Medienspiegel 28. Dezember 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++NEUENBURG
Gefährliche Droge boomt unter Asylsuchenden – sie landen beim Arzt
In Boudry NE konsumieren viele Asylsuchende den Medikamentencocktail «Madame Courage». Das hat Folgen – oft brauchen sie dann medizinische Behandlung.
https://www.nau.ch/news/schweiz/gefahrliche-droge-boomt-unter-asylsuchenden-sie-landen-beim-arzt-66677936


+++SCHWEIZ
Nach 40 Jahren in der Schweiz – Frau wird ausgeschafft, obwohl ihre Kinder und Enkelkinder in der Schweiz leben
Das Bundesgericht hat entschieden: Eine Frau mit türkischen Wurzeln, welche seit 1983 in der Schweiz lebt, muss das Land verlassen
https://beobachtungsstelle.ch/news/nach-40-jahren-in-der-schweiz-frau-wird-ausgeschafft-obwohl-ihre-kinder-und-enkelkinder-in-der-schweiz-leben/


+++EUROPA
Die EU einigt sich auf eine neue Asylreform: Kontroverse Verschärfungen auf Kosten der Menschenrechte
Am 20. Dezember 2023 hat sich die EU auf eine neue Asylreform geeinigt, die leider alles andere als ein Erfolg für die Rechte von geflüchteten Personen darstellt
https://beobachtungsstelle.ch/news/die-eu-einigt-sich-auf-eine-neue-asylreform-kontroverse-verschaerfungen-auf-kosten-der-menschenrechte/


+++KNAST
Berner Obergericht entscheidet: Untersuchungshäftling darf mit Tochter telefonieren
Einem Untersuchungshäftling wurden Videotelefonate mit seiner sechsjährigen Tochter verboten. Das Berner Obergericht hat diesen Entscheid nun korrigiert.
https://www.derbund.ch/berner-obergericht-entscheidet-untersuchungshaeftling-darf-mit-tochter-telefonieren-114914584330
-> https://ajour.ch/de/story/302838/uh%C3%A4ftling-darf-mit-6j%C3%A4hriger-tochter-telefonieren-gegen-den-willen-des-bieler-staatsanwalts
-> https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/untersuchungshaeftling-darf-mit-6-jaehriger-tochter-telefonieren-155858702


Beratungsstelle für Angehörige von Gefangenen ist gefragt
Seit Frühling 2023 können sich Angehörige von Gefangenen bei einer neuen Stelle beraten lassen. Das Pilotprojekt der katholischen und reformierten Kirche Zürich erfülle ein grosses Bedürfnis, heisst es auf Anfrage des «Regionaljournals». Wie es nach der Pilotphase weitergeht, ist noch offen.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/beratungsstelle-fuer-angehoerige-von-gefangenen-ist-gefragt?id=12512307


Gefängnis Zürich-West: Leiter muss nach zwei Jahren bereits gehen
Er baute das Gefängnis Zürich-West mit auf und geht nun bereits nach zwei Jahren. Die skandalgeplagte JVA sucht nun Ersatz für den Leiter Marc Eiermann.
https://www.nau.ch/news/schweiz/gefangnis-zurich-west-leiter-muss-nach-zwei-jahren-bereits-gehen-66678190


+++RECHTSEXTREMISMUS
Eschenbach LU
Hakenkreuze und «FCL»-Schriftzüge auf Spielplatz
Zwischen dem 23. Dezember, 18 Uhr und dem 24. Dezember, 8.30 Uhr haben Unbekannte in Eschenbach Hakenkreuze und diverse FCL-Schriftzüge auf Teile eines Kinderspielplatzes gesprayt.
https://www.pilatustoday.ch/zentralschweiz/luzern/hakenkreuze-und-fcl-schriftzuege-auf-spielplatz-155861784



tagblatt.ch 28.12.2023

Fremdenfeindliches Banner beim St.Galler Hauptbahnhof bleibt ohne Folgen: Die Staatsanwaltschaft hat keine Hinweise auf die Täter

Die Guerilla-Aktion sorgte für Empörung: Mitte Januar verbreiteten Rechtsextreme in St.Gallen ausländerfeindliche Flyer und hissten ein grosses Transparent vor der binären Uhr am Bahnhof. Ein knappes Jahr später wird klar: Die Täter kommen straffrei davon.

Sandro Büchler

Es geschieht am 14. Januar 2023. Es ist mild, und die Stadt St.Gallen ist an diesem Samstagnachmittag belebt. Viele Menschen schieben sich vom Bahnhof in die Innenstadt, kommen vom Einkaufen oder einem Spaziergang zurück.

Kurz nach 15 Uhr steigen vier vermummte Männer beim Hauptbahnhof auf das Dach des Glaskubus. Sie balancieren zur Kante zum Bahnhofplatz hin und befestigen dort ein Transparent. Um exakt 15.16 Uhr entrollen sie das meterhohe Banner über der binären Uhr. Die Botschaft auf dem Transparent konstruiert einen Zusammenhang zwischen Kriminalität und Migration. Es ist ausländerfeindlich.

