Medienspiegel 12. November 2023

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+++SCHWEIZ
Sonntagszeitung 12.11.2023

Auslagerung nach Afrika: Im Flüchtlingswesen wandelt sich die Stimmung

Politiker bis hin zur Mitte wollen jetzt Asylverfahren und abgewiesene Flüchtlinge in Drittstaaten auslagern, wenn möglich nach Afrika. Ein Migrationsforscher findet es «rassistisch», dies den Ländern nicht zuzutrauen.

Mischa Aebi, Adrian Schmid

Aus den Augen, aus dem Sinn: England, Italien und neu sogar Deutschland träumen davon, ihr Asylproblem zu lösen, indem sie es auslagern. England hat mit Ruanda einen Partner gefunden, Italien ist mit Albanien im Geschäft. Und in Deutschland will nun auch der linke Kanzler Olaf Scholz ein Outsourcing «prüfen».

Auch in der Schweiz werden solche Pläne immer beliebter. Vor zwei Jahren hatte der Nationalrat einen Vorstoss von SVP-Nationalrätin Martina Bircher noch in Bausch und Bogen abgelehnt. Bircher forderte, dass Asylsuchende während ihres Verfahrens gegen Bezahlung in Drittstaaten überstellt werden und dann auch dortbleiben. Der Vorstoss erhielt ausserhalb der SVP keine einzige Stimme.

Viel Zuspruch bekommt nun aber FDP-Ständerat Damian Müller, der fordert, dass die Schweiz ein Drittland sucht, das bereit ist, abgewiesene Asylbewerber aus Eritrea gegen Bezahlung aufzunehmen. Müllers Begründung: Eritrea weigert sich oft, Landsleute mit negativem Asylentscheid zurückzunehmen. Die Eritreer sind die grösste Flüchtlingsgruppe in der Schweiz.

Die Argumente von Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider, das Vorhaben sei rechtlich nicht umsetzbar, überzeugte die kleine Kammer nicht: Der Ständerat hat Müllers Vorstoss im Sommer angenommen, mithilfe der SVP, FDP und drei Mitte-Ständeräten.

Diese Woche ist Müllers Eritrea-Plan zwar in der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats mit 13 zu 10 Stimmen knapp durchgefallen, weil nur SVP und FDP zustimmten. Doch entscheidend wird die Abstimmung im Dezember im Nationalrat sein: Dort sind die Chancen intakt. Denn der Rat wird dann in seiner neuen Zusammensetzung tagen und bürgerlicher sein. Nebst der SVP- und FDP-Fraktion braucht es nur 6 zusätzliche Stimmen für das absolute Mehr.
Modell Grossbritannien für die Schweiz

Tatsächlich geniessen auch Drittstaaten-Modelle wie jenes der Italiener oder der Briten plötzlich Zustimmung ausserhalb der SVP bis in die Mitte. So sagt Mitte-Ständerat Beat Rieder: «Der Bundesrat wäre gut beraten, die neuesten Erkenntnisse der Migrationsforschung in Erwägung zu ziehen.» Diese sehen laut Rieder «einen gangbaren Weg, in sicheren Drittstaaten die Asylbegehren für Schutzsuchende» zu behandeln. «Auch andere Länder Europas prüfen bereits diese Möglichkeiten», sagt Rieder.

Dabei funktioniert das Modell Grossbritannien gleich, wie es SVP-Nationalrätin Bircher einst gefordert hatte: Die Engländer wollen neu ankommende Flüchtlinge nach Ruanda abschieben, bevor sie ein Asylgesuch einreichen. Erst dort sollen sie dann nach lokalem Recht einen Antrag stellen dürfen. Selbst wenn sie als Flüchtlinge anerkannt werden, müssten sie in Ruanda bleiben.

Doch Gerichte befanden, die Abschiebungen seien rechtswidrig, weil Ruanda kein sicheres Drittland sei. Deshalb wurde der Plan sistiert, noch bevor ein einziger Flüchtling abgeschoben wurde.
Migrationsforscher für Modell Grossbritannien

Experten finden, Grossbritanniens Plan sei nicht grundsätzlich falsch oder gesetzeswidrig. So sagte der renommierte Migrationsforscher Gerald Knaus im ZDF zum Modell England: Wenn es Staaten in Afrika gebe, die bereit seien, Menschen aufzunehmen, um die tödliche irreguläre Migration zu reduzieren, dann sei es «fast schon rassistisch, zu sagen, afrikanische Länder sind dazu nicht in der Lage».

