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+++BERN
luzernerzeitung.ch 11.12.2023
Urner Landrätin realisiert Projekt für geflüchtete Menschen in der Stadt Bern
Unter dem Titel «Harmony Café» laden Chiara Gisler und ihr Freund Scott Grills ab Februar einmal im Monat zum Austausch zwischen Geflüchteten und Einheimischen ein. Dass das Projekt in der Bundeshauptstadt und nicht in Uri stattfindet, hat praktische Gründe.
Carmen Epp
Als Altdorfer SP-Landrätin setzt sie sich seit bald vier Jahren für soziale Anliegen im Kanton Uri ein. Nun weitet Chiara Gisler ihr Engagement geografisch aus: Zusammen mit ihrem Freund, Scott Grills, realisiert sie in der Stadt Bern ein Projekt, mit dem sie zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen wollen: geflüchtete Menschen unterstützen und Foodwaste minimieren.
Dass sich die beiden für geflüchtete Menschen – oder «People on the move» – einsetzen, kommt nicht von ungefähr. Schliesslich haben sich die Urnerin und der Australier bei einem Einsatz in einem Flüchtlingscamp in Griechenland kennengelernt. «Dort konnten wir auch wertvolle Kontakte mit Menschen knüpfen, die wir jetzt auch in unser Projekt miteinbeziehen können, wie etwa für die Übersetzung von Flyern oder die Mobilisierung der Teilnehmenden», erklärt Chiara Gisler.
Thematisch ist das Projekt zwar von ihrem gemeinsamen Einsatz im Flüchtlingscamp geprägt. Was die Umsetzung angeht, will das Paar jedoch andere Wege gehen. «Auch wenn wir viele Gespräche mit Betroffenen geführt haben, so können weder ich als Schweizerin noch er als Australier richtig wissen, was ‹People on the move› wirklich brauchen», gibt Chiara Gisler zu bedenken. «Deshalb war es uns wichtig, etwas zu realisieren, was die ‹Community› selbst gestalten kann.»
Mehr als nur gemeinsam essen
So war das Projekt mit dem Titel «Harmony Café» geboren. Und das funktioniert so: Einmal im Monat stellen Chiara Gisler und Scott Grills geflüchteten und Asyl suchenden Menschen einen Raum zur Verfügung, den sie einen Abend lang nutzen können, je nach Bedürfnissen der Gemeinschaft. Das kann zum Beispiel ein gemeinsames Abendessen sein, eine Anlaufstelle für Fragen oder Inputs, ein Anlass, um neue Kontakte zu knüpfen, und so weiter.
«Beim ersten Anlass, das voraussichtlich im Februar stattfindet, werden wir die Organisation übernehmen und für die Gäste kochen. Danach liegt es an der Gemeinschaft zu besprechen und zu organisieren, wer die nächsten Anlässe wie gestaltet. Unsere Idee war, dass immer eine andere Person Essen mitbringt und den Abend organisiert. Aber wir sind auch offen für eine Neugestaltung dieser Idee.»
Dabei stellen Organisationen, die sich gegen Foodwaste engagieren, einen Teil der benötigten Lebensmittel zur Verfügung. Und Medizinstudierende hätten bereits angeboten, bei dem einen oder anderen «Harmony Café» medizinische Beratungen anzubieten. «Es geht bei unserem Projekt also nicht nur darum, gemeinsam zu essen», fügt Chiara Gisler an, «sondern um Interaktionen zwischen den Menschen, um einen Austausch, der Verständnis generiert, Empowerment der ‹Community› und um eine Anlaufstelle und Gestaltungsmöglichkeit für ‹People on the move›.»
Für ihr Projekt eröffnen die zwei Initianten jedoch kein eigenes Lokal, sondern können auf ein bereits bestehendes zurückgreifen. Die «WerkStadt» stellt ihre Räumlichkeiten dem «Harmony Café» zur Verfügung – «unentgeltlich, wie wir gerade erfahren haben», freut sich Chiara Gisler.
Die «WerkStadt» betreibt ein Café und einen Laden im Lorraine-Quartier und lässt sich laut Angaben auf der Website von der «Soziokratie», also der Idee der Selbstorganisation, inspirieren. Daher haben sich auch zwei Personen, die jeweils im Café der «WerkStadt» arbeiten, bereit erklärt, das «Harmony Café» zu begleiten. Ein Glücksfall, wie Chiara Gisler sagt. «Schliesslich kennen sie die Räumlichkeiten und auch die Gerätschaften besser als wir.»
Projekt wird von Migros-Engagement gefördert
Mit ihrer Idee haben Chiara Gisler und Scott Grills nicht nur die Verantwortlichen der «WerkStadt» überzeugt. Auch Migros-Engagement ist vom «Harmony Café» angetan – und unterstützt es im Rahmen des Förderprogramms «ici. gemeinsam hier.» mit 5000 Franken.
Nach 2022 unterstützt Migros-Engagement mit dem Förderprogramm erneut 83 Integrationsprojekte in der ganzen Schweiz mit 729’750 Franken. Die Initiativen, die Zugezogene und Ansässige zu gleichen Teilen in Freiwilligenarbeit umsetzen, erhalten Förderbeiträge zwischen 1000 und 25’000 Franken.
Angela Zumbrunn, Projektleiterin bei der Direktion Gesellschaft und Kultur beim Migros-Genossenschaftsbund, leitet das Förderprogramm, das die Aktivitäten von Bund, Kantonen und Gemeinden ergänzt. Sie stellt fest: «Viele Initiativen brauchen gar nicht viel Geld, um einen wichtigen Beitrag für den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu leisten. Oft fehlt es an moderaten finanziellen Mitteln wie zum Beispiel für die Miete eines gemeinsamen Treffpunkts, für den Kauf von Kinderbüchern oder um die Bustickets der Teilnehmenden zu bezahlen, die in weit entfernten Asylzentren wohnen.»
«Willkommenskultur ist in Bern grösser»
Die finanzielle, aber auch ideelle Unterstützung des Förderprogramms können Chiara Gisler und Scott Grills gut gebrauchen. Nicht für sich, sondern für die Gemeinschaft. «Wir möchten den Personen, die Essen mitbringen, vor Ort für andere kochen oder sonst den Abend mitgestalten, einen kleinen Beitrag bezahlen können», erklärt Chiara Gisler. «Das ‹Harmony Café› soll für niemandem zum Mehraufwand werden. Im Gegenteil: Wir finden, dass Kochen genau so Arbeit ist wie bezahlte Arbeit.»
Ausserdem seien auch Schweizerinnen und Schweizer willkommen im «Harmony Café», und wer es sich leisten könne, dürfe gerne etwas in die Kollekte geben – was ebenfalls wiederum den «People on the move» zugutekommen soll.
Dass das Paar ihr Projekt in Bern realisiert und nicht in Uri, liegt daran, dass beide zwar in Altdorf wohnen, aber Chiara Gisler als Studentin Wochenaufenthalterin in Bern ist, wo auch Scott Grills die meiste Zeit unter der Woche verbringt. «Ausserdem ist die Willkommenskultur in Bern grösser, und es hat mehr Menschen, die profitieren können», sagt Chiara Gisler.
Sollte das Projekt in Bern zum Fliegen kommen, könnte man etwas Ähnliches sicher auch in Altdorf ins Auge fassen. «Vielleicht können wir mit unserer Idee ja auch andere Leute inspirieren, etwas Ähnliches auf die Beine zu stellen.» – Ein Gedanke, der auch im Sinne von «ici. gemeinsam hier.» wäre. Die nächste Ausschreibung des Förderprogramms erfolgt in der ersten Hälfte des kommenden Jahres.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/uri/altdorfbern-urner-landraetin-realisiert-projekt-fuer-gefluechtete-menschen-in-der-stadt-bern-ld.2547805)
+++OBWALDEN
Die Obwaldner SVP-Nationalrätin Monika Rüegger hat vom Bundesrat Auskunft zum Bundesasylzentrum auf dem Glaubenberg erhalten. (ab 03:46)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/in-zug-macht-ein-neues-betrugsphaenomen-die-runde?id=12501795
+++SCHWEIZ
Parlament spricht Asylwesen weniger Geld zu, als geplant
Das Parlament kürzt die Sozialhilfe für Asylsuchende, vorläufig Aufgenommene und Flüchtlinge gegenüber dem Antrag des Bundesrats um 30 Millionen Franken. Der Nationalrat hat sich am Montag einem entsprechenden Entscheid des Ständerats angeschlossen.
https://www.watson.ch/schweiz/migration/215306657-parlament-will-wachstum-bei-sozialhilfegeldern-im-asylwesen-bremsen
-> https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2023/20231211172701864194158159038_bsd151.aspx
Flucht in die Schweiz: Türken sollen mit falschen Haftbefehlen Asyl bekommen haben – SEM widerspricht
Türkische Asylbewerber sollen die Schweizer Behörden regelmässig mit gefälschten Haftbefehlen täuschen. Das SEM weist die Darstellung zurück.
https://www.derbund.ch/flucht-in-die-schweiz-tuerken-sollen-mit-falschen-haftbefehlen-asyl-bekommen-haben-sem-widerspricht-496531975036
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/fluchtling-packt-aus-turkei-migranten-betrugen-mit-fake-haftbefehl-66668162
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tagblatt.ch 11.12.2023
Asylschwindel mit Fake-Haftbefehlen: Ein türkischer Flüchtling erzählt
In der Schweiz stammen am zweitmeisten Asylgesuche von Türken. Jetzt zeigt sich: Manche erhalten dank fingierter Haftbefehle von korrupten Justizbeamten den Flüchtlingsstatus. Wie reagiert das Staatssekretariat für Migration auf die Problematik?
