Medienspiegel 8. Dezember 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Die Gemeinde Hasle informiert: Bei Spenden für die Kollektivunterkunft sind Termine nötig
Spenden für die Kollektivunterkunft Schafhausen sollten nicht vor dem Haus oder der Garage deponiert werden.
https://www.bernerzeitung.ch/die-gemeinde-hasle-informiert-bei-spenden-fuer-die-kollektivunterkunft-sind-termine-noetig-194107632477


Motion SP/Grüne/EVP: Ausbildungsbeiträge für vorläufig Aufgenommene
https://www.gr.be.ch/de/start/geschaefte/geschaeftssuche/geschaeftsdetail.html?guid=c0a5e9d0607642089a4f17e7b8dc3b86


++++BASEL
Vorsicht, Grenzkontrolle!
https://telebasel.ch/sendungen/punkt6/213217


+++THURGAU
Gemässigte Diskussion über Asylunterkunft Steckborn
Die Bevölkerung von Steckborn hat an der gestrigen Gemeindeversammlung über die Notasylunterkunft diskutiert. Auch Mitglieder der Interessengemeinschaft, welche eine Vertragsauflösung für die Asylunterkunft anstreben, waren anwesend, meldeten sich aber nicht zu Wort. (ab 11:42)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/gemaessigte-diskussion-ueber-asylunterkunft-steckborn?id=12500790


+++SCHWEIZ
aargauerzeitung.ch 08.12.2023

Eritrea ruft zum bewaffneten Aufstand in der Schweiz auf – Tiktok-Propagandavideos erzürnen Geflüchtete

Das eritreische Regime verlangt von allen «ehrenhaften» Menschen, dass man sich gegen die Oppositionellen zur Wehr setzt. Dies soll auch in der Schweiz geschehen – nötigenfalls mit Gewalt.

Raphael Rohner

Die Jugend soll mobilisiert werden um die Ehre Eritreas zu verteidigen, steht in einem Schreiben des eritreischen Verteidigungsministeriums, das derzeit in der Diaspora die Runde macht. Am Samstag, 9. Dezember, soll es an verschiedenen Orten Veranstaltungen geben, die den Regimegegnern ihren Mut zum Widerstand nehmen sollen.

Das Schreiben wird in mehreren Videos auf Tiktok zitiert, mit nationalistischer Musik unterlegt und es wird dazu aufgerufen, sich zu formieren. Unter anderem rufen Accounts mit Usernamen wie «EriBlood», sowie «B52» dazu auf, sich einem bewaffneten Aufstand anzuschliessen. Bei diesen Gruppierungen handelt es sich um bewaffnete Schutzgruppen, welche gewaltsam gegen die Gegner der Diktatur vorgehen.

Im Schreiben und in den Videos werden Parolen des eritreischen Diktators Afewerki zitiert, der dazu aufruft, Oppositionen nötigenfalls blutig niederzuschlagen. Dem Text nach zu urteilen, stammt das Schreiben direkt aus Eritrea selber und sei so von der Botschaft Eritreas in Genf abgesegnet worden.

Unklare Rolle der eritreischen Botschaft

Die Botschaft in Genf dementiert jegliche Aufrufe zum Widerstand. Gemäss Insidern geschah das aber erst auf Druck der Schweizer Behörden: «Wir wissen nichts von bevorstehenden Veranstaltungen und raten der eritreischen Bevölkerung in der Schweiz, nicht an solchen Veranstaltungen teilzunehmen», steht in einer öffentlichen Stellungnahme des neuen Botschafters auf der Homepage der Botschaft. Weitere Anfragen an den neuen Botschafter blieben unbeantwortet.

Zur Erinnerung: Nachdem diese Zeitung mehrere Recherchen über Spione und Einflussnahme der eritreischen Regierung in der Schweiz publiziert hatte, verschwand der Botschafter in Genf und wurde ersetzt. An mehreren Orten in der Schweiz kam es bei Eritrea-Festivals zu Auseinandersetzungen zwischen geflüchteten Oppositionellen und Anhängern des Regimes in ihrer Heimat. Bislang hat die Regierung Eritreas keine offiziellen Stellungnahmen dazu gegeben.

Die am Samstag geplante Aktion soll die Widerstandsgruppen der Regierung vereinen und dazu dienen, die Opposition zu zerschlagen. Dabei handelt es sich gemäss Recherchen dieser Zeitung nicht um den ersten Anlass dieser Art: Am 4. November versammelten sich in Stockholm mehrere hundert Anhänger des Regimes und verkündeten auf Tiktok das Ende der Gegner des Regimes. Man wolle die «Abtrünnigen» unter Kontrolle bringen, sagte etwa ein Redner in Militäruniform in einem Tiktok-Video.

Grosse Nervosität bei geflüchteten Menschen

Für in die Schweiz geflüchtete Eritreerinnen und Eritreer eine besorgniserregende Situation: «Wir sind aus einem Land geflüchtet, in dem der Diktator Angst und Schrecken verbreitet. Hier in der Schweiz fühlen sich die Menschen sicher – eigentlich», heisst es beim eritreischen Medienbund auf Anfrage.

Der lange Arm des Diktators sorgt schon seit längerem für Probleme in der Schweiz: So unterwanderte eine unbekannte Anzahl an Spionen als Dolmetscher getarnt die Schweizer Behörden und das Staatssekretariat für Migration, sowie einige Strafvollzugsbehörden. Nach und nach wurden Angehörige von geflüchteten Menschen von den Behörden in Eritrea bedrängt und es wird Geld wegen «Verrat am Vaterland» eingetrieben.

Ebenso treiben in der Schweiz die eritreischen Behörden legal Geld von den Geflüchteten ein und verlangen von den Menschen eine Reueerklärung, sofern sie auf der Botschaft ihre Papiere beantragen. Der aktuelle Aufruf, sich dem bewaffneten Widerstand gegen die Opposition anzuschliessen, sorgt für Nervosität bei den Geflüchteten: «Es wird zu Gewalt kommen.»
(https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/fluechtlingspolitik-eritrea-ruft-zum-bewaffneten-aufstand-in-der-schweiz-auf-tiktok-propagandavideos-erzuernen-gefluechtete-ld.2553961)


+++LETTLAND
Fehlender Grenzzaun macht Lettland zu schaffen – Rendez-vous
Auf ihrem Weg in die EU versuchen derzeit viele Migrantinnen und Migranten von Belarus aus die Grenze nach Lettland zu überqueren: Denn im Gegensatz zu Polen oder Litauen, hat Lettland noch keinen fertigen Grenzzaun. Für die Behörden ein riesiges Problem.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/fehlender-grenzzaun-macht-lettland-zu-schaffen?partId=12500745


+++MITTELMEER
Seenotretter an der Gesetzesleine
Private Seenotretter stecken in einem Dilemma. Italiens Regierung schreibt seit Kurzem vor, dass Rettungsschiffe nach einem einzigen Einsatz direkt zurück in den Hafen müssen. Was aber, wenn unterwegs ein weiterer Notruf kommt?
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/mittelmeer-migranten-rettungseinsatz-100.html


+++EUROPA
Heiße Phase der GEAS-Verhandlungen: Jetzt noch protestieren!
Die Verhandlungen um die europäische Asylrechtsreform sind in der entscheidenden Phase, die spanische Ratspräsidentschaft will noch in diesem Jahr eine politische Einigung erzielen. In den Verhandlungen geht es um den Kern des Flüchtlingsschutzes in Europa – doch die Mitgliedstaaten könnten sich mit besonders schlimmen Vorschlägen durchsetzen.
https://www.proasyl.de/news/heisse-phase-der-geas-verhandlungen-jetzt-noch-protestieren/


+++FREIRÄUME
Limmattalstrasse 281 BESETZT!
Besetzt Bewohnt Belebt
Besetzt: Gestern Nachte wurde das Haus an der Limmattalstrasse 281 BESETZT!
Die «Seraina Invest» als Eigentümerin vernachlässigt bewohnbaren Raum in der Stadt Zürich.
Bewohnt: Dagegen wehren wir uns und beleben diesen Raum ab sofort! Wir bleiben!
Belebt: Zur Zeit erkunden wir noch das Haus und richten uns gemütlich ein. Wir wollen möglichst bald das Quartier auf einen heissen Glühwein einladen.
Weitere Infos folgen, wir hören uns!
https://alleswirdbesetzt.ch/was-passiert/limmattalstrasse-281-besetzt/


+++GASSE
derbund.ch 08.12.2023

Obdachlose in Bern erzählen: «Bist du einmal einer, wirst du dieses Image kaum mehr los»

Überfüllte Notschlafstellen, Übernachtungen in der Eiseskälte: In Bern leben immer mehr Obdachlose. Was ist los in der reichen Bundesstadt?

