Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
++++SCHWEIZ
Fussballmatch für Geflüchtete – Ein Match als Auftakt für eine Asyl-Liga?
In einem ersten Freundschaftsspiel trafen zwei Teams aus verschiedenen Bundesasylzentren aufeinander. Daraus könnte mehr entstehen. Die Vision ist eine Fussballliga für Asylsuchende.
https://www.srf.ch/news/schweiz/fussballmatch-fuer-gefluechtete-ein-match-als-auftakt-fuer-eine-asyl-liga
+++FINNLAND
Finnland und Russland – Auch im hohen Norden herrscht nunmehr ein Gegeneinander
Aus einem Miteinander zwischen Finnland und Russland wird zunehmend ein Gegeneinander. Russland wolle Finnland mittels Migranten destabilisieren, sagt die Regierung – und reagiert mit Grenzschliessungen.
https://www.srf.ch/news/international/finnland-und-russland-auch-im-hohen-norden-herrscht-nunmehr-ein-gegeneinander
+++EUROPA
NZZ am Sonntag 19.11.2023
Wer braucht noch die Menschenrechte?
Nach dem Gerichtsurteil gegen die Ausschaffung von Migranten nach Rwanda steht die Europäische Menschenrechtskonvention zur Debatte. Der britische Regierungschef drohte bereits mit einem Ausstieg. Aber er ist nicht allein. Vielen in Europa geht das Asylrecht zu weit.
Markus Bernath
Die britische Öffentlichkeit ist erbost. Moderatoren von Radiosendungen flogen diese Woche fast die Ohren weg, wenn sie sich die Wutausbrüche ihrer Anrufer über «diese linken Anwälte» anhörten, die vor dem Supreme Court gerade einen grossen Sieg über die Ausschaffungspolitik der Regierung errungen hatten. «Wir haben schliesslich die Regierung gewählt, und die soll sich gefälligst gegen diese Gerichte durchsetzen», schrie so mancher ins Telefon.
London darf keine Bootsmigranten, die über den Ärmelkanal kommen, ins Flugzeug nach Rwanda setzen, damit sie dort einen Asylantrag stellen – für den Verbleib im ostafrikanischen Land. Halb Europa hat mit Spannung auf die Entscheidung des obersten Gerichts in Grossbritannien geschaut. Überall hat die Stimmung gegenüber Migranten gedreht.
Der Zustrom ist so gross wie seit der Flüchtlingskrise von 2015/16 nicht mehr. Über eine Viertelmillion Migranten kam dieses Jahr bis November nach Europa. Die Schluss-jetzt-Mentalität regiert: keine ungeordnete Einwanderung mehr, Asylverfahren sollen aus Europa ausgelagert werden, Drittstaaten werden verzweifelt gesucht.
Rasche Gesetzänderung
Rwanda hätte einer sein können. Ist es vielleicht immer noch. Denn der britische Premierminister Rishi Sunak will nicht klein beigeben. Ein Staatsvertrag mit Rwanda, eine Gesetzesänderung im britischen Parlament sollen rasch den Einwänden des Supreme Court Rechnung tragen. Dieser hatte argumentiert, Rwanda sei kein sicherer Drittstaat. Es gebe keine Garantie, dass Asylbewerber dort nicht doch in ihre Heimatländer abgeschoben und der Gefahr für Leib und Leben ausgesetzt würden.
Aber Sunak weiss: Mit einem einfachen Federstrich, der Rwanda zum sicheren Staat erklärt, wird es nicht getan sein. Selbst wenn das oberste Gericht am Ende doch die Ausschaffung von Asylbewerbern guthiesse, der grosse Bremsblock, die letzte Instanz, liegt anderswo. Es gibt immer noch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg, der über die Einhaltung dieser Konvention wacht. Ein radikaler Bruch kann am Ende notwendig sein. Sunak drohte schon zu Anfang des Jahres mit einem Rückzug von der Konvention und vom Gericht. Es wäre die nukleare Option in der Frage der Asylpolitik.
Der britische Premierminister ist mit dieser Auffassung keineswegs allein in Europa. Sunak wolle mit anderen europäischen Ländern an einer Reform der EMRK arbeiten, um Migranten nach Rwanda auszuschaffen, meldeten britische Medien am Samstag unter Berufung auf Regierungskreise. Genannt wurden Italien, Spanien und Österreich.
Der Fraktionsvorsitzende der Regierungspartei ÖVP im österreichischen Parlament, August Wöginger, gehört zu jenen, die eine Debatte über die Menschenrechtskonvention angestossen haben. Von einer «exzessiven Auslegung» der Konvention zugunsten von Asylbewerbern sprach die österreichische Integrationsministerin Susanne Raab.
Italiens Regierungschefin Giorgia Meloni vereinbarte jüngst mit Albanien die Auslagerung von Asylverfahren von Migranten, die vor der italienischen Küste aufgegriffen werden. Auch ein potenzieller Verstoss gegen die EMRK? Die EU-Kommission hat jedenfalls nichts dagegen. Asylverfahren in Albanien verstiessen nicht gegen EU-Recht, weil sie ausserhalb des EU-Rechts lägen, erklärte – ziemlich kurios – Mitte der Woche die zuständige Kommissarin Ylva Johansson.
Vieles scheint mit einem Mal im Fluss, nichts mehr wirklich undenkbar. Die EMRK steht in der Kritik, weil sie Asylbewerbern, die es auf Booten und in Lastwagen nach Europa geschafft haben, faktisch ein vorübergehendes Bleiberecht verschafft. Artikel 14 der Konvention legt fest, dass der Genuss der Rechte und Freiheiten allen zu gewährleisten sei, ohne Ansehen von Geschlecht, Rasse, Hautfarbe, Sprache, Religion, nationaler und sozialer Herkunft.
Ausschlaggebend ist, dass die Personen der Hoheitsgewalt der unterzeichnenden Staaten der Konvention unterstehen. Ein Umstand, der auf jeden Migranten zutrifft, der europäischen Boden betritt. Artikel 3 verbietet Folter oder unmenschliche Behandlung. Die EMRK geht mit der Garantie der Anhörung und dem Anspruch auf ein Rechtsverfahren für Asylsuchende noch weiter als die Genfer Flüchtlingskonvention.
Veraltete Konvention
Rechtsgerichtete Parteien in Europa fordern schon längst den Ausstieg aus den Konventionen. Die Zuständigkeit für die Asyl- und Zuwanderungspolitik müsse an die Nationalstaaten zurückgegeben werden, verlangt die AfD – mittlerweile laut Umfragen stärkste politische Kraft in mehreren ostdeutschen Bundesländern – in ihrem Programm für die Europawahlen nächstes Jahr.