Kari Kälin
Es ist ein Türkeikenner, der im Gespräch mit CH Media beiläufig folgende Bemerkung fallen lässt: Einige türkische Asylsuchende hätten den Schweizer Behörden vorgegaukelt, sie seien Anhänger des türkischen Predigers Fetullah Gülen und würden deshalb verfolgt. Dafür hätten sie «Beweise» vorgelegt, die sie sich bei korrupten türkischen Justizbeamten besorgt hätten. Zur Erinnerung: Die Regierung von Langzeitautokrat Recep Tayyip Erdogan stuft die Gülen-Bewegung als Terrororganisation ein und macht sie für den gescheiterten Putschversuch vom 15. Juli 2016 verantwortlich.
Nach Afghanistan stammen aktuell am zweitmeisten Asylgesuche (5762 bis Ende Oktober) von Menschen aus der Türkei. Der Verdacht, dass sich einige von ihnen mit fingierten Haftbefehlen den Flüchtlingsstatus erschleichen, ist happig. Wie stichhaltig ist er? CH Media trifft sich mit Ayaz (Name geändert), einem anerkannten türkischen Flüchtling, der früher bei der türkischen Justiz arbeitete und nach einer mehrjährigen Haftstrafe in seiner Heimat wegen angeblicher Mitgliedschaft zu einer terroristischen Vereinigung in seiner Heimat in die Schweiz floh.
Die Ortssprache beherrscht Ayaz nach kurzem Aufenthalt in der Schweiz fliessend. Er erzählt, was er während seines Asylverfahrens erlebt hat: Mehrere türkische Staatsbürger kurdischer Ethnie kamen auf ihn zu und sagten: «Du hast doch bestimmt noch Kontakte zur türkischen Justiz.» Sie boten ihm Geld an für folgende Dienstleistung: Ayaz sollte ihnen Kontakt vermitteln zu Justizbeamten in der Türkei, die ihnen Haftbefehle ausstellen.
Laut Ayaz handelte es sich um Wirtschaftsmigranten. Er wies deren unmoralisches Angebot empört zurück. Wenige Monate später erfuhr er, dass sie erfolgreich Asyl erhalten hatten – dank fingierter Haftbefehle. Darin wurden sie als Mitglieder der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK dargestellt – was sie in Wahrheit nicht sind. Ans Ziel kamen sie offenbar über ein Büro in der Schweiz, das korrupte türkische Anwälte kennt, die Kontakt zu korrupten türkischen Staatsanwälten herstellen. Kostenpunkt der mutmasslichen Urkundenfälschung: mehrere tausend Franken.
Die Asylsuchenden präsentierten also echte Dokumente für ihre angebliche Verfolgung mit Unterschrift des zuständigen Justizpersonals. Sobald der Asylantrag gutgeheissen ist, werden die Haftbefehle in der türkischen Justizdatenbank gelöscht. Dass der Inhalt der Haftbefehle erfunden ist, können die Schweizer Behörden laut Ayaz nicht überprüfen, weil Details dazu vertraulich seien. Nur die Betroffenen und deren Anwälte könnten sie einsehen. «Das ist ein Schwachpunkt im Schweizer System», sagt Ayaz.
Wie viele türkische Flüchtlinge in der Schweiz dank dem Trick mit fingierten Haftbefehlen den Flüchtlingsstatus erlangen, ist nicht bekannt. Das Staatssekretariat für Migration sagt aber, es könne den Schwindel enttarnen.«Unsere Spezialisten, welche diese Art von Dokumenten analysieren, können die von Ihnen angesprochenen Manipulationen eindeutig nachweisen», sagt Sprecher Daniel Bach. Wie genau und seit wann sie das schaffen, verrät das SEM nicht; man wolle unerwünschte Lerneffekte vermeiden.
Interessant ist die Entwicklung der Anerkennungsquote bei türkischen Asylsuchenden. Noch im Jahr 2021 lag sie bei 86,6 Prozent. Unterdessen ist sie auf 50,3 Prozent gesunken. Das heisst: Nur noch jeder zweite türkische Gesuchsteller wird als Flüchtling anerkannt. Bach erklärt die tiefere Anerkennungsquote so: Nach dem Putsch 2016 hätten zunächst verhältnismässig mehr Türken mit asylrelevanten Gründen in der Schweiz um Schutz gebeten. In den letzten Monaten aber habe sich das Profil türkischer Asylsuchender wesentlich verändert und die Anzahl missbräuchlicher Gesuche zugenommen.
Eine Frage bleibt im Raum: Haben die Schweizer Behörden früher viel mehr Türken als Flüchtlinge aufgenommen, weil sie die manipulierten Dokumente nicht als solche erkannten? Haben Hunderte Türken zu Unrecht Asyl erhalten? Dies sei selbstverständlich nicht so, sagt Bach. «Das SEM prüfte und prüft jedes Asylgesuch sorgfältig.» Es bestehe eine etablierte Praxis gegen rechtsmissbräuchliche Gesuche, ergänzt Bach. Dies gelte auch bei den zunehmend festgestellten manipulierten Dokumenten bei Asylverfahren von türkischen Gesuchstellern.
Das SEM wird daher nicht flächendeckend prüfen, ob Türken früher dank manipulierter Dokumente ein Bleiberecht erschlichen haben. Es startet nur dann ein Verfahren zum Asylwiderruf, wenn konkrete Hinweise auf Missbrauch vorliegen. In diesem Jahr hat das SEM bis 120 Personen den Asylstatus aberkannt, 8 davon waren Türken. Die genauen Gründe für die Aberkennungen erfasst es nicht. Ob die Fake-Haftbefehle bei den betroffenen Türken eine Rolle spielten, bleibt im Dunkeln.
Das Geschäft mit den fingierten Dokumenten gibt auch in türkischen Medien zu reden. In einem Interview mit der in der Türkei bekannten Moderatorin Nevşin Mengü berichtet Journalist Ruşen Takva über ein lukratives Geschäftsmodell, dessen Zentrum sich in der Provinz Agri befinde: Gegen viel Geld erhalten migrationswillige Türken von kriminellen Netzwerken fingierte Haft- oder Hausdurchsuchungsbefehle, etwa wegen Terrorismus oder Präsidentenbeleidigung. Mit diesen pfannenfertigen, für erfolgreiche Asylverfahren fabrizierten Dokumenten würden sie nach Europa oder in die USA geschickt. Die kriminellen Netzwerke empfehlen ihren Kunden, sich als kurdische Aktivisten, Mitglied der Gülen-Bewegung oder verfolgte LGBTQ-Person auszugeben.
Unbestritten ist, dass sich die Menschenrechtslage in der Türkei in den letzten Jahren verschlechtert hat. Im Reich von Erdogan braucht es wenig, um der Mitgliedschaft einer terroristischen Vereinigung bezichtigt zu werden. Zwischen 2016 und 2020 eröffnete die Justiz diesbezüglich fast 1,6 Millionen Verfahren. In einer Säuberungswelle entfernte das Regime Hunderttausende Personen vom öffentlichen Dienst, darunter Lehrerinnen, Richter, Staatsanwälte, Polizeibeamte. Im aktuellen Pressefreiheitsranking von Reporter ohne Grenzen landet die Türkei sodann auf Platz 165 von 180, noch hinter Russland, knapp vor Eritrea und Iran.
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/asyl-asylschwindel-mit-fake-haftbefehlen-ein-tuerkischer-fluechtling-erzaehlt-ld.2549733)
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nzz.ch 11.12.2023
EU-Generalanwalt fordert Asyl für alle Afghaninnen. Was heisst das für die bevorstehende Schweizer Asyl-Session?
Das Asylrecht der EU gilt zwar hierzulande nicht. Es könnte die rechtliche Beurteilung aber trotzdem beeinflussen.
