Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
++++BERN
Interview: Gewalt an Frauen in Asylstrukturen
Im Zusammenhang mit dem Prozess zum Femizid beantwortet eine Expertin, ob Frauen in Asylzentren ausreichend vor Gewalt geschützt sind. (ab 03:20)
https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2023-11-30
+++BASELLAND
Ein neues Projekt im Baselbiet versucht unbegleitete minderjährige Asylsuchende schneller in den Arbeitsmarkt einzubinden (ab 16:44)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/neuer-anlauf-fuer-haengebruecke-im-baselbiet?id=12497136
+++SCHAFFHAUSEN
Hoher Besuch aus Bern: Elisabeth Baume-Schneider in Schaffhausen
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider besuchte am Donnerstag das Schaffhauser Metallbau-Unternehmen „Liechtblick“. Dieses ermöglicht geflüchteten Menschen einen Einstieg in das Arbeitsleben. (ab 07:58)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/hoher-besuch-aus-bern-elisabeth-baume-schneider-in-schaffhausen?id=12497193
+++ZÜRICH
woz.ch 30.11.2023
Knall im Zürcher Asylwesen: Mario Fehr belohnt Dumpingpreise
Die schweizweit aktive Asylorganisation Zürich verliert den Auftrag für den Betrieb aller Durchgangszentren in Zürich. Die angemessene Betreuung der Geflüchteten war dem Kanton zu teuer.
Von Lukas Tobler
Auf einem Markt, heisst es, ist der Kunde König, und im Zürcher Asylwesen heisst der König Mario Fehr. Kürzlich war der Sicherheitsdirektor wieder mal auf Schnäppchenjagd.
Fehr suchte neue Betreiber für die Zürcher Asylunterkünfte, ausgeschrieben waren unter anderem die Verantwortlichkeiten für die regulären und der temporären Durchgangszentren. Betrieben wurden diese bislang von der in der ganzen Schweiz tätigen Asylorganisation Zürich (AOZ). Doch nun unterlag diese im Bieterwettbewerb. Der Grossauftrag ist weg und damit 150 Stellen und mehrere Millionen Franken Umsatz. Bis nächsten März muss sich die Organisation aus den kantonalen Zentren zurückziehen.
Die AOZ verlor den Auftrag, weil sie zu teuer war. Doch teuer heisst im Asylwesen: eine angemessene Betreuung der Asylsuchenden. Daran hapert es in Zürich seit Jahren. Gerade auch bei der AOZ: Erst war da der Skandal bei der Eröffnung ihres Bundesasylzentrums auf dem Zürcher Duttweiler-Areal 2019. Und letztes Jahr wandten sich mehrere Mitarbeiter:innen mit scharfer Kritik an die Öffentlichkeit: Bei der Betreuung unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender (UMAs) bestünden drastische Missstände. Als eine der Ursachen nannten sie fehlende Ressourcen wegen des zu tiefen Preises, den die AOZ 2018 offeriert habe.
Deutlich höherer Preis
Nun wollte sich die AOZ anscheinend vom Dumpingwettbewerb auf dem Asylmarkt emanzipieren. Bei der aktuellen Ausschreibung der kantonalen Unterkünfte offerierte sie einen deutlich höheren Preis als die Konkurrenz: die private, gewinnorientierte ORS Service AG und das Hilfswerk Caritas, die neu den Betrieb der Durchgangszentren verantworten werden.
Die Preisdifferenz hat der Zürcher Regierungsrat in einem Sitzungsprotokoll veröffentlicht. Demnach verlangte die ORS 38,5 Millionen Franken und die Caritas 50,8 Millionen Franken für den sechsjährigen Betrieb der Durchgangszentren. Das Angebot der AOZ belief sich dagegen auf 65,8 Millionen Franken. Vier AOZ-Mitarbeiter:innen, mit denen die WOZ gesprochen hat, sagen, das Angebot sei auch im Vergleich mit ihrer eigenen Offerte bei der letzten Ausschreibung 2018 deutlich teurer gewesen.
Die teure Offerte legt nahe, dass die AOZ aus der Kritik gelernt und eine intensivere und bessere Betreuung angeboten hat. Details gibt die Organisation keine bekannt. Sowohl in der internen Kommunikation als auch in der Medienmitteilung spricht sie von einer «Vision für die Betreuung», die sie erarbeitet habe. Das kantonale Sozialamt, das zu Mario Fehrs Sicherheitsdirektion gehört, habe aber «grosses Gewicht auf den Preis der Angebote» gelegt. Der Bewertungsschlüssel ist öffentlich: Der Preis wurde mit vierzig Prozent gewichtet – gleich stark wie das Fachkonzept für die Betreuung.
Das kam Caritas und ORS offensichtlich entgegen. «Sportlich» nennt deren Angebote die Zürcher SP-Gemeinderätin Tiba Ponnuthurai, die sich regelmässig mit der AOZ befasst: «Dass diese jetzt den Auftrag verliert, verdeutlicht einmal mehr, dass der künstliche Wettbewerb zwischen drei Organisationen zu einem Ergebnis führt: Der Kanton spart Geld zulasten der Menschen in den Unterbringungszentren.»
Und vermutlich auch auf Kosten der Mitarbeitenden. Es ist gut möglich, dass viele der 150 Angestellten, sollten sie in den Durchgangszentren unter neuer Führung weiterarbeiten wollen, künftig zu schlechteren Bedingungen angestellt werden. Der Kanton Zürich mache diesbezüglich bei der Ausschreibung kaum Vorgaben, sagt VPOD-Sekretärin Martina Flühmann, bei der Gewerkschaft für die AOZ zuständig. Die Caritas schreibt auf Anfrage, sie sei sehr daran interessiert, «die aktuellen Stelleninhabenden zu übernehmen».
Auskunft nur von oben
Eine Neuausschreibung des Auftrags für den Betrieb der kantonalen Unterkünfte findet alle paar Jahre statt. Es steht allen interessierten Dienstleistungsorganisationen offen, sich darauf zu bewerben. Die Sicherheitsdirektion hält dann jeweils den Daumen hoch oder runter.
