Medienspiegel 16. November 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Vorzeitige Schliessung der Notunterkunft in Niederscherli, Gemeinde Köniz
Das Amt für Integration und Soziales (AIS) schliesst die Notunterkunft (NUK) in Niederscherli. Grund ist eine Messung über Schimmelbefall, die aufgrund der Geruchsentwicklung durchgeführt wurde. Die Messungen der Sporen in der Luft liegen dank der guten Belüftung der NUK noch im Normalbereich. Da jedoch in der kalten Jahreszeit Wärmebrücken entstehen könnten und verändertes Lüftungsmanagement zu einer Ausbreitung des Befalls führen könnte, will das AIS kein Risiko eingehen und schliesst daher die NUK per 16. November 2023.
Von der Umplatzierung sind 23 Bewohner betroffen, die in anderen Kollektivunterkünften des regionalen Partners im Asylwesen (SRK Kanton Bern) untergebracht werden.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=8a5d56d2-7ea6-49d6-a1ef-f2dc86b177d1
-> https://www.derbund.ch/asylzentrum-in-niederscherli-kanton-schliesst-notunterkunft-wegen-schimmelbefall-325319834823
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/so-stark-will-berner-regierung-die-steuern-senken?id=12489159 (ab 02:28)
-> https://www.baerntoday.ch/bern/region-bern/notunterkunft-in-niederscherli-muss-wegen-schimmelbefall-schliessen-154971025


+++OBWALDEN
Bundesasylzentrum sorgt für Unruhe bei Bevölkerung
Im Bundesasylzentrum Glaubenberg leben rund 300 Personen. Das verunsichert die Bevölkerung von Sarnen. Die Polizei hat jedoch keine Kenntnis von Gewaltdelikten.
https://www.20min.ch/story/bundesasylzentrum-glaubenberg-es-gab-seit-betriebsbeginn-keine-toetungsdelikte-159715649590


+++TESSIN
Hotspot Chiasso: Reportage von der Asylfront – Rundschau
Der Migrations-Druck an der Südgrenze ist hoch. Die Gemeinde Chiasso fühlt sich mit der hohen Zahl der Asylsuchenden allein gelassen. Im Zentrum der Grenzstadt protestieren Ladenbesitzer: Das Leben in Chiasso sei unsicher geworden. Die «Rundschau» ist mit Polizisten, Migranten und Anwohnerinnen unterwegs.
https://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/hotspot-chiasso-reportage-von-der-asylfront?urn=urn:srf:video:64569f9b-8a91-4fd0-b64e-adf9b96ff495
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/kmus-in-chiasso-ti-argern-sich-uber-stehlende-asylbewerber-66650998


++URI
Taschenmanufaktur KoKoTé – Ihre Urner Taschenfabrik gibt Flüchtlingen eine Existenz
In Schattdorf steht die einzige Taschenmanufaktur der Schweiz. Dahinter steckt ein spezielles Integrationsprojekt.
https://www.srf.ch/news/schweiz/taschenmanufaktur-kokote-ihre-urner-taschenfabrik-gibt-fluechtlingen-eine-existenz


+++SCHWEIZ
Einladung zum Abendanlass im Rahmen des Global Refugee Forums
Bei einer Veranstaltung am 28. November in Bern werden die Verpflichtungen der Schweiz im Hinblick auf das Globale Flüchtlingsforum, das im Dezember in Bern stattfindet, vorgestellt.
https://www.unhcr.org/dach/ch-de/99851-einladung-zum-abendanlass-im-rahmen-des-global-refugee-forums.html


+++ITALIEN
Europäischer Gerichtshof verurteilt Italien wegen Erniedrigung von Asylsuchenden
Rom. Erst mussten sie nackt mit anderen Asylsuchenden auf einer Polizeiwache warten, dann wurden sie ohne ausreichende Verpflegung 15 Stunden mit dem Bus zu einem ihnen unbekannten Ziel gebracht: Wegen der erniedrigenden Behandlung mehrerer Sudanesen hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Italien am Donnerstag in Straßburg zu einer Zahlung von 31.000 Euro verurteilt.
https://www.jungewelt.de/artikel/463579.europ%C3%A4ischer-gerichtshof-verurteilt-italien-wegen-erniedrigung-von-asylsuchenden.html


+++GASSE
Drogen-Situation im Kanton Solothurn unter Kontrolle?
Die Solothurner Regierung findet, die Drogen-Situation im Kanton sei angespannt, aber unter Kontrolle. Man zähle vor allem mehr Crack-Konsumentinnen und -Konsumenten, schreibt die Regierung in ihrer Antwort auf einen Vorstoss aus dem Parlament. Die Konsumationsräume würden aber intensiver genutzt.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/drogen-situation-im-kanton-solothurn-unter-kontrolle?id=12489000


Neue Kontakt- und Anlaufstelle – Zürich will offene Drogenszene in der Innenstadt entschärfen
In einem provisorischen Containerdorf auf dem Kasernenareal können Abhängige in geschütztem Rahmen Drogen konsumieren.
https://www.srf.ch/news/schweiz/neue-kontakt-und-anlaufstelle-zuerich-will-offene-drogenszene-in-der-innenstadt-entschaerfen