Irène Troxler
Seit dem letzten Juli haben alle Afghaninnen grundsätzlich Anrecht auf Asyl in der Schweiz. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hatte im Sommer seine Praxis geändert, ohne dies zu kommunizieren, was bei Bekanntwerden prompt eine politische Kontroverse auslöste. Am 19. und 20. Dezember wird das Parlament das Thema in einer Sondersession behandeln.
SVP und FDP wollen nur vorläufig aufnehmen
Die SVP und die FDP wollen wieder zur alten Regelung zurückkehren. Das würde bedeuten, dass die Afghaninnen zwar weiterhin in der Schweiz bleiben dürften, aber nur unter dem Titel «vorläufig aufgenommen». Der Unterschied betrifft vor allem den Familiennachzug: Anerkannte Flüchtlinge können ihre Familie nachziehen. Im September stiegen die Gesuche von Afghaninnen deutlich auf insgesamt 700 an.
Beide Parlamentskammern behandeln in dieser Sondersession politische Vorstösse, in denen der Bundesrat aufgefordert wird, zur alten Praxis zurückzukehren.
Nun befasst sich fast zeitgleich auch der Gerichtshof der Europäischen Union mit dem Thema. Im November hat er eine Medienmitteilung verschickt, die in den Schweizer Medien bis jetzt keine Beachtung gefunden hat. Der Generalanwalt des Gerichtshofs, Jean Richard de la Tour, hat auf Anfrage von Österreich einen Antrag zum Umgang mit afghanischen Frauen gestellt. Darin legt er dar, dass die Anhäufung diskriminierender Handlungen und Massnahmen der Taliban gegenüber Mädchen und Frauen in Afghanistan eine Verfolgung darstelle. Aus diesem Grund müsse eine Afghanin nicht noch individuelle Verfolgungsgründe geltend machen können, um den Flüchtlingsstatus zu erlangen, schreibt er.
Über genau diese Frage dürfte auch das Schweizer Parlament in seiner bevorstehenden Sondersession debattieren. Zwar gilt die betreffende EU-Richtlinie in der Schweiz nicht, und es handelt sich auch erst um einen Antrag des Generalanwalts, nicht um einen Gerichtsentscheid. Dennoch ist der Migrationsrechtsexperte Alberto Achermann überzeugt, dass diese Argumentation auch für die Schweiz relevant ist. In aller Regel folge das EU-Gericht solchen Anträgen, sagt Achermann, der Professor für Migrationsrecht an der Universität Bern ist und Bundesstellen und Kantone in Migrationsfragen berät.
«Wenn ein EU-Gericht sich zur Auslegung des Flüchtlingsbegriffs äussert, hat das auch Auswirkungen auf die Schweiz», sagt er. Das Bundesverwaltungsgericht, das in der Schweiz zuständig sei, berücksichtige bei seiner Entscheidfindung die Praxis anderer Staaten – oder eben der EU. Die Rechtsgrundlage sei für alle die gleiche: die Genfer Flüchtlingskonvention.
Der Antrag des EU-Generalanwalts bestätige die neue Praxis des SEM, sagt Achermann weiter. Diverse Asylrechtsspezialisten seien ebenfalls zum Schluss gekommen, dass die Praxisänderung rechtskonform sei.
Dennoch ist es gut möglich, dass das Parlament in seiner Sondersession die beiden Motionen von SVP und FDP gutheisst. Dann müsste der Bundesrat das SEM wohl anweisen, wieder auf die alte Praxis umzuschwenken. Schlägt eine betroffene Afghanin dann den Rechtsweg ein und wehrt sich gegen die Abweisung ihres Asylgesuchs, muss das Bundesverwaltungsgericht aufgrund der Schweizer Gesetze und des Völkerrechts einen Entscheid fällen – sprich: basierend auf der Genfer Flüchtlingskonvention.
Etwas anders schätzt Martina Caroni, Professorin für öffentliches Recht und Völkerrecht an der Universität Luzern, die Bedeutung der EU-Rechtsprechung für die Schweiz ein. Sie betont, dass die betreffende EU-Richtlinie nicht für die Schweiz gelte. Daher glaube sie nicht, dass ein Gerichtsentscheid der EU für die hiesige Rechtslage eine grosse Rolle spiele. Daher werde ein entsprechendes Urteil des EuGH nicht direkt Auswirkungen für die Schweiz haben. Dennoch hält Caroni die gegenwärtige Praxis des SEM für richtig. Das Schweizer Asylrecht kenne frauenspezifische Fluchtgründe, was im Fall der Afghaninnen gegeben sei. Aus dem gleichen Grund hätten alle Nachbarländer der Schweiz ihre Asylpraxis schon länger entsprechend angepasst.
Zurück nach Iran?
Allerdings gäbe es durchaus Aspekte der Afghanistan-Praxis, die man strenger handhaben könnte. Das gibt der Migrationsexperte Achermann zu bedenken. So könne man sich fragen, ob Personen, die länger beispielsweise in Iran gelebt hätten, tatsächlich Anspruch auf Asyl in der Schweiz haben sollten. Da könnte man sich auf den Standpunkt stellen, dass keine Verfolgung vorliege, auch wenn die Lebensumstände in den Nachbarländern von Afghanistan nicht ideal seien.
(https://www.nzz.ch/schweiz/eu-generalanwalt-fordert-asyl-fuer-alle-afghaninnen-was-das-fuer-die-schweizer-asyl-session-heisst-ld.1769615)
+++MITTELMEER
spiegel.de 11.12.2023
Migrationspolitik im Mittelmeer: Wie eine brutale Foltermiliz zu Europas neuem Handlanger wurde
Foltervorwürfe und Wagner-Verbindungen: Eine Miliz des Warlords Khalifa Haftar fängt im Mittelmeer Flüchtlinge ab und schleppt sie gewaltsam nach Libyen. SPIEGEL-Recherchen zeigen, wie Frontex und maltesische Behörden ihr dabei helfen.
Von Mohannad al-Najjar, Mohammad Bassiki, Bashar Deeb, Klaas van Dijken, Alexander Epp, Maud Jullien, Steffen Lüdke, Jack Sapoch, Tomas Statius und Lina Verschwele
Auch nach Tagen auf See schien noch alles in Ordnung, sagt Bassel Nahas. Gemeinsam mit hundert anderen Flüchtlingen war der Syrer im August von der libanesischen Küste in Richtung Europa aufgebrochen. Nahas, 36, der in Wirklichkeit anders heißt, träumte von einem Leben in den Niederlanden. Seine zwei Kinder und seine Frau wollte er später nachholen.
Das Flüchtlingsschiff sei gut vorangekommen, die See ruhig gewesen, erzählt Nahas am Telefon. Die griechischen Inseln hätten sie passiert, trotz der Drohne der EU-Grenzschutzagentur Frontex, die über ihren Köpfen flog. Ihr Ziel, die italienische Küste, war nicht mehr fern.
Doch als die Gruppe am 18. August das Gebiet erreichte, in dem Malta für Seenotrettungen zuständig ist, habe sich ein Schiff mit libyscher Flagge genähert. Die Passagiere des Flüchtlingsboots hätten der libyschen Crew zugerufen, dass sie Kinder und Frauen an Bord hätten, sagt Nahas. »Aber sie beschuldigten uns, Waffen und Drogen zu besitzen, und eröffneten das Feuer.«
Drei Stunden lang hätten die Männer sie auf dem Wasser verfolgt, dann die Passagiere mit Gewalt auf ihr eigenes Schiff geschafft. Eine Frontex-Drohne filmte die Szene nach Angaben der EU-Agentur aus der Luft. Nahas sagt, er habe auf den Uniformen der Männer die Namen ihrer Einheit erkannt: »Tareq Bin Zeyad«.
Die Libyer hätten sie gefangen genommen und in den Hafen von Bengasi gebracht, sagt Nahas. Dort, in der Stadt im Osten Libyens, einem Ort, an dem er noch nie war, habe man ihn misshandelt. »Sie schlugen uns, bis unsere Körper von den Schlägen schwarz wurden«, sagt Nahas. Danach hätten ihn die Libyer ins Hafenbecken geworfen. Stunden habe er im Wasser verbracht, das Salz habe in seinen Wunden gebrannt.
In einem Gebäude in der Nähe des Hafens habe man ihn später in einen orangefarbenen Anzug gesteckt, sagt Nahas. So wie ihn die Opfer des »Islamischen Staats« vor der Exekution trugen. Dann hätten die Männer ihn gefesselt, an eine Wand gestellt und das Feuer eröffnet. Als er die Schüsse hörte, sei er zusammengebrochen. »Für einen Moment wusste ich nicht, ob ich tot war oder lebendig.« Erst dann habe er gemerkt, dass die Männer nicht auf seinen Körper gezielt hätten.