Mitte-Fraktionschef Philippe Bregy bringt zudem die Schengen-Variante ins Spiel: Die Schweiz müsse prüfen, ob Asylverfahren an den Schengen-Aussengrenzen durchgeführt werden können. Es dürfe nicht sein, dass primär attraktive Länder wie Deutschland oder die Schweiz angesteuert werden. «Wenn die Abklärungen dort erfolgen, besteht die Chance, dass die Flüchtlinge fairer auf die europäischen Länder verteilt werden.» Die Schweiz müsse sich für eine Lösung auf europäischer Ebene einsetzen.
(https://www.derbund.ch/asyl-deals-im-fluechtlingswesen-wandelt-sich-die-stimmung-886725043205)



NZZ am Sonntaag 12.11.2023

Der Container als Asyl-Indikator

Für die Unterbringung von Asylsuchenden werden in der Schweiz derzeit Tausende Wohncontainer aufgestellt. Doch es gibt Engpässe. Schulen haben das Nachsehen.
(Mirko Plüss (Text), Florian Kalotay (Bilder), NZZ am Sonntag 11.11.2023)

Er ist die kleinste Einheit der Schweizer Migrationspolitik, gefertigt aus Stahl und Blech: der Wohncontainer. Hier zeigt sich auf einer Fläche von dreissig Quadratmetern, wie das Asylwesen in der Schweiz funktioniert. Der Container ist genormt, durchstrukturiert und nicht auf Dauer angelegt. Und er hat bessere Dämmwerte als seine Pendants in den umliegenden Ländern.

Asylcontainer gewinnen immer mehr an Bedeutung, weil 2023 das neue 2015 ist: Wieder erreicht eine stetig steigende Zahl von Asylbewerbern die Schweiz und wird auf die Gemeinden verteilt. Doch privater Wohnraum ist erneut rar und umkämpft. Und unterirdische Zivilschutzanlagen gelten gemeinhin als schlechteste aller Lösungen. Nicht nur wegen der Bedingungen unter Tage, sondern auch weil beim Brandschutz oft teuer nachgebessert werden müsste. Wohncontainer haben spätestens seit Beginn des Ukraine-Kriegs ihren Siegeszug angetreten.

«Bei dem Verkauf und der Vermietung von Wohncontainern für Asylbewerber verzeichnen wir seit letztem Jahr eine massive Zunahme», sagt Olivier Annaheim, CEO der Condecta AG, der unangefochtenen Marktführerin im Containergeschäft. Sie hat in diesem Jahr und allein für den Kanton Zürich schon mehrere Hundert Containermodule ausgeliefert und zusammengebaut. «Schweizweit sind innert Jahresfrist durch uns und durch Konkurrenzfirmen zwischen 2500 und 3000 Asylcontainer verbaut worden», sagt Annaheim. «Das ist im Vergleich zum Vorjahr eine gute Verdopplung.»

Container – das tönt zuerst einmal nach Kargheit und Kälte. Doch die Schweizer Flüchtlingshilfe erteilt den Wohnmodulen ihre Absolution: Mit umsichtiger Planung seien Container als Wohnraum geeignet und der Unterbringung in Zivilschutzanlagen oder Hallen vorzuziehen, heisst es auf Anfrage. Laut der Flüchtlingshilfe sind in knapp der Hälfte aller Kantone Containersiedlungen in Planung oder bereits in Betrieb.

Das Schnäppchen von Seuzach

Inna legt das gezückte Handy mit der Übersetzungs-App wieder weg. Für die knappe Antwort reichen ihre Sprachkenntnisse aus. «Sehr gut» gefalle es ihr in ihrem Container, wie sie mehrfach wiederholt. Die 40-jährige Ukrainerin lebt mit ihrer Familie seit einem Monat in einer neu erstellten Siedlung in Seuzach bei Winterthur.

Innas Container ist in mehrere Räume unterteilt. Mit ihrem Mann bewohnt sie ein zwölf Quadratmeter grosses Zimmer, ebenso gross ist das Zimmer der Tochter. Hinzu kommt ein Vorraum mit Holztisch, Küche und eingebautem Bad. Während draussen der Novemberregen an die Wand prasselt, ist es drinnen warm. Inna sitzt am Tisch, vor ihr liegt ein Deutschbuch. Auf der kleinen Küchenablage steht ein Teller mit Ananas und Kiwi.

Die Container stehen auf einem letzten freien Stückchen Gemeindeland mitten im Dorf. Rundum glänzen Vorgartenrasen, auf denen man Golf spielen könnte. Solche modernen Wohncontainer haben nicht mehr viel gemein mit den Baustellenbaracken, in denen Arbeiter ihren Znüni essen. Sie sind unauffällig bis ansprechend verkleidet und werden als Module aneinandergehängt und gestapelt. Sie verfügen über Elektro- und Wasserzuleitungen und einen Abwasseranschluss. Die Stadt Zürich schreibt gar vor, dass die Dächer begrünt werden müssen.