Andres Marti, Simone Klemenz

Seit zwei Monaten ist Maria obdachlos. Sie übernachtet im Sleeper, der Notschlafstelle an der Neubrückstrasse in Bern. Der Grund dafür mag simpel klingen: «Um meine Rechnungen bezahlen zu können, musste ich mein Zimmer aufgeben.» Miete, Krankenkasse, ÖV-Abo – es wurde alles zu viel. Und das, obwohl Maria eine Temporärstelle hat. Sie arbeitet zu 60 Prozent in der Reinigung und im Service.

Alle Betroffenen, mit denen wir geredet haben, wollen nur mit Vornamen angesprochen werden. Teils haben wir die Namen geändert.

Maria hat sich in eine dicke Jacke gehüllt, obwohl es im Lokal der kirchlichen Gassenarbeit angenehm warm ist. Heisse Getränke, Suppen, Kurzberatungen und Internet: Das gibt es in der Länggasse zweimal die Woche für Menschen in prekären Lebenslagen.

«Wenn du ganz draussen bist, wo willst du überhaupt anfangen?», fragt sich Alex im Büro der Gassenarbeit. Ihn beschäftigt die Stigmatisierung, die «an uns Randständigen haftet». «Bist du einmal einer, wirst du dieses Image kaum mehr los.» Er fühlt sich vom Staat hintergangen, weiss aber, dass er ohne ihn wohl kaum mehr ein Teil der Gesellschaft werden kann.

Schlafen unter den Lauben

Solche Zustände wie dieses Jahr hat Ruedi Löffel noch nie erlebt. Seit 15 Jahren arbeitet er bei der kirchlichen Gassenarbeit. Zwar beobachte er seit Jahren eine Zunahme von obdachlosen Menschen. Seit der Pandemie sei diese aber spürbarer und sichtbarer geworden.

Auch für die Menschen, die in der Berner Altstadt leben, arbeiten und einkaufen: «Abends auf dem Heimweg treffe ich fast immer auf Menschen, die in den Lauben übernachten», sagt die langjährige Altstadt-Bewohnerin Barbara Geiser. Das habe es früher nicht gegeben, so die ehemalige Präsidentin der Vereinigten Altstadtleiste. Einmal hat Geiser bei einer regungslos am Boden liegenden Person die Polizei verständigt. «Ich machte mir Sorgen wegen der tiefen Temperaturen.»

Doppelt so viele Obdachlose

Laut den Beobachtungen der städtischen Interventionsgruppe Pinto schlafen in Bern derzeit um die 40 Menschen auf der Strasse – rund doppelt so viele wie vor der Pandemie. «Bettelnde Personen aus Osteuropa» sind da explizit nicht mitgezählt, wie die Stadt schreibt. Eine genaue Zählung ist ohnehin schwierig: Es gibt Obdachlose, die nicht mit Pinto in Kontakt treten wollen.

Im vergangenen Winter fehlte es in Bern zum ersten Mal an Notschlafplätzen. Die Lage hat sich bis heute nicht entschärft. Für die Wintermonate braucht es in Bern zusätzliche Plätze, primär um «obdachlose Personen vor dem Erfrieren zu schützen», wie die Stadt schreibt. Heute stehen in Bern 87 Plätze in Notschlafstellen zur Verfügung.

Dass immer mehr Menschen draussen übernachten, ist indes kein Berner Phänomen. Auch die Städte Zürich, Genf oder Biel berichten von überfüllten Notschlafstellen.

Szene-Treffpunkt «HG»

Vor der «HG», der Heiliggeistkirche beim Berner Bahnhofplatz, treffen wir Mike, Yves und Sven mit ihren Hunden Rex und Kira. Die Treppen der Kirche und die Bänke beim Baldachin sind seit jeher Treffpunkt für alle, deren Leben sich hauptsächlich auf der Strasse abspielt.

Die drei Männer gehören zur selben Clique und bezeichnen sich selbst als die «anständigen Randständigen». Das Treffen eingefädelt hat der umtriebige Pfarrer Andreas Nufer. Er ist Mitglied des Teams der offenen Kirche Bern, das in der Heiliggeistkirche mit Freiwilligen ein niederschwelliges Café betreibt. Vor dem Gespräch werden noch rasch die Bierdosen geleert und die Kippen entsorgt. Im Inneren der Kirche gilt Alkoholverbot.

Der Absturz geht schnell

Wie wird man obdachlos? «Man geht seinen eigenen Weg, nimmt Drogen und trinkt ein bisschen viel», sagt der 23-jährige Mike, Typ Musiker. Der Absturz sei bei ihm rasch gekommen. Den letzten Winter verbrachte er im Obdachlosenheim in Thun. Den Kontakt mit der Familie habe er komplett abgebrochen, da er nicht gewollt habe, dass sie ihm beim Abstürzen zusehe. Als Einziger der drei habe er inzwischen aber wieder eine feste Bleibe.

«Mir ist die Wohnung abgebrannt», sagt der 47-jährige Yves, den es von Thun nach Bern gezogen hat. Danach habe er fünf Monate in einem Zelt an der Kander gelebt. Das war 2015. Yves lebt von der Sozialhilfe, einer IV-Rente und den Spenden von Passanten. Von der Strasse kommt er dennoch nicht los. Eigentlich sei ihm von der Sozialhilfe eine Wohnung versprochen worden, aber irgendein Missverständnis sei nun schuld, dass es damit nicht geklappt habe. Wo schläft er heute Nacht? «Mau luege.»

Sein Kumpel Sven, ein grossgewachsener Deutscher, sagt, er habe fünf Jahre in Afghanistan als Soldat gedient. Danach gründete er ein eigenes Geschäft, das pleiteging. In die Schweiz kam der 43-Jährige für diverse Nebenjobs, unter anderem arbeitete er vor einem Club als Türsteher. Nun sitzt er hier mit Schlafsack, Matte und Rucksack. Seine Hündin sei wie eine Bettflasche, sagt er. In den Mehrbettzimmern der Notschlafstellen sind Hunde in der Regel nicht erlaubt.

Viele Gründe für Zunahme

Laut einer letztes Jahr von der Fachhochschule Nordwestschweiz veröffentlichten Studie verfügen über 60 Prozent der in der Schweiz lebenden Obdachlosen über keinen offiziellen Aufenthaltsstatus. Viele von ihnen reisen bereits mittellos ein.

In Bern geht man davon aus, dass rund die Hälfte der Obdachlosen auf Arbeitssuche ist. Viele von ihnen finden wegen fehlender Qualifikationen, fehlender Sprachkenntnisse oder fehlender Bewilligungen keine Stelle und landen auf der Strasse. Laut der oben erwähnten Studie sind nur rund 11 Prozent der Obdachlosen bei der Sozialhilfe gemeldet. Die meisten sind der Meinung, dass die Sozialhilfe bei der Suche nach einer Wohnung nicht helfen kann.