Nahas’ Berichte über die Folter in Libyen lassen sich kaum überprüfen. Sie decken sich aber mit Angaben von anderen Flüchtlingen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat bereits 2012 entschieden, dass Asylsuchende, die auf dem Weg nach Europa sind, nicht nach Libyen gebracht werden dürfen, weil ihnen dort Folter und Tod drohen.
Doch die EU kümmert das kaum. Seit Jahren arbeitet sie mit der libyschen Küstenwache zusammen, die im Westen des politisch geteilten Landes patrouilliert. Dort fängt sie die Menschen auf dem Meer ab, bevor sie europäische Küsten erreichen.
Die EU trainiert und finanziert die libyschen Küstenwächter, richtete eine Rettungsleitstelle ein, Frontex und europäische Rettungsleitstellen schickten ihnen die Positionen der Flüchtlingsboote. Für die Europäer war das bequem. Die Regierung in Tripolis sei für die libysche Such- und Rettungszone des Landes zuständig, hieß es. Man schicke nur Koordinaten, für alles, was dann folge, sei man nicht verantwortlich. So argumentiert die EU seit Jahren.
Doch inzwischen haben sich die Routen im Mittelmeer verändert. Seit Sommer 2022 legen vermehrt Schlepperboote im Osten Libyens ab. Und dort, in Bengasi, herrscht nicht die von der EU anerkannte libysche Regierung – sondern Khalifa Haftar, ein Warlord mit besten Verbindungen in den Kreml.
Haftar stützt sich auf ein Netz von Milizen, darunter auch die Tareq-Bin-Zeyad-Brigade, kurz TBZ – jene Gruppe also, die Bassel Nahas im Mittelmeer gefangen genommen haben soll. Sie untersteht Saddam Haftar, dem Lieblingssohn des Warlords. Amnesty International zufolge foltern und vergewaltigen seine Männer, lassen immer wieder Menschen verschwinden, exekutieren Gefangene. Unterstützt werden sie von russischen Söldnern der Gruppe Wagner, so steht es unter anderem in einem vertraulichen EU-Bericht. Auf eine Anfrage des SPIEGEL antwortete die Miliz nicht.
Offiziell distanzieren sich die Europäer von der Gruppe. TBZ sei kein »geeigneter Ansprechpartner«, sagt ein Sprecher der EU-Kommission. »Wir haben mit ihnen nichts zu tun.«
Aber stimmt das wirklich? Oder arbeitet die EU inzwischen nicht mehr nur mit der Küstenwache im Westens Libyens zusammen – sondern heimlich auch mit Haftars Schergen im Osten?
Der SPIEGEL hat monatelang im Mittelmeerraum recherchiert, mit der Investigativorganisation Lighthouse Reports, »Le Monde«, Al Jazeera, Malta Today und dem syrischen Medium Siraj. Die Reporterinnen und Reporter sprachen mit sieben Flüchtlingen, die nach eigenen Angaben von Haftars Miliz nach Libyen geschleppt worden waren, sie verfolgten Positionsdaten von Schiffen und europäischen Überwachungsflugzeugen, werteten aufgezeichnete Funksprüche und vertrauliche Dokumente aus.
Die Recherchen zeigen, dass die Europäer TBZ bei den Pullbacks behilflich sind. In mindestens drei Fällen lässt sich nachweisen, dass Frontex oder maltesische Behörden die Flüchtlingsboote entdeckten, die Haftars Männer anschließend aus der maltesischen Such- und Rettungszone nach Libyen schleppten. Obwohl dort laut internationalen Übereinkommen die Europäer die Rettungsoperationen koordinieren müssen. Mal gelangten die Positionsdaten der Flüchtlingsboote auf indirektem, mal auf direktem Weg in die Hände der Miliz – in einem Fall wurden sie ihr offenbar geradezu aufgedrängt.
Haftars Miliz erledigt offensichtlich jene Drecksarbeit, die die Europäer nicht übernehmen wollen. Seine Männer, die eher an eine kriminelle Bande als eine herkömmliche Küstenwache erinnern, sind zu einer Art Handlanger der EU geworden – und das, obwohl sie selbst am Schleppergeschäft in Libyen verdienen.
Wer die Männer sind, die sich »Tareq Bin Zeyad« nennen, kann man auf TikTok und Instagram beobachten. In einigen Videos posieren sie in Gucci-Shirts und Louis-Vuitton-Jacken. In anderen tragen sie Sturmhauben und Maschinengewehre, präsentieren Jeeps und Nachtsichtgeräte. Seit dem Frühjahr zeigen die Männer sich an Deck ihres neuen Schiffs. Mit langen Messern zerlegen sie rohes Fleisch für ein Grillfest. Stolz recken sie die blutigen Tierkadaver in die Höhe.
Noch vor sieben, acht Monaten habe TBZ auf dem Wasser so gut wie nicht existiert, sagt ein Politikwissenschaftler, der für einen Report des US-amerikanischen Thinktanks The Sentry in Ostlibyen recherchiert hat. Aus Sicherheitsgründen will er anonym bleiben. TBZ gelte als flexibel, nehme immer wieder neue Aufgaben an. In den vergangenen Jahren wuchs die Miliz, inzwischen soll sie 6000 bis 8000 Männer umfassen.
Ihr Schiff, die »Tareq Bin Zeyad«, wurde von einer Firma mit Sitz in Dubai registriert. Wer die Überführung nach Libyen bezahlt hat, ist unklar. Seit dem Frühjahr jedoch beobachten die Europäer ihre Aktionen: Am 25. Mai habe eine Miliz mit Verbindung zu Haftars Armee erstmals Migranten nach Libyen zurückgeschleppt, heißt es in einem vertraulichen Bericht der EU-Mission »Irini«, die im Mittelmeer patrouilliert. Seitdem haben demnach jene Milizen mehr als tausend Menschen abgefangen.
Wie TBZ von den Überwachungsflügen der Europäer profitiert, zeigt sich am 26. Juli.
Ein Frontex-Flugzeug sichtet an diesem Morgen ein Flüchtlingsboot im Mittelmeer.
Kurz bevor die Migranten die maltesische Rettungszone erreichen, sendet Frontex einen Notruf, ein sogenanntes „mayday relay“, an alle Schiffe in der Umgebung – nach eigener Darstellung, weil das Boot gefährlich überfüllt gewesen sei.
Die „Tareq Bin Zeyad“ habe als einziges Schiff auf den Notruf reagiert. Ein Übersetzer, der nach eigenen Angaben für die Miliz arbeitet, erklärt der privaten Seenotrettungsorganisation Sea-Watch später, dass man die Koordinaten vom Frontex-Flugzeug per Funk erhalten habe. Womöglich ist damit das Mayday gemeint. Dem SPIEGEL liegt eine Aufnahme des Gesprächs mit der NGO vor.
Zwei Handelsschiffe, die in der Nähe fahren, behalten ihren Kurs bei. Eine der Crews antwortet auf Anfrage, nur Teile des Notrufs empfangen zu haben.
Knapp sieben Stunden nach dem Notruf erreicht die „Tareq Bin Zeyad“ die Flüchtlinge und bringt sie aus der maltesischen Such- und Rettungszone nach Libyen zurück.
Frontex sorgt an diesem Tag nicht dafür, dass jemand die Flüchtlinge in einen sicheren Hafen bringt. Entgegen der üblichen Abläufe informiert die Grenzschutzagentur erst nach Absetzen des Notrufs die Rettungszentren in Italien, Malta und Westlibyen. Eigentlich wären dann die Rettungsleitstellen für die Koordinierung des Seenotfalls zuständig. Doch sie bleiben an diesem Tag stumm. Man habe keinerlei Antwort von ihnen erhalten, teilt Frontex auf Anfrage mit.
Auf Anfrage betont Frontex, man habe weder in diesem noch in anderen Fällen direkt mit TBZ kommuniziert. Die Menschen an Bord des überfüllten Flüchtlingsboots seien in Lebensgefahr gewesen, deshalb habe man den Notruf abgesetzt. Später, bevor das Flugzeug das Gebiet aus Spritmangel verließ, habe man den Rettungsleitstellen neue Koordinaten mitgeteilt und einen zweiten Mayday-Ruf abgesetzt. Dieser sei ebenfalls unbeantwortet geblieben. Für die Koordination der Rettungseinsätze sei man grundsätzlich nicht zuständig.