Die Container in Seuzach sind eine direkte Folge des gestiegenen Asyldrucks. Im Juni hat der Kanton Zürich die Asylquote erhöht. Seither müssen die Gemeinden dreizehn Asylsuchende pro tausend Einwohner aufnehmen, vor dem Ukraine-Krieg waren es noch fünf. Seuzach wusste zuerst nicht wohin mit den neu zugeteilten Menschen – und hatte dann Schnäppchenglück. «Wir konnten die Containermodule als Occasion für 150 000 Franken erstehen», sagt Felix Goldinger, Bereichsleiter Soziales. Neu könnte eine solche Anlage, in der gesamthaft zwei Dutzend Menschen wohnen, bis zu einer Million Franken kosten. Und: «Andere Gemeinden mussten teils Monate auf ihre Container warten.» Verzögerungen gab es zwar auch in Seuzach, weil Anwohner rekurrierten. «Bei der Eröffnung standen dann aber plötzlich Essenskörbe als Willkommensgeschenk aus der Nachbarschaft da», sagt Goldinger.

Schulen müssen warten

Mit den Containern scheinen die Schweizer Gemeinden derzeit gut zu fahren. Doch die Unterbringung weiterer Asylbewerber zu planen, ist praktisch unmöglich. Beim Staatssekretariat für Migration (SEM) hat man sich in die trüben Gefilde der Wahrscheinlichkeitsrechnung zurückgezogen. «Bis Ende 2023 rechnet das SEM in seinem wahrscheinlichsten Szenario mit 28 000 (+/– 2000) neuen Asylgesuchen (Eintretenswahrscheinlichkeit von 55 bis 60 Prozent). Die Variante ‹hoch› (35 000, +/–5000) hat eine Wahrscheinlichkeit von 35 bis 40 Prozent», schreibt das Staatssekretariat.

Und ab 2024 ist dann ohnehin alles offen. Gemeindevertreter klagen indes schon jetzt darüber, dass man nicht mehr so einfach an Container herankommt. Die Liefer- und Aufbaufristen von einigen Wochen dehnten sich immer mehr. Bei einer Containerknappheit stehe die Schweiz zudem schnell vor einem Problem. Da im EU-Raum die Auflagen in Bezug auf die thermische Isolation deutlich tiefer sind und den kantonalen Bauvorgaben oft nicht entsprechen, kommen ausländische Hersteller meist gar nicht infrage.

Der Container ist ein paneuropäisches Gemeinschaftskonstrukt. Die Einzelteile stammen aus Italien, Kroatien, Österreich oder Tschechien, wo überall ein Flaschenhals entstehen könnte. Der Condecta-CEO Olivier Annaheim sagt: «Aktuell reichen die Kapazitäten.» Doch neue Migrationsbewegungen könnten dies rasch ändern. «Falls sich die Asylquote nochmals erhöht, kommen wir bei den Bestellungen irgendwann nicht mehr nach.»

Der Asylcontainer macht zudem auch unseren Schulen Konkurrenz. In der Schweiz existiert ein riesiger Bedarf an Schulraum. An vielen Orten kommen deshalb bereits Container zum Einsatz. «Wenn wir in den Asylbereich verkaufen, dann nehmen wir bei den Schulen Kapazitäten weg», sagt Annaheim. Die Limitation sei dabei weniger das Material als vielmehr der Mensch: «Für einen mehrwöchigen Aufbau einer Asylcontainersiedlung braucht es zahlreiche Arbeiter, die fehlen dann halt an einem anderen Ort.» Jörg Kündig, Präsident des Verbandes der Zürcher Gemeindepräsidien, sagt: «Containerlösungen können durchaus in Konkurrenz zu anderen temporären Bauprojekten beispielsweise der Volksschule stehen.»

Darüber hinaus enthält die aktuelle Schweizer Containerpolitik auch eine ironische Note. Es ist erst wenige Monate her, als der Bund selber einen Containerkauf im grossen Stil plante und dem Parlament dafür 132,9 Millionen Franken beantragte. Ausgerechnet die Kantonsvertreter des Ständerats versenkten diese Pläne. Nun finden die Container dennoch ihren Weg zu den Geflüchteten – Modul für Modul.



Starke Zunahme

3000 – Etwa so viele Asylcontainer sind 2023 in der Schweiz gebaut worden – doppelt so viele wie 2022.