Aber auch in den deutschen Unionsparteien gibt es prominente Stimmen für eine Abkehr von den internationalen Verpflichtungen. Besser wäre es, das individuelle Recht auf Asylanträge in Europa möglichst ganz abzuschaffen, sagte Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU-Fraktion im Bundestag. Stattdessen sollten die Europäer – ähnlich wie Kanada – Kontingente für Schutzsuchende festlegen. 30 000 bis 40 000 Menschen sollen im Jahr kommen, dafür soll niemand mehr Asyl auf europäischem Boden beantragen dürfen.
EMRK und Genfer Flüchtlingskonvention sind mittlerweile über siebzig Jahre alt. Kritiker wie die Anfang Woche entlassene britische Innenministerin Suella Braverman wenden ein, die Welt sei heute anders. Internet, Mobilität und 281 Millionen Migranten weltweit, wie die Internationale Organisation für Migration für 2020 schätzt, machen die Asylpolitik weit komplexer als in den fünfziger Jahren.
Viel Ärger löst die Asylrechtsprechung des EGMR in Strassburg auch in der französischen Politik aus. Innenminister Gérald Darmanin teilte mit, er wolle mutmassliche Terror-Gefährder abschieben, selbst wenn eine Entscheidung des EGMR noch ausstehe. Dafür sei er bereit, eine Geldstrafe in Kauf zu nehmen. Hintergrund ist der jüngste Mord an einem Lehrer in Arras durch einen Inguschen.
Im vergangenen Jahr wurde Frankreich von den Strassburger Richtern zu einer Geldbusse verurteilt, weil es zwei geflüchtete Tschetschenen – sie hatten sich als Islamisten geoutet – nach Russland abschieben wollte. Ihnen könnte dort Folter drohen, lautete die Begründung. Doch auch Darmanin hält die heutige Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention für überlebt: «Der EGMR muss verstehen, dass er im Kontext einer terroristischen Krise urteilt, die es noch nicht gab, als die Regeln festgeschrieben wurden», sagte der Innenminister in einem Zeitungsinterview.
Ein Austritt aus der Konvention, ein Rückzug vom Gericht in Strassburg wäre wohl ein Schritt mit enormen Folgen: Die Mitgliedschaft im Europarat ist an die Unterzeichnung und Ratifizierung der Menschenrechtskonvention gebunden. 46 Staaten gehören der Organisation an. Wer die Konvention aufkündigte, machte sich gemein mit Russland und Weissrussland, die beide nicht im Europarat sind.
Auch die Mitgliedschaft in der EU setzt die Annahme der EMRK und der Genfer Flüchtlingskonvention voraus. «Das wäre ganz schön viel Ausgetrete», spottet Karl Kopp, der Leiter der Europa-Abteilung der Flüchtlingsorganisation Pro Asyl. Möglich, dass eine Reform der Menschenrechtskonvention unter diesen Umständen realistischer ist. Und auch eine Anpassung der Rechtsprechung in Strassburg.
Das räumt selbst die Präsidentin des Gerichts ein. Die Menschenrechtskonvention sei ein lebendiges Instrument, sagte Siofra O’Leary jüngst in einem Interview. Und auch das Fallrecht könne weiterentwickelt werden.
–
Mitarbeit: Bettina Schulz (London), Andrea Jeska (Lübeck), Virginia Kirst (Rom), Christine Longin (Paris)
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/international/wer-braucht-noch-die-menschenrechte-ld.1766400)
+++GASSE
Teil 1: Luzerner Unterlachen im Wandel – Bauten rund um die Gassechuchi: Reibereien oder Toleranz?
Wo früher geschuftet worden ist, wird zunehmend gewohnt. Im ehemaligen Luzerner Industriequartier entstehen neue Wohnblöcke. Und das rund um die bestehende Gassechuchi – K+A. Wie wirkt sich das auf den Treffpunkt für Suchtkranke aus?
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/bauten-rund-um-die-gassechuchi-reibereien-oder-toleranz-2596762/
Teil 2: Luzerner Unterlachen im Wandel – Warum die Gassechuchi am Geissensteinring bleiben will
Wo früher geschuftet wurde, wird zunehmend gewohnt. Rund um die bestehende Gassechuchi – K+A im ehemaligen Luzerner Industriequartier entstehen neue Wohnblöcke. Franziska Reist, die Geschäftsleiterin der Kirchlichen Gassenarbeit, erklärt, warum die Gassechuchi weiterhin ins Quartier gehört.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/warum-die-gassechuchi-am-geissensteinring-bleiben-will-2596849/
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
NZZ am Sonntag 19.11.2023
Trotz Verbot: Nationale Nahost-Kundgebung in Bern geplant
In der Stadt Bern soll bald eine grosse Demonstration für Frieden im Nahen Osten stattfinden. Noch ist allerdings unklar, ob der Anlass bewilligt wird.
Ladina Triaca
Es soll eine grosse überregionale Kundgebung werden. Und sie soll friedlich verlaufen. Mehrere Organisationen wollen Anfang Dezember in Bern gegen die Gewalt in Israel und Palästina protestieren. Die Teilnehmenden dürfen Kerzen und Friedensflaggen mitbringen, Plakate sind nicht erlaubt.
Noch ist unklar, ob der Anlass stattfinden kann. Denn seit Freitag sind grosse Kundgebungen und Umzüge in der Berner Innenstadt verboten. Die Stadtberner Regierung argumentiert unter anderem mit den vielen Veranstaltungen, die während der Wintermonate in Bern stattfinden: Weihnachtsmarkt, Zibelemärit, YB-Match. Für grosse wöchentliche Demonstrationen habe es nicht auch noch Platz.
Die Organisatoren der Kundgebung um die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) und die Jüdische Stimme für Demokratie und Gerechtigkeit in Israel/Palästina wollen sich damit nicht abfinden. Sie werden morgen Montag ein Gesuch bei der Stadt Bern einreichen. Ihr Vertreter Jo Lang sagt: «Es wäre politisch absolut unverständlich, wenn unsere friedliche Kundgebung verboten würde.»
Die Organisatoren stellen sich bewusst nicht auf eine Seite im Gaza-Konflikt. Sie verurteilen sowohl die Gewalt durch die Hamas als auch jene durch Israel. Und sie solidarisieren sich mit allen Opfern. Angst, dass die neutrale Kundgebung in Bern trotzdem von proisraelischen oder propalästinensischen Gruppen unterwandert werden könnte, hat Jo Lang nicht. «Wir haben bereits vor zwei Wochen auf dem Bürkliplatz eine Kundgebung mit demselben Konzept durchgeführt und hatten keine Probleme.» Und wenn doch? «Dann wird unser Ordnungsteam vor Ort für Ruhe sorgen.»