Gassenarbeit warnt vor Betrügern
In der Advents- und Weihnachtszeit sammeln viele gemeinnützige Organisationen Geld. Die Leute sind in der Regel in dieser Zeit grosszüger und spenden gerne etwas. Gleichzeitig gibt es aber Leute, die das ausnützen, das zeigt ein aktueller Fall der Gassenarbeit Luzern. Die warnt vor Fakeverkäufern der Gassenzeitung:
https://www.tele1.ch/nachrichten/gassenarbeit-warnt-vor-betruegern-154982866
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/betrug-falsche-gasseziitig-verkaeufer-in-luzern-unterwegs-wer-um-spenden-gebeten-wird-sollte-skeptisch-sein-ld.2542815


Unterwegs mit der Schweizer Tafel
Die Schweizer Tafeln gibt es schon über zwangzig Jahre. Täglich sind freiwillige unterwegs und bringen Lebensmitel der Grossverteiler zu gemeinnützigen Organisationen. Pro Tag sind das über eine Tonne Esswaren, welche man noch brauchen kann. Wir konnten eine solche Tour begleiten:
https://www.tele1.ch/nachrichten/unterwegs-mit-der-schweizer-tafel-154982931


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Als Zeichen gegen Demo-Verbot in Bern
Nachdem in der Stadt Bern ein Demonstrationsverbot bis Heiligabend verfügt wurde, setzen die Alternative Linke ein Zeichen. In einem Communiqué rufen die Verantwortlichen dazu auf, bei den Behörden so viele Gesuche wie möglich einzureichen.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/als-zeichen-gegen-demo-verbot-in-bern-154981653
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/alternative-linke-will-stadt-bern-wegen-demo-verbot-mit-gesuchen-fluten-154982094?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154982377


Mehrheit des Berner Stadtrats ist verärgert: Heftige Kritik von Linksgrün gegen faktisches Demoverbot
Keine Grosskundgebungen bis Weihnachten: Ein Grossteil des Berner Stadtrats zeigt sich empört. Einzelne Parteien wollen juristisch dagegen vorgehen.
https://www.derbund.ch/mehrheit-des-berner-stadtrats-ist-veraergert-heftige-kritik-von-linksgruen-gegen-faktisches-demoverbot-483651108609


Sie legten Kissen in die Einkaufswagen, damit der Protest bequemer war: Klimaaktivistinnen und -aktivisten vom Vorwurf der Nötigung freigesprochen
Bei gewaltfreien Versammlungen müssen Behörden eine gewisse Toleranz walten lassen, sagt das Bundesgericht. Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten, die in Freiburg ein Einkaufszentrum verbarrikadierten, werden deshalb nicht wegen Nötigung verurteilt.
https://www.tagblatt.ch/schweiz/bundesgericht-sie-legten-kissen-in-die-einkaufswagen-damit-der-protest-bequemer-war-klimaaktivistinnen-und-aktivisten-vom-vorwurf-der-noetigung-freigesprochen-ld.2542691
-> https://www.watson.ch/schweiz/klima/934331336-klimaaktivisten-von-fribourg-bundesgericht-spricht-sie-von-noetigung-frei
https://www.nau.ch/news/schweiz/einkaufszentrum-besetzt-bundesgericht-spricht-klimaaktivisten-frei-66651329
-> https://www.20min.ch/story/nach-blockade-in-freiburg-bundesgericht-entlastet-klima-aktivisten-879384190910
-> https://www.blick.ch/schweiz/freiburg/protest-am-black-friday-bundesgericht-befasst-sich-mit-klimaaktivisten-id19149892.html
-> Medienmitteilung Bundesgericht: https://www.bger.ch/files/live/sites/bger/files/pdf/de/6b_0138_2023_2023_11_16_T_d_15_19_36.pdf
-> Urteil Bundesgericht: https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza://18-10-2023-6B_138-2023&lang=de&zoom=&type=show_document



nzz.ch 16.11.2023

«Der Staat muss sich tolerant zeigen»: Das Bundesgericht will Klimaaktivisten nicht verurteilen

Befremdlicher Entscheid aus Lausanne: Demonstranten, die den Zugang zu einem Shoppingcenter blockieren, machen sich nicht strafbar. Sie nutzen bloss ihre Menschenrechte.

Katharina Fontana

Am Grosseinkaufstag «Black Friday» im November 2019 blockierten mehrere Sympathisanten der Bewegung Extinction Rebellion und des Klimastreiks die Eingangshalle eines Einkaufszentrums in Freiburg und verwehrten dem Publikum den Zugang. Sie legten sich in Einkaufswagen, die sie zuvor mit Kissen ausgestattet hatten – wegen des Komforts –, verstärkten die Barrikade mit Brettern und ketteten sich an die Wagen an. Andere setzten sich auf den Boden und ketteten sich ebenfalls an. Die angerückte Polizei musste die Schlösser aufschneiden und die Aktivisten, die das Gebäude auch nach einer Toleranzfrist von zwei Stunden nicht verlassen wollten, aus der Eingangshalle hinaustragen. Die Aktion dauerte über den Ladenschluss hinaus, so dass nicht nur die Passanten eingeschränkt und belästigt wurden, sondern auch ein Teil des Personals, das länger vor Ort bleiben musste.

Die Teilnehmer wurden vom Polizeigericht wegen Zuwiderhandlung gegen behördliche Anordnungen sowie wegen Nötigung verurteilt. Das Kantonsgericht hob die Schuldsprüche wegen Nötigung dann aber auf; als Strafe wurde eine Busse von 150 Franken verhängt. Die Staatsanwaltschaft wollte dies nicht hinnehmen und wandte sich an das Bundesgericht.