13 – So viele Asylsuchende müssen Zürcher Gemeinden pro 1000 Einwohner aufnehmen. Vor dem Ukraine-Krieg waren es noch 5.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/steigende-asylzahlen-gemeinden-brauchen-immer-mehr-container-fuer-asylsuchende-ld.1765030)


+++GROSSBRITANNIEN
NZZ am Sonntag 12.11.2023

Wird Rwanda Endstation für Grossbritanniens Migranten?

Der Supreme Court in London wird nun das letzte Wort zum grossen Ausschaffungsplan der britischen Regierung sprechen: Alle Bootsflüchtlinge werden nach Rwanda ausgeflogen und können Asyl im ostafrikanischen Kleinstaat beantragen.

Bettina Schulz, London

Mit Spannung erwarten europäische Regierungen am Mittwoch den Entscheid des Obersten Gerichts in London zur Abschiebung von Flüchtlingen nach Rwanda. Sollte der Supreme Court die Ausschaffung für rechtens erklären, könnte London im Kampf gegen die illegale Migration einen grossen – wenn auch umstrittenen – Erfolg verbuchen. Andere Länder in Europa würden dies als Vorbild nehmen. Verbietet das Gericht aber das Vorhaben, wäre einer der wichtigsten politischen Pläne der Regierung von Premierminister Rishi Sunak gescheitert.

Sunaks Vorvorgänger Boris Johnson hatte im April 2022 angekündigt, alle Bootsflüchtlinge nach Kigali auszuschaffen. Umgerechnet 154 Millionen Franken hat Grossbritannien dafür bereits an den ostafrikanischen Kleinstaat gezahlt. Seither blockieren Gerichte das Vorhaben. Im Juni 2022 konnte ein Flug mit Flüchtlingen in letzter Minute nicht nach Rwanda abheben, weil der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilte, britische Gerichte müssten zunächst prüfen, ob die Politik rechtens sei.

Und die sieht Folgendes vor: Migranten, die in Booten illegal den Ärmelkanal überqueren, dürfen nach Ankunft im Vereinigten Königreich kein Asyl beantragen. Sie sollen dann nach Kigali ausgeflogen werden, um dort Asyl zu beantragen – für den Verbleib in Rwanda.

Ist Rwanda sicher?

Das Verfahren soll Migranten davon abschrecken, überhaupt nach Grossbritannien überzusetzen. Rechtlich entscheidend ist die Frage, ob die Flüchtlinge in Kigali nicht Gefahr laufen, in ihre Heimatländer abgeschoben zu werden, wo sie möglicherweise gefoltert werden. Dieses Risiko besteht vor allem bei Menschen aus Iran und Afghanistan.

Die britische Justiz ist uneins in dieser Frage. Im Dezember 2022 hatte ein Gericht in London geurteilt, die Abschiebung nach Rwanda sei rechtens, im Juni dieses Jahres kam ein Berufungsgericht zur gegenteiligen Auffassung: Rwanda sei kein sicheres Land für eine Abschiebung. Jetzt hat der Supreme Court das letzte Wort.

London bezahlt bereits die französische Polizei und Küstenwache, um Schlepper und Flüchtlinge an den Stränden von Calais zurückzuhalten. Mit Albanien schlossen die Briten ein Abkommen, damit Landsleute nach Tirana abgeschoben werden können.

Das Ausschaffungsgesetz gilt nur für Flüchtlinge, die in letzter Zeit nach Grossbritannien gekommen sind. Es wirkt schon: Seit Sommer ist die Zahl der Bootsflüchtlinge rückläufig. Nach Angaben von Migration Watch, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Eindämmung der Migration einsetzt, kamen letztes Jahr bis Oktober 33 238 Migrantinnen und Migranten per Boot; dieses Jahr war es bis jetzt ein Drittel weniger – 26 699 Flüchtlinge.

Belastungsprobe für Sunak

Sollte der Supreme Court gegen die Ausschaffung nach Kigali entscheiden, hat Sunak auch ein Problem mit seiner Innenministerin Suella Braverman. Sie versucht sich auf der rechten Seite der Tory-Partei als mögliche Nachfolgerin des Regierungschefs zu profilieren.

So hat sie der Londoner Polizei vorgeworfen, die Protestmärsche des «Pro-Palästina-Mobs» am Tag der Volkstrauer am gestrigen Samstag nicht untersagt zu haben. Die Migrantenkrise bezeichnete Braverman, selbst Tochter indischstämmiger Einwanderer, als «Invasion» und schwärmte einst: «Für mich geht ein Traum in Erfüllung, wenn irgendwann endlich ein Flugzeug mit diesen Leuten nach Rwanda abhebt.»