Neben den Verdrängungen auf dem Mietmarkt ist auch das überlastete Gesundheitssystem ein Grund, dass in der Schweiz immer mehr Menschen ihr Zuhause verlieren. Viele Obdachlose leiden unter einer psychischen Krankheit oder sind süchtig. Doch wegen fehlender Abklärungs- und Therapieplätze verlieren viele ihre Wohnungen und landen laut der Stadt Biel auf der Strasse.

Für die Zunahme der Obdachlosigkeit macht Pfarrer Nufer von der Heiliggeistkirche auch die Sparpolitik des Kantons und der Gemeinden verantwortlich. Viele Obdachlose kommen laut Nufer aus den Regionen nach Bern, in denen der Kanton oder die Gemeinden den entsprechenden Einrichtungen die Mittel gekürzt haben.

Der Teufelskreis

In die Obdachlosigkeit hineinzurutschen ist das eine. Wieder herauskommen ist das andere. Eva Gammenthaler von der Gassenarbeit sagt es so: «Die Spirale nach unten ist blitzschnell, jene nach oben steinig und langwierig.»

Suchterkrankungen und Obdachlosigkeit bilden oft einen Teufelskreis. Das weiss Alexandra nur zu gut. Auch sie treffen wir bei der Gassenarbeit an. Weil sie in den Notschlafstellen schlechte Erfahrungen gemacht hat, übernachtet sie derzeit oft bei einem Schwimmbad.

Von den Drogen sei sie zwar losgekommen, aber mit dem Alkohol sei es schwierig. Nicht immer schaffe sie es deshalb, alle Termine wahrzunehmen. Und schon stehe ihr Sozialgeld wieder auf der Kippe, schildert sie.

Wege aus der Obdachlosigkeit

Um die Situation zu entschärfen, hat die Stadt Bern mehrere Massnahmen beschlossen. So hat sie die Öffnungszeiten vom Punkt 6, dem von Pinto betriebenen Aufenthaltsraum an der Nägeligasse, ausgedehnt und zusätzliche Notwohnungen angemietet.

Längerfristig will die Stadt eine Notschlafstelle eigens für Frauen schaffen, wie sie in ihrer Strategie Obdach festhält. Gerade bei Frauen sei die Lage besonders undurchsichtig: Zwar kämen sie leichter bei Privaten unter, aber «oft leider nur im Gegenzug für sexuelle Dienstleistungen», so Claudia Hänzi, Leiterin des Sozialamts.

Auch der «Housing First»-Ansatz soll vertieft geprüft werden. Das heisst: Der Erhalt einer Wohnung soll nicht mehr an Bedingungen wie Drogenabstinenz geknüpft werden.

Gassenarbeit kritisiert «Symptombekämpfung»

Das Team der Gassenarbeit begrüsst die Massnahmen der Stadt zwar. Doch betreibe sie lediglich Symptombekämpfung, statt die Probleme bei der Wurzel zu packen. Da die Ursachen für die steigende Obdachlosigkeit tief in den gesellschaftlichen und systemischen Strukturen gründeten, sei auch hier anzusetzen. «Der Wohnungsmarkt muss neu angegangen, die Armut bekämpft, der Grundbedarf der Sozialhilfe angehoben werden», nennt Eva Gammenthaler, die früher für die Alternative Linke im Stadtrat sass, als Beispiele.

Unterdessen ist es draussen dunkel geworden, Maria, Alex und Alexandra diskutieren in der Länggasse noch immer über das Leben. Auch Bruno sitzt dabei. Er spricht mit rauchiger Stimme. Er weiss, auch sein Leben ist eine Achterbahnfahrt. Bei ihm geht es aber gerade aufwärts.

«Ich habe seit einem Jahr wieder eine eigene Wohnung.» Gewohnt habe er zuvor schon an vielen Orten: mit 17 Jahren zum ersten Mal auf der Strasse. So weit wolle er es nun nicht mehr kommen lassen. Besonders gefällt ihm an seiner Wohnung, dass er jederzeit die Tür zumachen und seine Ruhe haben kann.
(https://www.derbund.ch/obdachlose-in-bern-erzaehlen-bist-du-einmal-einer-wirst-du-dieses-image-kaum-mehr-los-257578856717)



In Basel haben sich die behördlichen Interventionen aufgrund von Drogenkonsum im öffentlichen Raum in den letzten 10 Jahren versechsfacht. (ab 01:08)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/die-weihnachtsstadt-basel-beliebt-bei-touristinnen-und-touristen?id=12500928


Kein Platz: Die Suchthilfe Olten weist Drogenabhängige aus dem Aargau ab
Der Oltner Stadtrat schlägt Alarm: Immer mehr Cracksüchtige wollen im Lokal der Suchthilfe Ost ihre Drogen konsumieren. Weil der Platz fehlt, werden Süchtige aus dem Aargau weggeschickt.
https://www.32today.ch/mittelland/kein-platz-die-suchthilfe-olten-weist-drogenabhaengige-aus-dem-aargau-ab-155599123



aargauerzeitung.ch 08.12.2023

Oltner Stadtrat und Suchthilfe Ost schlagen wegen Crack-Konsum bei Aargauer Gemeinden Alarm: «Wir müssen unbedingt handeln und die Situation beruhigen!»

Seit Ende September nimmt die Suchthilfe Ost in Olten keine Konsumierenden aus dem Kanton Aargau mehr auf. Der Stadtrat und die Präventionsstelle bitten die ausserkantonalen Gemeinden, selber Lösungen zu finden. Doch das dürfte dauern.

Maximilian Jacobi

«Wir müssen unbedingt handeln und die Situation beruhigen!» Der Satz steht in einem Brief des Oltner Stadtrats. Er richtet sich an sechs Gemeinden im Kanton Aargau, darunter die Stadt Aarau. Im Brief geht es um den zunehmenden Crack-Konsum. Wie dieser die Suchthilfe Ost in Olten an die Grenzen bringt. Und dass in Olten für Süchtige aus dem Aargau daher kein Platz mehr ist.

«Im Kanton Aargau existieren keine Konsumräume», sagt Daniel Schaad, stellvertretender Geschäftsleiter der Suchthilfe Ost. Früher durften Süchtige aus dem Nachbarkanton noch im Lokal in Olten Drogen konsumieren. Durch die Crack-Welle stösst die hiesige Suchthilfe aber an ihre Grenzen. Auswärtige werden nun weggeschickt. «Alles andere wäre nicht fair dem Steuerzahler gegenüber», sagt Schaad. Die Suchthilfen finanzieren sich mithilfe öffentlicher Gelder der beteiligten Gemeinden und des Kantons.

«Mit dem Brief wollen wir der Suchthilfe Ost helfen», sagt Raphael Schär-Sommer, Oltner Stadtrat für Soziales. Die Suchthilfe selbst adressierte bereits kurz davor einen Brief an die Verwaltungen der Aargauer Gemeinden. Vor einigen Wochen doppelte der Oltner Stadtrat mit dem eingangs erwähnten Brief nach und richtete das Schreiben direkt an die Gemeindepolitikerinnen und -politiker. Darin hält er fest: «Eine Verschiebung des Konsums in die Öffentlichkeit gilt es unter allen Umständen zu vermeiden.»

Offene Drogenszene im Aargau

Laut Schär-Sommer haben einige Aargauer Gemeinden den Handlungsbedarf erkannt. Andere haben noch nicht geantwortet. Eine Gemeinde schrieb, der Kanton Aargau unternehme bereits genug. Dabei sei aus dem Kanton Basel-Stadt bekannt, dass ein Drittel der Konsumierenden aus dem Aargau stamme. «Es ist wichtig, dass der Kanton Aargau Verantwortung übernimmt», sagt Schär-Sommer.

Ohne Konsumräume lässt sich im Kanton Aargau die «Verschiebung des Konsums in die Öffentlichkeit» also kaum vermeiden. Schon Mitte Oktober berichtete diese Zeitung von einer wachsenden Drogenszene, insbesondere im öffentlichen Raum. Betroffen sind beispielsweise die Bahnhöfe in Brugg und Aarau.