Autobahnblockade als Massstab

Doch auch das Bundesgericht will nichts davon wissen, die radikalen Demonstranten wegen Nötigung zu verurteilen. Die Aktion im Einkaufszentrum sei von der Meinungs- und Versammlungsfreiheit geschützt, sagt es. Der Staat müsse gegenüber friedlichen Zusammenkünften Toleranz walten lassen, auch wenn sie unbewilligt seien und das Alltagsleben der Bevölkerung stören würden, heisst es im am Donnerstag veröffentlichten Urteil. Dabei komme es auf die Dauer der Störung an sowie darauf, ob die Aktivisten ausreichend Möglichkeit erhalten hätten, ihre Meinung kundzutun.

Die Lausanner Richter stützen sich dabei im Wesentlichen auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg (EGMR) bzw. auf dessen ausgreifende Rechtsprechung. So braucht es für den EGMR sehr, sehr viel, damit Demonstranten, die absichtlich die Regeln brechen und mit ihren illegalen Aktionen unbeteiligte Personen bewusst behindern, bestraft werden können. Bejaht wurde dies im Fall einer fast vollständigen Blockade von drei wichtigen Autobahnen: Ein solches Verhalten könne als verwerflich und damit als strafbar angesehen werden, findet der Strassburger Gerichtshof.

Das scheint der Massstab zu sein, an dem sich nun offenbar auch das höchste Schweizer Gericht auszurichten gedenkt. Der Zwang, der in Freiburg auf die Passanten ausgeübt worden sei, sei nicht intensiv genug gewesen, die Aktion sei deshalb von der Versammlungsfreiheit gedeckt, halten die Bundesrichter fest. Die rund zweistündige Aktion sei friedlich verlaufen, ohne aggressive Stimmung. Auch habe die Blockade in einem direkten Zusammenhang mit dem Gegenstand des Protests gestanden: den Konsumwahn anlässlich des «Black Friday» zu kritisieren. Die Aktivisten hätten den Kunden zwar den Zugang zum und den Weggang vom Einkaufszentrum verwehrt und damit für Unruhe beim Publikum gesorgt; die über einen Umweg erreichbaren Nebeneingänge seien aber nicht blockiert worden. Dass die Aktion nicht auf einem öffentlichen Platz abgehalten wurde, sondern in einem privaten Gebäude, ändert an der Auffassung des Bundesgerichts nichts: Laut dem EGMR gelte die Versammlungsfreiheit auch in einem Supermarkt.

Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung

Das Urteil ist in seiner Nonchalance nicht nur inhaltlich befremdlich, es ist auch ein Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung. So hatte das Bundesgericht beispielsweise die Bildung eines Menschenteppichs vor einer Militärausstellung, mit dem die Wegfahrt eines Fahrzeugs während einer Viertelstunde verunmöglicht wurde, als Nötigung klassifiziert. Ein anderer Fall betraf einen Mann, der den morgendlichen Berufsverkehr für die Dauer von rund zehn Minuten blockiert hatte, um medienwirksam auf eine bevorstehende Demonstration gegen den Golfkrieg hinzuweisen. Ein weiteres Urteil wegen Nötigung erging gegen Aktivisten, die gegen die Planung eines Zwischenlagers für radioaktive Abfälle protestiert und während etwa anderthalb Stunden den Haupteingang zum Verwaltungsgebäude einer Kraftwerkgesellschaft versperrt hatten. Das waren ebenfalls gewaltfreie Aktionen, die weniger lange dauerten als das Freiburger Happening, die aber vom Bundesgericht richtigerweise als Nötigung angesehen wurden.

Das nun ergangene Urteil wurde in Dreierbesetzung beschlossen, es handelt sich nicht um ein höchstrichterliches Leiturteil. Dennoch ist das Signal, das die Lausanner Richter aussenden, irritierend. Man kann ihren Entscheid geradezu als Einladung an Klimafanatiker und andere radikale Kreise auffassen, die Bevölkerung mit «friedlichen» Aktionen zu stören und zu schikanieren, um ihre politische Botschaft zu verbreiten. Im Maximum droht den Belästigern eine Busse.

Urteil 6B_138/2023 vom 18. Oktober 2023.
(https://www.nzz.ch/schweiz/einladung-fuer-klimaaktivisten-ld.1766043)



Palästina-Protest an Uni Lausanne: Studierende demonstrieren gegen Besuch von Emmanuel Macron
Vor der Universität Lausanne haben rund 200 Studierende gegen den französischen Präsidenten protestiert, weil dieser im Nahostkonflikt Israel unterstütze.
https://www.derbund.ch/palaestina-protest-an-uni-lausanne-studierende-demonstrieren-gegen-besuch-von-emmanuel-macron-768358846548
-> https://www.watson.ch/schweiz/romandie/272906672-studierende-demonstrieren-an-uni-lausanne-gegen-emmanuel-macron
-> https://twitter.com/Global_Sud/status/1725092959421444124
-> https://twitter.com/i/status/1725080012083147042


+++ANTITERRORSTAAT
Cassis will Hamas-Verbot per Notgesetz! – Was bedeutet das für die türkische PKK?
Die Hamas soll hierzulande verboten werden. Bloss, wie schnell? Im Bundesrat gehen die Meinungen dazu auseinander. Blick erklärt, weshalb.
https://www.blick.ch/politik/cassis-will-hamas-verbot-per-notgesetz-was-bedeutet-das-fuer-die-tuerkische-pkk-id19147725.html