Die Schweizer Bevölkerung ist beim Nahostkonflikt – anders als etwa beim Ukraine-Krieg – gespalten. Eine Umfrage, die der «Blick» vor kurzem publizierte, zeigt, dass rund 40 Prozent der Befragten die palästinensische Seite für den Krieg verantwortlich machen. Ein Drittel sieht in Israel den Hauptverantwortlichen, und 27 Prozent beschuldigen beide Seiten.
Die Stadt Bern wird das Gesuch der Organisatoren nun prüfen. Auf Anfrage sagt Sicherheitsdirektor Reto Nause: «Wenn die Kundgebung nicht einseitig Partei ergreift für Israel oder Palästina, werden wir das Gespräch mit den Gesuchstellenden suchen.» Nicht infrage kämen derzeit hingegen grosse Kundgebungen, die sich einseitig auf die Seite Israels oder Palästinas stellten. Diese seien mit einem massiven polizeilichen Aufwand verbunden.
Es ist also durchaus möglich, dass die geplante Nahost-Kundgebung stattfinden kann. Sollten die Veranstalter grünes Licht erhalten, wollen sie den Anlass voraussichtlich am 2. oder 9. Dezember durchführen.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/nahost-demo-in-bern-ld.1766431)
-> https://www.derbund.ch/trotz-demo-verbot-nahost-kundgebung-in-bern-geplant-841901213532
+++REPRESSION FRA
Französische Umweltschützer doch keine Ökoterroristen
Die Regierung in Frankreich musste vor Gericht mehrere Schlappen einstecken. Ein Urteil hebt das Verbot eines Umweltvereins auf, das gegen die Privatisierung von Wasser protestiert.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177885.wasserknappheit-franzoesische-umweltschuetzer-doch-keine-oekoterroristen.html
+++POLIZEI CH
Brochure Street-Medic sur les armes Suisses
Pour que la peur change de camps, une brochures qui nous apprend comment nous soigner face à l’État policier Suisse.
https://renverse.co/infos-locales/article/brochure-street-medic-sur-les-armes-suisses-4229
+++RASSISMUS
Tausende Mitglieder: «Mohrenkopf»-Trotz-Gruppe sorgt für Kritik
Ganze 16’500 Mitglieder hat eine Gruppe auf Facebook, die fordert: «Mohrenkopf bleibt Mohrenkopf!» Eine Rassismus-Expertin schüttelt den Kopf.
https://www.nau.ch/news/schweiz/tausende-mitglieder-mohrenkopf-trotz-gruppe-sorgt-fur-kritik-66640563
+++RECHTSPOPULISMUS
Umstrittener SVP-Politiker: «Es war eine Schlammschlacht» – Adrian Spahr wird nicht Gemeindepräsidentin von Lengnau
Die Sozialdemokratin Sandra Huber-Müller bleibt Gemeindepräsidentin der Seeländer Gemeinde Lengnau. Ihr Konkurrent von der Jungen SVP, Adrian Spahr, hatte bei der Kampfwahl am Sonntag das Nachsehen. Er spricht im Video von einer Schlammschlacht während des Wahlkampfes.
https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/adrian-spahr-wird-nicht-gemeindepraesidentin-von-lengnau-155052047
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/wegen-patt-in-lauenen-spitalprojekt-in-zweisimmen-gescheitert?id=12491763 (ab 08:43)
-> https://www.derbund.ch/news-ticker-bern-region-kanton-polizei-verkehr-politik-kultur-223-290281918894
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/sandra-huber-mueller-bleibt-lengnaus-gemeindepraesidentin-155058503
+++VERSCHWÖRNGSIDEOLOGIEN
NZZ am Sonntag 18.11.2023
«Der Fortschritt schiesst da gerade ein Eigentor»
Der Soziologe Oliver Nachtwey beobachtet das Erstarken einer libertären Bewegung, die Staat, Demokratie und generell gesellschaftliche Regeln ablehnt. Seine Erklärung dafür überrascht: bessere Bildung und der ungeahnte Anklang neoliberaler Gedanken im linken Milieu.
Gordana Mijuk
In den USA hat der Kongress diese Woche ein Übergangsbudget verabschiedet und so den Shutdown verhindert. Der Einigung ging ein wochenlanges, kompromissloses Seilziehen voraus: Politiker blockierten Gesetze, verheizten den Sprecher des Repräsentantenhauses und versuchten den Politbetrieb bewusst zu destabilisieren. Wie sehen Sie als Soziologe diese Ereignisse?
Oliver Nachtwey: Ich sehe eine Radikalisierung der politischen Ränder, die es verunmöglicht, Kompromisse zu finden und sich auf gemeinsame Regeln zu einigen. Es ist eine Form von destruktiver Politik, die bewusst Polarisierung herstellt und den Bruch des sozialen Zusammenhalts in Kauf nimmt. Es geht um die Zerstörung des Gegners und die Zerstörung von Institutionen. Die USA steuern auf eine grosse Krise der liberalen Demokratie zu.
Eine Krise der Moderne?
Ja. Eine Krise, in der der Fortschritt als solcher infrage gestellt wird. Schauen Sie sich die Lebenserwartung der weissen Mittelschicht in den USA an: Sie sinkt. Wir sehen, wie die Fortschritte der letzten 100 Jahre systematisch brüchig werden. Und weil die Verzweiflung der Bürger so gross ist, entsteht diese Offenheit für radikale Alternativen. Eine Offenheit für dekadent fanatische, rechtslibertäre Kräfte, die das Motto haben: Lasst uns die Institutionen kaputtmachen. Eine Offenheit für Figuren wie Donald Trump, Jair Bolsonaro in Brasilien und Javier Milei in Argentinien.
Aber auch bei uns erstarkt gerade eine libertäre Bewegung, die gegenüber dem Staat und den Institutionen enorm kritisch ist. Sie haben basierend auf einer Studie ein Buch über diese Bewegung in Deutschland und der Schweiz geschrieben. Was sind das für Leute?
Oft wurde ja gesagt, dass die Querdenker eine rechte Bewegung seien. Unsere Empirie zeigt aber, dass das vor allem Menschen sind, denen der Freiheitsbegriff sehr wichtig ist. Es sind in der Regel weltoffene Leute, keine Rassisten. Sie kommen oft aus einem linken Milieu, dem das Recht auf Autonomie wichtig ist. Es sind Menschen, die die Werte des modernen Liberalismus stark internalisiert haben. Sie sehen ihre individuelle Freiheit als zentral an, ihr Recht auf Selbstbestimmung.
