etwa 70 Prozent ernähren sich vegetarisch», sagt Westermann. «Entspricht das dem Bild einer rechtsextremen Szene?»
Der Graswurzle-Vorstand wolle den Mitgliedern eine Plattform bieten, um eigene Ideen zu verwirklichen. Derzeit wolle man zum Beispiel das Tiny-House-Projekt einer Gruppe von Architekten zum Fliegen bringen. Zu den Projekten gehört auch der Aufbau von Alternativen zur staatlichen Volksschule. «Wir haben rund zwanzig Bildungsangebote, zum Beispiel Homeschooling, Natur- oder Rucksackschulen», sagt die ehemalige Lehrerin Würgler. Ob diese Angebote ergänzend oder alternativ zur Volksschule genutzt werden, liege in der Entscheidung der entsprechenden Familien.
Ist nur die Fassade harmlos?
Im Gespräch mit unserer Zeitung wirken Würgler und Westermann authentisch und offen. Georg Schmid von Relinfo hingegen betont, dass die unschuldige Fassade oft eine «Masche» sei. «Alle diese Vereine geben sich ganz, ganz harmlos. Mit dem problematischen Gedankengut kommt man erst in Berührung, wenn man wirklich mitmacht.» Soll heissen: Beim Wandern komme plötzlich eine Verschwörungstheorie zur Sprache. Vergleichbare Geschichten habe Schmid schon mehrfach von ehemaligen Mitgliedern gehört.
Gleichwohl rät Schmid, mit Personen in solchen Gruppierungen keine ellenlange Diskussionen loszutreten. Bei Differenzen reiche es, hin und wieder – aber klar und deutlich – kritische Statements zu platzieren. Wichtig sei auch, sich nicht von den Betroffenen abzuwenden, sondern sie weiterhin in der Familie oder im Freundeskreis willkommen zu heissen. Denn: «Die allermeisten wenden sich früher oder später von solchen Gemeinschaften ab. Dann nämlich, wenn sie merken, dass sie sie zum Glücklichsein nicht brauchen.» Roman Westermann von Graswurzle sieht das anders: «Ich bin überzeugt, dass immer mehr Menschen dazustossen werden.»
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/zentralschweiz-vegetarier-staatsverweigerer-naturromantiker-wo-sind-die-corona-skeptiker-geblieben-ld.2569843)
+++HISTORY
Gedenkort für Nazi-Opfer – Holocaust-Erinnerungsort in Bern: Cassis unterzeichnet Vereinbarung
In Bern soll ein Erinnerungsort für die Opfer des Nationalsozialismus entstehen. Bundesrat Ignazio Cassis hat am Freitag dazu mit der Stadt Bern eine Zusammenarbeitsvereinbarung unterzeichnet.
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/holocaust-erinnerungsort-in-bern-cassis-unterzeichnet-vereinbarung-156283204