Zu den kantonalen Unterkünften zählen nicht nur die Durchgangszentren, in denen Personen temporär wohnen, bis sie je nach Aufenthaltsstatus einer Gemeinde zugewiesen werden oder eine eigene Wohnung finden. Hinzu kommen die sogenannten Rückkehrzentren, in denen abgewiesene Asylsuchende untergebracht werden. Sie werden derzeit wie auch in Zukunft von der ORS geführt. Und die «MNA-Wohngruppen» für UMAs. Der Auftrag für die UMA-Strukturen wird an alle drei bietenden Organisationen vergeben, wobei die Hälfte des Auftragsvolumens in der Verantwortung der AOZ bleiben wird.
Über die Hintergründe ihrer Offerten schweigen sich alle beteiligten Organisationen aus. Sie dürfen auch gar nicht anders. In den Ausschreibungsunterlagen, die der WOZ vorliegen, heisst es explizit, dass alle Medienanfragen «im Zusammenhang mit der Auftragsausführung» direkt und «ohne weitere Auskunft» an die Sicherheitsdirektion weitergeleitet werden müssten. Tatsächlich schlägt die Caritas nach einigen internen Abklärungen eine Einladung zum Gespräch aus.
Die Macht über den Asylbereich liegt eben beim Kunden: der Politik. Und die hat keine Lust auf angemessene Preise.
(https://www.woz.ch/2348/knall-im-zuercher-asylwesen/mario-fehr-belohnt-dumpingpreise/!3QW676ERVZ2P)
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Vergabe im Asylwesen: Kanton Zürich wehrt sich gegen Vorwürfe
Der Kanton Zürich hat neu die ORS und Caritas Schweiz mit dem Betrieb der kantonalen Durchgangszentren beauftragt. ORS soll für die Arbeit nur halb so viel verlangen wie die Vorgängerin, berichtet heute die Wochenzeitung WOZ. Der Kanton bestreitet, dass die Qualität leide.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/vergabe-im-asylwesen-kanton-zuerich-wehrt-sich-gegen-vorwuerfe?id=12497034
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/hoher-besuch-aus-bern-elisabeth-baume-schneider-in-schaffhausen?id=12497193 (ab 01:35)
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/asylwesen-kanton-zuerich-kanton-wehrt-sich-gegen-kritik-bei-der-qualitaet-zu-sparen
+++THURGAU
tagblatt.ch 30.11.2023
Katholische Kirche will in Sitterdorf minderjährige Asylsuchende unterbringen – aus der Bevölkerung kommt heftiger Gegenwind
Die katholische Kirche wird das Pfarrhaus in Sitterdorf der Peregrina-Stiftung vermieten. Voraussichtlich ab Anfang Jahr sollen in der Liegenschaft bis zu 19 unbegleitete minderjährige Asylsuchende wohnen. Das sorgte an der Gemeindeversammlung in Zihlschlacht für heftige Reaktionen.
Sheila Eggmann
Das Thema stand nicht einmal auf der Traktandenliste, es ist sowieso schon beschlossene Sache. Und doch gibt es an der Gemeindeversammlung vom Mittwoch am meisten zu reden: Die katholische Kirche wird das Pfarrhaus in Sitterdorf im kommenden Jahr an die Peregrina-Stiftung vermieten. Diese möchte dort unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) unterbringen. Wie viele das sein werden, ist nicht ganz klar. Die Gemeinde spricht von 15 bis 19 Personen, die Peregrina-Stiftung von 12 bis 15. Es bestehe auch die Möglichkeit, dass eine geflüchtete Familie mit einziehe.
Nachdem Gemeindepräsident Christian Hinterberger die Bevölkerung über das Projekt informiert hat, schliesst er mit den Worten: «Der Gemeinderat ist nicht begeistert.» Er fordert die Kirchgemeinde auf, nicht nur als Vermieterin aufzutreten, sondern ihr Vorhaben aktiv mitzutragen.
«Für uns ist das Nächstenliebe»
«Wir erachten das als diakonisches Projekt», sagt Thomas Diethelm, Präsident der katholischen Kirchgemeinde Bischofszell und Umgebung, zu den 80 Anwesenden. «Für uns ist das gelebte und nicht nur behauptete Nächstenliebe.» Weil der bisherige Mieter gekündigt habe und ein Verkauf nicht infrage komme, sei es klar gewesen, dass das 8½-Zimmer-Einfamilienhaus neben der Kirche erneut vermietet werden soll. Eine private Nutzung sei nicht zonenkonform, weshalb sich der Kirchenrat für eine öffentliche Nutzung entschieden und sich an die Peregrina-Stiftung gewandt habe. Dies, nachdem Abklärungen ergeben haben, dass bei den örtlichen sozialen Diensten kein Bedarf besteht.
Die Kirche werde eigene Integrationsmassnahmen wie beispielsweise einen Willkommensanlass, gemeinsames Kochen oder Jubla-Aktivitäten organisieren. Diethelm sagt: «Dass Asylsuchende zu uns kommen, ist Tatsache. Jetzt sind wir als Gesellschaft gefordert, ihnen einen menschenwürdigen Aufenthalt zu ermöglichen.»
Die Bevölkerung ist besorgt
In der anschliessenden Fragerunde schlägt den Vertretern der Kirchbehörde heftiger Gegenwind entgegen. Die meisten Bürgerinnen und Bürger äussern sich kritisch gegenüber dem Projekt, gegenüber Asylsuchenden im Allgemeinen und teilweise auch gegenüber der katholischen Kirche. «Die werden am Bahnhof herumlümmeln und jeden Abend auf dem Nachhauseweg bei den Autos schauen, welches offen ist», sagt ein Votant. Ein anderer teilt diese Sorgen: «Wir sind eine Landgemeinde, da lassen einige die Haustüren noch offen. Das wird problematisch.»
Bei den meisten Äusserungen nimmt der ebenfalls anwesende Eberhard Wörwag, Geschäftsführer der Peregrina-Stiftung, Stellung. Manche Vorwürfe will aber auch Kirchgemeindepräsident Diethelm nicht unkommentiert lassen. Zur Sorge vor steigender Kriminalität sagt er: «Wir glauben an das Gute im Menschen. Ich wehre mich dagegen, dass man sagt, jeder einzelne Asylbewerber wird straffällig. Erfahrungen zeigen, dass es anders ist.» Falls es trotzdem zu Zwischenfällen kommen sollte, könne die Kirche den Vertrag kündigen. Das wäre frühestens nach einem Jahr und danach halbjährlich möglich.