Sollte der Supreme Court die Rwanda-Politik am Mittwoch mit Hinweis auf die Menschenrechte untersagen, wird sie wohl auf einen Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Menschenrechtskonvention drängen. Sunak will dies nicht. So wird die Rwanda-Politik noch zur Belastungsprobe für die Regierung.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/international/london-wartet-auf-rwanda-entscheid-ld.1765285)


+++DEUTSCHLAND
Rassistische Kontrollen an der polnischen Grenze
Studierende der Europa-Universität von Frankfurt (Oder) verpassen Lehrveranstaltungen
Seit Mitte Oktober kontrolliert die Bundespolizei aus Polen einreisende Menschen. Das belastet die zahlreichen Pendler, die in Brandenburg und Berlin arbeiten.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1177697.asylpolitik-brandenburg-rassistische-kontrollen-an-der-polnischen-grenze.html


+++ZYPERN
Zypern: Neue Fluchtroute nach Europa
Im Verhältnis zur Bevölkerung verzeichnet Zypern so viele Asylanträge wie sonst kein anderes EU-Land. Das hat mit dem besonderen Status der Insel zu tun. Zypern ist geteilt in die nur von der Türkei anerkannte „Türkische Republik Nordzypern“ im Norden und einen griechisch geprägten Landesteil im Süden. EU-Recht gilt nur dort. Über die Türkei kommen Migranten in den Norden und dann über die grüne Grenze in den Süden. Dort können sie Asyl nach EU-Standard beantragen. Auch wenn für viele Geflüchtete Zypern nur eine Zwischenstation ist, wächst in der Bevölkerung die Ablehnung. Es kam bereits zu gewalttätigen Angriffen.
https://www.ardmediathek.de/video/europamagazin/zypern-neue-fluchtroute-nach-europa/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2V1cm9wYW1hZ2F6aW4vNzMzYTY2ZmYtMTdmZC00YzE2LWFjYjUtNThiMGYwYWFmM2Fi


+++MITTELMEER
-> https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-11/mittelmeer-seenotretter-migranten-ocean-viking-lybien-128?utm_referrer=twitter&utm_source=twitter_zonaudev_int&utm_content=zeitde_redpost+_link_sf&utm_medium=sm&wt_zmc=sm.int.zonaudev.twitter.ref.zeitde.redpost.link.sf&utm_campaign=ref


+++GASSE
Ort für Armutsbetroffene und Einsame: Braucht Luzern eine zweite, drogenfreie Gassechuchi?
Zwei Grossstadträtinnen schwebt ein drogenfreier Treffpunkt für Randständige vor. Dieser soll frei von Hektik, Deal und Rausch sein, sodass Gassenleute zur Ruhe kommen. Die Gassenarbeit sieht darin Probleme.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/braucht-luzern-eine-zweite-drogenfreie-gassechuchi-2594366/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
BE:
„! Drohende Abschiebung verhindern !
Wichtig und dringend, morgen um 10 Uhr alle die können an den Quellweg 6 in Wabern bei Bern! #FreeAhmedAzadCagan
Der kurdische Journalist und Aktivist Ahmed Azad Çağan, der in der Schweiz Asyl beantragt hatte, wurde in der Schweiz n Auslieferungshaft genommen und soll abgeschoben werden. Der Journalist Ahmed Azad Çağan musste sein Land aus Angst um sein Leben verlassen und hatte in der Schweiz um Asyl gebeten. Nun befindet sich der kurdische Journalist Ahmed mit demselben Sicherheitsproblem in derr Schweiz in Auslieferungshaft. Lasst uns alle eine Stimme für den jungen kurdischen Journalisten sein, damit er nicht länger um sein Leben fürchten muss!“
(https://twitter.com/gegen_oben/status/1723778886872232302)


LU:
Pro-palästinensische Kundgebung in der Stadt Luzern (ab 01.20)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/monika-koller-ich-hoffe-dass-ein-kulturwandel-moeglich-wird?id=12486102


ZH:
Friedliche Nahost-Demonstrationen in Zürich. (ab 01:08)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/wie-werden-straftaeter-auf-das-leben-in-freiheit-vorbereitet?id=12486063


+++KNAST
Wie werden Straftäter auf das Leben in Freiheit vorbereitet?
Nach sieben Jahren Haft ist Brian aus der Haft entlassen worden. Nun beginnt für ihn ein neuer Lebensabschnitt in Freiheit. Wie werden Gefängnisinsassen auf diesen Schritt vorbereitet? Wo sind die Hürden? Das Interview mit Jérôme Endrass vom Zürcher Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung.  (ab 03:00)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/wie-werden-straftaeter-auf-das-leben-in-freiheit-vorbereitet?id=12486063