Gleichzeitig verteilen im und um den Hauptbahnhof mindestens sechs Mitglieder der rechtsextremen Organisation «Junge Tat» Flyer mit fremdenfeindlicher Hetze. Auf dem Busperron in der Mitte des Bahnhofsplatzes tauchen links-alternative Störer auf. Es kommt zu einem Handgemenge mit den Rechtsextremen. Nach dem Intermezzo verteilen die Aktivistinnen und Aktivisten weiter Flyer. Eine Migrantin, die mit ihrem Kind unterwegs ist und von der Gruppe rassistisch beleidigt wird, leistet verbal erbosten Widerstand.

Um 15.33 Uhr gehen die sechs Aktivisten – es sind fünf Männer und eine Frau – gemächlich durch die Bahnhofsunterführung und machen sich via Gleis 4 und 5 aus dem Staub. Erst danach, gegen 15.36 Uhr, trifft die von mehreren Personen gerufene Polizei beim Bahnhof ein. Das «St.Galler Tagblatt» hat die Ereignisse anhand von zugespieltem Videomaterial, Augenzeugenberichten und eigenen Beobachtungen rekonstruiert.

Nachrichtendienst beobachtet die rechtsextreme Gruppierung

Zwei Beteiligte, es sind die beiden Köpfe der «Jungen Tat», sind wenige Tage nach der Guerilla-Aktion in einem von ihnen im Internet veröffentlichten, professionell produzierten Video zu sehen, in dem sie sich mit der Aktion brüsten. Auch eine Drohne kam für die Videoaufnahmen zum Einsatz. Beim einen der beiden Männer, die im Video ihr Gesicht zeigen, handelt es sich um den 23-Jährigen, der wenige Monate nach der Aktion in St.Gallen unrühmlich ins nationale Scheinwerferlicht rücken sollte.

Im Herbst machte der «SonntagsBlick» publik, dass der junge Mann als Wahlhelfer der Winterthurer SVP-Präsidentin gewirkt und dabei ihre Online- und Social-Media-Kampagne geleitet hatte. Auch war der 23-Jährige – der aufgrund von «Heil-Hitler»-Rufen in einer Onlinevorlesung an der Zürcher Hochschule der Künste bereits wegen Rassendiskriminierung verurteilt worden war – Mitglied der Jungen SVP Thurgau. Für die Jungpartei hatte er Werbeplakate für die Nationalratswahlen 2023 entworfen. Nach Bekanntwerden seiner rechtsextremen Verbindungen wurde der Mann aus der Partei ausgeschlossen, wie die «Thurgauer Zeitung» berichtete.

Die «Junge Tat» steht unter Beobachtung des Nachrichtendiensts des Bundes. Gemäss dessen Einschätzung verfüge die Gruppe über «ein erhöhtes Gewaltpotenzial». Im aktuellen Lagebericht des Nachrichtendiensts heisst es, sie habe bei einer rechtsextremen Tat 2022 Sachschaden verursacht. «Zudem interessiert sich gerade die Junge Tat für aktuelle, öffentlichkeitswirksame Themen, um die sich ihre Aktionen drehen und die sie für ihren öffentlichen Auftritt instrumentalisiert.»

«Täterschaft unbekannt»

Eine rechtsextreme Plakataktion mitten in St.Gallen: Da müsste man meinen, dass die Täter schnell gefasst werden, zumal die Drahtzieher ihr Gesicht im Video offen zeigten und so mit wenigen Mausklicks ihre Klarnamen zu finden sind.

Es seien zwei Personen ermittelt worden, welche ein Video der Aktion gedreht und im Internet verbreitet hatten, sagt Leo-Philippe Menzel, Pressesprecher der St.Galler Staatsanwaltschaft. «Allerdings konnte kein Straftatbestand nachgewiesen werden, weshalb gegen die beiden Personen Nichtanhandnahmeverfügungen erlassen wurden.» Sprich, die Täter kommen straffrei davon. Die Verfügungen seien mittlerweile rechtskräftig, sagt der Sprecher.

Dies erstaunt, denn die Stadtpolizei St.Gallen bestätigt gegenüber dem «Tagblatt», dass damals mehrere Anzeigen gegen Unbekannt erstattet worden waren: Wegen unerlaubtem Plakatieren, Verletzung von Vorschriften in Bezug auf das Luftfahrtgesetz durch den Einsatz einer Drohne sowie wegen Verstoss gegen das Vermummungsverbot.

Auch die vier Vermummten, die unbemerkt auf das Dach der Bahnhofshalle gestiegen waren, entkommen einer Strafverfolgung. «Die Täterschaft, welche auf den Glaskubus mit der binären Uhr geklettert ist, blieb bisher unbekannt», sagt Menzel. Deshalb seien die Strafverfahren wegen Hausfriedensbruchs sistiert worden. «Sollten neue Erkenntnisse zur Täterschaft eingehen, würde das Verfahren wieder anhand genommen werden.» Bei einer ähnlichen Guerilla-Aktion der rechtsextremen Gruppierung auf dem Basler Hauptbahnhof im November 2022 waren die Täter von der Polizei verhaftet worden, als sie vom Dach heruntergestiegen waren.