+++KNAST
SRF Investigativ hat recherchiert, dass Jugendliche, die nicht verurteilt sind, vorübergehend im Gefängnis Thun untergebracht werden. Auch die KESB Dietikon hat eine Jugendliche dorthin geschickt. Die Leiterin nimmt Stellung. (ab 03:43)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/das-zueri-faescht-steht-vor-dem-aus?id=12489132
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/abstimmungsunterlagen-in-zuerich-soll-weniger-altpapier-entstehen?id=12489006 (ab 03:15)
-> https://www.derbund.ch/kesb-praxis-am-pranger-jugendliche-landen-widerrechtlich-im-gefaengnis-203144675630
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/auch-jugendliche-aus-zuerich-waren-unschuldig-im-gefaengnis?id=12490029 (ab 07:26)


Fall Brian: Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr verteidigt ihr Vorgehen (ab 04:26)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/abstimmungsunterlagen-in-zuerich-soll-weniger-altpapier-entstehen?id=12489006



nzz.ch 16.11.2023

«Einzelhaft ist keine Folter»: Regierungsrätin Jacqueline Fehr über den Fall Brian, der für das Zürcher Gefängniswesen zum Debakel wurde

Schuld? Keine. Konsequenzen? Wenige. Die Zürcher Justizdirektorin verteidigt ihr Amt – und gesteht doch ein, dass es die Menschenrechte verletzt hat.

Giorgio Scherrer, Tobias Marti

Brian Keller ist frei. Der bekannteste Häftling der Schweiz wurde am vergangenen Freitag aus dem Gefängnis entlassen – nach sieben Jahren, sechs davon ohne gültiges Urteil. Zuvor hatte das Bezirksgericht Dielsdorf den 28-jährigen wegen Gewaltdelikten hinter Gefängnismauern schuldig gesprochen, gleichzeitig jedoch anerkannt, dass Keller – der selbst die Nennung seines vollen Namens wünscht – in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies menschenrechtswidriger Behandlung ausgesetzt war: jahrelanger Einzelhaft mit minimalem Aussenkontakt.

Nun äussert sich die für das Haftregime politisch Verantwortliche, Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP), erstmals zu diesem Befund.

Frau Fehr, Thomas Manhart, bis 2019 Leiter des Zürcher Justizvollzugs, hat sich bei Brian Keller für die harte Behandlung durch die Justiz entschuldigt. Und Sie?

Jacqueline Fehr: Sehen Sie, als Justizdirektorin habe ich zwei Aufgaben: einerseits meine Mitarbeitenden im Gefängnis zu schützen und andererseits menschenwürdige Bedingungen für die Häftlinge zu gewährleisten. Dass diese beide Aufgaben in diesem Fall in Konflikt standen, hält nun ja auch das Bezirksgericht Dielsdorf fest. Das ist für uns ein sehr wichtiges Urteil. Es kann aber nicht zu einer Entschuldigung führen. Denn ich würde mich ja dafür entschuldigen, dass ich die Sicherheit meiner Mitarbeitenden gewahrt habe.

Zum ersten Mal überhaupt hat ein Schweizer Gericht menschenrechtswidrige Haftbedingungen anerkannt. Und das ausgerechnet in Zürich. Übernehmen Sie dafür die politische Verantwortung?

Ja, ich habe die Verantwortung. Und zwar für beide Güter, die wir abwägen müssen. Theorie ist gut und wichtig. Letztlich müssen wir aber Antworten für jene haben, die vor Ort arbeiten. Was soll man tun mit einem gewaltbereiten Häftling, wenn er nicht kooperiert? Das konnte den Aufseherinnen und Aufsehern bisher niemand sagen. Das hat zu dieser schwierigen Situation geführt. Klar ist: Es darf nie mehr so weit kommen.

Sie haben die Sicherheit der Mitarbeitenden stärker gewichtet und über die Rechte des Häftlings gestellt.

Wir müssen anerkennen, wie die Realität in den Gefängnissen aussieht. Es gibt die Vorgabe, dass man niemanden mehr als 15 Tage in Einzelhaft stecken darf. Wir aber brauchen für unsere Aufseherinnen und Aufseher eine Antwort auf die Frage: Was geschieht am 16. Tag mit jemandem, der Aufseher und Mitgefangene bedroht – und bei dem Gutachten und Erfahrungen diese Gefahr bestätigen?

Die menschenrechtlichen Garantien für die Gefangenen sind demnach relativ, weil man sie gegen den Schutz der Mitarbeitenden abwägen muss?

Es gibt kein rechtliches Gut, das man nicht gegen andere abwägen muss. Diesen Konflikt haben Sie als Behörde immer.

Sollten nicht gerade die Menschenrechte unantastbar sein?

Es gibt ja auch das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit der Mitarbeitenden! Sehen Sie: Da haben Sie das Problem, das Dilemma des 16. Tages. Zwei Menschenrechte stehen sich gegenüber – und wir müssen einen Umgang damit finden.

Wäre es nicht genau an Ihnen gewesen, einen Ausweg aus diesem Dilemma zu finden – einen dritten Weg?

Der Justizvollzug kann nicht alles zurechtrücken, was früher verbogen wurde. Wenn ein Häftling renitent ist wegen früherer Erfahrungen, ist es für den Justizvollzug nicht möglich, diese Realität aus der Welt zu schaffen. Die Gefängnisse sind die letzten im Umzug, müssen retten, was zu retten ist.

Die vorgelagerten Instanzen sollen also das Problem sein und die Experten, die keine Antworten haben. Sie selbst und den Justizvollzug trifft keine Schuld?

Ich sage nicht, die anderen sind schuld. Ich gebe niemandem die Schuld.

Aber irgendjemand muss doch schuld sein an diesem Scherbenhaufen.