Was meinen Sie mit linkem Milieu?
Es sind eher grünaffine Milieus, also Leute mit höherer Bildung, mit körperbetonten Berufen wie Osteopath oder Heilpraktiker, die eine technische Modernitätsskepsis haben. Da es ihnen in den sechziger Jahren nicht gelungen ist, die Welt zu revolutionieren, haben sie angefangen, sich selbst zu verändern und zu optimieren. Viele landeten deshalb in der Esoterik, im New Age. Sie sind eigentlich extrem weltlich und schauen sehr stark auf sich, auf das Individuum, doch dieses ist verbunden mit einem höheren Dasein. Man sieht die Natur als eigenständigen Akteur an – und ist skeptisch gegenüber der evidenzbasierten Medizin. Man glaubt an Naturheilkräfte.
In Ihrer Studie sagten Ihnen viele der befragten Querdenker, dass sie 2017 beziehungsweise 2019 grün oder links gewählt hätten, bei den nächsten Wahlen jedoch AfD und SVP wählen würden. Wieso dieser Drift nach rechts?
Das passiert nicht abrupt. Die Leute kommen in einen Drift und sagen dann: Ich bin ja kein Rechter, aber da findet gerade eine Übernahme der Macht vom linksliberalen Establishment statt. Gegenüber der Rechten dagegen ist man indifferent geworden. Ausserdem treffen sich die Libertären in ihrer Staatsskepsis mit den Rechten. Man findet den Staat, die Behörden und deren Regulierungen zu stark. Corona-Massnahmen sind für sie eine Anmassung, ebenso das Gendern oder Massnahmen gegen die Klimaerwärmung.
Dass die Massnahmen gegen den Klimawandel nicht ankommen, müssen derzeit die Grünen erfahren. In Deutschland fallen sie bei Umfragen weit zurück, in der Schweiz sind sie die grosse Wahlverliererin. Wieso?
Ja, sie haben die Deutungshoheit über das Thema Klimapolitik verloren. Jede Partei, auch die SVP, will heute das Klima schützen. Ein weiterer Punkt ist, dass sie das Klimaproblem individuell behandeln: Jeder soll einen Beitrag leisten. Sie haben zu wenig darüber nachgedacht, wie die Lasten der Klimamassnahmen verteilt werden müssten. Da war die SP geschickter: Sie sagte, der CO2-Abdruck ist vor allem ein Problem der Reichen.
Aber es herrscht doch auch eine Art «Ich lass mir nichts vorschreiben»-Stimmung beim Klimathema. Und nicht nur bei den Querdenkern.
Ja, und jetzt sind wir beim Kern der Sache. Die Tendenz, Regeln oder neue Gesetze nicht zu akzeptieren, nimmt tatsächlich zu. Sie ist eine Folge der, wie es die Forschung nennt, Hyperermächtigung der Individuen. Die liberale Moderne hat zahlreiche Institutionen hervorgebracht, welche die Lebensumstände der Menschen aktiv verbessern: Fast alle westlichen Gesellschaften verfügen über Umwelt- und Familienministerien und eine Vielzahl von Ombudsstellen, die die Einhaltung von Menschen-, Arbeits- und Gleichstellungsrechten sichern. Die Menschen wurden durch die Bildungsinstitutionen nicht nur gebildeter, sondern auch unabhängiger.
Und wo kommen die Regeln ins Spiel?
Die Menschen treten gerade durch ihre bessere Bildung den Institutionen immer skeptischer entgegen, denn sie glauben, es besser zu wissen als die Experten. Die Ideologie des Neoliberalismus, die seit den achtziger Jahren Institutionen als schädlich für Märkte und Individuen darstellt, ist ebenfalls ein wichtiger Faktor in dieser Entwicklung. Er war paradoxerweise auch im alternativen linken Milieu sehr erfolgreich, denn die beiden Seiten vereinen ein gesteigerter Individualismus und eine Ablehnung von Kollektivarrangements.
Wir wollen also Rechte und damit Freiheiten, aber keine Normen, also Einschränkungen dieser Freiheiten.
Ich denke, dass nur noch wenige Menschen unbedingt eine Zigarette im Flugzeug rauchen wollen. Die generell stärkere Gleichberechtigung hat jedoch für manche einen Machtverlust zur Folge. Häufig sind das bestimmte Männer, die dann etwa nicht mehr die Witze machen können, die sie vor dreissig Jahren gemacht haben. Aber es gibt auch jüngere Leute, die sagen: Ich kann Studien lesen, und ich masse mir an, über meine Gesundheit besser Bescheid zu wissen als Mediziner. Da schiesst der Fortschritt gerade ein Eigentor.
Was ist denn der Unterschied zwischen jenen, die neue Normen akzeptieren, und jenen, die sie ablehnen?
Viele Leute sagen: Ich sehe ein, dass ich meine individuelle Wahlfreiheit für eine gewisse Zeit einschränken muss, um den Fortbestand oder das Funktionieren der Gesellschaft zu gewährleisten. Wenn ein Kind in der Nähe ist, gehen wir nicht bei Rot über die Strasse. Freiheit ist etwas, was wir nur zusammen erreichen können. Für Libertäre zählt jedoch nur die individuelle Freiheit, nicht die gemeinsame Freiheit. Und wenn ich in meiner individuellen Freiheit in irgendeiner Form beschränkt bin, habe ich jedes Recht, mich dagegen zu wehren. Das ist der grosse Konflikt. Bei Corona sagten diese Leute oft: Ich ernähre mich doch gesund. Mir wird die Krankheit nicht schaden. Aber sie zogen nicht in Betracht, dass sie so die Übertragung des Virus vorantreiben.
Wie gross ist diese Bewegung?
Eine Studie der Uni Bielefeld weist libertäre Tendenzen bei fast einem Fünftel der Leute nach. Darin wird der Typus der «entsicherten Marktförmigen» analysiert. Diese Menschen identifizieren sich, vereinfacht gesagt, mit dem Leitbild eines Unternehmers, sie sind gleichzeitig Krisen des Marktes besonders ausgesetzt. Diese Gruppe neigt laut der Untersuchung deutlich stärker als der Rest der Bevölkerung zu Verschwörungsglauben, Staatsskepsis und Autoritarismus.
In den USA fördern High-Tech-Unternehmer wie Elon Musk die Skepsis gegen den Staat. Weshalb tun sie das?