Weitere Angaben zur Tat und zum Ablauf der Tat im Januar macht die St.Galler Staatsanwaltschaft mit Verweis auf das abgeschlossene Verfahren nicht. So bleibt offen, ob die Strafverfolgung herausgefunden hat, wie die vermummten Täter auf das Bahnhofsdach kamen. Auch ist unklar, ob Fingerabdrücke sichergestellt wurden und welche Erkenntnisse Videoüberwachungsbilder bei den Ermittlungen lieferten.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/weder-bussen-noch-strafen-fremdenfeindliches-banner-beim-stgaller-hauptbahnhof-bleibt-ungesuehnt-die-staatsanwaltschaft-hat-keine-hinweise-auf-die-taeter-ld.2560414)



tagblatt.ch 28.12.2023

Doppelt bedenklich: Die Hintermänner der rechtsextremen Guerilla-Aktion beim St.Galler Hauptbahnhof bleiben straflos

Die Polizei reagiert im Januar zu langsam und die Staatsanwaltschaft kann die Täter des spektakulären Vorfalls auf dem Dach des Bahnhofs nicht ermitteln. Das offenbart Sicherheitslücken. Behörden und Strafverfolgung sehen sich mit unangenehmen Fragen konfrontiert.

Sandro Büchler

Vier vermummte Männer steigen auf das Dach des St.Galler Hauptbahnhofs, entrollen ein fremdenfeindliches Banner, klettern wieder hinunter – und entkommen unerkannt. Und das an einem belebten Samstagnachmittag, im Herzen der Stadt. Es dauert geschlagene 36 Minuten, bis die Polizei vor Ort ist. Da sind die Täter schon längst über alle Berge. 17 Minuten lang verteilen sechs Neonazis währenddessen ungestört ihre geschmacklosen Botschaften. Der Polizei entkommen auch sie.

Das ist blamabel. Was, wenn die Täter auf dem Dach eine weitaus gravierendere Tat im Schilde geführt hätten? Man mag es sich nicht ausmalen, was hätte passieren können. Es entsteht zudem der Eindruck, die Polizei habe behäbig auf den Notruf reagiert. War die Sicherheit der Bevölkerung gewährleistet? Wohl nicht wenige werden dies mit Nein beantworten. Die Guerilla-Aktion hat Sicherheitslücken aufgezeigt.

Dass es ein paar gerissene Kletterer schaffen, unbemerkt aufs Bahnhofsdach und wieder hinunterzusteigen, ist das eine. Das andere aber ist, dass es der Strafverfolgung offenbar trotz Videoüberwachung, Zeugen und Video der Beteiligten selbst nicht gelungen ist, die Täterinnen und Täter zu überführen. Mindestens zehn Personen waren an der Aktion beteiligt, ob auf dem Dach, beim Steuern der Drohne oder beim Verteilen der rechtsextremen Flyer. Dass die Behörden auch nicht herausgefunden haben, wer sie waren, ist doppelt bedenklich.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/kommentar-doppelt-bedenklich-die-hintermaenner-der-rechtsextremen-guerilla-aktion-beim-stgaller-hauptbahnhof-bleiben-straflos-ld.2560434)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Pandemiepakt: «Gegen Zwang» – Bürgerliche wollen den WHO-Vertrag aushebeln
Politiker befürchten, dass die Schweiz durch den Pandemiepakt der WHO Massnahmen nicht mehr eigenständig einführen kann. Ein Epidemiologe warnt dagegen vor einem Schweizer Alleingang.
https://www.20min.ch/story/who-pandemiepakt-buergerliche-wollen-schweizer-sonderregeln-203058407176?version=1703757542353&utm_source=twitter&utm_medium=social


+++HISTORY
Gambischer Ex-Innenminister vor Gericht in Bellinzona
Am 8. Januar beginnt vor dem Bundesstrafgericht in Bellinzona der Prozess gegen Ousman Sonko, dem ehemaligen Innenminister des westafrikanischen Landes Gambia. Er ist angeklagt wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dass Sonko sich in der Schweiz verantworten muss, hat mit dem sogenannten Weltrechtsprinzip zu tun.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/gambischer-ex-innenminister-vor-gericht-in-bellinzona?partId=12512529



beobachter.ch 28.12.2023

Adoptionen aus Sri Lanka: «Man konnte auf Bestellung ein Kind ‹kaufen›»

Pedro Sutter sollte fragwürdige Adoptionen aus Sri Lanka durchführen. Doch nach einer schockierenden Reise weigerte er sich.

Von  Otto Hostettler

Herr Sutter, Sie übernahmen 1984 die Adoptionsvermittlung von Alice Honegger. Wie kamen Sie dazu?

Ich war damals auf der Suche nach einer neuen Tätigkeit, und die Stelle war ausgeschrieben. Ich hatte zwar keine Erfahrung mit Kindern, und das Adoptionswesen war komplett neu für mich. Aber ich war an fremden Kulturen interessiert. Als ausgebildeter Sozialarbeiter brachte ich die nötigen Qualifikationen mit, damit der Verein vom Kanton die Bewilligung für die Vermittlung von Adoptivkindern erhielt.

Nach wenigen Monaten kündigten Sie die Stelle schon wieder. Warum?

Kurz nach dem Beginn meiner Tätigkeit unternahm ich eine Reise nach Sri Lanka. Da wurde für mich schnell klar, dass diese Adoptionen illegal und unethisch waren. Ich konnte nicht dahinterstehen und wollte nicht länger mitmachen.