Ich sage nicht, dass es keine Fehlleistungen gab. Aber ich bin davon überzeugt, dass die allermeisten, die mit Brian Keller beruflich zu tun hatten, das Beste für ihn wollten.

Auch die Justizvollzugsanstalt Pöschwies, die ihn während Jahren in Einzelhaft behielt?

Ja, auch die Mitarbeitenden der Pöschwies. Sie gestalten den Alltag mit 400 Inhaftierten, darunter den gefährlichsten Personen der ganzen Schweiz. Sie schaffen das. Es gibt praktisch keine Übergriffe, keine Revolten, keine Gewalt. Die Pöschwies ist ein sicherer Ort.

Brian Keller und seine Anwälte sehen das anders. Sie sagen, die lange Einzelhaft und die fehlenden sozialen Kontakte kämen einer Folter gleich.

Einzelhaft ist keine Folter.

Auch langjährige Einzelhaft nicht? Laut dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kann diese unter bestimmten Bedingungen durchaus das Folterverbot verletzen.

Die Justizvollzugsanstalt Pöschwies hat die Einzelhaft alle drei Monate neu angeordnet. Zwei Mal wurde sie angefochten – und das Gericht hat die Anordnung jeweils gutgeheissen. Unbestritten ist: Es ist eine Haftform, die zu Schäden führt, und wir müssen sie so kurz wie möglich halten. Das tun wir auch. Doch in diesem Fall war es nicht möglich. Ich frage Sie nochmals: Was wäre denn die Alternative gewesen?

Zum Beispiel eine Verlegung in ein anderes Gefängnis unter gelockerten Bedingungen, wie es 2022 mit Erfolg geschehen ist.

Das haben wir natürlich immer versucht – vergeblich. In der ganzen Schweiz wollte ihn niemand, auch die Psychiatrien nicht.

Trotzdem: Haben Sie dem Kampf zwischen Brian Keller und den Aufsehern nicht zu lange zugeschaut, bis Sie dann doch noch eine Verlegung durchgedrückt haben?

Rückblickend habe ich wohl zu lange zugeschaut und mich zu lange beschwichtigen lassen.

Von den Verantwortlichen in der Pöschwies?

Von der damaligen Amtsleitung des Justizvollzuges.

Sie geben also Thomas Manhart die Schuld, dem damaligen Amtsleiter, der 2019 im Streit aus dem Amt schied.

Das ist Ihre Interpretation. Meine ist: Ich trage die Verantwortung. Und ich weiss: Die Wende kam mit dem neuen Amtsleiter Hans-Jürg Patzen. Er hat sich um eine Kooperation mit dem Umfeld von Herrn Keller bemüht – leider erfolglos. Dann hat er alle Alternativen durchgearbeitet und schliesslich das Gefängnis Zürich während neun Monaten komplett neu aufgestellt, so dass eine Verlegung gewagt werden konnte.

Sie sagen also: Wir waren zu spät, aber dann haben wir alles richtig gemacht.

Ob es im Gefängnis Zürich gelingen würde, wussten wir nicht. Aber wir wollten nichts unversucht lassen. Entsprechend minuziös haben sich die Verantwortlichen vorbereitet. Es gab eine neue Leitung, ein neues Team, spezialisierte Schulungen. Davor hatte ich mich, wie gesagt, zu lange beschwichtigen lassen. Es hiess immer: «Die bringen das schon hin, die haben das noch mit jedem geschafft.»

Hat der Staat hier einen gefährlichen Häftling durch harte Behandlung noch gefährlicher gemacht?

Nein. Brian Keller ist jedoch in eine Spirale geraten, aus der er aus eigener Kraft nicht mehr herausfand. Unsere Aufgabe war es, dem mit einem anderen Setting entgegenzuwirken – so, wie wir es ja dann getan haben. Eigentlich zeigt das doch gerade, dass der Justizvollzug auch in einem schwierigen Fall eine Lösung finden kann!

Was sagen Sie zur Kritik des ehemaligen Justizvollzugschefs Manhart, der von einem «menschenrechtswidrigen Justizsystem» spricht?

Nächste Frage.

Also allgemein gefragt: Ist der Zürcher Justizvollzug zu stark auf Sicherheit und zu wenig auf Wiedereingliederung ausgerichtet?

Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben in den letzten Jahren intensiv an der Wiedereingliederung gearbeitet. Wir haben in die Angehörigenarbeit investiert, die Ausbildung aufgewertet, mehr Personal eingestellt und die soziale Arbeit ausgebaut. Schulausbildung, Rückkehrhilfe, da könnte ich Ihnen noch vieles nennen . . .

Ist das manchmal auch ein Frust: Sie haben all das getan – und alle reden über diesen einen Fall?

Es entsteht durch diesen Fall ein falsches Bild des Zürcher Justizvollzuges. Wir haben eine rekordtiefe Rückfallquote, wir haben ein gutes Gefängnisklima, wir beanspruchen nur 1,9 Prozent des kantonalen Budgets. Mit wenig Personal erbringt der Justizvollzug eine hervorragende Leistung. Der Fall Brian Keller ist eine Ausnahme.

Nun ist die Kritik an den menschenrechtswidrigen Haftbedingungen alles andere als neu. Die nationale Anti-Folter-Kommission oder der ehemalige Uno-Sonderberichterstatter für Folter haben sie schon vor Jahren geäussert.

Gerichte und Fachleute haben das Setting lange gestützt. Als Kritik aufkam, waren wir längst daran, ein neues aufzubauen. Das Bezirksgericht Dielsdorf hat das Haftsetting in der Pöschwies nun klar verurteilt. Das nehmen wir ernst.