Figuren wie Elon Musk und Peter Thiel sagen: Alle sozialen Probleme lassen sich mit technischen Mitteln lösen. Regierungen, Regulierungen, Gesetze oder das Weisse Haus stören dabei nur. Leute wie Musk propagieren eine extreme Washington-Feindlichkeit, die letztlich auch eine Demokratiefeindlichkeit ist. Dabei ist Musk sicher kein Selfmademan. Er ist tief im militärisch-industriellen Komplex verankert. Er hat von Subventionen profitiert und von der Goldmine seines Vaters. Aber Leute wie er schüren dieses Anti-Staats-Ressentiment. Die Tech-Gurus vom Silicon Valley fühlen sich als Helden, die Lust haben, Sachen kaputtzumachen, Regeln zu brechen und dann halt Strafe zu zahlen.
Woher kommt dieses Denken?
Der Ursprung kommt auch von links, vom kalifornischen Progressivismus. Dieser hatte auch ein antistaatliches Element und eine Do-it-yourself-Gesellschaft im Blick. Die Silicon-Valley-Stars wollen gleichzeitig Washington ab- und einen neuen Inselstaat erschaffen, wobei sie Gesellschaften nur als Unternehmer betrachten. Theoretiker wie Robert Nozick oder Ayn Rand sind für sie die zentralen Figuren. Und es gilt die Devise: Alles ist privat. Unternehmertum und Technologie – mehr braucht eine Gesellschaft nicht. Einige wollen jetzt sogar auf Inseln Privatstaaten ohne Demokratie gründen. Donald Trump geht in die gleiche Richtung. Er verspricht für den Fall seiner Wahl als Präsident die Gründung von «freedom cities».
Können wir Herausforderungen wie Klimaerwärmung oder Migration bewältigen, wenn Kooperation immer schwieriger wird?
Nein, und das ist aus mehreren Gründen fatal. Geht der Klimawandel so weiter, wird es wohl zu einschneidenden Regelungen kommen müssen, die uns beim Verbrauch von Energie und Ressourcen in irgendeiner Form einschränken. Das birgt in dieser Stimmung natürlich ein riesiges Konfliktpotenzial. Sie sehen ja, wie gross in Deutschland der Streit um das neue Heizungsgesetz war. Ausgerechnet die Grünen sind da zu forsch wirtschaftsliberal vorgegangen und haben nur wenig Rücksicht auf die Nöte von Menschen genommen, die für ihr altes Haus nicht einfach eine neue Heizung anschaffen können. Da sie ohnehin als Partei wahrgenommen werden, die von oben herab auf den Lebensstil von anderen schaut, sei es bei der Ernährung, beim Verkehr oder beim Gendern, hat ihnen das einen herben Rückschlag eingebracht – der Klimapolitik aber auch.
Der Hang zu Verschwörungstheorien war ein zentrales Element bei den Querdenkern und ist auch heute aus den Debatten fast nicht mehr wegzudenken. Wieso?
Verschwörungstheorien entstehen in Krisen und in Phasen von beschleunigtem sozialem Wandel. Sie liefern eine vermeintlich rationale Erklärung dafür und können uns so entlasten von den vielleicht unangenehmeren Wahrheiten. Wenn ich an Verschwörungstheorien glaube, muss ich mich nicht ändern. Dann kann ich das Maskentragen oder das Gendern als Verschwörung anschauen.
Wieso wurde das jetzt so akut? Und wieso ist es so oft begleitet von politischem Tumult und Figuren wie Trump, Bolsonaro oder dem erwähnten Milei in Argentinien?
Argentinien ist ein gutes Beispiel. Es ist im Grunde das europäischste Land in Südamerika. Vor hundert Jahren hatte es annähernd die gleiche Wirtschaftsleistung wie die Schweiz. Das Land hat einen starken Individualismus, ist aber nie über die grosse Finanzkrise hinweggekommen. Die Bevölkerung leidet unter einer sehr starken Inflation. Und wir sehen hier entfremdete politische Eliten, die keine Lösungen für die sich kumulierenden Krisen der Welt finden. Die Politik der verschiedenen Parteien ist ununterscheidbar geworden. In dieser Polykrise aus Klimaerwärmung, wirtschaftlicher Stagnation und wachsender Ungleichheit erscheinen plötzlich Anarchokapitalisten als Ausweg. Milei bezeichnet sich so. Er sagt: Wir zerstören sogar die Hauptinstitutionen des liberalen Kapitalismus. Wir schaffen den Peso ab und die Zentralbank, weil die Zentralbank ein Instrument kollektiver Steuerung ist. Milei, Thiel, Musk werden Heroen einer dystopisch verzweifelten Gesellschaft.
Sie schreiben in Ihrem Buch «Gekränkte Freiheit», dass diese libertären Strömungen ohne «Führer» auskämen. Trump und Bolsonaro wären doch sehr gerne autokratische Führer.
Die Leute, die wir analysiert haben, suchen keinen starken Mann als Schutzschild. Ihre Flucht ist keine in die Autorität, sondern eine vor den demokratischen Institutionen. Wenn die Gesellschaft schon zerfällt, dann trauen sie sich zu, alleine besser durchzukommen und auch für ihre Kinder besser selber sorgen zu können als in einem neuen gemeinschaftlichen Anlauf.
Das klingt alles nicht sehr optimistisch.
Die libertäre Bewegung kann man auch als ein Ergebnis von gescheitertem sozialem Fortschritt sehen. Die Welt ist in den letzten Jahren wohlhabender, aber ungleicher geworden. Erstmals stagniert die Lebenserwartung in den hochentwickelten Marktgesellschaften, in einigen geht sie sogar zurück. Die Occupy-Bewegung, welche die Finanzmärkte stärker regulieren wollte, blieb erfolglos, die Antikriegsbewegung auch. Die Politik hat sich einfach darüber hinweggesetzt. Und wenn Bürger das Gefühl haben, die Politik übergehe ihre Anliegen, die Gesellschaft entwickle sich zurück, die Infrastruktur gehe kaputt, die Menschen würden wieder früher sterben – dann verlieren sie den Glauben in Politik. Die libertäre Bewegung sucht nicht den starken Mann. Aber was noch nicht ist, kann noch werden. Milei und Bolsonaro sind schon sehr starke Warnzeichen.