Überwiegend junge Männer
Zu den Fragen, was für Asylbewerber in der Liegenschaft untergebracht werden sollen, sagt Wörwag, dass das noch nicht ganz klar sei. Aber wahrscheinlich werden es überwiegend junge Männer aus Afghanistan sein. In der Unterkunft werden sie betreut, sie haben dort eine direkte Bezugsperson. «Sie sind da, um zu bleiben», sagt Wörwag. Das überwiegende Ziel der UMA sei, anzukommen und Geld zu verdienen. «Die wollen nicht negativ auffallen.» Bei dieser Gruppe gebe es selten Probleme. Anders sehe das teilweise bei abgewiesenen Asylbewerbern aus, die in Nothilfeunterkünften untergebracht werden.
Wenige Personen sprechen sich für das Projekt der Kirche aus. Jemand sagt: «Ich bin auch zwiegespalten. Aber ich bin bereit, ihnen eine Chance zu geben.» Nach über einer Stunde klemmt der Gemeindepräsident die Diskussion ab. Eine Wahl haben die Einwohnerinnen und Einwohner in Zihlschlacht und Sitterdorf sowieso nicht. Die Kirchgemeindeversammlung hat der Vermietung an die Peregrina-Stiftung bereits vor einer Woche zugestimmt. Dort hat es gemäss Diethelm fast nur Befürworter gegeben.
Die anschliessend folgenden Kreditanträge zur Belagssanierung Ifangstrasse (310’000 Franken) und zur Photovoltaikanlage auf dem Werkhof (120’000 Franken) werden in einem Rekordtempo durchgewinkt. Die Diskussion nutzt keiner, es scheint, als seien alle von den Informationen davor geplättet. Auch das eigentliche Haupttraktandum des Abends, das Budget mit einem Minus von 25’440 Franken, Investitionen von 1,1 Millionen Franken und der gleichbleibende Steuerfuss von 65 Prozent, sorgt für keine Diskussion. Es wird ohne Gegenstimme genehmigt.
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Zahl der UMA steigt
Gemäss Zahlen des Staatssekretariates für Migration nehmen Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen seit 2018 zu. Sie machten im Jahr 2022 zehn Prozent aller Asylgesuche in der Schweiz aus. Aktuell betreut die Peregrina-Stiftung 102 UMA (Stand 15. September) am Standort Frauenfeld und seit Beginn 2023 auch in Arbon. Im August wurden zusätzlich zwei Standorte in Romanshorn eröffnet. (shi)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/oberthurgau/zihlschlacht-sitterdorf-katholische-kirche-will-in-sitterdorf-minderjaehrige-asylsuchende-unterbringen-aus-der-bevoelkerung-kommt-heftiger-gegenwind-ld.2548746)
++++SCHWEIZ
Alle Jahre wieder! Erneut ein gewaltvoller Sonderflug nach Sri Lanka
Am Dienstag den 21. November 2023 wurden zwei Familien mit einem Sonderflug nach Sri Lanka ausgeschafft. Vor knapp einem Jahr kritisierte das Migrant Solidarity Network bereits einen vom SEM durchgeführten Sonderflug. Die Polizeigewalt und Demütigungen gehen weiter.
https://migrant-solidarity-network.ch/2023/11/29/alle-jahre-wieder-erneut-ein-gewaltvoller-sonderflug-nach-sri-lanka/
Streit um Asylpraxis: «Die Frauen in Afghanistan haben alle Rechte verloren»
Soll die Schweiz Afghaninnen Asyl gewähren? Mit dieser Frage beschäftigt sich demnächst das Parlament. Was die geflüchtete afghanische Juristin Shabnam Simia darüber denkt – und was geschieht, wenn das Parlament dazu Nein sagt.
https://www.derbund.ch/streit-um-asylpraxis-die-frauen-in-afghanistan-haben-alle-rechte-verloren-191204734062
Neue Asylpraxis für Afghaninnen laut SEM bisher ohne «Pull-Effekt»
Die Zahl der Asylgesuche von Afghaninnen in der Schweiz bleibt stabil.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/neue-asylpraxis-fur-afghaninnen-laut-sem-bisher-ohne-pull-effekt-66660985
-> https://www.blick.ch/politik/afghaninnen-erhalten-neu-asyl-das-sem-raeumt-fehler-ein-wir-haben-unterschaetzt-wie-brisant-der-entscheid-ist-id19197161.html
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/aus-fuer-die-tieferen-asylhuerden-fuer-afghaninnen?partId=12497232
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/kein-pull-effekt-wegen-neuer-asylpraxis-fuer-afghaninnen?urn=urn:srf:video:37140cfb-2884-4d5c-8774-5eeaf4686069
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/frauen-konsequent-verfolgt-diskussion-um-asylanerkennung-von-afghaninnen
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bzbasel.ch 30.11.2023
Afghaninnen werden seit Juli als Flüchtlinge anerkannt – so wirkt sich die Änderung auf die Asylzahlen aus
Seit Juli haben Afghaninnen grundsätzlich Anrecht auf Asyl in der Schweiz. Nun zieht der Bund eine erste Bilanz – und wehrt sich gegen Angriffe aus dem Parlament: Vertreter von FDP und SVP wollen die Praxisänderung wieder rückgängig machen.
Chiara Stäheli
Mitte Juli hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Asylpraxis für Mädchen und Frauen aus Afghanistan geändert – ohne dies aktiv zu kommunizieren. Seither werden Afghaninnen in der Regel als Flüchtlinge anerkannt. Bis anhin wurden sie meistens vorläufig aufgenommen und hatten damit weniger Rechte als mit dem Flüchtlingsstatus. Der Entscheid des SEM sorgt auch Monate danach noch immer für rote Köpfe. In der Wintersession berät das Parlament Vorstösse von Politikern, welche eine Rückkehr zur alten Praxis fordern. Darum geht es.