Die Völkerrechtlerin Nora Markard, Professorin an der Universität Münster, sieht das in diesem Fall anders. »Die Frontex-Beamten wissen, dass den Menschen in Libyen Folter und andere unmenschliche Behandlung droht«, sagt sie. »Die Agentur hätte nach dem Notruf sicherstellen müssen, dass jemand anders die Rettung übernimmt – zum Beispiel eines der Handelsschiffe, die ohnehin viel schneller vor Ort gewesen wären.«
Das Seerecht etabliere eine Kette von Verantwortlichkeiten. Und wenn, wie in diesem Fall, kein kompetenter Akteur die Rettung oder die Koordination übernehme, bleibe Frontex verantwortlich. »Was die Miliz tut, ist eher ein Kidnapping als eine Rettung«, sagt Markard. »Man muss sich nur vorstellen, dass Piraten verkünden, sich um einen Seenotfall kümmern zu wollen. Auch das wäre nicht in Ordnung.«
Die EU-Beamten scheinen die Aktionen der Miliz nicht sonderlich zu stören. In einem internen Briefing, das dem SPIEGEL vorliegt, bezeichnet Frontex ihr Schiff verharmlosend als Patrouillenboot der Küstenwache. In dem Bericht dokumentiert die Agentur zudem, dass sie am 16. August die Position eines Flüchtlingsschiffs unter anderem an die Rettungsleitstelle in Tripolis schickte. Die Beamten dort leiteten die Daten offenbar an Haftars Männer weiter, nach eigenen Angaben tun sie das regelmäßig. Zumindest wenn es um Flüchtlingsboote geht, arbeiten die verfeindeten Lager in Libyen offenbar zusammen. Zwei Stunden später fing die »Tareq Bin Zeyad« die Flüchtlinge in der libyschen Rettungszone ab. Frontex vermerkte auch das.
Einige Juristen wie Markard kritisieren die Weitergabe der Koordinaten nach Tripolis seit jeher. Nun wird klar, dass die libysche Rettungsleitstelle nicht nur die eigene Küstenwache im Westen des Landes alarmiert – sondern mit der TBZ auch eine Miliz im Osten, die offensichtlich noch brutaler vorgeht. Auf Nachfragen zu diesem Fall antwortete Frontex nicht.
Frontex wird im Wesentlichen von den EU-Staaten kontrolliert. Einige von ihnen nutzen augenscheinlich jede Möglichkeit, um die Flüchtlingsboote im Mittelmeer aufhalten zu lassen. Insbesondere Italien und Malta werben seit Monaten um die Gunst des Warlords. Anfang Mai empfing Regierungschefin Giorgia Meloni Haftar in Rom, um ihn zu überzeugen, die Abfahrten der Flüchtlingsboote Richtung EU zu stoppen. Italiens Innenminister sprach von möglichen Finanzhilfen, auch von Trainingseinheiten für seine Leute war die Rede. Experten werten das Treffen als Wendepunkt. Noch im selben Monat nahm die Crew der »Tareq Bin Zeyad« ihre Arbeit auf.
Maltesische Offizielle geben sogar zu, mit dem Machthaber im Osten Libyens zu kooperieren. Man stelle auch Überwachungsdaten zur Verfügung, sagt ein hochrangiger Beamter in Valletta, der seinen Namen nicht veröffentlicht wissen will. Ende Mai habe eine maltesische Delegation Haftar in Bengasi besucht, anschließend sei das Militär beauftragt worden, die Details eines möglichen Deals auszuhandeln.
Seitdem betrachten maltesische Beamte TBZ offenbar als eine Art offizielle Küstenwache Ostlibyens. Die Crew des privaten Seenotrettungsschiffs »Ocean Viking«, betrieben von der NGO SOS Méditerranée, wimmelten die Malteser in einem Fall ab, stattdessen brachte TBZ die Flüchtlinge nach Libyen zurück.
In einem Funkspruch vom 2. August, der dem SPIEGEL vorliegt, hört man zudem, wie ein Mann mit maltesischem Akzent TBZ die Koordinaten eines Flüchtlingsboots durchgibt, das auf die maltesische Rettungszone zufährt. »Tareq Bin Zeyad. Tareq Bin Zeyad. Ich habe eine Position für Sie. Wollen Sie die Position?«, sagt er. Vermutlich handelt es sich um den Piloten eines maltesischen Flugzeugs, das zu diesem Zeitpunkt in der Gegend kreiste.
Die maltesischen Behörden bestreiten den Funkspruch auf Anfrage nicht. Wenn ein Schiff Hilfe benötige, seien Seeleute verpflichtet, Informationen an andere Schiffe in der Gegend zu übermitteln, teilten sie mit. Völkerrechtlerin Markard hält den Vorgang hingegen für einen klaren Verstoß gegen das Seerecht. »TBZ schleppt hier offensichtlich stellvertretend für die Malteser Flüchtlinge nach Libyen zurück«, sagt sie.
Die EU kleidet ihre Abschottungspolitik gern in ein humanitäres Gewand. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte jüngst eine »globale Allianz« an, um Schlepper und Schleuser stärker zu bekämpfen. Das »unsägliche Leid« der Flüchtlinge müsse enden. Insbesondere kriminellen Netzwerken, die mit den Migranten Geld verdienten, wolle man das Handwerk legen.
Beginnen könnte die EU mit Haftars Männern. Bisweilen sind sie von den Schleppern nicht zu unterscheiden. In Ostlibyen haben sie ein Modell errichtet, das an Schutzgelderpressung erinnert. Kaum ein Boot verlässt den Hafen von Bengasi ohne ihr Wissen. TBZ etwa organisiert den Transport vom Flughafen Bengasi zu den Lagern an der Küste, so berichten es Migranten und libysche Insider. Nur wer dort genug bezahlt, dürfe auf die Boote.
Europäische Diplomaten wissen seit Monaten davon. Die Migrationskontrolle sei für Haftar vor allem ein Vorwand, um internationale Unterstützung zu erhalten, heißt es in einem internen Dokument des Auswärtigen Amts, das eine EU-Sitzung zusammenfasst. In Wahrheit verdienten seine Milizen am Menschenhandel.
Bassel Nahas sagt, er habe das am eigenen Leib zu spüren bekommen. Nach 22 Tagen Folter habe TBZ ihn an eine andere bewaffnete Gruppe übergeben. Erst als ein Bekannter 4000 Euro Lösegeld gezahlt habe, sei er freigekommen. Die Verhandlungen liefen über WhatsApp, dem SPIEGEL liegen Screenshots der Nachrichten vor. Auf ihnen ist auch die Handynummer des Erpressers zu erkennen.
Über einen Facebook-Account führt sie zu einem von Haftars Männern.
(https://www.spiegel.de/ausland/migrationspolitik-im-mittelmeer-wie-eine-brutale-foltermiliz-zu-europas-neuem-handlanger-wurde-a-11cc3014-e3b8-4022-886e-7510801f5a6c)
+++EUROPA
Migration – Wie erpressbar ist die EU?
Die Europäische Union verwandelt sich in eine „Festung“, die Migrant*innen abwehrt: Illegale Pushbacks, unmenschliche Bedingungen in Internierungslagern, Tote auf der Fluchtroute. Um Geflüchtete an der Einreise zu hindern, hat die EU in den letzten Jahrzehnten eine neue Strategie entwickelt und ihre Grenzen nach außen verschoben. Diese Politik trägt einen Namen: Externalisierung.
https://www.arte.tv/de/videos/108969-000-A/migration-wie-erpressbar-ist-die-eu/
Europa will Migrationsgesetz verschärfen – 10vor10
England, Deutschland und Frankreich wollen ihre Asyl- und Migrationspolitik verschärfen. Die Ideen dazu sind unterschiedlich und stossen innenpolitisch auf Kritik.
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/europa-will-migrationsgesetz-verschaerfen?urn=urn:srf:video:7b8a6c23-6bd6-4848-87e5-6133366576b9
+++GASSE
Ein Verein, der am liebsten unnütz wär
Heute vor 40 Jahren wurde der Schwarze Peter – Verein für Gassenarbeit gegründet. Dass noch immer so grosser Bedarf für Gassenhilfe bestehe, sei im Grunde sehr traurig, meint Co-Geschäftsführer Michel Steiner, und träumt von einer Zukunft, in der es den Schwarzen Peter nicht mehr braucht.
https://bajour.ch/a/clpveow794101832sgw817bawdk/der-verein-fuer-gassenarbeit-schwarzer-peter-wird-40-jaehrig
Die Gassenküche braucht es jetzt mehr, den je
Nach turbulenten Jahren sind die Gassenküchen und die Spenden wichtiger den je. In Schaffhausen nutzen immer mehr Menschen das Angebot einer warmen Mahlzeit.
https://www.toponline.ch/news/schaffhausen/detail/news/die-gassenkueche-braucht-es-jetzt-mehr-den-je-00227356/
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Das Schönwettergrundrecht
Seit dem Krieg im Nahen Osten ist ein alter Bekannter aus der Corona-Pandemie zurück: das Demonstrations-verbot. In Zürich, Basel und Bern schränkten die Behörden damit Grundrechte ein. Dabei begeben sie sich auf heikles Terrain. Und verstricken sich in Widersprüche.
https://www.republik.ch/2023/12/11/das-schoenwettergrundrecht
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derbund.ch 11.12.2023
Hausbesetzer von «Effy 29»: Der Monsterprozess droht erneut im Leerlauf zu enden
3000 Seiten Akten, Hunderttausende Franken Verfahrenskosten – im Prozess gegen die Besetzer von «Effy 29» steht die Staatsanwaltschaft immer noch vor demselben Problem.