Brian rappt in Freiheit: «Mit Fäusten oder Waffen»
Brian rappt, dass er mit Gewalt ganz nach oben wolle. Seine Follower sind besorgt, er solle seine Chance nutzen und unauffällig bleiben.
https://www.nau.ch/news/schweiz/brian-rappt-in-freiheit-mit-fausten-oder-waffen-66648131
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/kanton-zuerich/ich-will-keine-probleme-mehr-brian-zeigt-sich-erstmals-als-freier-mann-auf-tiktok-154866331


+++POLIZEI LU
„Viele harte Drogen im Umlauf“: So arbeitet die Luzerner Aussenfahndung
Die Drogenszene im Kanton Luzern wächst. Der Markt wird mit Kokain überschwemmt wie der letzte Geschäftsbericht der Luzerner Polizei gezeigt hat. Deshalb hat die Aussenfahndung der Luzerner Polizei momentan viel zu tun. Wie so eine solche Fahndung abläuft und was dem Täter danach droht zeigen wir Ihnen in letzten Teil unserer Polizeiserie.
https://www.tele1.ch/nachrichten/die-drogenszene-im-kanton-luzern-waechst-der-markt-wird-mit-kokain-ueberschwemmt-wie-der-letzte-geschaeftsbericht-der-luzerner-polizei-gezeigt-hat-deshalb-hat-die-aussenfahndung-der-luzerner-polizei-momentan-viel-zu-tun-wie-so-eine-solche-fahndung-ablaeuft-und-was-dem-taeter-danach-droht-zeigen-wir-ihnen-in-letzten-teil-unserer-polizeiserie-154869032


++++RASSISMUS
nzz.ch 11.11.2023

Ein Bundesbeamter gegen Antisemitismus

Warum das Parlament im Kampf gegen den Judenhass eine Idee des Schriftstellers Thomas Meyer aufgreift.

Simon Marti und Georg Humbel

Den Krieg im Nahen Osten bekommen die Schweizer Jüdinnen und Juden unmittelbar zu spüren. Seit die Hamas am 7. Oktober ihre brutalen Terrorangriffe auf Israel startete, nehmen die antisemitischen Vorfälle massiv zu. «Es wird gepöbelt, gesprayt, gespuckt und geschubst», sagt der jüdische Autor Thomas Meyer. «Mein Sicherheitsgefühl hat gelitten seit dem 7. Oktober.»

Meyer erwartet von der Politik nicht nur Solidaritätsbekundungen, sondern auch konkrete Massnahmen, namentlich in der Prävention. Darum wandte er sich direkt an die Präsidenten der Parteien. Und er wurde gehört. Am Freitag hat die Staatspolitische Kommission (SPK) des Nationalrates eine Motion verabschiedet, die verlangt, dass der Bund einen Aktionsplan gegen Antisemitismus und Rassismus vorlegt. Auch die Schaffung einer neuen Stelle, nach dem Vorbild des Antisemitismusbeauftragten in Deutschland steht zur Debatte. Dieser Beamte koordiniert im Nachbarland die Anstrengungen über Ministerien und Bundesländer hinweg und fungiert als Ansprechperson für jüdische Gruppen. Welche Kompetenzen sein allfälliges Schweizer Pendent hätte, ist freilich noch völlig offen.

SVP ist skeptisch

Der politische Support aber ist gegeben. Eine breite Allianz von SP bis FDP steht hinter der Idee. «Uns ist das Anliegen sehr wichtig. Rassismus und Antisemitismus dürfen in unserer Gesellschaft keinen Platz haben», betont die Co-Fraktionschefin der SP, Samira Marti.

Nicht mit an Bord ist die SVP. «Dass Antisemitismus bekämpft werden muss, darin sind wir uns alle einig. Nur bin ich skeptisch, ob zusätzliche staatliche Stellen da etwas bringen», sagt der SVP-Nationalrat Gregor Rutz. Er ist überzeugt: Entscheidend sei, dass der Rechtsstaat seine Gesetze konsequent anwende, gerade im Bereich der Migration.

Bund verlässt sich auf Zivilgesellschaft

Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) begrüsst den Entscheid der Kommission explizit. Es brauche eine sichtbare Stimme des Bundes, die mit der nötigen Kompetenz explizit gegen Antisemitismus Stellung beziehe, sagt der SIG-Generalsekretär Jonathan Kreutner. «Derzeit machen wir die Arbeit, die eigentlich der Staat hätte übernehmen sollen. Wir registrieren auch die antisemitischen Vorfälle in der Schweiz», so Kreutner. Der Bund verlasse sich da komplett auf das Engagement der Zivilgesellschaft.