Er plane derzeit keine Konsumräume, schreibt der Kanton Aargau auf Anfrage. Im Rahmen der «Gesundheitspolitischen Gesamtplanung 2030» würden solche Räume aber geprüft.

Laut dem Bericht wurde Mitte Oktober ein Vorstoss im Kantonsparlament eingereicht. Darin forderten die Unterzeichnenden Klarheit über den Umgang des Kantons mit der offenen Drogenszene. Von SP über Grüne bis SVP fand die Interpellation zwar breite Unterstützung. Doch einig ist sich das Parlament nicht.

Olten: Bis hierher lief’s noch ganz gut

Vor allem für den linken Flügel der Unterzeichnenden wäre ein Konsumraum eine Lösung. Die bürgerliche Seite hingegen sieht das als Symptombekämpfung und findet, man müsse beim Drogenkonsum an und für sich ansetzen.

Die Auflösung der offenen Drogenszene im Aargau dürfte seine Zeit in Anspruch nehmen. Allgemein sieht es für die dortige Suchthilfe nicht rosig aus: Ihr Jahresbudget hatte sie bereits im Oktober aufgebraucht. Grund dafür war der höhere Aufwand durch den gestiegenen Crack-Konsum.

Für die Suchthilfe Ost in Olten geht die Crack-Welle ebenfalls ins Geld. Erst im Oktober mussten sie einen Sicherheitsdienst einstellen, um die Ordnung aufrechtzuhalten. Doch Daniel Schaad beruhigt: «Wir können das noch gut auffangen.»
(https://www.aargauerzeitung.ch/solothurn/olten/drogen-oltner-stadtrat-und-suchthilfe-ost-mahnen-aargauer-gemeinden-wegen-crack-konsum-wir-muessen-unbedingt-handeln-und-die-situation-beruhigen-ld.2553430



tagblatt.ch 08.12.2023

Opioidmissbrauch nimmt in der Ostschweiz zu – Todesdroge Fentanyl bleibt aber eine Randerscheinung

Lange sah es so aus, als würde der missbräuchliche Konsum von Heroin und anderen Opioiden abnehmen. Doch die Zahlen steigen wieder. Droht der Schweiz eine Opioidkrise wie den USA?

Jochen Tempelmann

Die Drogenstatistik der USA liest sich Jahr für Jahr beängstigender: Mehr als 100’000 Drogentote zählte das Land zuletzt innerhalb von zwölf Monaten. Bei den Unter-50-Jährigen ist Drogenkonsum mittlerweile die häufigste Todesursache. Viele sterben an einer Überdosis Fentanyl, welches um ein Vielfaches stärker als Heroin wirkt. Seit kurzem nimmt auch in der Schweiz der Konsum von Opioiden wieder zu. Die Ostschweizer Beratungsstellen beobachtet die Situation achtsam.

«Wir haben lange gedacht, irgendwann würde uns die Opioidthematik immer weniger beschäftigen», sagt Regine Rust, Geschäftsleiterin der Stiftung Suchthilfe St.Gallen. Tatsächlich hat die Zahl der Heroinabhängigen seit den Neunzigerjahren deutlich abgenommen. Es gibt weniger Junge, die zur Heroinspritze greifen. «Aber die Opioide beschäftigen uns weiter.»

Studie belegt Zunahme von Konsum

Das belegt eine Studie der ETH, die Anrufe bei der Notrufnummer von «Tox Info Schweiz» aufgrund von Opioiden ausgewertet hat. Zwischen 2000 und 2019 ist die Zahl der Anrufe pro 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner von 1,4 auf 3,9 gestiegen, sie hat sich also fast verdreifacht.

«Wir beobachten, dass es mehr Konsumierende von Opioiden gibt», sagt Regine Rust zur Situation im Kanton St.Gallen. Die Heroinabhängigen würden zwar weniger, doch die junge Generation greife zu anderen Formen von Betäubungsmitteln, die als Medikamente verfügbar sind. Etwas anders sieht es im Thurgau aus: Dort seien die Zahlen in Bezug auf Opioide seit Jahren rückläufig, sagt Lea Straub, Bereichsleiterin Suchtberatung bei Perspektive Thurgau.

Auf Codein, Tramadol und Oxycodon – drei Opioide, die Ärztinnen und Ärzte als Medikamente verschreiben – sind auch die meisten Anrufe bei Tox Info Schweiz zurückzuführen. Rust teilt die Beobachtungen in St.Gallen: «Es sind Substanzen, an die auch die Jungen kommen.» Die neue Generation habe eine neue Art des Konsums gefunden. «Und wenn diese Medikament nicht mehr verfügbar sind, suchen manche nach illegalen Alternativen.»

Kaum Fentanyl auf dem europäischen Schwarzmarkt

Dieses Konsummuster treibt auch die Opioidkrise in den Vereinigten Staaten an. Dort haben gewinnorientierte Pharmaunternehmen die lasche Gesetzgebung ausgenutzt und Hunderttausenden starke Betäubungsmittel für harmlose Gebrechen verschrieben. Viele kommen von den stark abhängig machenden Medikamenten nicht mehr los. Werden die Präparate zu teuer oder bekommen die Abhängigen kein Rezept, greifen sie auf dem Schwarzmarkt zu anderen Opioiden wie Heroin oder Fentanyl.

Auch wenn die Muster, die zu Abhängigkeit und zum Abrutschen in die Illegalität führen, hierzulande die gleichen sind wie in den USA – die Ausgangslage ist eine ganz andere. Einerseits sind die Zahlen der Abhängigen auf einem viel tieferen Niveau, andererseits ist auch der Schwarzmarkt ein anderer. Während der US-amerikanische Markt in der Hand mexikanischer Drogenkartelle ist, wird der europäische Opioid-Schwarzmarkt vor allem mit afghanischem Heroin gedeckt, welches über albanische Zwischenhändler den Weg nach Europa findet.

Die mexikanischen Kartelle produzieren mittlerweile im grossen Stil Fentanyl. Fentanyl ist um ein Vielfaches potenter als Heroin – erhält man auf dem Schwarzmarkt falsch deklariertes oder gestrecktes Heroin, ist die Gefahr einer Überdosis gross. Diese Gefahr besteht in der Schweiz nicht: «Heroin, dem Fentanyl beigemischt ist, kennen wir nicht», sagt Regine Rust.

Dennoch findet sich auch auf dem Ostschweizer Schwarzmarkt gelegentlich Fentanyl. «Dabei handelt es sich um fentanylhaltige Medikamente, beispielsweise Schmerzpflaster», sagt Rust. «In dieser Form hat die Applikation nicht die Intensität, die es hätte, wenn es Heroin beigemischt wird.» Wenn die Suchtfachstellen mit solchen Produkten konfrontiert seien, würden sie die Konsumierenden über die Gefahren aufklären – aufgrund der geringen Verbreitung seien breite Aufklärungskampagnen derzeit aber nicht angezeigt. Ähnlich sieht es im Thurgau aus: Aktuell seien keine Auffälligkeiten in Bezug auf Fentanyl zu beobachten, sagt Lea Straub.

Zukunft des Drogenmarkts ist ungewiss

Derzeit sieht Regine Rust keine Anzeichen, dass die albanische Drogenmafia ähnlich der mexikanischen mit der Fentanylproduktion beginnen würde. «Das bedeutet aber nicht, dass man nicht aufmerksam sein muss.» Denn der europäische Heroinmarkt steht vor einer ungewissen Zukunft: Anscheinend macht das afghanische Talibanregime Ernst und geht gegen die weit verbreitete Opiumproduktion vor. Damit schrumpft die wichtigste Quelle des europäischen Heroinmarkts.

Ob diese Angebotsverknappung mittelfristig dazu führt, dass auch der europäische Schwarzmarkt mit billigem Fentanyl geflutet wird, sei unklar: «Der Schwarzmarkt bleibt eine Blackbox.»