Wie liefen diese Adoptionen ab?

Ich habe in Sri Lanka verschiedene Institutionen und involvierte Personen besucht. Für Alice Honegger war eine Anwältin entscheidend, die vor Ort alles organisierte, was für die Adoption nötig war. Also Geburtsscheine, Bewilligungen, Reisedokumente et cetera. Ehepaare aus der Schweiz kauften für 1000 Dollar ein sogenanntes Package. In diesem Preis war alles inbegriffen ausser der Flugreise.

Was war für Sie problematisch bei diesen Adoptionsvermittlungen?

Es war ganz klar eine kommerzielle Vermittlung. Bei meinen Gesprächen dort realisierte ich, dass es in Sri Lanka nur ganz wenige Kinder gab, die für eine Adoption ins Ausland in Frage kamen. Aber die besagte Anwältin vermittelte jeden Monat etwa 25 Kinder ins Ausland. Pro Jahr waren es etwa 270. Für jedes Kind kassierte sie 1000 Dollar. Sie wurde durch die Vermittlung von Babys reich. Diese Adoptionsvermittlung war ein Geschäft, man konnte auf Bestellung ein Kind «kaufen».

Woher kamen die Babys?

Es war nie ganz klar, woher sie kamen und unter welchen Umständen sie zur Adoption weggegeben wurden. Oft waren es Kinder von ledigen Müttern, die arm waren und durch die Adoption etwas Geld erhielten. Es wurden aber auch Kinder «bestellt», ausgetragen und verkauft. Es gab auch Frauen, die den neuen Eltern ein Kind übergaben, aber gar nicht die leiblichen Mütter waren. Bei staatlichen Stellen und in Kinderheimen sagte man mir, es sei gar nicht möglich, dass so viele Kinder aus Sri Lanka auf legalem Weg zur Adoption in den Westen gelangen konnten. Zudem gab es in Sri Lanka schon damals staatliche Angebote für ledige Mütter, damit sie ihre Kinder nicht zur Adoption freigeben mussten.

Damals verfassten Sie einen Bericht über Ihre Reise und erwähnten, dass die Mütter ihre Kinder einem Gericht übergeben mussten.

Ja, ich war an einer solchen Gerichtsverhandlung. Da war auf der einen Seite eine Gruppe von Müttern, die ihre Babys vor den Augen des Gerichts den neuen Eltern übergeben mussten. Das waren erschütternde Momente.

Warum mussten die Mütter ihre Babys dem Gericht übergeben?

Das Gericht sorgte angeblich dafür, dass alles korrekt ablief. Aber es war offensichtlich, dass die Anwältin vor Ort die Behörden bestochen hatte. In der Zeit, in der die Mütter auf den Gerichtstermin warten mussten, hatten sie von der Anwältin eine Unterkunft zugeteilt erhalten. Ich sah eine solche Unterkunft, in der sechs Mütter mit ihren Babys untergebracht waren. Das war ein ganz einfaches Zimmer, nur ein paar Quadratmeter gross und mit Matratzen am Boden. Dazu minimale ärztliche Betreuung. Da lebten diese Mütter etwa drei bis vier Wochen. Bis zur Übergabe der Kinder.

Wie lief das Prozedere für die Adoptiveltern aus der Schweiz ab?

Die Ehepaare kamen aus der Schweiz nach Sri Lanka. Etwa eine Woche nach der Ankunft konnten sie das Kind kurz besuchen, also quasi besichtigen. Anschliessend konnten sie eine Woche durchs Land reisen, Ferien machen. In dieser Zeit organisierte Alice Honeggers Anwältin vor Ort alles Nötige, auch die Reisedokumente. Dann mussten die neuen Eltern zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder in der Hauptstadt Colombo sein für die Übergabe der Babys vor Gericht.

Wer war für dieses «Geschäft» mit Babys verantwortlich?

Damals kontaktierten viele Paare unsere Vermittlungsstelle in St. Gallen, weil sie unbedingt ein Kind wollten. Aber in den 1980er-Jahren gab es in der Schweiz fast keine Kinder für eine Adoption. Die Paare hätten lange warten müssen, womöglich mehrere Jahre. So wünschten sie sich, ein Kind aus dem Ausland zu adoptieren. Meistens klappte es innerhalb weniger Monate.

Wie haben Sie Alice Honegger erlebt? Arbeitete sie uneigennützig?

Sie war überzeugt, sie mache alles für das Wohl des Kindes. Aber im Nachhinein gesehen war sie eine knallharte Geschäftsfrau.

Wie war es, mit ihr zu arbeiten?

Ich habe nicht direkt mit ihr zusammengearbeitet. Ich wurde damals angestellt, um die Vermittlungsstelle weiterzuführen. In ihrem Haus, wo sie ein Büro hatte, war ich nur zweimal. Das war bei der Übergabe von Dokumenten. Dort herrschte eine düstere, beklemmende Atmosphäre. Diese ersten Kontakte mit ihr waren für mich nicht positiv. Überall waren Akten, Regale voller Ordner bis unter das Dach. Ich denke, sie war ein Messie.

Als Sie aus Sri Lanka zurückgekehrt waren, verfassten Sie einen Bericht. Was war Ihr Fazit?