1. Was bedeutet der Entscheid für Afghaninnen?
Beantragt eine afghanische Frau in der Schweiz Asyl, erhält sie grundsätzlich den Flüchtlingsstatus. Das gilt auch für afghanische Frauen und Mädchen, die bereits als vorläufig Aufgenommene in der Schweiz leben. Sie können in einem erneuten Gesuch den Flüchtlingsstatus beantragen und haben Anrecht auf Familiennachzug. Ehemänner und minderjährige Kinder dürfen somit in die Schweiz nachreisen. Das SEM hält fest, es behandle nach wie vor jedes Gesuch individuell und prüfe immer zuerst, ob bereits in einem anderen Dublin-Staat ein Asylverfahren laufe.
2. Warum hat der Bund seine Praxis angepasst?
Kathrin Buchmann leitet beim SEM den Bereich Asylverfahren und Praxis. Sie begründet die Praxisänderung mit der aktuellen Lage in Afghanistan: Seit der Machtübernahme der Taliban würden Frauen aufgrund ihres Geschlechts «systematisch menschenunwürdig behandelt». Sie seien in ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit eingeschränkt, dürften nicht arbeiten und würden beim Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung diskriminiert. «Die Grundrechte der Afghaninnen sind massiv eingeschränkt», so Buchmann. Ihre Situation habe sich zuletzt kontinuierlich verschlechtert. Frauen und Mädchen hätten in Afghanistan «begründete Furcht vor Verfolgung».
3. Welchen Einfluss hat die neue Praxis auf die Zahl der Asylgesuche?
Zwar sei die Zahl der Asylgesuche afghanischer Staatsangehöriger diesen Herbst gestiegen, sagt SEM-Vizedirektor Claudio Martelli. Doch dieser Anstieg sei in erster Linie saisonal bedingt und auch bereits in Vorjahren beobachtet worden. Martelli bekräftigt: «Wir beobachten keinen nachhaltigen Pull-Effekt.» Das SEM löse mit der Praxisänderung keinen Flüchtlingsstrom in die Schweiz aus. Ein Grund: Die Schweiz hat damit bloss nachvollzogen, was andere europäische Staaten schon seit längerer Zeit umsetzen.
Zwar stieg im September die Zahl der Asylgesuche von afghanischen Staatsangehörigen an. Total wurden über 1400 Gesuche eingereicht. Allerdings stammt etwa die Hälfte davon von Personen, die bereits zuvor in der Schweiz gelebt haben und hier vorläufig aufgenommen wurden. Im Oktober ging die Zahl der Gesuche bereits wieder zurück – auf rund 900. Zum Vergleich die Zahlen aus dem Vorjahr: Im Oktober 2022 wurden über 1100 Asylgesuche von Personen aus Afghanistan eingereicht, im September 2022 waren es 777.
4. Und wie sieht es mit dem Familiennachzug aus?
Zwischen Januar und September des laufenden Jahres haben 219 Personen mit afghanischer Staatsangehörigkeit ein Gesuch für den Nachzug von Familienmitgliedern gestellt. Dabei handelt es sich laut SEM meist um Männer, die ihre Ehefrauen nachziehen wollen. Seit Juli hat knapp ein Dutzend Afghaninnen ein Gesuch um Familiennachzug eingereicht, im vergangenen Jahr waren es 30 Gesuche. Total seien seit Beginn des Jahres 77 Frauen und 35 Männer aus Afghanistan im Rahmen des Nachzugs eingereist.
5. Vertreter von FDP und SVP kritisieren die Praxisänderung. Warum?
Die FDP kritisiert, mit der grundsätzlichen Anerkennung von Frauen aus Afghanistan als Flüchtlinge riskiere die Schweiz, zum bevorzugten Zielland in Europa zu werden. Zudem drohe mit dem Familiennachzug das «Risiko eines Kontrollverlusts über die Einwanderung ins Asylsystem». Auch die SVP griff Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider nach Bekanntwerden der Praxisänderung an. Sie befürchtet eine Sogwirkung und verweist auf die bereits angespannte Asylsituation in der Schweiz.
Parlamentarier beider Parteien haben Vorstösse eingereicht mit dem Ziel, zur alten Praxis zurückzukehren. Ein Argument lautet, die neue Regelung befeuere die Migration aus Drittstaaten. Künftig soll deshalb nicht die Nationalität entscheidend sein für den Asylentscheid, sondern das Land, in dem sich die Gesuchsteller zuvor aufgehalten haben.
6. Was sagt das SEM dazu?
Viele Afghaninnen und Afghanen kommen nicht direkt aus Afghanistan in die Schweiz. Sie bleiben zum Teil über mehrere Jahre in einem Drittstaat. Reisen sie aus einem sicheren Drittstaat in die Schweiz und haben dort bereits einen geregelten Aufenthaltsstatus, dann haben sie kein Anrecht auf Asyl und müssen das Land wieder verlassen. Haben sie zum Beispiel bereits in einem EU-Staat ein Asylgesuch gestellt, werden sie als sogenannte Dublin-Fälle dorthin zurückgeschickt.
Doch die afghanische Community ist vor allem in den Nachbarländern Pakistan und Iran sowie in der Türkei gross. Diese Länder gelten gemäss SEM nicht als sichere Drittstaaten für Afghaninnen und Afghanen, weil die Gefahr besteht, dass sie nach einer Rückweisung weiter abgeschoben werden. Das SEM führe deshalb im Normalfall keine Rückführungen in diese Staaten aus, so die Experten des Bundes.