Thomas Meyer freut sich, dass sein Engagement Wirkung zeigt. Zugleich warnt er vor der Vorstellung, dass der Staat künftig Rassismus und Antisemitismus mit ein und derselben Strategie und mit den gleichen Fachpersonen bekämpfen könne. «Antisemitische Ressentiments sind ein spezifisches Problem mit einer ganz eigenen Geschichte», betont er.

Die politische Auseinandersetzung darüber, wie der Bund in Zukunft dem Antisemitismus entgegentritt, steht aber noch ganz am Anfang.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/ein-beamter-soll-in-der-schweiz-antisemitismus-bekaempfen-ld.1765255)


+++RECHTSEXTREMISMUS
Razzia gegen Rechtsrock:Volksverhetzung als Geschäftsmodell
Böhse Onkelz, Vortex: Bei den jüngsten Razzien im rechten Milieu wurde auch an die 30 Jahre alte Musik beschlagnahmt. Selbst damit können rechte Organisationen viel Geld verdienen und ein „Wir“-Gefühl formulieren, erklärt Rechtsrock-Experte Jan Raabe.
https://www.deutschlandfunk.de/wehrhafte-demokratie-jan-raabe-ueber-rechtsextremismus-und-musik-dlf-824fa948-100.html


+++HISTORY
Kinderbuchklassiker postkolonial lesen, oder: Warum Literatur(vermittlung) und Lektüre immer schon politisch sind
Die Diskussion um rassistische Sprache in Klassikern wird hitzig geführt, vor allem wenn es um Kinderbücher geht. Doch der Kulturbetrieb muss beweglicher werden und endlich die Perspektiven derjenigen wertschätzen, die von rassistischer Sprache diskriminiert und ausgeschlossen werden.
https://geschichtedergegenwart.ch/kinderbuchklassiker-postkolonial-lesen-oder-warum-literaturvermittlung-und-lektuere-immer-schon-politisch-sind/



hauptstadt.be 11.11.2023

Die Kinder der Verdingkinder

Lange wurden in der Schweiz Kinder verdingt oder fremdplatziert. Eine Forschungsgruppe beschäftigte sich nun mit den Kindern der Betroffenen. Ein Austausch beginnt.

Von Silja Elsener (Illustration) und Lea Sidler (Text)

Beat, der in Wirklichkeit anders heisst, setzt sich aufs Sofa. Er hat ein Kinderfoto hervorgeholt: Ein Junge sitzt mit löchrigen Schuhen auf einer Mauer und lächelt in die Kamera. Beat erzählt von seiner Kindheit. Manchmal sind die Erinnerungen kaum aushaltbar, dann verliert er den Faden. Für diesen Artikel möchte er anonym bleiben, weil seine Geschichte für ihn mit viel Scham behaftet ist.

Beats Mutter war ein Verdingkind. Sie wurde als Halbwaise nach dem Ersten Weltkrieg von Deutschland in die Schweiz geholt. Und hier verdingt.

Beat ist heute 78 Jahre alt und gehört zur zweiten Generation von Betroffenen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen. Die traumatischen Erfahrungen, die die zehntausend Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz gemacht haben, haben sich auf die Beziehung zu ihren Kindern ausgewirkt. Menschen wie Beat hatten mit nicht aufgearbeiteten Traumata der Eltern und sozialer Ausgrenzung zu kämpfen.

Damit befasst sich seit 2019 eine Forschungsgruppe an der Berner Fachhochschule Soziale Arbeit. Im Rahmen eines Projekts des nationalen Forschungsprogramms «Fürsorger und Zwang» hat sie 27 Kinder von administrativ Versorgten, Verdingkindern, Heimkindern und willkürlich Weggesperrten befragt. Menschen wie Beat.

Die Forschungsergebnisse zeigen: Das Leiden nahm in der Schweiz mit der Aufhebung von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen nicht einfach ein Ende. Es wirkte sich auch auf die Familien der Betroffenen aus. Die behördlichen Untaten haben Folgen bis heute. Aber die Thematik der zweiten Generation findet in der Schweiz noch kaum Beachtung.

Andrea Abraham, die das Forschungsprojekt leitete, hält deshalb Vorträge zum Thema. Ein Anlass für die zweite Generation ist nun zum ersten Mal in Bern geplant. Organisiert wird er vom «Erzählbistro», das regelmässig Stammtische für Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen arrangiert. Nun sollen die Kinder der Betroffenen ihre Geschichten teilen können.