Mein Fazit war, dass ich so nicht weitermachen wollte. Ich lehnte diese Art von privater, also wirtschaftlicher Adoptionsvermittlung ab. Dazu machte ich Vorschläge, wie wir über staatliche Stellen Kinder vermitteln könnten. Doch dadurch wären viel weniger Kinder für eine Adoption in Frage gekommen, und es hätte für die Adoptiveltern viel länger gedauert, bis sie ein Kind hätten adoptieren können. Ich schlug vor, dass wir die Familien hier in der Schweiz besser nachbetreuen. Denn es gab in den neuen Familien auch Probleme. Etliche dieser Kinder konnten nicht bei ihren Adoptiveltern bleiben und mussten fremdplatziert werden, etwa im Pestalozzidorf Trogen.

Wie reagierte der Vorstand des Vereins auf Ihre Vorschläge?

Der Vorstand ging nicht darauf ein und argumentierte, man habe keine Einnahmen mehr, wenn man auf die Vermittlung von Babys aus dem Ausland verzichten würde.

Aus Dokumenten von Betroffenen wird klar, dass Ehepaare für die Adoptionsvermittlung bezahlen mussten. Rechnungen sind aber in den Akten nicht enthalten.

Es ist offensichtlich, dass Vermittlungsgebühren gezahlt wurden. Ich musste selbst solche Rechnungen stellen. Der Verein lebte von diesen Vermittlungsgebühren.

Warum wollte der Vorstand diese fragwürdigen Adoptionsvermittlungen nicht stoppen?

Weil alle im Vorstand betroffen waren. Alle hatten mit Hilfe von Alice Honegger Kinder adoptiert. Ich habe meinen Bericht dem Vorstand vorgelegt und hatte dann ein Gespräch mit dem Zuständigen des kantonalen Vormundschaftsamts. Da habe ich klargemacht, dass ich meine Tätigkeit für den Verein beende, wenn sich nichts ändere. Er versicherte mir, dass der Verein in diesem Fall keine Bewilligung mehr erhalten werde. Im Nachhinein betrachtet, war ich damals naiv, da ich davon ausging, dass der Bericht an die kantonalen Aufsichtsstellen weitergeleitet wird.

Mit Ihrem Rückzug ermöglichten Sie, dass Alice Honegger ihre eigene Nachfolge antreten konnte und noch jahrelang tätig war.

Als ich das Jahre später erfuhr, war das sehr frustrierend für mich.

Mitarbeit: Alessia Cerantola, Leslie Knott
(https://www.beobachter.ch/magazin/gesellschaft/man-konnte-auf-bestellung-ein-kind-kaufen-667246)



beobachter.ch 28.12.2023

Zweifelhafte Adoptionen: Auch Hilfswerke waren verwickelt

Adoptionen aus dem Ausland: Hilfswerke wie Terre des Hommes und private Vereine brachten Kinder unter fragwürdigen Umständen in die Schweiz.

Von  Otto Hostettler

Die Ostschweizerin Alice Honegger war fast 50 Jahre lang als Adoptionsvermittlerin tätig. In den 1950er- und 1960er-Jahren vermittelte sie vor allem Babys aus der Schweiz in alle Welt. Später brachte sie fast 1000 Babys aus Sri Lanka in die Schweiz.

Doch Honegger war nicht die Einzige, die eine fragwürdige Adoptionsvermittlung betrieb. Gemäss einem Bericht der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) im Auftrag des Bundesrats kamen auch Kinder aus Bangladesch, Brasilien, Chile, Guatemala, Indien, Kolumbien, Korea, dem Libanon, Peru und Rumänien illegal in die Schweiz. Der Bundesrat geht inzwischen davon aus, dass zwischen 1970 und 2000 «mehrere Tausend Adoptivkinder von Unregelmässigkeiten betroffen sein könnten».

Ein zentraler Akteur war das Hilfswerk Terre des Hommes. Laut ZHAW-Bericht vermittelte Terre des Hommes vor allem Babys aus Bangladesch, Brasilien, Indien, Kolumbien und Peru. Während der gesamten Tätigkeit von 1960 bis 2016 habe man «sorgfältig lokale Institutionen und Waisenhäuser für Partnerschaften ausgewählt, die sowohl den lokalen als auch den schweizerischen Standards entsprachen», betont Sprecherin Anna Bertschy. «Terre des Hommes distanziert sich von allen irregulären und illegalen Aktivitäten krimineller Gruppen, die unseren Namen missbrauchten.» Heute sehe es das Hilfswerk als seine Pflicht, «alle von Terre des Hommes zur Adoption vermittelten Personen bei der Suche nach ihrer Herkunft zu unterstützen».

Die Ordensgemeinschaft von Mutter Teresa vermittelte ebenfalls

Die Tessiner Sektion von Caritas bestätigt, zwischen den 1970er-Jahren und 2010 in Adoptionen aus Kolumbien involviert gewesen zu sein. Dabei habe Caritas vor allem potenzielle Adoptiveltern auf ihre Eignung hin geprüft und Unterlagen über die Herkunft der Kinder «validiert». Über Adoptionen entschieden habe schliesslich die kantonale Behörde.