(https://www.bzbasel.ch/schweiz/asylwesen-afghaninnen-werden-seit-juli-als-fluechtlinge-anerkannt-so-wirkt-sich-die-aenderung-auf-die-asylzahlen-aus-ld.2548891)
+++DEUTSCHLAND
Abschiebung auf Verdacht
Die Bundesregierung will die Rückführungen von Geduldeten ausweiten, was juristisch fragwürdig ist
Das im Bundestag debattierte »Rückführungsverbesserungsgesetz« weitet eine sehr bedenkliche Praxis weiter aus: Abschiebung auf Verdacht. Am stärksten könnten politisch aktive Menschen ohne deutschen Pass sein.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178186.verschaerfte-abschiebungen-abschiebung-auf-verdacht.html
+++GRIECHENLAND
Griechenland: Verbrannt auf dem Weg nach Europa
Im August ist den Bränden im nordostgriechischen Evrosgebiet eine Gruppe von achtzehn Migranten zum Opfer gefallen. Gleichzeitig wurden Geflüchtete Opfer rassistischer Hetzjagden, weil rechte Politiker:innen und die Medien sie der Brandstiftung beschuldigten. Eine Reise zu den Verheerungen des europäischen Grenzregimes.
https://www.woz.ch/2348/griechenland/verbrannt-auf-dem-weg-nach-europa/!7AQXABQ56JCE
+++MALTA
Migration über das Mittelmeer: Ihnen droht lebenslange Haft
Drei Männer sind wegen Terrorismus angeklagt. Sie sollen einen Tanker-Kapitän gezwungen haben, sie nicht nach Libyen zu bringen.
https://taz.de/Migration-ueber-das-Mittelmeer/!5973318/
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178167.el-hiblu-malta-terrorismus-anklage-gegen-gefluechtete.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178180.el-hiblu-malta-vor-gericht-stehen-die-falschen.html
+++GASSE
«Etwa 30 Prozent mehr»: Die Situation der Obdachlosen in Zürich
Es ist kalt. Nachts sinken die Temperaturen schon mal unter null und doch verbringen Menschen in der reichen Schweiz die Nacht draussen. Laut den Sozialwerken Pfarrer Sieber sind es derzeit mehr als sonst.
https://www.watson.ch/schweiz/interview/455326387-interview-mit-sozialwerk-pfarrer-sieber-zu-obdachlosen-in-zuerich
Drogen-Anlaufstellen: Gemeinden geben Geld für Sicherheit
In den Städten Olten und Solothurn gibt es vermehrt Probleme bei den Drogenanlaufstellen. Die Betreiber wollen deshalb Sicherheitsdienste engagieren, können diese aber nicht bezahlen. Jetzt kommt Geld von den Gemeinden, 280’000 Franken, pro Einwohnerin und Einwohner ist das ein Franken.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/drogen-anlaufstellen-gemeinden-geben-geld-fuer-sicherheit?id=12497196
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Von Stadt bewilligt: Linke Organisation plant Pro-Palästina-Kundgebung in Bern
Am Samstag plant die marxistische Gruppierung «Der Funke» in Bern eine pro-palästinensische Kundgebung, wie auf Plakaten in der Stadt und auf den sozialen Medien der Organisation zu lesen ist. Trotz Demonstrationsverbots hat die Stadt Bern eine Bewilligung dafür erteilt. Was ist der Grund?
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/linke-organisation-plant-pro-palaestina-kundgebung-in-bern-155362099
Die Umweltaktivistinnen und -aktivisten, die in Rümlang ein Waldstück besetzt haben, sollen die Kosten für den Polizeieinsatz übernehmen. Dagegen wehren sie sich nun. (ab 05:11)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/hoher-besuch-aus-bern-elisabeth-baume-schneider-in-schaffhausen?id=12497193
-> https://www.20min.ch/story/raeumung-in-ruemlang-aktivisten-sollen-polizeieinsatz-selber-zahlen-833202628412
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tagesanzeiger.ch 30.11.2023
Polizeieinsatz in Rümlang: Waldbesetzer wehren sich, weil sie Tausende Franken zahlen sollen
Aktivistinnen und Aktivisten sollen zahlen für den Polizeieinsatz im April. Sie sprechen von Repression und lancieren eine Kampagne.
Astrit Abazi
Die Besetzung eines Waldstücks in Rümlang vom April könnte teure Folgen für die 14 beteiligten Personen haben. Mit der Aktion wurde gegen die Rodung des Waldes für eine Deponieerweiterung demonstriert. Wie die Aktivistinnen und Aktivisten in einer Medienmitteilung schreiben, will die Kantonspolizei die Kosten in der Höhe eines fünfstelligen Betrags auf sie abwälzen. Sie wehren sich nun dagegen und haben Einsprache bei der Rekursabteilung der Sicherheitsdirektion eingereicht.
«Das solidarische Kollektiv ‹Wald statt Repression› sieht die Kostenüberwälzung als höchst problematisch an, da die Kantonspolizei hiermit demokratische Grundrechte angreift», heisst es weiter. Das Kollektiv sieht den Entscheid als Repression und Einschränkung von Protesten. Dies sehe man beispielsweise auch daran, welche Personen nun bestraft werden sollten. «Es handelt sich dabei lediglich um diejenigen, welche am Tag der Räumung kontrolliert wurden», sagt Sprecherin Annina Krähenbüehl auf Anfrage. «Somit ist es vergleichbar mit einer Kollektivbestrafung, da lediglich jene Menschen die Kosten tragen müssen, die willkürlich zum Zeitpunkt der Räumung anwesend waren – wenn auch nur um beim Aufräumen zu helfen.»
Auf ihrer Website waldstattschutt.noblogs.org hat das Kollektiv eine Crowdfunding-Kampagne lanciert. «Mit dem Crowdfunding sowie weiteren Spendeaktionen soll die Kampagne gegen diese Kostenüberwälzung, aber auch die juristische Unterstützung von Betroffenen mitfinanziert werden», schreibt Krähenbüehl. «Es ist durchaus damit zu rechnen, dass wir vor dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich noch kein zufriedenstellendes Urteil erwirken können, und wir sind deshalb entschlossen, diesen so brisanten Präzedenzfall bis mindestens vor das Bundesgericht weiterzuziehen.»
Kostenabwälzung ist erlaubt
Laut Daniel Winter, Kommunikationsbeauftragter der Sicherheitsdirektion, ist die Kostenabwälzung nach geltendem Polizeirecht erlaubt. Kostenersatz könne von der Verursacherin oder dem Verursacher eines Polizeieinsatzes gefordert werden, «wenn diese oder dieser vorsätzlich oder grobfahrlässig gehandelt hat». Dies sei in Rümlang der Fall gewesen. Die Kantonspolizei hatte die Besetzerinnen und Besetzer aufgefordert, den Wald zu verlassen. Diese hatten sich allerdings geweigert, weshalb es am 20. April zu einer Zwangsräumung mit mehreren Festnahmen kam.