Quentin Schlapbach
«Als es losging, wollte ich aus dem Haus, um mich von den anderen Personen zu unterscheiden. Unten hat es geschlagen. Es war wie im Krieg. Ich sass auf einem Stuhl mit meinem Instrument bei mir. Von der Räumung wusste ich nichts. Ich war schockiert, am Zittern, gestresst. Meines Erachtens wurde nie gesagt, dass man sich ergeben und das Haus verlassen könne.»
Diese Aussage machte ein heute 64-jähriger Mann, kurz nachdem er am 22. Februar 2017 von der Berner Kantonspolizei aus dem besetzten Wohnhaus an der Effingerstrasse 29 abgeführt wurde. Er betrat das Gebäude laut eigenen Angaben erst am Abend zuvor, als er mit seiner Band Musik machen wollte.
Wenige Stunden später gehörte er zu den 16 Frauen und Männern, gegen welche die Staatsanwaltschaft des Kantons Bern seit mittlerweile sechs Jahren ein Verfahren wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte führt. Sie fordert hohe Geld- und teils sogar Haftstrafen.
Die Ausschreitungen bei der «Effy 29»-Räumung waren für die Bundesstadt eine Zäsur. Sie gehören zu den gewaltsamsten Tagen in der jüngeren Geschichte Berns. Die Hausbesetzerinnen und Hausbesetzer wehrten sich an jenem Tag mit massiver Gewalt – konkret: Feuerwerkskörpern, Steinen und Barrikaden – gegen die Räumung der Polizei.
Zwei Polizeibeamte und ein Feuerwehrmann blieben mit bleibenden Schäden zurück, sie leiden bis heute an Tinnitus. Trotzdem wurden die 16 Frauen und Männer erstinstanzlich vom Regionalgericht «nur» des Hausfriedensbruches schuldig gesprochen, nicht aber im Hauptanklagepunkt, der Gewalt und Drohung gegen Beamte. Die Staatsanwaltschaft zog das Urteil daraufhin weiter.
Polizisten reden, Angeklagte schweigen
Am Montag ging der Monsterprozess nun in die zweite Runde, dieses Mal vor Obergericht. Wie aussergewöhnlich das Setting mit 16 Angeklagten, 16 Strafverteidigern, 3 Privatklägern und deren Anwälten ist, zeigten alleine die zahlreichen Abwesenheitsanträge, über welche das Gericht den ganzen Tag über befinden musste.
Eine Art Schlüsselrolle kam an diesem ersten Prozesstag dem eingangs erwähnten 64-jährigen Mann zu. Er war der einzige Angeklagte, der nicht von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machte und von den Erlebnissen am 22. Februar 2017 berichtete.
Sein Beispiel zeigt denn auch exemplarisch das Grundproblem, welches sich der Staatsanwaltschaft bis heute in ihrer Beweisführung stellt. Sie konnte bisher nicht genügend erhärten, wer von den 16 beschuldigten Männern und Frauen für die Gewalt an jenem Tag verantwortlich war. Weil die Einsatzleitung der Polizei vor der Räumung von «Effy 29» kein Ultimatum zum Verlassen des Gebäudes stellte, befanden sich darin auch Personen wie der 64-jährige Mann, die kaum für die Gewalteskalation an diesem Tag verantwortlich gemacht werden können.
Diesen Punkt machte die 16-köpfige «Anwälte-Armada» der Angeklagten – jeder von ihnen hat bekanntlich Anrecht auf einen Pflichtverteidiger – denn auch mehrfach bei der Befragung der am Einsatz beteiligten Polizisten. Sie warfen Fragen nach der Verhältnismässigkeit der eingesetzten Mittel auf, welche an jenem Tag zur Anwendung kamen. Während die Angeklagten mehrheitlich schwiegen, beantworteten die Polizisten all diese Fragen ausnahmslos.
Frage nach Aufwand und Ertrag
Nun liegt der Druck vor allem bei der Staatsanwaltschaft. Sie zog das Verfahren bekanntlich weiter – in der Überzeugung, beim Obergericht eine Verschärfung des Urteils zu erreichen. Auch wenn die Kosten für die Allgemeinheit bei einem Strafverfahren letztlich nicht die Hauptrolle spielen dürfen, sollten Fragen nach Aufwand und Ertrag bei diesem Fall nicht gänzlich ausser Acht gelassen werden.
Alleine für die amtliche Verteidigung der 16 Angeklagten blieb der Kanton Bern bei der ersten Prozessrunde auf Kosten von über 250’000 Franken sitzen. Hinzu kommen Verfahrenskosten, die sich in einem ähnlichen Rahmen bewegen. Sollte es wiederum «nur» zu Schuldsprüchen wegen Hausfriedensbruch kommen, wäre das eine kostspielige Niederlage.
Ein Anwalt eines Angeklagten machte den Punkt der hohen Kosten denn auch bei seinem eigenen Abwesenheitsantrag für die nächsten Tage. Als Exil-Berner, der heute in Zürich wohne, wolle er etwas Gutes für den nationalen Finanzausgleich tun und mit Ausnahme seines Plädoyers keine weiteren Stunden mehr in Rechnung stellen.
Die Argumentation überzeugte das Gericht. Der Antrag kam durch.
(https://www.derbund.ch/hausbesetzer-von-effy-29-in-bern-der-monsterprozess-droht-erneut-im-leerlauf-zu-enden-532728567689)
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-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/ein-mann-erschiesst-zwei-menschen-in-der-stadt-sitten?id=12501780 (ab 11:07)
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/hausbesetzer-der-effingerstrasse-nun-vor-dem-obergericht?urn=urn:srf:video:38c1c146-f2ea-4e99-aaa5-89f20d0cb275
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/nach-krawallen-an-der-effingerstrasse-obergericht-urteilt-ueber-hausbesetzer-155675522?autoplay=true&mainAssetId=Asset:155675515
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Action contre Lafarge-Holcim à Genève ce weekend ! Photos et sonnet
Communiqué d’une action qui s’est déroulée à Genève dans le cadre des journées internationales d’actions contre Lafarge Holcim et le monde du béton, appelées par les Soulèvements de la Terre. Retrouvez le sonnet ci-dessous !
https://renverse.co/infos-locales/article/action-contre-lafarge-holcim-a-geneve-ce-weekend-photos-et-sonnet-4280
+++PRIVATE SICHERHEITSFIRMEN
Regierungsratsantwort auf Interpellation I 096-2023 Sancar (Bern, GRÜNE) Demokratie-politisch problematische Auslagerung staatlicher Aufgaben an private Sicherheitsfirmen.
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=8a30b6d88b854d63832bd46745b8d07d
+++POLIZEI ZENTRALSCHWEIZ
Gemeinsame Polizeizentrale: Regierungen leiten Realisierungsphase ein
Die Regierungsmitglieder der Zentralschweizer Kantone haben sich zur Plenarversammlung auf dem Bürgenstock getroffen. Das Präsidium geht für die nächsten zwei Jahren nach Zug.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/nidwalden/zentralschweiz-gemeinsame-polizeizentrale-regierungen-leiten-realisierungsphase-ein-ld.2554518
+++RASSISMUS
Baume-Schneider lädt zu rundem Tisch gegen Hassrede ein
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat zu einem Austausch zum Thema Hate Speech eingeladen. Unter anderem soll Social Media besser reguliert werden.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/baume-schneider-ladt-zu-rundem-tisch-gegen-hassrede-ein-66668326
-> https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-99340.html
+++RECHTSPOPULISMUS
Veranstaltung von Leuten aus Eritrea im Laufental führt zu Kritik (ab 03:45)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/wirtschaft-aus-region-basel-stellt-sich-hinter-beat-jans?id=12501417
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/mit-autobatterien-den-solarstrom-speichern?id=12501924
-> https://telebasel.ch/sendungen/punkt6/213272
-> https://www.baseljetzt.ch/nach-eritrea-feier-im-baselbiet-bundesamt-fuer-migration-aeussert-sich/160667
-> https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/baselland-nach-dem-eritrea-fest-in-grellingen-svp-fordert-ueberpruefung-des-aufenthaltsstatus-ld.2554475
Kulturkampf: Der »Krieg gegen Weihnachten«, ein importiertes Märchen
Diese Woche traf es eine Hamburger Kita: »Bild«, »Focus« und Markus Söder behaupten, dort werde Weihnachten bekämpft. Das stimmt nicht – aber es illustriert die finsteren Themenideen deutscher Kulturkämpfer.
https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/kulturkampf-der-krieg-gegen-weihnachten-ein-importiertes-maerchen-der-rationalist-kolumne-a-7fee3a25-fdb5-4f22-8549-1b6d14ebb014
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zeit.de 11.12.2023
Rechte Medien: Achtung, die Älpler!