In der Adoptionsvermittlung aktiv war auch Pro Kind Adopt Inform (in Brasilien und Chile). Aus dieser Organisation ging später der Verein Bras Kind hervor, der sich auf Brasilien konzentrierte. Die Ordensgemeinschaft von Mutter Teresa («Missionarinnen der Nächstenliebe») war in Indien involviert, ebenso der Verein Social Activities Association (Zürich) sowie die Westschweizer Organisation Divali Adoption Service. Das Mütter- und Pflegekinderhilfswerk Bern (Stiftung MPB) war in Kolumbien tätig, das Bureau Genevois d’Adoption (BGA) vermittelte Kinder aus Kolumbien und Peru; der Service d’Adoption du Mouvement Enfance et Foyers Kinder aus dem Libanon.

Die meisten dieser Organisationen existieren heute nicht mehr oder haben sich neu ausgerichtet. Der Verein Bras Kind wurde im Handelsregister bereits 2009 gelöscht, «Zämeläbe» (Nachfolgeorganisation der Stiftung MPB) im Jahr 2011. Das «Bureau Genevois d’Adoption» betont auf Anfrage, man begrüsse die Bemühungen, Unregelmässigkeiten bei Adoptionsverfahren aufzudecken. Für das Genfer Vermittlungsbüro sei «das Wohl des Kinds immer ein zentraler Punkt». Ein Adoptionsverfahren müsse «korrekt, gesetzeskonform und transparent» ablaufen. Die Stiftung «Zämeläbe» und die «Social Activities Association» liessen eine Anfrage des Beobachters unbeantwortet.



Hilfe für Betroffene

Personen in der Schweiz, die aus Sri Lanka adoptiert wurden und sich mit ihrer Herkunft auseinandersetzen möchten, finden Unterstützung und Beratung beim Verein Back to the Roots: info@backtotheroots.net
-> https://backtotheroots.net/
Eine Liste von kantonalen und privaten Anlaufstellen sowie Suchdiensten findet sich hier.
-> https://www.bj.admin.ch/bj/de/home/gesellschaft/fszm/anlaufstellen.html
(https://www.beobachter.ch/magazin/gesellschaft/auch-hilfswerke-waren-verwickelt-667416)



beobachter.ch 28.12.2023

Zwangsadoptiert: Mutter und Tochter finden nach Jahrzehnten zusammen

Elisabeth Meister wurde mit 17 Mutter – man drängte sie, ihre kleine Tochter zur Adoption freizugeben. Wie es den beiden nach langer Trennung gelang, eine Beziehung aufzubauen.

Von  Yves Demuth

Elisabeth Meister und Michelle Dreifuss wurden 1969 durch eine Zwangsadoption getrennt. Mutter und Tochter wussten jahrzehntelang praktisch nichts voneinander. Entgegen aller Wahrscheinlichkeit fanden sie sich wieder. Und begannen eine Mutter-Tochter-Beziehung mit Seltenheitswert.

Geprägt hat das Schicksal der beiden Frauen die Schweiz der 1960er- und 1970er-Jahre, als die sexuelle Revolution auf einen repressiven Sozialstaat traf, der für ledige Mütter nichts übrighatte.

«Wir sind amputierte Mütter»

«Uns Schweizer Frauen, die das Kind unter Druck zur Adoption freigegeben haben, gibt es in der Öffentlichkeit nicht», sagt Elisabeth Meister. Die betroffenen Mütter würden bis heute schweigen. «Viele denken doch: Eine Mutter, die ihr Kind weggibt, kann kein guter Mensch sein.» Dabei seien sie doch amputierte Mütter. «Wir haben nichts zu verstecken», sagt sie. «Bei Michelle und mir ist es letztendlich gut ausgegangen. Zwar mit Kollateralschaden, aber gut», sagt Meister. Sie habe heute keine Schuldgefühle mehr, aber Scham. Seit Elisabeth Meister ihre Lebensgeschichte aufgeschrieben hat und ihrer Tochter zum Lesen gab, gibt es keine Tabus mehr zwischen den beiden. Keine Selbstverständlichkeit.

Elisabeth Meister betrat die Stadt Zürich nach der Zwangsadoption über zehn Jahre lang nicht mehr, so tief sass der Schock. Mit ihren Eltern sprach sie nie mehr über ihr erstes Kind Michelle, das sie mit 17 von einem indischstämmigen Musiker aus England bekommen hat. «Ein uneheliches Baby durfte es nicht geben. Man musste es wegzaubern! Durch Abtreibung oder Adoption. Das war zu dieser Zeit moralischer, als es in die eigene Familie aufzunehmen.» Seit ihrer Heirat heisst Meister anders, in dieser Geschichte möchte sie aber wieder ihren Ledignamen tragen.

Elisabeth Meister wuchs in einem Zürcher Aussenquartier auf. In ihrem Genossenschafts-Wohnblock hörte sie die Nachbarn durch die dünnen Wände streiten. Nach dem Waschtag musste in der Waschküche jeder Fleck vom Chromstahlbecken geschrubbt werden. Am Samstag polierten die Väter vor den Garagenplätzen ihren Opel Kapitän oder Ford Taunus. «Nicht aus der Reihe tanzen, das war hier oberstes Gesetz», schreibt sie über ihre Jugend.