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Zur Person
Oliver Nachtwey, 48, ist Professor für Soziologie an der Universität Basel und Direktor des Forum Basiliense. Im Buch «Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus» untersuchte er mit Carolin Amlinger die Szene der Corona-Kritiker in Deutschland und der Schweiz und befragte dafür über 1000 Menschen aus dem Milieu der Querdenker. Für sein Buch «Abstiegsgesellschaft» (2016) über die sozialen Probleme Deutschlands erhielt er den Hans-Matthöfer-Preis für Wirtschaftspublizistik.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/hintergrund/oft-wurde-gesagt-dass-die-querdenker-eine-rechte-bewegung-sind-aber-sie-kommen-haeufig-aus-einem-linken-milieu-ld.1766110)
+++FUNDIS
Verschwörungsglaube in der Schweizer Psychiatrie: Ein Psychiater im Strudel einer Satanisten-Verschwörung
In der Psychiatrie machen krude Thesen zu ferngesteuerten Menschen und Missbrauch durch Satanistenzirkel die Runde. Ein angesehener Berner Psychiater hat das befeuert. Und, wie SonntagsBick nun enthüllt: Er behandelte Patientinnen danach.
https://www.blick.ch/schweiz/verschwoerungsglaube-in-der-schweizer-psychiatrie-ein-psychiater-im-strudel-einer-satanisten-verschwoerung-id19158120.html
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spiegel.de 13.11.2023
Fortbildungen zu vermeintlicher ritueller Gewalt: Die kruden Thesen des Trauma-Gurus
Unter Psychotherapeuten kursieren Mythen über ferngesteuerte Menschen und Missbrauch durch Anhänger geheimer Kulte. Experten halten sie für Unsinn – und gefährlich. Trotzdem werden sie weiterhin in der seriösen Fachwelt verbreitet.
Von Christopher Piltz
An einem Mittwoch im Juni unternimmt eine Psychotherapeutin den Versuch, ihren Ruf zu retten. Sie hat einen Brief aufgesetzt, 14 Seiten, eng beschrieben. Da steht: »Aufgrund der fachlichen und medialen Entwicklung in den letzten Monaten ist es mir ein grosses Anliegen, … klärend Stellung zu nehmen.«
Sie schreibt, sie sei »zu unkritisch« gewesen gegenüber Theorien, die sie nun als »unwissenschaftliche Spekulationen« bezeichnet. Sie wolle »nicht wegen dieses Fehlers als unseriös oder gar als ›Verschwörungstheoretikerin‹ verurteilt und aus der professionellen Fachwelt ausgeschlossen« werden.
Die Psychotherapeutin verschickt das Schreiben an psychiatrische Kliniken und Behörden in Deutschland und der Schweiz, an psychologische Fachgesellschaften und Ärzte, insgesamt an mehr als hundert Personen.
Einige Zeit zuvor hatte sie als Oberärztin auf einer Station gearbeitet, die im Zentrum eines mutmaßlichen Behandlungsskandals stand. »Haarsträubende Zustände an einer der grössten psychiatrischen Kliniken des Landes«, titelte etwa im November 2022 die »Neue Zürcher Zeitung«. Hintergrund war ein Untersuchungsbericht, den die Gesundheitsdirektion im Kanton Bern zuvor veröffentlicht hatte.
Der Bericht kam zu dem Schluss, dass im Psychiatriezentrum Münsingen Patientinnen und Patienten unnötig häufig zwangsfixiert oder isoliert wurden. Und er zeigt, dass dort Patientinnen und Patienten auf Basis einer Überzeugung behandelt wurden, die »unverkennbar Elemente einer Verschwörungstheorie« hat. Therapeuten sahen in ihren Klienten Opfer allmächtiger Täterkreise. Eine Überzeugung, die meist unter dem Begriff rituelle Gewalt bekannt ist. Und die nicht hilft, sondern Patientinnen und Patienten eher in die Angst treiben kann.
Wenn von ritueller Gewalt die Rede ist, sind meist Taten angeblich mächtiger Geheimgruppen gemeint, zum Beispiel verborgener satanistischer Zirkel. Diese sollen Kinder und Jugendliche angeblich auf grausamste Art foltern und missbrauchen. Dabei sollen die Täter ihre Opfer so sehr in Todesangst versetzen, dass diese mental gebrochen werden. Im Anschluss, so die Erzählung, würden die Täter in der Lage sein, ihre Opfer geistig zu kontrollieren und sie so ein Leben lang steuern zu können. Diese vermeintliche Technik wird in der Szene »Programmieren« genannt oder auch »Mind-Control«.
Dabei gibt es keinerlei Beweise, etwa aus Strafverfahren, dass Verbrechen solcher geheimer Täterkreise existieren. Auch fehlen jegliche wissenschaftliche Erkenntnisse für solche Thesen. Sie widersprechen vielmehr dem Wissen über die Psyche.
Und doch verbreiten sich solche Thesen seit Jahren. In der Schweiz sollen einer Online-Umfrage der Uni Bern zufolge 70 Therapeutinnen und Therapeuten angegeben haben, dass etwa 600 Patientinnen auf dieser Grundlage behandelt worden seien. Für Deutschland fehlen konkrete Daten, doch auch hierzulande werden solche kruden Ansichten in Praxen verbreitet. Im März berichtete der SPIEGEL (11/2023) bereits, welchen Schaden sie in einer Therapie verursachen können.
Wie können sich solche Mythen in der Fachwelt verbreiten?
Antworten finden sich quer durch die Republik, in Bremen, München oder Hamburg. Und zwar in Einrichtungen, die Psychotherapeutinnen und -therapeuten fortbilden. Aber auch in Fachartikeln und Fortbildungsunterlagen. Unhaltbare Thesen über Gedankenkontrolle haben Einzug gefunden in die psychiatrische Literatur. Auch in dem Schreiben der Psychotherapeutin finden sich Erklärungen.
Sie selbst lehnt es ab, mit Journalisten über die Vorwürfe zu sprechen. In ihrem Brief hingegen schreibt sie, sie habe den »gelehrten ›Theorie‹-Ansatz des ›Mind-Control‹« nicht hinterfragt. Die Psychotherapeutin macht vor allem einen Mann dafür verantwortlich. Von ihm distanziere sie sich heute »vollumfänglich«. Mehrfach nennt sie seinen Namen: Jan Gysi.
Jan Gysi war als Supervisor an der Klinik in Münsingen tätig
In der Schweiz ist Jan Gysi ein bekannter Experte. Er arbeitete zeitweise als Oberarzt an psychiatrischen Kliniken, betreibt in Bern eine eigene Praxis. Zudem lehrt er an Universitäten und gibt Fortbildungen für Psychotherapeuten, auch in Deutschland. Gysi hat sich nach eigenen Angaben vor allem auf ein Thema spezialisiert: Traumafolgestörungen.
Erleben Menschen ein traumatisches Ereignis, etwa eine Bombenexplosion oder eine Vergewaltigung, kann es vorkommen, dass ihr Gehirn das Furchtbare nicht mehr verarbeiten kann. Übersteigen Schmerz und Angst ein Maß, das Gehirn und Körper verkraften können, kann es passieren, dass die Persönlichkeit eines Menschen verschiedene Anteile entwickelt. Dissoziative Identitätsstörung heißt dieses Störungsbild, kurz DIS.