Klar ist aber, dass der zunehmende Opioidkonsum die Beratungsstellen weiter beschäftigen wird. «Die Prävention bleibt wichtig», sagt Regine Rust. «Wir müssen vorbeugend handeln, damit nicht wieder Drogenszenen wie in der Vergangenheit entstehen.» Gefragt sind dabei nicht nur die Beratungsstellen, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte, die Opioide verschreiben.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/heroin-und-fentanyl-opioidmissbrauch-nimmt-in-der-ostschweiz-zu-todesdroge-fentanyl-bleibt-aber-eine-randerscheinung-ld.2549435)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
derbund.ch 08.12.2023

«Effy 29»-Prozess geht in zweite Runde: Dieses Urteil löste eine Kontroverse aus

Am Montag stehen die 16 Hausbesetzer von der Effingerstrasse vor dem Berner Obergericht. Wird dieses das milde Urteil der Erstinstanz verschärfen?

Michael Bucher

Es war ein Urteil, das bei vielen Leuten für Empörung sorgte. Im Juni 2021 sprach das Regionalgericht in Bern 16 Hausbesetzerinnen und -besetzer im Hauptanklagepunkt frei. In den Leserkommentaren gingen die Wogen hoch. Die Rede war von «Skandalurteil» und «Kuscheljustiz».

Angeklagt waren vier Frauen und zwölf Männer des linksautonomen Kollektivs «Oh du Fröhliche». Diese hatten eine Liegenschaft des Bundes an der Effingerstrasse 29 in Bern über Monate in Beschlag genommen, um auf Leerstände und den Mangel an Freiräumen aufmerksam zu machen. Bei der polizeilichen Räumung am 22. Februar 2017 hatten sie sich mit massiver Gewalt gegen die Einsatzkräfte gewehrt.

An jenem Morgen herrschten kriegsähnliche Zustände um «Effy 29», wie die Besetzer die Liegenschaft nannten. Mitglieder des Kollektivs warfen Feuerwerk und allerhand Mobiliar auf die Polizisten, die wiederum mit Gummischrot reagierten. Mehrere Einsatzkräfte wurden dabei verletzt. Zwei Polizisten und ein Feuerwehrmann leiden wegen explodierender Knallkörper seither unter einem Tinnitus.

Der erzürnte Regierungsrat

Das Regionalgericht verurteilte die 16 Beschuldigten schliesslich wegen Hausfriedensbruchs. Vom schwerwiegenden Vorwurf der Gewalt gegen Behörden und Beamte erfolgten reihum Freisprüche. Das Besetzerkollektiv kam mit bedingten Geldstrafen zwischen 700 und 1500 Franken davon, was gegenüber den Forderungen der Staatsanwaltschaft geradezu läppisch erschien. Diese hatte hohe unbedingte Geldstrafen verlangt – in vier Fällen gar zwischen neuneinhalb und zwölf Monate Gefängnis.

Klar, dass dies die Staatsanwaltschaft nicht auf sich sitzen lassen wollte. Sie zog das Urteil weiter, weshalb es nächste Woche ab Montag zur Neuauflage des «Effy 29»-Prozesses am Obergericht kommt. Vorgesehen sind vier Verhandlungstage, ehe am 10. Januar das Urteil verkündet wird.

Wie kontrovers die Freisprüche waren, zeigte sich in einem weiteren Punkt: In der Regel kommentieren Exekutivpolitiker Gerichtsurteile wegen der Gewaltenteilung nicht. Doch in diesem Fall liess der bernische Sicherheitsdirektor Philippe Müller seinem Unverständnis freien Lauf. «Es kann doch nicht sein, dass derartig massive Gewalt keine strafrechtlichen Konsequenzen zur Folge hat», meinte er nach dem Urteil gegenüber dieser Zeitung.

Der FDP-Regierungsrat wertete das Urteil als fatales Zeichen für gewaltbereite Kreise. Es bedeute nämlich, dass Gewalt gegen Polizistinnen und Polizisten praktisch sanktionsfrei bleibe, wenn sie aus einer anonymen Masse heraus ausgeübt werde.

Die Frage der Distanzierung

«Nicht richtig, aber rechtens», kommentierte der «Bund» nach dem Urteil. Das Dilemma: Die Justiz kann nur bestrafen, was erwiesen ist. Die Anwälte der verletzten Beamten hatten im Prozess ausgeführt, dass die Besetzer als «zusammengerotteter Haufen» agiert hätten. Auch wer selbst keine Petarde oder Metallstange geworfen habe, sei mit diesen Handlungen einverstanden gewesen.

Es gelte das Prinzip, wie es auch der Volksmund benenne: mitgegangen, mitgefangen. Dieses Prinzip kommt in ähnlicher Weise bei Landfriedensbruch zur Anwendung – etwa wenn sich Demoteilnehmende nicht entfernen, sobald es zu Gewaltausbrüchen kommt.

Doch Gerichtspräsidentin Bettina Bochsler fand, dass die damalige Situation an der Effingerstrasse nicht mit einer Kundgebung verglichen werden könne. Der Grund: Hätte jemand das Haus verlassen wollen, um sich von den Scharmützeln mit der Polizei zu distanzieren, so wäre dies aufgrund der anhaltenden Krawalle nicht möglich gewesen.

Auch warf die Richterin ein, dass die Beweislage eindeutiger gewesen wäre, hätte die Polizei den Besetzerinnen und Besetzern am Morgen der Räumung eine kurze Frist eingeräumt, um die Liegenschaft noch zu verlassen. Diese Forderung bezeichnete Sicherheitsdirektor Müller wiederum als «realitätsfremd». Es habe im Vorfeld mehrere Aufforderungen gegeben, das Gebäude zu verlassen. «Rein zufällig» sei am Morgen der Räumung sicher niemand dort gewesen, ist er überzeugt.

Die spannende Frage in den nächsten Wochen wird nun sein: Stützt das Obergericht die Sicht der Erstinstanz oder verschärft es die Strafen?
(https://www.derbund.ch/hausbesetzer-an-berner-effingerstrasse-stehen-nun-vor-dem-obergericht-697923845263)


+++SPORT
bernerzeitung.ch 08.12.2023

In der Thuner Stockhorn-Arena: Mit topmodernen Kameras gegen die Krawallmacher

2023 kam es bei FC-Thun-Heimspielen zu sechs Zwischenfällen. Polizei und Club tun alles, um die Krawallmacher möglichst aus dem Verkehr zu ziehen. Unter anderem mit neuen Kameras.

Roger Probst

Der FC Thun zieht zwar noch nicht die Massen an, aber er wird zunehmend sexy. Das zeigt ein Blick in die Zuschauerstatistik der Swiss Football League. In der Saison 2021/22 verzeichnete der FCT durchschnittlich 2350 Eintritte pro Heimspiel, in der Saison 2022/23 waren es bereits 3079 und heuer bis dato 3459.

Beim Spitzenspiel gegen Sion (Anpfiff: Freitag, 20.15 Uhr, Stockhorn-Arena) dürfte sich der Wert noch nach oben verschieben, bringen doch die Walliser im Vergleich mit den meisten anderen Teams in der Challenge League deutlich mehr Fans mit. Und auch für die Thuner Supporter ist die Affiche attraktiv: Mit einem Sieg könnte der FC Thun nämlich am Gegner Sion vorbei an die Tabellenspitze ziehen.

Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Mehr Fans im Stadion bedeuten auch mehr potenzielle Krawallmacher vor Ort. So haben die Sion-Fans in der Vergangenheit regelmässig für Ausschreitungen und damit negative Schlagzeilen gesorgt. Zumindest bis zum Abstieg aus der Super League im Sommer. Unterdessen ist es ruhiger geworden.