Aufgeklärt wurden sie nicht

Es gab «Hits à Gogo»- und «Lassie»-Sendungen am Fernsehen, Gummitwist und Rollschuhrennen vor dem Haus sowie Familienabendessen in der schmalen Küche. «Heute denke ich gern an diese Zeit. Noch war alles in Ordnung. Ich war so wie alle. Ich war geborgen in der Normalität.»

Im dunklen Veloraum sahen sich Elisabeth und ihre Freundinnen heimlich ein Heft über Babypflege an und dachten sich aus, wie Kinder gezeugt werden könnten. Denn aufgeklärt wurden sie nicht. Fragen zum Kinderkriegen blieben unbeantwortet – selbst nach der ersten Regelblutung.

Ein Musiker flirtet sie an

An einem Abend im Februar 1969 fuhr Elisabeth Meister zum Schulball. Sie war bald 17, machte eine KV-Lehre in einer Anwaltskanzlei. Im Ballsaal tummelten sich Jungs mit Krawatte und Mädchen in Rockkleidern. Elisabeth und ihrer Freundin Hélène war das zu öde. Wenn sie abends schon mal wegdurften, wollten sie etwas erleben. 1969 war das Jahr der Mondlandung, des Woodstock-Festivals, des jugendlichen Aufbruchs.

Die beiden Frauen gingen in einen der angesagtesten Clubs, ins «Blow Up» im Zürcher Niederdorf. Ein Musiker der Band, die spielte, flirtete Meister an, überbrachte ihr eine Rose und überredete sie zu einem Drink nach dem Konzert. Er müsse vorher aber noch etwas in seinem Hotel holen, sagte er und fragte: «Do you come with me?» – «Ich nickte glückselig. Später, auf dem Bett des Hotelzimmers, setzte mein Gehirn aus. Ich liess es über mich ergehen. Ist das Verführung einer Minderjährigen?», fragt Meister.

Der Vater ohrfeigt sie

Auf dem Heimweg erzählte sie ihrer Freundin alles. Sie kicherten, waren euphorisch. «Aber dass man davon schwanger werden konnte, dieser Gedanke kam uns nicht.» Nach fünf Monaten ohne Regel diagnostizierte der Arzt eine Schwangerschaft. «Meine Mutter bat ihn, es mir wegzumachen. Doch er weigerte sich.» Der Vater ohrfeigte die Tochter und sprach nicht mehr mit ihr.

Elisabeth Meister war ihren Eltern lange böse deswegen. Doch heute hat sie ihnen vergeben. «Meine Mutter war selbst ein uneheliches Kind. Für sie war meine Schwangerschaft das Schlimmste, das man sich vorstellen konnte. Fast wie Mord – nur das Gegenteil.» Der Schein und die Nachbarn seien wichtiger gewesen als das Leben eines Kindes.

Die junge Schwangere wird unter Druck gesetzt

Nach einem Termin beim Jugendamt wurde Meister zu einer Frau ins ferne Birmensdorf ZH geschickt. Damit die Nachbarn nichts von ihrer Schwangerschaft mitbekommen. Eine Beamtin drängte sie zur Adoption. Wenn sie das Kind freigebe, erfahre niemand von der Schwangerschaft, versprach sie. Doch Meister wollte nicht. Einen Monat vor der Geburt zitierte die Beamtin Meister zu einem Spaziergang in den Park des Landesmuseums. Nach dem Treffen tippte das Fräulein eine Aktennotiz, die heute im Stadtarchiv liegt: «Die Tochter ist erst 17-jährig; wie kann sie wissen, wie sich der Alltag einer ausserehelichen Mutter gestaltet.» Sie schlug eine Kindeswegnahme gleich nach der Geburt vor. Nach zehn Wochen könne sie entscheiden, ob sie das Kind nochmals sehen wolle. Es gäbe bereits einen Platz für das Mädchen bei einer wunderbaren Adoptivfamilie. Doch Meister wollte immer noch nicht. Die Beamtin habe es wohl gut gemeint, sagt sie heute.

Nach der Geburt in der Frauenklinik wurde Baby Michelle ohne Kommentar in die Säuglingsabteilung geschoben und die Mutter ins Fehlgeburten-Zimmer. «Alle Frauen weinten. Ich auch.» Die Frau im Nachbarbett sagte zu ihr: «Gib das Kind nicht weg!» Es war das erste Mal, dass Meister das hörte. So beschreibt sie es in ihren Aufzeichnungen. Meister sorgte dafür, dass ihre Tochter zu ihrer Logisgeberin nach Birmensdorf ZH kam, die auf Kleinkinderpflege spezialisiert war. Der Vater des Kindes, ein Brite auf Musiktournee, wurde in Abwesenheit zu Unterhaltszahlungen verurteilt.

Vom Kanton Zürich erhielt die junge Mutter das Formular «Mitteilung der Geburt eines ausserehelichen Kindes». Damit wurde das «uneheliche» Baby automatisch der Amtsvormundschaft gemeldet, die das Kind bevormundete. Wie immer in solchen Fällen.

Uneheliche Kinder starben doppelt so oft

In der Schweiz kamen in jenem Jahr 3871 Kinder «ausserehelich» zur Welt, davon 320 in der Stadt Zürich. Wie wenig willkommen sie in der Gesellschaft waren, belegt das Statistische Jahrbuch der Schweiz: 1969 kamen doppelt so viele «uneheliche» Kinder tot zur Welt wie «eheliche» Kinder. «Illegitime» Kinder waren so unerwünscht, dass offenbar oft versucht wurde, sie wegzumachen.