Die Thesen zu Mind-Control gehen jedoch weit darüber hinaus. So sei es möglich, durch extreme Folter eine dissoziative Identitätsstörung gezielt auszulösen – eine Annahme, die wissenschaftlichen Erkenntnissen über Traumafolgestörungen widerspricht. So hängt es von vielen Faktoren ab, etwa den Genen, ob Opfer eines traumatischen Ereignisses später eine Störung entwickeln – und welche. Niemand kann das exakt steuern.
Ideen zu Mind-Control blenden das aus. Sie besagen außerdem, dass die verschiedenen sogenannten Innenpersönlichkeiten Erkrankter durch spezielle Techniken so trainiert werden könnten, dass diese Persönlichkeitsanteile angeblich widerstandslos Sex oder Gewaltorgien über sich ergehen ließen. Das Opfer erinnere sich am Ende nicht einmal daran.
Auch Jan Gysi verbreitete solche Ideen. Er war als Supervisor an der betroffenen Klinik in Münsingen tätig, in der die Psychotherapeutin arbeitete – und die sich heute von ihm distanziert. In dem Schweizer Untersuchungsbericht wurde er »ein wichtiger ›Spin doctor‹« genannt, der »eine Art Schule« gegründet habe, um Thesen etwa zu Mind-Control zu verbreiten. Gysi bestreitet, solch eine Rolle innegehabt zu haben. Die Stelle in dem Bericht wurde mittlerweile geschwärzt.
Zu lesen sind Gysis Thesen etwa in seinem Buch »Diagnostik von Traumafolgestörungen«. Da ist von einer »gezielten Herstellung dissoziativer Anteile« die Rede, die »dem methodischen Vertuschen von Straftaten« diene und der »umfassenderen Kontrolle über die Opfer«. Das Buch erschien 2022 in der zweiten Auflage im Verlag Hogrefe, einem renommierten Fachverlag für psychologische Bücher.
Das Vorwort hat ein deutscher Psychologieprofessor der Universität Zürich verfasst, Andreas Maercker. Ein anerkannter Fachmann, er leitete jahrelang eine Arbeitsgruppe zu Traumafolgestörungen bei der Weltgesundheitsorganisation WHO. Das Buch sei »voller nützlicher klinischer Details«, schrieb er.
Heute klingt Maercker weniger begeistert. Aus seiner Sicht sollte das Buch heute nicht mehr verkauft werden, teilt er auf Anfrage mit. Er habe sich inzwischen kritischer mit Theorien zu Mind-Control beschäftigt – und hält sie für wissenschaftlich nicht belegbar und »theoretisch sehr schwer vorzustellen«. Der Verlag teilt auf Anfrage mit, das »Buch entlang der aktuellen wissenschaftlichen Studienlage aktualisiert und überarbeitet« zu haben, »auch die fraglichen Passagen«. Im kommenden Jahr soll eine korrigierte Neuauflage erscheinen.
Fragt man andere renommierte Traumaforscher zu Mind-Control und Programmierung, ähneln sich ihre Antworten. Da hört man: Ist mir in Studien noch nie begegnet. Klingt unwissenschaftlich. Ein naiver Irrglaube. Einer sagt: »Das klingt faszinierend dämlich.« Dem Psychiater Christian Schmahl fallen vor allem zwei Worte ein: unplausibel und unwahrscheinlich.
Schmahl leitet in Mannheim als ärztlicher Direktor die Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit. Seit Jahren forscht er zu den Folgen von Traumatisierungen und gibt Fortbildungen bei der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie.
Schmahl antwortet mit der Korrektheit eines Wissenschaftlers. Ist es aus seiner Sicht möglich, die Persönlichkeit eines Menschen garantiert gezielt aufzuspalten? »Es ist nicht vorhersagbar, dass eine bestimmte Traumafolgestörung auftritt. Ich halte es deshalb für unplausibel.« Einen Menschen so zu programmieren, dass er willenlos Befehle ausführt? »Eher unwahrscheinlich.« Einen Menschen allein durch einen Ton oder eine Bewegung fernzusteuern? »Unwahrscheinlich.«
In Deutschland praktizieren rund 30.000 Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Nur die wenigsten werden anfällig sein für solche Thesen. Das sagt auch Schmahl. Er sorgt sich vielmehr um labile Patientinnen und Patienten, die sich beeinflussen lassen könnten. Auch Fachgesellschaften fürchten, dass solche Mythen zu Fehlbehandlungen führen könnten.
Es gibt noch jemanden, der sich heute kritisch äußert: Jan Gysi selbst. Auf eine Anfrage des SPIEGEL antwortet er, es gebe »keine wissenschaftliche oder kriminologische Evidenz für absichtliche Spaltungen«. Er distanziere sich »von allen Arten von Verschwörungs-Narrativen«. Er schreibt: »Leider habe ich unterschätzt, dass meine Aussagen für Hypothesen zu Satanismus und ›Fernsteuerungen‹ missbraucht werden können.«
Alles also nur ein Missverständnis?
Dokumente zeigen, wie klar Gysi Thesen zur Gedankenkontrolle verbreitete
An einem Vormittag im Oktober widerspricht dem eine Frau vehement. Sie lebt in der Schweiz und war jahrelang bei Gysi in Therapie. Sie will ihren Namen nicht veröffentlicht wissen, auch nicht bestimmte Details zu ihrem Leben, die sie identifizieren könnten. Aber sie möchte reden. Sie sagt: »Gysis Therapie wurde zu meinem Problem.«
Die Frau erzählt, wie sie in ihrer Kindheit und Jugend missbraucht worden sei. Etliche Therapien und Klinikaufenthalte habe sie hinter sich. Als sie auf der Suche nach einem Experten für Dissoziationen war, fand sie Jan Gysi. Was sie über ihn las, machte auf sie einen seriösen Eindruck. Bei ihrer ersten Sitzung habe er kompetent gewirkt.
Doch bald habe sie sich nicht mehr wohlgefühlt. Die Frau erzählt, wie Jan Gysi immer stärker auf der Suche nach Anteilen in ihr gewesen sei. Wenn sie ihm berichtet habe, was sie als Jugendliche habe erleiden müssen, habe er immer schlimmere Details wissen wollen. »Er suchte immer das Schlimmste. Er sagte mir, Anteile in mir würden verhindern, dass ich das erzählen würde.«
Bald habe er auch von Persönlichkeitsanteilen gesprochen, die vielleicht noch Kontakt zu Tätern hätten. Sie würden durch Codes aktiviert werden, Zahlen oder Buchstaben. Diese Codes müssten sie herausfinden, um mit diesen Anteilen zu arbeiten.