Kaum Zwischenfälle

Schon länger ruhig ist es an den FC-Thun-Heimspielen. Auch dank dem engen Austausch zwischen den Behörden und dem Club. «In der guten Zusammenarbeit mit dem FC Thun ist spürbar, dass dieser ebenfalls kein Interesse an negativen Vorfällen hat», sagt die Thuner Sicherheitsvorsteherin Eveline Salzmann (SVP). Ihren positiven Eindruck kann sie mit Zahlen belegen. Bei den 17 Heimspielen heuer kam es zwar bei sechs Spielen zu Zwischenfällen. Die Polizei konnte dabei jeweils frühzeitig klärend eingreifen. So gab es weder Verletzte noch Sachbeschädigungen.

Auslöser seien jeweils gegenseitige Provokationen unter den Fanlagern gewesen, sagt Salzmann. In einzelnen Fällen sei nur eine Seite beteiligt gewesen. «Nach jeweiligen Vorkommnissen wird gemeinsam evaluiert, ob Anpassungen seitens des FC Thun oder weitere Massnahmen nötig sind», sagt Salzmann. «Das gesellschaftliche Problem gewaltbereiter Fangruppierungen nehmen wir ernst», sagt denn auch FCT-Sprecherin Damaris Oesch.

Deshalb pflegt der Club eine enge Kooperation mit den Behörden. Und auch der Kontakt mit den eigenen Fans ist ein zentraler Baustein der Prävention. So beschäftigt der FC Thun zwei Fanverantwortliche. «Der FC Thun ist bemüht, die Sicherheit für alle Matchbesuchenden im Stadion zu gewährleisten und gemeinsam friedliche Fussballfeste zu feiern», sagt Oesch.

Doch es bleibt nicht nur bei salbungsvollen Worten. Um die Krawallmacher identifizieren und aus dem Verkehr nehmen zu können, bevor sie Schaden anrichten, hat der FC Thun im Stadion seit kurzem Sicherheitskameras im Einsatz, die auf dem neusten Stand der Technik sind und damit sehr genaue Filmaufnahmen liefern.

Kein neuer Vertrag bei Aufstieg

Im Zusammenhang mit der Sicherheit rund um Sportveranstaltungen stellt sich immer auch die Kostenfrage. Nach dem Abstieg des FC Thun aus der Super League hat die Stadt den Ressourcenvertrag mit der Kantonspolizei neu ausgehandelt. Im Jahr 2023 zahlt die Stadt gut 3,3 Millionen Franken für die Dienstleistungen. Rund 406’000 Franken haben bisher die Heimspiele des FC Thun (inklusive Cupspiele) gekostet. Der FC Thun beteiligt sich mit 1.50 Franken pro Zuschauer an den Sicherheitskosten. Zudem trägt er die Aufwendungen für Sicherheitspersonal innerhalb des Stadions.

«Das jeweilige Polizeiaufgebot variiert stark. Im Vorfeld der einzelnen Spiele erfolgt eine Risikobeurteilung durch die Polizei. Dabei spielt auch eine Rolle, wie das erwartete Verhalten der gegnerischen Fangruppierung ist», sagt Gemeinderätin Eveline Salzmann. «Weder auf die Grösse des Polizeiaufgebots noch auf das Verhalten der gegnerischen Fans hat der FC Thun einen Einfluss. Unter Berücksichtigung all dieser Faktoren erachte ich die Beteiligung des FC Thun an den Sicherheitskosten als angemessen.»

Und was passiert, wenn der FC Thun im Sommer den Aufstieg in die Super League schafft? Muss dann der Ressourcenvertrag mit der Kantonspolizei neu ausgehandelt werden? «Nein», sagt Salzmann. Der Vertrag sei so ausgestaltet, dass die Kantonspolizei der Stadt nach einem Aufstieg rund 4600 Stunden (vier Personaleinheiten) mehr in Rechnung stellen würde. «Die Erhöhung der Stundenzahl käme im Jahr 2025 zum Tragen, wenn der FC Thun im Jahr 2024 aufsteigen sollte.»
(https://www.bernerzeitung.ch/stockhorn-arena-thun-mit-topmodernen-kameras-gegen-hooligans-433882695799)


+++BIG BROTHER
Effizienterer Datenaustausch zwischen den Polizeibehörden der Schengen-Staaten
Der Informationsaustausch innerhalb des Schengen-Raums soll wirksamer und effizienter werden. Das Europäische Parlament und der Rat der EU haben deswegen am 10. Mai 2023 die Richtlinie über den Informationsaustausch zwischen den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten verabschiedet. Als assoziiertes Schengen-Mitglied schliesst sich die Schweiz dieser gemeinsamen Anstrengung an. Der Bundesrat hat deshalb an seiner Sitzung vom 8. Dezember 2023 die Vernehmlassung zur Übernahme und Umsetzung der Richtlinie eröffnet.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-99278.html


+++POLICE BE
Botschaftsschutz: Polizei bittet Armee um mehr Unterstützung
Die Kantonspolizei kauft für bis zu 1,75 Millionen Franken Leistungen privater Security für den Botschaftsschutz bis 2027 ein. Zudem soll die Armee mehr helfen.
https://www.derbund.ch/botschaftsschutz-polizei-bittet-armee-um-mehr-unterstuetzung-193406498297


+++RECHTSEXTREMISMUS
„Advent, Advent… Schwedische Antifaschist*innen haben Kundendaten von über 20k Neonazis aus der ganzen Welt veröffentlicht. Auch einige Adressen aus der Schweiz sind dabei. Da könnten auch Strafrechtlich relevante Inhalte zu finden sein. Alles weitere bei @afasthlm“
(https://twitter.com/FindusRecherche/status/1733074268810887215)
-> Mehr: https://midgard.antifa.se/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Taten im Internet und am Wohnort: VBS-Mitarbeiter wurde zum Sicherheitsrisiko erklärt
Ein Mann aus Münsingen bekritzelte illegal Strassen und postete heikle Corona-Inhalte. Nun wurde ihm bei seiner Arbeitsstelle der Zugang zu heiklen Daten gesperrt.
https://www.bernerzeitung.ch/taten-im-internet-und-am-wohnort-vbs-mitarbeiter-wurde-zum-sicherheitsrisiko-erklaert-185470405439


+++HISTORY
Internationales Adoptionsrecht: Bundesrat sieht Handlungsbedarf
Bei internationalen Adoptionen ist es in der Vergangenheit in grösserem Umfang als bisher bekannt zu Unregelmässigkeiten gekommen. Zu diesem Schluss kommt ein Bericht, der im Auftrag des Bundesrats Adoptionen aus insgesamt 10 Herkunftsländern untersuchte. Der Bundesrat hat den Bericht an seiner Sitzung vom 8. Dezember 2023 zur Kenntnis genommen. Er anerkennt und bedauert, dass es die schweizerischen Behörden trotz gewichtiger Hinweise unterlassen hatten, angemessene Massnahmen dagegen zu ergreifen. Um solche Unregelmässigkeiten in Zukunft zu verhindern, braucht es eine Revision des internationalen Adoptionsrechts. Eine unabhängige Expertengruppe wird dem Bundesrat bis Ende 2024 vertiefte Abklärungen vorlegen.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-99228.html


Unregelmässigkeiten bei tausenden Adoptionen aus dem Ausland – Rendez-vous
Bei internationalen Adoptionen ist es zwischen 1970 und 2000 wohl in mehreren tausend Fällen zu Unregelmässigkeiten gekommen. Die Schweizer Behörden schauten demnach einfach weg. Das zeigt ein Bericht der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/unregelmaessigkeiten-bei-tausenden-adoptionen-aus-dem-ausland?partId=12500742
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/nicht-nur-aus-sri-lanka-unregelmaessigkeiten-bei-tausenden-adoptionen-befuerchtet
-> https://www.derbund.ch/neuer-bericht-zeigt-unregelmaessigkeiten-bei-tausenden-adoptionen-befuerchtet-767838224611
-> https://www.watson.ch/schweiz/international/458619046-illegale-adoptionen-in-der-schweiz-es-gibt-viel-mehr-faelle-als-bekannt
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/moglicherweise-tausende-adoptionen-durch-illegale-praktiken-66666469
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/schweiz-tausende-faelle-illegaler-adoptionen?partId=12500958
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/illegale-praktiken-bei-tausenden-adoptionen?urn=urn:srf:video:81e32a71-227d-4d7b-b50f-1dca4ec338ea
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/aus-dem-ausland-in-die-schweiz-illegale-adoptionen-die-betroffenen-muessen-unterstuetzt-werden
-> 10vor10: https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/kinderhandel-bei-schweizer-adoptionen?urn=urn:srf:video:97925b25-106a-4475-9645-3776ef7c9489



nzz.ch 08.12.2023

Bericht über illegale Adoptionen: Ist es in der Schweiz zu Tausenden von weiteren Unregelmässigkeiten gekommen?