Rechte Medien für ein rechtes Publikum: Was in Österreich und der Schweiz ins Stocken gerät, will Roger Köppel in Deutschland groß machen.
Von Christian Bartlau und Timo Posselt
Wer in der rechtskonservativen Szene etwas auf sich hält, pilgert an diesem Novembermittwoch ins Luxushotel Dolder hoch über Zürich. Zwei ehemalige Mitglieder der Schweizer Landesregierung sitzen im Publikum, dazu viele SVP-Politiker, der ehemalige Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung und die milliardenschwere deutsche Fürstin und Rechts-Katholikin Gloria von Thurn und Taxis. Mittendrin: Der Gastgeber Roger Köppel, das Schweizer Taschenmesser des deutschsprachigen Rechtspopulismus. Mit einem rhetorischen Knicks begrüßt der Weltwoche-Herausgeber und SVP-Politiker den ungarischen Ministerpräsidenten, der für den 90. Geburtstag der Zeitschrift nach Zürich gereist ist: „Ich gebe es zu, Herr Orbán, Sie sind eines meiner großen Vorbilder.“ Der Regierungschef gab das Lob freundlichst zurück: Ohne die Weltwoche, sagte er, wäre die europäische Politik ärmer. Ein Gipfeltreffen auf Augenhöhe mit dem Anti-Demokraten und Putin-Freund Viktor Orbán, das war ganz nach Köppels Geschmack. Endlich durfte er verkörpern, was er gern wäre: ein Taktgeber der europäischen Rechten.
Politisch ist Köppel kürzergetreten, sein Mandat als Schweizer Nationalrat hat er gerade aufgegeben. Publizistisch hingegen führt er seine Weltwoche auf die größtmögliche Bühne: Seit September versucht er sich im „großen Kanton“, wie die Schweizer Deutschland spöttisch nennen. Ein logischer Schritt, das Videoformat Weltwoche Daily erreicht 200.000 Abonnenten auf YouTube, viele davon aus Deutschland, die hören und sehen, was die etablierten und staatsverliebten Medien angeblich verschweigen: Das Land wird ruiniert, durch Einwanderer und/oder Annalena Baerbock. Auch im kleineren Österreich sieht Köppel noch Wachstumspotenzial.
Doch was will der Mann, der die Weltwoche vom linksliberalen Blatt in die Mutter aller deutschsprachigen „alternativen Medien“ verwandelt hat, mit seiner Expansion nach Deutschland erreichen?
Von außen betrachtet könnte man Köppels Plan auch als Flucht nach vorn deuten: In der Schweizer Heimat schwächelt die Weltwoche, wie viele Medien. Wohin man schaut in den Alpenländern, kommen Projekte nicht vom Fleck, verlieren an Einfluss, Auflage und Geld – oder haben Probleme, die gestiegene digitale Reichweite zu versilbern. Gemeinhin wird den „alternativen Medien“ eine wichtige Rolle im Aufstieg der Rechtspopulisten zugesprochen, doch da, wo sie ein Geschäftsmodell sein wollen, teilen sie die Probleme der „System-Medien“. Die Krise der Medien ist auch ihre.
Bei Köppels Gipfeltreffen mit Viktor Orbán im Züricher Nobelhotel Dolder strahlte ein Österreicher im blauen Anzug auf den Fotos: Ferdinand Wegscheider, Programmchef von Servus TV, das zum Medien-Imperium des verstorbenen Red-Bull-Gründers Dietrich Mateschitz gehört. In der Pandemie hatte sich Servus TV vom Wohlfühlsender mit exklusiven Sportrechten und aufwendigen Natur-Dokus zu einer Art Heimatsender der „Querdenker“ entwickelt – auch dank des Programmchefs, der in seinem eigenen Format Der Wegscheider über die „Plandemie“ und „Impf-Faschisten“ schimpfte.
Journalistisch fragwürdig, wirtschaftlich gesehen in Österreich ein Erfolg: Mit fast fünf Prozent Marktanteil ist Servus TV der reichweitenstärkste Privatsender des Landes. Der Wegscheider erreicht in manchen Wochen eine Viertelmillion Zuschauer im linearen Fernsehen – und noch einmal doppelt so viele Abrufe auf Facebook und Telegram. In der deutschsprachigen rechten Szene wurde die Sendung zum Star und Servus TV zur Andockstation für Gleichgesinnte. Wie zum Beispiel Roger Köppel, der die Sendung Pragmaticus moderiert, den TV-Ableger des gleichnamigen Magazins, das sich „gegen den Mainstream positioniert“. Doch von den deutschen Bildschirmen wird sich Köppel bald verabschieden: Servus TV stellt den linearen Betrieb in Deutschland Anfang 2024 ein. Zeitweise waren die Quoten aus dem messbaren Bereich gepurzelt.
Der wöchentlichen Deutschland-Ausgabe der Weltwoche soll das nicht passieren. Sie erscheint als E-Paper, und Köppel verspricht den Lesern „einen unbefangenen Impuls aus der Schweiz“. Für den deutschen Medienjournalisten Markus Wiegand, Chefredakteur des Branchenmagazins kress pro, war klar, dass die Schweizer Ein-Mann-Marke irgendwann versuchen würde, ihre Reichweite in Deutschland zu Geld zu machen: „Nur: Warum hat er damit so lange gewartet?“
In der Flüchtlingskrise von 2015 erklärte Köppel den Deutschen in Talkshows wie hart aber fair, was sie alles falsch machten. Gelegentlich trat er auch bei Bild TV auf, sein letzter Auftritt datiert allerdings vom 23. Februar 2022 – dem Tag vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine. In derselben Woche hob die Weltwoche Wladimir Putin aufs Cover, die Titelzeile: „Der Missverstandene“. Köppels russlandfreundliche Haltung im Ukraine-Krieg verschreckte mehrere prominente Autoren, darunter Henryk M. Broder und den Schweizer Investigativjournalisten Kurt Pelda. Sie verließen das Blatt.
Anscheinend bestand auch Kontakt zu Julian Reichelt
Die deutsche Website der Weltwoche verzeichnet gemäß der Analyse-Plattform Similarweb zurzeit 100.000 Besucher pro Monat, das entspricht einem Fünftel der Schweizer Mutterseite. Und es ist nicht annähernd so viel wie die deutsche Konkurrenz von Tichys Einblick, die auf 1,2 Millionen Besucher kommt.
Welche Auflage er mit dem deutschen E-Paper erreichen will, wie viele Leser er in Deutschland bereits hat, gibt Roger Köppel auf Anfrage der ZEIT nicht bekannt. Die Weltwoche habe in Deutschland zugelegt, schreibt er. „Wir haben deshalb viele Anfragen von Lesern und Zuschauern meines erfolgreichen Podcasts Weltwoche Daily bekommen, mehr über Deutschland zu berichten.“ Zudem hätten deutsche Leser explizit nach einem E-Paper-Abo für Deutschland gefragt. „Nun haben wir Anfragen bezüglich Print. Mal sehen, wie wir vorankommen.“
In der Schweiz hingegen sinkt die Print-Auflage stetig: Von über 80.000 Stück, als Köppel den Verlag im Jahr 2006 kaufte, auf heute 39.000 Exemplare. Laut Branchenexperte Wiegand soll das Blatt trotzdem einen jährlichen Gewinn von etwa einer Million Franken abwerfen. „Die Weltwoche ist immer noch hochprofitabel, weil Köppel mit vielen freien Autoren arbeitet und damit extrem geringe Fixkosten hat.“ Die Kosten dürften auch mit dem deutschen E-Paper niedrig bleiben, weil Köppel damit auf Papier und Vertrieb verzichten kann.