Die Frau hat dafür Belege, die der SPIEGEL einsehen konnte. Sie zeichnen das Bild eines Therapeuten, der überzeugt zu sein scheint, dass Opfer durch ihre Täter kontrolliert und gesteuert werden können, alles ausgelöst durch einfache Codes.
Die Frau sagt, diese Vorstellung habe ihr Angst gemacht. »Ich habe Panikattacken bekommen. Ich dachte, ich hätte mich von dem Täter gelöst. Aber plötzlich stand im Raum, Teile von mir würden noch mit ihm kommunizieren.« Nach den Therapiesitzungen sei es ihr meist sehr schlecht gegangen. Manchmal sei sie orientierungslos durch die Straßen geirrt, bevor sie wieder bei Sinnen gewesen sei.
Jan Gysi weist die Vorwürfe zurück. Er nennt sie »Falschbehauptungen« und schreibt: »Ich distanziere mich von Theorien mit sogenannten Codes und habe nie damit gearbeitet.« Auch die Suche nach Anteilen oder Erinnerungen entspräche nicht den Leitlinien. Er orientiere sich an »wissenschaftlichen Erkenntnissen«.
Doch weitere Dokumente, die dem SPIEGEL vorliegen, zeigen, wie klar Gysi Thesen zur Gedankenkontrolle verbreitete. So gründete er im Jahr 2020 den »Verein für Opferschutz«. Über diesen wollte Gysi Fußfesseln an vermeintliche Opfer vermieten – Menschen, die von Tätern absichtsvoll aufgespalten worden sein sollen und unter deren Kontrolle stehen würden. Durch das Tracking könnten die Opfer »aktiv gesucht und geschützt werden«. So steht es in einem Konzept des Vereins. Das Projekt wurde nie umgesetzt, der Verein Anfang 2023 aufgelöst.
Heute teilt Gysi mit, er habe lediglich »widersprüchliche Aussagen von Menschen mit dissoziativer Identitätsstörung zu anhaltender Gewalt« prüfen wollen.
Doch das Thema »Programmierungen« scheint Gysi weiterhin zu beschäftigen. So hält er in diesem und im kommenden Jahr mehrtägige Seminare, auch in Deutschland. Etwa im Zentrum für Psychotraumatologie Hamburg oder am Traumahilfezentrum München. Das Traumahilfezentrum veranstaltet seit Jahren Fortbildungen und Vorträge zu ritueller Gewalt.
In einem der aktuellen Seminare Gysis, so ist es in einer Ankündigung zu lesen, soll es auch um das Thema »Programmierung« bei Traumaopfern gehen. Gysi antwortet auf Anfrage, er wolle lediglich »über die Problematik des Begriffs sprechen«.
Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern empfahl Gysi laut Ankündigung jedoch als Lektüre unter anderem einen 103-seitigen Bericht, den er verfasst hat, der Titel: »Organisierte sexualisierte Ausbeutung«. An mehreren Stellen streut er dort Thesen über eine gezielt hergestellte DIS und hoch spezialisierte Täterkreise. So heißt es etwa, Täter mit einem angeblichen Spezialwissen hätten verschiedene Vorteile, »wenn sie eine DIS erzeugen«. Sie würden »die nahezu totale Kontrolle über ihre Opfer« erhalten.
Gysi teilt heute mit, er distanziere sich heute von dieser Veröffentlichung. Die Seminarausschreibung sei veraltet gewesen, er »gebe den Text schon lange nicht mehr weiter«.
Die Texte der Psychotherapeutin Claudia Fliß gleichen einem Trommelfeuer des Schreckens
Im Dezember 2022 erschien in der Schweiz ein weiterer Untersuchungsbericht, wieder mit einer Verbindung nach Deutschland. Auch dort beschrieben Experten, wie problematische Thesen über Mind-Control Eingang fanden in die Behandlung von Traumapatienten in einer großen psychiatrischen Klinik, der Clienia Littenheid. Eine Rolle spielte dabei eine deutsche Psychotherapeutin: Claudia Fliß.
Seit mehr als 30 Jahren behandelt Fliß nach eigenen Angaben Patientinnen und Patienten, zuletzt in ihrer Praxis in Bremen. Fast genauso lange treibt sie ein Thema um: die Opfer ritueller Gewalt.
Fliß veröffentlichte etliche Artikel dazu, etwa in dem Buch »Satanismus, die unterschätzte Gefahr«, erschienen im Jahr 2000. Sie schrieb über »Konditionierung und Programmierung der Nachfolgegenerationen in Kulten« und ist Co-Autorin eines »Handbuchs Rituelle Gewalt«.
Ihre Texte gleichen einem Trommelfeuer des Schreckens. Dort werden alte Menschen zu Tode gequält, manche »in einem Todesritual nahezu völlig zerstört«. Kulte sollen Schulen und Kindergärten kontrollieren. Und Lager in Osteuropa unterhalten, in denen sie ihre Opfer mental brechen.
In einem österreichischen Fernsehsender sprach Fliß über »Auslösereize« und »viele Anteile«, die von Tätern erzeugt würden. 2018 berichtete sie in einem Artikel, als Therapeutin versuche sie, »die vorgenommenen Programmierungen wieder aufzuheben«.
In Fortbildungen verbreitete Fliß offensichtlich ähnliche Schauergeschichten. Das zeigt der Schweizer Untersuchungsbericht. In dem urteilt ein Experte: »Eine mystische Grusel-Märchenwelt mit Phantasiefiguren«, nicht mehr als »grober Unfug«, »völlig unrealistisch«. Und dann: »Dies ist im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung für Therapeuten unverantwortlich.«
Doch auch in Deutschland bekamen Psychotherapeuten allem Anschein nach diese Märchen zu hören.
So gab Claudia Fliß im Jahr 2020 einen Workshop zum Thema rituelle Gewalt auf der Jahrestagung der Deutschsprachigen Gesellschaft für Psychotraumatologie, kurz DeGPT, eines anerkannten Fachverbands. Sie leitete dort auch ein Symposium zum Thema.
Über Jahre bildete Claudia Fliß zudem Psychotherapeuten fort. Sie lehrte unter anderem am Norddeutschen Institut für Verhaltenstherapie (NIVT) in Bremen. Seit 30 Jahren werden hier Psychotherapeutinnen und -therapeuten ausgebildet, praktizierende Psychologen besuchen Fortbildungen. Das Institut ist anerkannt von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und dem Land Bremen.
(https://www.spiegel.de/panorama/jan-gysi-und-die-thesen-zu-vermeintlicher-ritueller-gewalt-naiver-irrglaube-a-c30a4222-adc9-47ed-a911-d217e44d8af2)