Wie steht es um personelle Konsequenzen nach diesem Debakel?

Es ist kein Debakel. Der Zürcher Justizvollzug gilt schweizweit und in weiten Teilen Europas als vorbildlich. Wir hatten diesen einen Ausnahmefall, in dem einiges – auch bei uns – nicht korrekt gelaufen ist. Das muss jetzt der Ausgangspunkt einer eingehenden Überprüfung sein. Eine solche Eskalation darf es nie mehr geben.

Es laufen Verfahren gegen Aufseher, weil sie Herrn Keller härter als nötig angegangen haben sollen. Sind Sie deswegen beunruhigt?

Nein.

Wie viele Fälle von langer Einzelhaft gibt es derzeit in Zürich, jetzt, wo Brian Keller in Freiheit ist?

Es ist momentan ein einziger Fall. Er wurde psychiatrisch wegen Selbst- und Fremdgefährdung angeordnet. Dazu kommt eine einstellige Zahl von Insassen, die sich in einem kurzzeitigen Arrest befinden. Einzelhaft ist die Ausnahme, und das muss sie auch sein. Es geht dabei immer um Täter, die sich selbst oder andere derart gefährden, dass es keine Alternative gibt.

Wie könnte man die Haft für diese Leute menschlicher gestalten?

Solche Konzepte müssen die Fachleute entwickeln. Allenfalls gibt es bauliche Massnahmen, die man treffen kann, etwa einen eigenen Innenhof. Vielleicht braucht es auch schweizweit spezialisierte, kleine Einrichtungen für solche Ausnahmefälle. In grossen Anstalten sind massgeschneiderte Vollzugssettings nur beschränkt möglich. Es sitzen dort viele hochgefährliche Personen ein – Menschenhändler, Drogenkriminelle, Sexualstraftäter. Wenn die sehen, dass es eine spezielle Behandlung gibt, wenn man renitent tut, dann ist das Risiko der Nachahmung gross – und die Anstalt fliegt Ihnen rasch um die Ohren.

Was von Keller und seinen Anwälten auch kritisiert wird, ist die Praxis der Gutachten. Dass etwa mittels reiner Aktengutachten die Gefährlichkeit eines Menschen prognostiziert wird. Was bedeutet es für den Rechtsstaat, wenn man Taten, die jemand noch nicht begangen hat, zum Teil einer Beurteilung macht?

Niemand will in die Zeit zurück, als man ohne Gutachten urteilte. Schauen Sie sich an, wie viele Rückfalltaten es vor dreissig, vierzig Jahren gab, serienweise Vergewaltigungen und Gewalttaten. Menschen sind keine Blackbox. Wenn man ihr Verhalten sehr genau beobachtet, hat man valide Indizien, wie sich eine Person entwickeln wird. Ein guter Gutachter hat aber auch die Grösse, zu sagen, wenn er bei einer Einschätzung unsicher ist.

Stichwort finanzielle Folgen. Auf den Kanton werden Haftungsklagen zukommen, potenziell in Millionenhöhe. Wie teuer wird dieser Fall noch für den Kanton?

Das weiss heute niemand. Das werden die Richter entscheiden.

Wird es Verhandlungen für eine aussergerichtliche Einigung geben?

Dafür ist die Finanzdirektion zuständig.

Glauben Sie, dass Brian Keller es diesmal schafft?

Ja, ich bin zuversichtlich. Er sagte anlässlich seiner Freilassung: «Wer mich respektiert, den respektiere ich auch.» Er muss nun aber einen Schritt weiter gehen und auch jene respektieren, die ihm keinen Respekt entgegenbringen. Er ist nicht nur körperlich, sondern auch mental sehr stark. Wenn er diese Kraft für ein Leben in Freiheit einsetzt, kann er es schaffen.

Wir haben jetzt lange über Brian Keller gesprochen. Haben Sie ihn eigentlich je getroffen?

Es war ein verrückter Zufall. Ich war am vergangenen Freitagnachmittag – dem Tag seiner Freilassung – im Auto unterwegs. Da habe ich durchs Fenster plötzlich dieses Gesicht gesehen und gedacht: Den kenne ich doch. Und tatsächlich: Es war Herr Keller.

Wie wirkte er auf Sie?

Es war ein sonniger Tag, und er ging das Trottoir entlang, ganz allein. Ich sah eine wahnsinnige Freude – er lief förmlich in die Freiheit hinein. Als ich ihn so sah, wurde mir klar: Jetzt ist es gut.
(https://www.nzz.ch/zuerich/fall-brian-jaqueline-fehr-bricht-ihr-schweigen-ld.1765478)



Die beiden Deutschschweizer Strafvollzugskonkordate Nordwest- und Innerschweiz und Ostschweiz verstärken ihre Zusammenarbeit. (ab 04:13)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/gehackte-it-firma-hat-auch-daten-der-stadt-luzern?id=12489162
-> https://www.konkordate.ch/aktuelles-nwi-ch-news
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/strafvollzugskonkordate-19-kantone-verstaerken-die-zusammenarbeit-im-justizvollzug-auch-die-zentralschweiz-ist-dabei-ld.2542442


+++RASSISMUS
Affiches racistes de l’UDC : Pour la haine et des gains électoraux à la pelle
Communiqué de presse du CRAN – Observatoire du racisme anti-Noir en Suisse- concernant les affiches éléctorales de l’UDC.
 https://renverse.co/infos-locales/article/affiches-racistes-de-l-udc-pour-la-haine-et-des-gains-electoraux-a-la-pelle-4239