Weiter verweist die Sicherheitsdirektion auf eine Antwort des Regierungsrates vom August. Dieser hatte damals auf eine Anfrage von Kantonsrat Martin Farner (FDP, Stammheim) reagiert und teilweise die verursachten Kosten bestätigt. Die Räumung und die Aufräumarbeiten vom April waren von der Gemeinde Rümlang und der Waldbesitzerin, der Huben Holzkorporation Rümlang, organisiert worden. Diese hatten angegeben, dass bei der Waldbesitzerin Kosten von 1000 Franken entstanden sind. Bei der Gemeinde waren es 8000 Franken, welche wiederum der Waldbesitzerin weiterverrechnet werden. Die Eberhard AG als Betreiberin der Deponie Chalberhau hatte zudem einen privaten Bewachungsdienst engagiert, was ebenfalls Kosten von 9000 Franken verursacht hat. Wie der Regierungsrat damals schrieb, müsste eine Abwälzung dieser Kosten über den Zivilweg erfolgen.
(https://www.tagesanzeiger.ch/14-personen-gestraft-waldbesetzer-von-ruemlang-wehren-sich-gegen-kostenabwaelzung-299832803068)
+++REPRESSION DE
Radio Dreyeckland: Eilantrag gegen Link-Extremismus
Klage gegen Datenauswertung nach Razzia bei linkem Radio
Nach der Razzia beim Freiburger Radio Dreyeckland will ein Journalist nun verhindern, dass die Polizei Tausende redaktionsinterne E-Mails lesen darf.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1178169.hausdurchsuchung-radio-dreyeckland-eilantrag-gegen-link-extremismus.html
+++KNAST
Störung nicht abgeklärt: Bundesgericht fordert Freilassung von psychisch auffälligem Mann
Die Luzerner Staatsanwaltschaft hat es verpasst, einen jungen Mann trotz deutlicher Anhaltspunkte auf eine psychische Störung abklären zu lassen. Dafür erntet sie deutliche Kritik vom Bundesgericht.
https://www.blick.ch/schweiz/zentralschweiz/luzern/stoerung-nicht-abgeklaert-bundesgericht-fordert-freilassung-von-psychisch-auffaelligem-mann-id19195104.html
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tagesanzeiger.ch 30.11.2023
Umstrittene Praxis von Heimen und Kesb: «Mit solchen Strafen werden Jugendliche gebrochen»
Die 14-jährige Zürcherin Lilian T. wehrte sich gegen Disziplinarmassnahmen in einem geschlossenen Jugendheim und die zivilrechtliche Unterbringung im Gefängnis. Die umstrittene Praxis soll künftig nicht mehr angewendet werden.
René Laglstorfer
Es ist die schwer zu ertragende, aber am Ende hoffnungsvolle Lebensgeschichte einer jungen Zürcherin. Von der Mutter gleich nach der Geburt weggegeben, wuchs Lilian T. (Name geändert) in verschiedenen Pflegefamilien und Heimen auf. «Es kam zu plötzlichen Beziehungsabbrüchen, die sie als kleines Kind nicht verstehen konnte», sagt ihre Anwältin Claudia Schaumann.
Um das Mädchen zu disziplinieren, habe eine Pflegefamilie Lilian T. bei Fehlverhalten eingesperrt, abgeschottet und zu weiteren pädagogisch bedenklichen Erziehungsmethoden gegriffen. «Trotz Gefährdungsmeldung dauerte das Pflegeverhältnis über fünf Jahre und hinterliess ein schwer traumatisiertes Mädchen», sagt Schaumann.
Zuletzt wohnte Lilian T. in einer Jugendnotschlafstelle und in einer Einrichtung für Jugendliche in Zürich, übernachtete dort aber nur sporadisch. Im Sommer 2022, nachdem die 14-Jährige Opfer einer Straftat geworden war, griff die Polizei das Mädchen in der Zürcher Agglomeration auf und schaltete die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) der Stadt Zürich ein.
Sie entschied, das Mädchen in das geschlossene Jugendheim Viktoria-Stiftung Richigen im Kanton Bern einzuweisen. «Ihr blieb die Wahl, freiwillig mitzugehen oder polizeilich ausgeschrieben zu werden», sagt Schaumann. In dem Heim sind die Disziplinarmassnahmen auf straffällige Jugendliche zugeschnitten.
Kesb: «Versorgungsproblem im Kanton Zürich»
16 Jugendliche aus dem Kanton Zürich wurden 2022 in der Viktoria-Stiftung untergebracht. Darunter 13 Mädchen. Der Grund für den ¨Überhang: Im Kanton Zürich gibt es kein geschlossenes Jugendheim für Mädchen, wie mehrere Kesb-Leiter bestätigen. «Wir haben im Kanton Zürich ein Versorgungsproblem und sind auf Plätze im Kanton Bern angewiesen», sagt Esther Studer, Präsidentin der Kesb Dietikon. Gemessen an der Grösse des Kantons brauche es in Zürich mehr Plätze.
«Ich habe mir das Heim im Internet angeschaut und war nicht begeistert. Gleichzeitig wusste ich, dass es keinen anderen Weg gibt», schreibt Lilian T. Diese Redaktion hatte per Mail Kontakt mit der Jugendlichen.
Strenger Einschluss, Hand- und Fussfesseln
«Die meisten uns zugewiesenen Jugendlichen befinden sich in einem vulnerablen Zustand und weisen Bindungsstörungen auf», schreibt André Wyssenbach, Direktor des Heims Viktoria-Stiftung, auf Anfrage. Oft sei dies verbunden mit dissozialem Verhalten, schwachem Selbstwert und mangelnder Emotionsregulation, was sich in vielen Fällen auch in Selbst- und Fremdgefährdungen sowie Sachbeschädigungen oder Suchtverhalten ausdrücke.
Aus diesem Grund besitze das Heim einen «Disziplinarsanktionen-Katalog», der auf dem Berner Gesetz für freiheitsbeschränkende Massnahmen basiere: Es erlaubt dem Heim beispielsweise, die Jugendlichen für bis zu fünf Tage im Zimmer einzusperren, den «strengen Einschluss» in einem Disziplinarraum für bis zu sieben Tage sowie ihnen Hand- und Fussfesseln anzulegen. Heimleiter Wyssenbach betont, diese Massnahmen seien in der Viktoria-Stiftung generell «nie bis zur Maximalgrenze» ergriffen worden.