Eine neue Studie zeigt, dass das Ausmass der illegalen Adoptionen aus dem Ausland in die Schweiz möglicherweise deutlich grösser ist als angenommen. Die Rede ist von gefälschten Dokumenten und mafiösen Strukturen in unterschiedlichen Herkunftsländern.

Daniel Gerny

Hunderte von Kindern wurden ihren Eltern in Sri Lanka von den 1970er bis in die 1990er Jahre weggenommen und als Adoptivkinder unter anderem in die Schweiz vermittelt, oft unter Angabe falscher Identitäten. Als diese langjährige Praxis vor vier Jahren bekanntwurde, sorgte dies in der ganzen Schweiz für eine Welle der Empörung. Nun zeigt ein Bericht, den der Bundesrat als Folge der Recherchen in Auftrag gab, dass der Skandal um die Adoptivkinder aus Sri Lanka möglicherweise nur die Spitze des Eisbergs darstellte.

In mehreren tausend weiteren Fällen soll es in dieser Zeit möglicherweise zu Unregelmässigkeiten gekommen sein, heisst es in dem Bericht, den der Bundesrat am Freitag publiziert hat. Verfasst wurde er von Nadja Ramsauer, Rahel Bühler und Katja Girschik vom Institut für Kindheit, Jugend und Familie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Die Autorinnen untersuchten Adoptionen aus zehn Ländern in Asien, Afrika, Südamerika und Europa. Die meisten Kinder kamen dabei aus Indien, Kolumbien, Brasilien und Korea.

Vermittlerin kassiert 3000 bis 5000 Dollar für ein Kind

In diesen und sechs weiteren Ländern gibt es zahlreiche Hinweise auf illegale Praktiken, gefälschte Dokumente, fehlende Herkunftsangaben und auf Kinderhandel. Wie viele Adoptivkinder betroffen sind, lässt sich laut dem Bericht heute nicht mehr eruieren. Aufgrund der Einreisebewilligungen in diesem Zeitraum gehen die Autorinnen aber von mehreren tausend Betroffenen aus. Zu Unregelmässigkeiten und Verfehlungen ist es dabei nicht nur in den Herkunftsländern gekommen. Auch die Behörden in der Schweiz sowie die diplomatischen Vertretungen in den Ländern sollen Hinweise beiseitegewischt haben.

Solche Hinweise waren nicht selten öffentlich zugänglich, wie das Beispiel einer Vermittlerin aus Brasilien zeigt. Zwischen 1980 und 1985 tauchte diese im Zusammenhang mit Kinderhandel regelmässig in den brasilianischen Medien auf. Sie soll pro Adoption 3000 bis 5000 Dollar verlangt haben. Das Bundesamt für Justiz wurde hellhörig und fragte aufgrund der Medienberichte bei der Schweizer Botschaft in Brasilia nach. Doch der Botschafter verzichtete auf weitere Nachforschungen. Er wolle die Aufmerksamkeit nicht zusätzlich auf die Vermittlerin richten, antwortete er nach Bern. Bis heute ist unklar, ob und in wie vielen Fällen die Frau Adoptionen in die Schweiz vermittelt hat.

Niemand fühlte sich zuständig

Ein weiteres Beispiel ist Peru. Um 1980 stieg die Nachfrage von Paaren aus der Schweiz, die sich teilweise explizit kleine Mädchen unter zwei Jahren und «de peau claire si possible» (wenn möglich mit heller Haut) wünschten. Auch in Peru gab es aber zwischen den 1970er und den 1990er Jahren schwerwiegende Probleme im Zusammenhang mit Adoptionen. Verschiedene Medien enthüllten damals, dass Vermittler, Anwälte und Richter sich an den Adoptionen unrechtmässig bereicherten und eine Art Mafia bildeten. Sie verkauften Kinder für mehrere tausend Dollar nach Europa. Es gab Berichte, wonach leibliche Eltern in Peru ihre Kinder verkauften, um nicht zu verhungern. Dennoch riet die Schweiz nicht von der Adoption von peruanischen Kindern ab. Bis 1992 waren Adoptionen möglich, wenn auch nur mit einigen Schwierigkeiten.

Unterschiedliche Gründe führten dazu, dass die irregulären Adoptionen über Jahre oft unbemerkt und unbeanstandet blieben oder durch die Behörden als Folge von Untätigkeit indirekt sogar unterstützt wurden. So sahen sich die verschiedenen Bundesbehörden und die diplomatischen Vertretungen nur für einen Teil der Abläufe zuständig. Das erschwerte es, die Informationen zu bündeln, wenn es zu Unregelmässigkeiten kam. Die Verfahren seien ausserdem komplex gewesen, und es habe zahlreiche involvierte Stellen gegeben, schreiben die Autorinnen.

Bundesrat «bedauert»

Gleichzeitig seien die Interessen der Adoptiveltern in der damaligen Zeit oft höher gewichtet worden als die Rechte der Kinder und der Eltern in den Herkunftsländern. Dies auch deshalb, weil die Nachfrage nach Adoptivkindern aus dem Ausland hoch war. Zudem war die Überzeugung verbreitet, dass es den adoptierten Kindern in der Schweiz bessergehen werde als in ihrer Heimat – eine Meinung, die auch die künftigen Adoptiveltern sowie die Vermittlerinnen und Vermittler vor Ort teilten.

Der Bundesrat anerkennt die Unregelmässigkeiten bei den internationalen Adoptionen und «bedauert, dass die Behörden ihre Verantwortung gegenüber den Kindern und ihren Familien nur unzureichend wahrgenommen haben». Diese Versäumnisse der Behörden prägten das Leben der damals adoptierten Personen bis heute, schreibt er in einer Medienmitteilung.

Es liege nun in der Verantwortung der Kantone, die Betroffenen bei ihrer Herkunftssuche zu unterstützen. Gleichzeitig kommt eine unabhängige Expertengruppe im Auftrag des Bundes in einem Zwischenbericht zu dem Schluss, dass mit einer Revision des internationalen Adoptionsrechts das Missbrauchspotenzial in Zukunft entscheidend gesenkt werden könne. Der Bundesrat habe die Expertengruppe beauftragt, bis Ende 2024 vertiefte Abklärungen für eine Revision vorzulegen.
(https://www.nzz.ch/schweiz/bericht-ueber-illegale-adoptionen-ist-es-in-der-schweiz-in-tausenden-von-faellen-zu-unregelmaessigkeiten-gekommen-ld.1769619)



solothurnerzeitung.ch 08.12.2023

Sri Lanka nur die Spitze des Eisbergs – Schweizer Eltern adoptierten Tausende Kinder illegal

Die Schweizer Behörden versagten bei Adoptionen aus Sri Lanka jahrelang und begünstigten so Kinderhandel. Nun zeigt sich: Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Ein neuer Bericht geht von Tausenden Betroffenen in zahlreichen Ländern aus.