+++RECHTSEXTREMISMUS
Reichsbürger in der Schweiz – Rendez-vous
«Königreich Deutschland» oder kurz KRD: So nennt sich die Bewegung, die als mitgliederstärkste der Reichsbürger-Szene gilt. Das KRD verweigert sich Gesetzen und will ein eigenes Finanzsystem aufbauen. In Deutschland haben die Behörden anfangs Jahr interveniert und umstrittene Angebote verboten. Nun zeigen Recherchen von SRF Investigativ: Die Reichsbürger expandieren in die Schweiz.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/reichsbuerger-in-der-schweiz?partId=12489189


Umstrittene Staatsverweigerer – Geheimes Treffen der Reichsbürger in Basel
Das «Königreich Deutschland» will mithilfe von Schweizern sein alternatives Finanzsystem ausbauen. Die Staatsverweigerer übten kürzlich ihren Auftakt mitten in Basel.
https://www.srf.ch/news/schweiz/umstrittene-staatsverweigerer-geheimes-treffen-der-reichsbuerger-in-basel
-> https://www.bazonline.ch/treffen-im-gellert-quartier-deutsche-reichsbuerger-luden-zum-netzwerk-anlass-in-basel-154938077144
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/geheimes-reichsbuergertreffen-mitten-in-basel?id=12489987 (ab
-> https://www.20min.ch/story/koenigreich-deutschland-trifft-schweizer-reichsbuerger-430485461347?version=1700161505027&utm_source=twitter&utm_medium=social
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/staatsverweigerer-reichsbuerger-auf-verdeckter-werbetour-in-basel-ld.2542851


Junge SVP Thurgau schliesst «Junge Tat»-Mitglied aus
Die Junge SVP des Kantons Thurgau hat ein Mitglied ausgeschlossen, das auch zur rechtsextremen «Jungen Tat» gehört. Ab sofort müssen Neumitglieder gemäss einer Mitteilung bei einer Anmeldung bestätigen, dass sie keinen gewalttätigen Gruppierungen angehören.
https://www.watson.ch/schweiz/thurgau/630104845-junge-svp-thurgau-schliesst-junge-tat-mitglied-aus
-> https://www.nau.ch/ort/frauenfeld/junge-svp-thurgau-schliesst-junge-tat-mitglied-aus-66651043
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/weitere-angebotsverbesserung-im-thurgauer-oev?id=12489081 (ab 03:07)


Foto mit Nazi-Binde – Zuger Pharma-Manager gefeuert
Ein in der Schweiz wohnhafter Manager eines amerikanischen Pharmakonzerns posierte in Las Vegas mit Nazi-Armbinde. Seinen Job ist er gemäss der Firma los, sein Linkedin-Profil wurde gelöscht.
https://www.20min.ch/story/foto-mit-nazi-binde-kostet-zuger-pharma-manager-den-job-758541354911?version=1700166291249


++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
nzz.ch 16.11.2023

Der Desinformationssender AUF1 darf sein Programm in Deutschland nicht mehr über Satellit ausstrahlen

Die deutsche Medienaufsicht hat dem österreichischen Sender AUF1 den Satelliten-Sendeplatz entzogen. Denn AUF1 hatte dafür eine Fremdlizenz missbraucht. Doch online verbreitet er weiter ungehindert Verschwörungstheorien und Fake News.

Mirjam Moll

Die deutsche Zensur hat zugeschlagen. So zumindest klingt es in der Moderation, die der Sender AUF1 vor kurzem ausgestrahlt hat: «Die Landesmedienanstalten verbieten die Ausstrahlung von AUF1 im Satellitenfernsehen. Das zumindest behaupten deutsche Systemmedien.» Der AUF1-Chefredaktor Stefan Magnet sagte in einer Stellungnahme: «Das System will uns weghaben, doch eines ist klar: Die Medienrevolution lässt sich nicht aufhalten.»

Die Szene zeigt den Stil des österreichischen Desinformationssenders AUF1. Aufgemacht wie ein Nachrichtensender, verbreitet er Propaganda und antisemitische Verschwörungstheorien wie «The Great Reset», wonach eine Elite eine neue Weltordnung plant. Der Ukraine-Krieg wird als Vorwand dafür dargestellt, Nachrichten über den Gazakrieg werden verdreht und Warnungen vor «Turbokrebs» nach Impfungen ausgesprochen.
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Nun darf der alternative, unabhängige Fernsehkanal 1, wofür AUF1 steht, sein Programm nicht mehr über Satellit ausstrahlen. Der Sender war erst seit September in Deutschland zu empfangen. Magnet hatte zum Auftakt einen «Grossangriff aufs Medienkartell» angekündigt. Doch AUF1 hatte gar keine eigene Lizenz dafür. Stattdessen nutzte der Sender die des Stuttgarter TV-Unternehmens SRGT, kurz für Schwarz-Rot-Gold-TV. Dieser hatte seit 2021 eine Lizenz, liess sie aber bis zu diesem September ungenutzt.

Sechs Stunden Sendezeit bekam AUF1 von SRGT für eigene Inhalte – gegen Bezahlung. Das sei rechtswidrig, entschied die zuständige Kommission für Zulassung und Aufsicht (ZAK) in Deutschland, ein Organ der Landesmedienanstalten. Tatsächlich untersagt der Medienstaatsvertrag die Platzierung von Inhalten gegen Entgelt.