Meister blieb mit ihrer Michelle bei der Frau in Birmensdorf ZH. Sie arbeitete in der Fabrik von Alusuisse in Zürich-Altstetten, um die Betreuung der kleinen Tochter und die Unterkunft zu bezahlen. Doch nach 20 Monaten hielt sie den Druck des Amtsvormunds und anderer nicht mehr aus und gab Michelle zu Pflegeeltern. Später gab sie sie diesen Eltern zur Adoption frei. «Aus freiem Willen», wie Meister unterschreiben musste. «Das stimmte natürlich überhaupt nicht», sagt sie.

Der Druck auf die junge Mutter war riesig, wie die Akten zeigen. Deshalb spricht die Forschung in solchen Fällen von Zwangsadoptionen. Bis in die 1970er-Jahre sei die uneheliche Schwangerschaft ein gesellschaftliches Tabu gewesen, schreibt die Historikerin Rahel Bühler. Juristen und Beamtinnen seien überzeugt gewesen, dass die beste und kostengünstigste Lösung des «Ausserehelichenproblems» die Adoption sei. Dabei hätten ledige Kindsmütter wenig Alternativen zur Adoption gehabt, wenn sich ihre eigene Mutter geweigert habe, das «uneheliche» Enkelkind zu betreuen. So war es auch bei Meister.

Sie schloss die Handelsschule ab, wurde diplomierte Werbeassistentin und nahm eine gute Stelle in Genf an. Sie heiratete, bekam zwei Töchter und verdrängte viel.

Die 16-jährige Tochter macht ihre leibliche Mutter ausfindig

Michelle Dreifuss wuchs bei ihren Adoptiveltern in Kilchberg ZH auf. Ihre Adoptiveltern seien ihre Eltern, sagt sie. Als «Mami» bezeichne sie nur ihre Adoptivmutter, Elisabeth sei einfach Elisabeth. «Sie ist die Frau, die mich geboren hat. Eine Frau, die ich sehr gern habe. Sie ist mir wichtig. Aber sie ist nicht mein Mami.» Dreifuss ist Heilpädagogin mit einem Konzertdiplom als Opernsängerin.

«In meiner Jugend spielte ich Flöte und ging reiten. Im Winter fuhren wir in die Skiferien», erzählt sie. Ihr Adoptivvater war Manager, die Familie mit zwei adoptierten Kindern lebte immer wieder im Ausland. «Mit fünf Jahren fragte mich ein Mann von der Stadt Zürich, ob es mir bei meiner Familie gefalle. Das ist alles, was ich direkt mit der Adoption in Verbindung bringe.»

Mit 16 wollte Michelle Dreifuss wissen, wer ihre biologische Mutter ist. Sie machte sie ausfindig, verabredete sich und fuhr mit dem Zug zu ihr. «Ich wusste von einem Foto, wie sie aussah. Aber ich wusste nicht, wer sie war. Ich war wahnsinnig aufgeregt. Und hatte Schiss, dass sie mich erneut zurückweisen würde.»

Auf dem Perron beim Treppenabgang stand Elisabeth. «Diese Frau war total neu. Gleichzeitig hatte ich ein Gefühl der Vertrautheit, als sie mich umarmte.» Mutter und Tochter sprachen etwa sieben Stunden miteinander. Die genauen Umstände der Zwangsadoption blieben dabei unerwähnt. «Sie hat mir gesagt, dass es damals einfach nicht anders ging als 17-Jährige, und dass sie sich so sehr freute, mich endlich kennenzulernen.»

Die beiden Mütter feiern gemeinsam Geburtstag

Die Adoptivmutter hatte Angst, Michelle an die biologische Mutter zu verlieren. «Einige Jahre haben sich die Frauen wie Tiger umkreist», erinnert sich Dreifuss. «Erst als sie Grossmütter waren, endete diese Konkurrenz.» Die Adoptivmutter lud Meister sogar zu ihrem 60. Geburtstag ein und sagte bei der Vorstellungsrunde allen: «Das ist die biologische Mutter von Michelle.» Später fuhr Meister gemeinsam mit Michelle Dreifuss und ihren beiden anderen Töchtern in die Ferien.

«Dass Elisabeth sich schuldig fühlt, ist immer noch spürbar», sagt Dreifuss. «Doch wenn man mit 17 eingeredet bekommt, es sei das Beste, das Kind wegzugeben, dann muss man doch kein schlechtes Gewissen haben. Elisabeth und ich wären sicher geächtet gewesen, wenn sie mich behalten hätte. Ich bin ihr deshalb keinen Funken böse.»

Elisabeth Meister ist froh, dass sie nach einem langen Aufarbeitungsprozess ihre Geschichte aufgeschrieben hat. «Ich benötigte 15 Jahre für diesen Text.» Vielleicht helfe ihre Geschichte anderen Betroffenen, sich weniger schuldig zu fühlen.
(https://www.beobachter.ch/magazin/gesellschaft/mutter-und-tochter-finden-nach-jahrzehnten-zusammen-664600)