Vielleicht war der Alleingang Köppels aber auch nur Plan B. Anscheinend hatte der Schweizer Kontakt mit einem anderen rechten Alpha-Journalisten: Ex-Bild-Chefredakteur Julian Reichelt. Wiegand weiß von beiden Seiten, dass es Gespräche zu einem gemeinsamen Medienprojekt gab: „Offenbar haben sie sich aber nicht geeinigt.“ Auf Anfrage der ZEIT streitet Reichelt die Treffen nicht ab, schreibt jedoch: „Herr Köppel und ich haben kein gemeinsames Projekt geplant. Was wir besprechen, behandle ich – wie jedes private Gespräch – mit der Diskretion einer Schweizer Bank.“ Roger Köppel sagt dazu: „Ich habe mit vielen Journalisten schon viele Ideen gewälzt, ohne dass ich das an die große Glocke hänge.“
Reichelt hatte als Bild-Chefredakteur einen Rechtskurs versucht, dazu gehörte auch Bild TV, das sich am amerikanischen Sender Fox News orientierte. Das Projekt zündete nie, mit Jahresende wird es eingestellt. Reichelt sendet mittlerweile auf Nius.de, mithilfe eines Investments des Milliardärs Frank Gotthardt. „Mit der großen Kelle angerührt“, kommentiert Wiegand – Köppel fahre dagegen mit seinem E-Paper die „Defensivvariante“.
Die Konkurrenz ist groß: Nicht nur Reichelt und andere meinungsstarke Ein-Mann-Marken wie Roland Tichy buhlen um das rechte Publikum – auch Gabor Steingart und sein Pioneer-Projekt oder die Neue Zürcher Zeitung, die in Deutschland mit großem Mitteleinsatz einen Wachstumskurs fährt und 50.000 Digital-Abonnenten hat. Für Köppel sei noch Platz, meint Wiegand: „Nach Umfragen gibt es in Deutschland mehr als 20 Prozent AfD-Wähler. Gut möglich, dass einige von ihnen ihre publizistische Heimat in Zukunft bei der Weltwoche finden.“
Noch größer ist der Anteil der rechten Wähler in Österreich. In Umfragen kommt die FPÖ auf 32 Prozent. Doch in Wien müsste Köppel nicht nur gegen Alpha-Journalisten aus dem eigenen Lager bestehen, sondern auch gegen ungewöhnliche Konkurrenz: die FPÖ. Die Rechtspopulisten betreiben mit FPÖ-TV seit 2012 das erfolgreichste „alternative“ Medium gleich selbst. Auf YouTube hat der Parteisender 200.000 Abonnenten, und FPÖ-Chef Herbert Kickl folgen auf Facebook 270.000 Menschen. Das sind immerhin halb so viele, wie AfD-Chefin Alice Weidel im zehnmal größeren Deutschland erreicht.
Aus Sicht der FPÖ ist die Medienstrategie eine Art Vorwärtsverteidigung: Besonders vom öffentlich-rechtlichen ORF fühlt sie sich wahlweise vernachlässigt oder unfair behandelt. Also setzt sie auf Bordmittel und einige Satellitenmedien, die teils von FPÖ-Politikern gegründet wurden, teils von Sympathisanten. Für Aufsehen sorgte zuletzt der digitale Sender Auf1, der aus Linz und Berlin sendet und auf Demonstrationen der rechten Szene omnipräsent ist. In recht professioneller Aufmachung tischt Auf1 den Zusehern das Einmaleins der modernen rechtsextremen Ideologie auf, von „Great Reset“ über die „Klimahysterie“ bis zum „Genderterror“, wie der Sender selbst die Themenschwerpunkte beschreibt. Angeblich erreicht er ein „Millionenpublikum“, auf Telegram hat Auf1 eine Viertelmillion Follower.
Österreich wäre ein schwieriges Pflaster
Zahlen, die Politiker aus dem rechten Lager anlocken: Als AfD-Chefin Alice Weidel im Herbst die Schwesterpartei in Wien besuchte, gab sie dem Sender gemeinsam mit Herbert Kickl ein Doppelinterview. Die Vorteile der abgeschotteten rechten Medienwelt beschrieb der FPÖ-Mediensprecher Christian Hafenecker 2020 so: „Bei den neuen Medien (…) gibt es eine strukturierte Vorgehensweise. Wir haben regelmäßige Treffen mit den Chefredakteuren dieser Medien und Plattformen, und das ist institutionalisiert. Das heißt, man versucht sich wirklich gegenseitig zu helfen.“
Wie diese Hilfe aussehen könnte, zeigt die Ära von Herbert Kickl als Innenminister: 2017 suchte das Ministerium auch via Anzeigen im rechtsradikalen Wochenblick nach neuen Beamten. Mittlerweile ist die Zeitung eingestellt, auch in Österreich schwächelt der Print-Bereich, die großen Werbebudgets gehen an Facebook und Co. Seit April 2019 investierte die FPÖ 400.000 Euro allein in Social-Media-Werbung für ihren Parteichef Herbert Kickl.
Wie schwer es Neuankömmlinge in Österreich im eingespielten rechten Kosmos haben, zeigen die Startschwierigkeiten des Exxpress: Im März 2021 gründete sich die Online-Seite mit einer Kampfansage an die Boulevard-Platzhirsche von der Krone, dem traditionellen Zentralorgan des rechts dominierten Stammtisches. Das Geld schaffte die illustre Familie Schütz herbei, die zum Kreis um Sebastian Kurz zählt, das journalistische Gesicht ist Richard E. Schmitt. Unter dem Titel „Exxpressfahrt in die roten Zahlen“ berichtete der Standard jüngst von Millionenverlusten.
Die ungebrochene Dominanz der Krone, dazu das FPÖ-Medienkartell: Für Köppel wäre Österreich ein schwieriges – und erst noch kleines – Pflaster. Damit hat er Erfahrung. Die Nische, in der sich seine Weltwoche in der Schweiz eingerichtet hat, haben auch andere für sich entdeckt. Beispiel Nebelspalter: Die älteste Satirezeitschrift der Welt, lange politisch unauffällig, wurde ab 2020 vom rechtsbürgerlichen Journalisten Markus Somm und einigen Finanziers auf rechts gedreht. Das verstaubte Blatt sollte so auch online erfolgreich werden, doch statt der anvisierten 12.000 Digital-Abonnenten zahlen bislang erst 4.500. Zu wenig, wie Markus Somm kürzlich gegenüber der Plattform Inside Paradeplatz zugab: was „die Einnahmen“ und „den journalistischen Impact“ betreffe. Laut einem ehemaligen Redaktionsmitglied soll Somm bereits knapp die Hälfte seines Startkapitals von acht Millionen Franken versenkt haben, das ihm 80 reiche Unternehmer zur Verfügung gestellt hatten. Mit Verlusten kennt Somm sich aus: Als er 2010 im Auftrag von SVP-Übervater Christoph Blocher die linksliberale Basler Zeitung nach rechts führte, verlor sie innert acht Jahren die Hälfte ihrer Auflage.
Von der elfköpfigen Startformation des Nebelspalters arbeiten laut aktuellem Impressum noch fünf Personen dort. Spricht man mit ehemaligen Mitarbeitern, erzählen sie von „strategischen Harakiri-Übungen“. Ständig habe Somm die Ausrichtung des Online-Projekts geändert. Das gedruckte Heft dagegen soll laut einem früheren Mitarbeiter bis zuletzt einen bescheidenen Gewinn abgeworfen haben. Die Auflage sinkt nur langsam: Von 21.000 Exemplaren im Jahr 2012 auf aktuell 18.000. Trotzdem hat Somm den Chefredakteur der Print-Ausgabe kürzlich entlassen, im Heft druckt er Texte, die online bereits erschienen sind. Zu den Zahlen, der Strategie und dem Abonnentenschwund nimmt Somm keine Stellung. Er habe leider keine Zeit, lässt er ausrichten.
Wenn man so will, haben sich Köppel und die anderen rechten Alternativmedien selbst in die Nische gesiegt. Der Medien-Mainstream ist in der Schweiz in den vergangenen Jahren nach rechts gerückt. Was früher nur in der Weltwoche zu lesen war, wird heute auch in der NZZ oder der Sonntagszeitung publiziert.
Den Politiker Köppel kann das freuen. Den Medienunternehmer nicht.
(https://www.zeit.de/2023/52/roger-koeppel-weltwoche-rechte-medien-oesterreich-schweiz/komplettansicht)
++++HISTORY
Gegenstände erzählen tamilische Fluchtgeschichten
In Sri Lanka fand vor 40 Jahre die bis dato grössten anti-tamilischen Pogrome «Black July» statt, welche hunderttausende Tamil*innen aus ihrer Heimat vertrieben. Das Haus der Religionen zeigt dazu die Ausstellung «40 Years – Swiss Tamil Diaspora». Ein Audiobeitrag.
https://journal-b.ch/artikel/gegenstaende-erzaehlen-tamilische-fluchtgeschichten/