Inhalt spielt bei Sendeverbot keine Rolle

«Bei der Entscheidung der ZAK hat eine inhaltliche Prüfung keine Rolle gespielt», sagt eine Sprecherin der ZAK. Dabei verlangt der Medienstaatsvertrag bei Informationssendungen und Berichterstattung Sachlichkeit, «Nachrichten sind vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Wahrheit und Herkunft zu prüfen», heisst es darin.

Der Medienwissenschafter Frederik Ferreau von der Universität Köln sagt, die Verbreitung von unwahren Behauptungen könne einen Verstoss gegen die journalistische Sorgfaltspflicht darstellen. Dies könne mit Sanktionen belegt werden. SRGT darf aber weiter senden, AUF1 zeigt seine Inhalte weiter online.

SRGT gehört Wilfried Geissler, einem ehemaligen Hausarzt in Stuttgart. Dieser trat während der Corona-Pandemie auch bei Veranstaltungen der Bewegung Querdenker auf, die vom Landesverfassungsschutz beobachtet wird. In seinem Youtube-Kanal verharmloste er Corona und verbreitete Verschwörungstheorien über Twitter, AfD-Politiker treten bei SRGT regelmässig auf. Über den Satellitensender laufen Wiederholungen dieser Videos. Das Publikum bleibt überschaubar.

AUF1 erreicht mit seinen Inhalten über Social Media dagegen bereits ein breites Publikum. Auf Telegram folgen dem Sender mehr als 250 000 Nutzer, auf Youtube hat der Sender 43 000 Abonnenten. Einzelne Videos verbreitet AUF1 aber auch über den Kanal der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) mit fast 200 000 Abonnenten.

Der Sender wird neben FPÖ-Mitgliedern auch von dem als Rechtsextremist eingestuften AfD-Landesvorsitzenden Thüringens, Björn Höcke, hofiert. Vor etwa einem Monat trat die AfD-Co-Parteichefin Alice Weidel dort gemeinsam mit dem FPÖ-Obmann Herbert Kickl auf, den AUF1 als «künftigen österreichischen Bundeskanzler» vorstellte, «wenn es nach aktuellen Umfragen geht».

Chefredaktor gehörte neonazistischem «Bund freier Jugend» an

Der AUF1-Chefredaktor Magnet hat eine neonazistische Vergangenheit, gehörte dem «Bund freier Jugend» (BfJ) an. Er ist an der rechtsextremen Zeitschrift «Info-Direkt» beteiligt, in Linz betreibt er eine Werbeagentur. Auf Amazon verkauft der 39-jährige Unternehmer ein Buch mit seinen Verschwörungstheorien: «Nach Corona: Warum die Globalisten scheitern werden und die Menschheit erwacht».

Zu den Moderatoren von AUF1 zählen weitere Figuren aus dem rechtsextremen Milieu, unter ihnen Martin Müller-Mertens. Dieser war früher für das «Compact»-Magazin aktiv, das vom deutschen Verfassungsschutz seit 2021 als «gesichert extremistisch» eingestuft wird. Der AUF1-Programmchef Andreas Retschitzegger steht ebenfalls mit der neonazistischen Gruppe BfJ in Verbindung, wie der «Standard» berichtete.

«Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates»

Die Bürgerbewegung Campact ruft seit einiger Zeit zum Verbot des Senders auf, der «Naziparolen» und Fake News übertrage. Ein Verbot kommt nach Einschätzung des Medienexperten Ferreau aber nur im Fall wiederholter Verstösse oder bei gravierenden Rechtsverletzungen in Betracht.

Beide Sender sind dem baden-württembergischen Verfassungsschutz bekannt. Seine Zuschauer ordnet er teilweise dem Bereich «Verfassungsschutzrelevante Delegitimierung des Staates» zu. Der Bundesverfassungsschutz gibt auf Anfrage jedoch keine Auskunft darüber, wie die beiden Sender und ihre Vertreter eingestuft werden.

Auch in Österreich ist der Sender nicht verboten. Dazu müssten massive Verstösse gegen Gesetze vorliegen, sagt ein Sprecher der zuständigen Kommunikationsbehörde Austria (Komm-Austria): «Uns hat bisher noch keine konkrete Beschwerde über Rechtsverstösse in Inhalten bei AUF1 TV erreicht.»

Dennoch steht die Behörde mit dem Sender im Rechtsstreit. So hatte AUF1 über den terrestrisch ausgestrahlten Sender RTV im Raum Linz sein eigenes Programm ausgespielt. Komm-Austria untersagte dies, AUF1 legte dagegen Rechtsmittel ein. Das Verfahren läuft derzeit in der nächsten Instanz.

Das österreichische Bundesinnenministerium kündigte an, sollten verfassungswidrige beziehungsweise strafbare Inhalte wahrgenommen werden, würden diese zur Anzeige gebracht. Es könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass durch die Inhalte des Senders «ein gewisser Einfluss auf extremistische oder verschwörungsideologische Kreise gegeben ist».

AUF1 kann damit weiter online Verschwörungstheorien senden und Fake News verbreiten. In der Schweiz kooperiert AUF1 seit längerem mit dem Satellitensender QS24. Der AUF1-Chefredaktor Magnet kündigte an: «Ich bin dieses Jahr noch zu konstruktiven Gesprächen bezüglich Start von AUF1 Schweiz in der Schweiz.»
(https://www.nzz.ch/international/deutschland/desinformationssender-auf1-darf-sein-programm-in-deutschland-nicht-mehr-ueber-satellit-ausstrahlen-ld.1765828)