Samuel Thomi, Reto Wattenhofer

Jahrzehntelang haben die Schweizer Behörden weggeschaut. Ihnen war bewusst, dass bei Adoptionen aus Sri Lanka nicht alles mit rechten Dingen zuging. Frauen wurden gezielt geschwängert, über die Adoptionsabsicht getäuscht oder bezahlt, um sich als leibliche Mutter auszugeben und der Adoption zuzustimmen. Im Dezember 2020 gestand die damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter im Namen des Bundesrates öffentlich Fehler ein.

Jetzt zeigt sich: Das ist nur die Spitze des Eisbergs. Das Problem ist weitaus grösser als bisher bekannt. Auch in anderen Ländern kam es zu Unregelmässigkeiten. Zu diesem Schluss kommt eine am Freitag veröffentlichte Studie im Auftrag des Bundesrates. Es gebe «Hinweise auf illegale Praktiken, Kinderhandel, gefälschte Dokumente und fehlende Herkunftsangaben», schreibt das Justizdepartement (EJPD) in einer Mitteilung.

Zwar lässt sich die genaue Zahl der Betroffenen aufgrund der Aktenlage nicht ermitteln. Gestützt auf die Zahl der erteilten Einreisebewilligungen könnten gemäss den Studienautoren der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) «mehrere tausend Adoptivkinder» zwischen 1970 und Ende der 1990er-Jahre betroffen sein.

Am höchsten fiel die Zahl der Einreisebewilligungen bei Kindern aus Indien aus. Dort kamen zwischen 1970 und 1999 knapp 2800 Kinder in die Schweiz, gefolgt von Kolumbien mit 2122, Brasilien mit 1222 und Korea mit 1065 Einreisebewilligungen. Untersucht haben die Forscher Adoptionen aus Bangladesch, Brasilien, Chile, Guatemala, Indien, Kolumbien, Korea, Libanon, Peru und Rumänien.

Bundesrätin lässt sich nicht blicken

Trotz der Tragweite der Ergebnisse verzichtete Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider am Freitag darauf, vor die Medien zu treten – wie das ihre Vorgängerin Karin Keller-Sutter getan hatte. Stattdessen lud das Bundesamt für Justiz (BJ) kurzfristig zu einem Hintergrundgespräch. Dort war es an BJ-Direktor Michael Schöll, den Betroffenen im Namen des Bundesrates sein Bedauern auszusprechen.

Die Landesregierung nahm den Bericht zur Kenntnis und bedauert, «dass die Behörden ihre Verantwortung gegenüber den Kindern und ihren Familien nur unzureichend wahrgenommen haben», heisst es in der Mitteilung. «Diese Versäumnisse der Behörden prägen das Leben der damals adoptierten Personen bis heute.»

In der Tat kämpfen viele einstige Adoptivkinder bis heute mit ihrer Geschichte. Die Suche nach ihren Wurzeln wird durch die mangelhaften und teilweise gefälschten Dokumente erschwert. Der Verein «Back to the Roots» forderte deshalb am Freitag erneut mehr Unterstützung bei der Herkunftssuche. «Bund und Kantone haben es bis heute unterlassen, ein spezifisches Angebot für alle adoptierten Personen zu finanzieren», kritisiert der Verein.

Auch der Bundesrat hat den Handlungsbedarf erkannt. Die Herkunftssuche liegt jedoch in der Kompetenz der Kantone. Trotzdem nimmt Justizministerin Baume Schneider die Kantone in die Pflicht, die Betroffenen bei der Herkunftssuche besser zu unterstützen. Sie habe die Kantonsregierungen bereits letzten Sommer angeschrieben, hält das BJ auf Nachfrage fest.

Generalkonsulat setzte sich für Gesetzesbrecher ein

Laut BJ-Direktor Michael Schöll war das Problem bei den internationalen Adoptionen, dass die Zuständigkeiten bei den verschiedenen involvierten Behörden in der Schweiz «zu zersplittert» waren. «Wir sprechen heute darum von einem systemischen Manko.» Es habe jemand gefehlt, der die Gesamtverantwortung übernimmt «und gesagt hätte, dass das System insgesamt nicht funktioniert».

Allerdings stellten sich einzelne Behörden auch schützend vor Adoptiveltern, wenn diese gegen das Gesetz verstiessen. Das Verhalten wurde mit «fehlendem Wissen, Naivität oder jugendlicher Romantik» gerechtfertigt. Exemplarisch zeigt sich das am Fall eines Schweizer Paars, das 1979 bei einem Aufenthalt in Paraguay ein Kind mitnahm.

Obwohl es laut Akten keinen Hinweis darauf gibt, wie das Ehepaar zum Kind kam, legte sich das schweizerische Generalkonsulat im brasilianischen São Paulo, wo sich das Paar mehrere Monate aufhielt, ins Zeug. Die beiden könnten das «anvertraute Kleinkind nicht in sein Elend nach Paraguay zurückbringen», schrieb die Vertretung an die Fremdenpolizei in Bern. Das Einreisegesuch sei daher mit «Wohlwollen und Grosszügigkeit» zu behandeln. «Den beiden seriösen jungen Menschen sind in Unkenntnis der harten Realität die Herzen durchgebrannt.»

«Als ob sie eine Ware wären»

Die Behörden waren überzeugt, dass es die adoptierten Kinder in der Schweiz besser hätten als im Herkunftsland. Auch gewichteten sie die Anliegen der adoptionswilligen Paare höher als die Interessen der Adoptivkinder. Aus Angst vor negativer Presse wollten die Beamten in ihrem Handeln nicht als unmenschlich angesehen werden, wenn sie Kinder zurückschicken.

Zwar betonten die Behörden stets, wie wichtig die Achtung des Kindeswohls sei. In der Praxis standen meist andere Interessen als jene der Adoptivkinder im Vordergrund. «Oftmals wurde von ihnen gesprochen, als ob sie eine Ware wären, etwa dann, wenn von Kinderimport die Rede war», schreiben die Autoren.

Für die Forscher ist der Bericht nur ein erster Schritt für weitere historische Studien. Hinweise auf illegale Praktiken fanden sich auch in Sachdossiers zu anderen Ländern. Vermerkt sind etwa eine zweifelhafte Adoptionsvermittlung aus den Philippinen durch einen Schweizer, der der Pädophilie und Kinderprostitution verdächtigt wurde.

Hinweise auf Kinderhandel lieferte mehrfach der Internationale Sozialdienst der Schweiz. So meldete die Organisation, die sich für individuellen Rechte von Kindern einsetzt, 1990 dem Bundesamt für Ausländerfragen, ein eineinhalbjähriger Knabe aus Thailand sei über Amsterdam in die Schweiz gebracht worden.

Eine Thailänderin habe sich als leibliche Mutter des Kindes ausgegeben. Sie sei mit Eintagesvisa, ohne Deutschkenntnisse, unter Drogeneinfluss mit einer Frau in die Schweiz gefahren und habe das Kind dort an einem Bahnhof zwei Männern und einer Frau übergeben. Die Sozialarbeiterin schloss mit den Worten: «Mir scheint, dass hier Schweigen nicht mehr als adäquate Reaktion betrachtet werden kann.»
(https://www.solothurnerzeitung.ch/schweiz/illegale-adoptionen-es-gab-viel-mehr-faelle-als-bisher-bekannt-war-nun-sieht-der-bundesrat-handlungsbedarf-ld.2553756)



Gegenstände erzählen tamilische Fluchtgeschichten
Im Sommer 1983 entluden sich in Sri Lanka Hass und Hetze in Form eines Pogroms an der tamilischen Minderheit des Landes. Die Ereignisse, die als Black July bezeichnet werden, markieren den Beginn eines jahrzehntelangen Bürgerkriegs. Viele Tamil*innen flohen in der Folge. Auch in die Schweiz.
Noch heute ist die Schweiz Heimat für eine der weltweit grössten tamilischen Diasporagemeinschaften. Ihre 40-Jährige Geschichte ist ein wichtiger Teil der schweizerischen Migrationsgeschichte.
https://rabe.ch/2023/12/08/gegenstaende-erzaehlen-tamilische-fluchtgeschichten/