Strafen führten zu «stillem Protest»
Anwältin Schaumann sagt, weil Lilian T. aus psychischen Gründen eine der ihr zugewiesenen handwerklichen Arbeiten verweigert habe, sei sie bereits am zweiten Tag in der Viktoria-Stiftung in einem Zimmer eingeschlossen worden. Zwar nur für 90 Minuten, doch in dieser Zeit habe die 14-Jährige allein abendessen müssen. «Das hat sie an die erwähnte Pflegefamilie erinnert, was retraumatisierend war», sagt Schaumann.
«Die Disziplinarmassnahmen im Heim haben bei mir zu einem stillen Protest geführt», schreibt Lilian T. Gleichzeitig habe sie versucht, mit ihrer Anwältin dagegen vorzugehen. «Mit solchen Strafen werden Jugendliche gebrochen, nicht erzogen», sagt Schaumann.
Die Gefängnisklausel
Die Sanktionsmöglichkeiten in der Viktoria-Stiftung gehen aber noch weiter: Die Einrichtung sowie das ebenso im Kanton Bern gelegene Jugendheim Lory in Münsingen verlangten von einweisenden Behörden, dass sie für alle Jugendlichen einer sogenannten «Gefängnisklausel» zustimmen. Diese ermächtigt die beiden Heime, in akuten Krisensituationen selbstständig entscheiden zu können, ob und wann Jugendliche für eine «Auszeit» von maximal sieben Tagen in die Jugendabteilung des Regionalgefängnisses Thun verlegt werden.
«Die Gefängnisklausel war für Fälle gedacht, in denen Jugendliche Mitarbeitende oder andere Jugendliche massiv körperlich angreifen oder an Leib und Leben bedrohen und die internen Handlungsmöglichkeiten der Institutionen ausgeschöpft sind», sagt Heimleiter Wyssenbach. Er betont, dass solche Fälle «äusserst selten» seien und alles getan werde, um sie zu vermeiden.
Bis zu drei Monate unschuldig im Gefängnis
Wie SRF-Recherchen zeigen, haben Behörden aus sechs Kantonen und dem Fürstentum Liechtenstein mehrere Heime ermächtigt, in den letzten beiden Jahren 27 Einweisungen von unschuldigen Jugendlichen ins Regionalgefängnis Thun und ins Untersuchungsgefängnis Basel anzuordnen. Dort waren sie oft wochenlang – in einem Fall einer anderen 14-Jährigen bis zu drei Monate – zusammen mit jungen Straftätern eingesperrt.
In Zürich wird dies nicht gemacht: «Die Gefängnisse im Kanton Zürich nehmen keine Jugendlichen mit zivilrechtlichen Platzierungen auf», teilt Stefanie Keller von der Zürcher Justizdirektion mit. Zur Kesb-Praxis könne sie sich nicht äussern.
«Faktischer Druck» versus «fehlenden Pikettdienst»
Dennoch betreffen die meisten der 27 Einweisungen ins Thuner und ins Basler Gefängnis Jugendliche aus dem Kanton Zürich: Achtmal mussten fünf Zürcher Mädchen in den beiden vergangenen Jahren hinter Gitter.
Vier Betroffene im Alter von 15 bis 17 Jahren standen in der Obhut der Stadtzürcher Kesb und waren zwischen vier Tage und sieben Wochen im Regionalgefängnis Thun eingesperrt, wie Recherchen dieser Redaktion zeigen.
«Wir haben die Gefängnisklausel unter dem faktischen Druck akzeptiert, sonst keine Jugendlichen mehr in den Heimen unterbringen zu können», sagt Michael Allgäuer, Präsident der Stadtzürcher Kesb. Der Leiter des Heims Viktoria-Stiftung entgegnet, der fehlende Pikettdienst der Kesb in einigen Kantonen habe die Gefängnisklausel nötig gemacht, um handlungsfähig zu bleiben. «Wenn Jugendliche ausserhalb der Bürozeiten in eine akute Krise geraten, ist in diesen Kantonen niemand erreichbar», sagt Wyssenbach. Die Jugendanwaltschaften hätten schweizweit bereits seit einigen Jahren einen Pikettdienst für Notsituationen.
Ein weiterer Fall betrifft eine 15-Jährige in der Obhut der Dietiker Kesb. Das Mädchen verbrachte 2021 zweimal je 14 Tage im Thuner Gefängnis. Auslöser war ein «massiver Gewaltvorfall» im bernischen Jugendheim Lory, wie Esther Studer, Präsidentin der Kesb Dietikon auf Anfrage erklärt. «Die Heimleitung sagte uns, das Jugendgefängnis sei humaner, weil die Betroffene dort mehr Bewegungsfreiheit habe als in der Disziplinarmassnahme im Heim», sagt Studer.
«Ermächtigung zur illegalen Freiheitsberaubung»
Zurück zum Fall von Lilian T.: Im Juli 2022, kurz vor dem Eintritt der 14-Jährigen in das Jugendheim Viktoria-Stiftung, akzeptierte die Stadtzürcher Kesb auch für sie die «Gefängnisklausel». Dagegen und gegen das laut Schaumann im Heim herrschende «Disziplinar- und Zwangsregime» reichte die Anwältin Beschwerde ein.
Nach Schweizer Recht dürfen ausschliesslich die Strafbehörden Menschen in ein Gefängnis einweisen. «Die Kesb hat der Viktoria-Stiftung die Ermächtigung zur illegalen Freiheitsberaubung erteilt, was rechtsstaatlich unhaltbar ist», sagt Schaumann.
Lieber in Notschlafstelle als in Jugendheim
Im August 2022 entschied das Bezirksgericht Zürich in dieser Sache. Es hielt in seinem rechtskräftigen Urteil fest, dass eine bis zu sieben Tage dauernde Unterbringung in Einzelhaft im Gefängnis ohne jegliche Sozialkontakte besonders bei vulnerablen Personen einen massiven Eingriff in die persönliche Freiheit darstelle. Die Stadtzürcher Kesb habe die verfassungsmässigen Rechte von Lilian T. verletzt, indem sie dem Heim die Kompetenz zum «strengen Einschluss» im Gefängnis – laut Gericht im Ergebnis das «Regime einer Untersuchungshaft» – übertragen habe, schrieb die Richterin in ihrem Urteil, das dieser Redaktion vorliegt.
Die Richterin wies die Viktoria-Stiftung an, Lilian T. aus dem geschlossenen Heim zu entlassen. «Ich war froh und erleichtert über meine Entlassung und habe in Kauf genommen, in einer Notschlafstelle zu übernachten», schreibt die 14-Jährige.
Auch die Stadtzürcher Kesb als Prozessgegnerin sei über den Entscheid der Richterin erleichtert gewesen. «Wir sind froh über das Urteil, weil es Klarheit geschaffen hat. Seit Anfang 2023 verwenden wir die Gefängnisklausel nicht mehr», sagt Präsident Allgäuer.
Die Wurzel des Problems sieht er in langen Wartezeiten, knappem Personal und fehlenden Einrichtungen für verhaltensauffällige Jugendliche: «Es gibt zu wenige geschlossene Plätze in tragfähigen sozialpädagogischen Institutionen, in denen anspruchsvolle Jugendliche auch in schwierigen Situationen unterstützt werden, ohne dass eine Verlegung in ein Gefängnis notwendig wird.»
Das Ziel von Lilian T.
Ein halbes Jahr nach dem Zürcher Urteil erklärte auch das Berner Obergericht die zivilrechtliche Unterbringung einer 16-Jährigen im Gefängnis für unzulässig. Das Urteil ist rechtskräftig. Laut dem Berner Amt für Justizvollzug nimmt die Jugendabteilung des Thuner Regionalgefängnisses seit 2023 keine zivilrechtlichen Unterbringungen von anderen Kantonen mehr an.
Und Lilian T.? Die inzwischen 15-Jährige hat sich stabilisiert, lebt seit dem Zürcher Urteil in einer offenen Einrichtung und arbeitet auf ihren Oberstufenabschluss hin. «Mein Ziel ist es, die Schule abzuschliessen, eine Ausbildung zu machen und irgendwann ein eigenständiges Leben zu führen», schreibt sie per Mail.
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Update vom 30.11.23 um 10 Uhr: Die Aussage, es gebe im Kanton Zürich keine Fachaufsicht über die Kesb wurde entfernt. Sie ist falsch. Die Fachaufsicht obliegt dem kantonalen Gemeindeamt.
(https://www.tagesanzeiger.ch/umstrittene-praxis-von-heimen-und-kesb-mit-solchen-strafen-werden-jugendliche-gebrochen-903333766128)
+++POLIZEI ZH
Zürcher Regierung will mehr Geld für externe Polizeieinsätze
Der Zürcher Regierungsrat will mehr Geld für ausserkantonale Polizeieinsätze, etwa jenen am WEF in Davos. Die heute gültigen Ansätze stammten noch aus dem Jahr 2006 und seien viel zu tief, findet er. Im Frühling 2024 soll nun ein Entscheid fallen.
https://www.watson.ch/schweiz/z%c3%bcrich/982998214-zuercher-regierung-will-mehr-geld-fuer-externe-polizeieinsaetze
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/wie-wef-in-davos-zuercher-regierung-will-mehr-geld-fuer-externe-polizeieinsaetze-id19195146.html
Stadtpolizei Zürich soll Herkunft nicht mehr nennen
Die Stadtpolizei Zürich soll in ihren Meldungen die Herkunft von Verdächtigen oder Tätern nicht mehr angeben. Das beschliesst der Zürcher Gemeinderat. Ein Entscheid, der für viel Wirbel sorgt: Erst im Jahr 2021 hat das Stimmvolk des Kantons das Gegenteil beschlossen. Die Stadt könnte jetzt aber Erfolg haben.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/stadtpolizei-zuerich-soll-herkunft-nicht-mehr-nennen-155374679
+++RASSISMUS
Gefährdete Minderheiten: Reiches, knausriges Land
Dem bürgerlichen Sparwahn fällt auch der Schutz jüdischer und muslimischer Einrichtungen zum Opfer – die Finanzkommission hat eine Aufstockung des Budgets abgelehnt. Dabei wäre die staatliche Unterstützung nötiger denn je.
https://www.woz.ch/2348/gefaehrdete-minderheiten/reiches-knausriges-land/!EEXE58DCN2BS
+++RECHTSEXTREMISMUS
Nach Hinweis der Juso: Rechtsrock-Band wird von Konzert in Liestal ausgeladen
Die Black Metal-Gruppe Burkhartsvinter hätte in der Kantonshauptstadt auftreten sollen. Nachdem sich der Betreiber deren Texte genauer angesehen hatte, sagte der den Auftritt ab.
https://www.bazonline.ch/nach-hinweis-der-juso-rechtsrock-band-wird-von-konzert-in-liestal-ausgeladen-302473624912
-> https://www.baseljetzt.ch/black-metal-band-wird-von-konzert-in-liestal-ausgeladen/156216
-> https://barrikade.info/article/6221
+++HISTORY
Wie ein Pilotprojekt vor 30 Jahren die Schweizer Drogenpolitik bis heute veränderte
Vor genau 30 Jahren, am 30. November 1993, wurde in Zürich die erste ärztlich kontrollierte Abgabe von medizinischem Heroin angekündigt. Ein Blick in die Vergangenheit und auf die Entwicklung der Drogenpolitik bis heute.
https://www.watson.ch/schweiz/drogen/504214806-seit-30-jahren-gibt-es-in-der-schweiz-drogen-auf-aerztliches-rezept
Die Zwangsarbeiterinnen – Wie Bührle, Staat und Kirche profitierten
Mindestens 300 junge Frauen verfrachtete die Fürsorge in den 1940er- bis Ende der 1960er-Jahre nach Dietfurt in die Spinnerei von Emil Bührle. Den Lohn für ihre Arbeit haben sie nie erhalten. Gelebt haben die Zwangsarbeiterinnen im fabrikeigenen Marienheim. Nun fordern sie Gerechtigkeit.
https://www.srf.ch/play/tv/dok/video/die-zwangsarbeiterinnen—wie-buehrle-staat-und-kirche-profitierten?urn=urn:srf:video:0214f5c5-5c1a-4a4f-88fa-2f498168fadc&aspectRatio=16_9