Fehlende Liebe

Beat erhielt als Kind wenig Liebe. Seine Mutter konnte sie nicht geben, erzählt er. Sie sei schwer traumatisiert gewesen. Für ihn und seine Geschwister konnte und wollte sie nicht sorgen. «Meine jüngeren Geschwister hat sie weggegeben, und auch wir älteren sind lange fremdplatziert worden», erzählt Beat. Ab und zu sei sie einfach weggelaufen, mit der ältesten Tochter an der Hand.

Ähnliches erzählt Forscherin Abraham: «Viele, die wir befragt haben, erlebten ein schwieriges Verhältnis von Nähe und Distanz zu ihren Eltern.» Körperliche Gewalt, Übergriffe und emotionale Distanz seien in vielen Kindheiten eine Realität gewesen. Die Kinder hätten gemerkt, dass die Eltern unter der Vergangenheit litten und hätten sich in starkem Ausmass verantwortlich für die Eltern gefühlt. «Sie hatten beispielsweise Mitleid mit ihnen, ohne recht zu wissen, warum.» Dabei ist es Abraham wichtig zu betonen, dass nicht alle Kinder von Betroffenen solche Erfahrungen gemacht haben.

Beat machte seiner Mutter lange Zeit Vorwürfe: «Ich habe sie für ihr Verhalten gehasst, bis ich realisiert habe, was sie als Verdingkind und junge Frau in der Krisen- und Kriegszeit durchmachen musste.» Das habe seinen Blick verändert. «Ich konnte mit der Zeit aufarbeiten, dass sie uns weggeben wollte, ich konnte ihr verzeihen.» Als Beat zehn Jahre alt war, starb sie.

Auch die erneute Fremdplatzierung der Kinder von Betroffenen konnte eine Folge fürsorgerischer Zwangsmassnahmen sein, erklärt Abraham. Sie habe mit der Prekarität, in der die Betroffenen häufig lebten, aber auch mit deren psychischen Leiden und der gesellschaftlichen Stigmatisierung zu tun.

Die Geschichte setzt sich fort

Als Beats Mutter starb, waren fürsorgerische Zwangsmassnahmen noch eine gängige Praxis von Schweizer Behörden und Stiftungen. Beat und seine Geschwister wurden von der Vormundschaftsbehörde getrennt und an unterschiedlichen Orten untergebracht. Eine Weile lebte Beat auf einem Bauernhof, hatte weder Zimmer noch Stift, um seinen Geschwistern Briefe zu schreiben. Auf dem Bauernhof musste er als Bub arbeiten und hatte konstant Hunger, erinnert er sich. In der Schule schämte er sich für die alten Kleider, die ihm viel zu gross waren. Später konnte er, weil er zu dieser Zeit von «guten Leuten» aufgenommen worden war, das Gymnasium absolvieren und Jura studieren.

Personen wie Beat, bei denen einerseits die Eltern, aber auch sie selbst von den Zwangsmassnahmen betroffen waren, befragte Abraham ebenfalls im Forschungsprojekt. Sie seien häufig schwer belastet, sagt sie.

Als die Schweiz 1981 entsprechend der Europäischen Menschenrechtskonvention von 1974 schliesslich Gesetze gegen die willkürlichen Massnahmen verabschiedete, war Beat Ende dreissig und hatte eine Kindheit und Jugend mit ständig wechselndem Zuhause hinter sich.

Öffentliche Aufarbeitung

Ein wichtiger Moment in Beats Leben ereignete sich im April 2013, 32 Jahre nach der gesetzlichen Regulierung von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Die damalige Bundesrätin und Justizministerin Simonetta Sommaruga entschuldigte sich im Namen der Landesregierung bei den Betroffenen, «ihr seid nicht Schuld». Diese Worte von Sommaruga waren für Beat sehr wertvoll.

Mit der öffentlichen Entschuldigung begann man, die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in der Schweiz aufzuarbeiten. Ein offener Tisch wurde eingerichtet, bei dem sich Betroffene und Politiker*innen gegenüber sassen. Die Stammtisch-Treffen des Erzählbistro wurden ins Leben gerufen. Sie wurden von Betroffenen selbst lanciert. Der Bund gab Forschungsprojekte in Auftrag.

Die Forschung zur 2. Generation

Die Erforschung und auch der Begriff der zweiten Generation sei in den 1980er Jahren in Israel und Deutschland aufgekommen, erklärt Abraham. Kinder von Holocaust-Opfern hätten vermehrt Therapien aufgesucht und man realisierte, dass auch sie von den Schrecken, die ihre Eltern erleben mussten, nachhaltig betroffen waren.

In der Zweiten-Generation-Forschung wird vor allem die Weitergabe von Traumata untersucht. Aber auch gesellschaftliche Stigmatisierung und ökonomische Benachteiligung spielen eine Rolle. Manchen Kindern sei verboten worden, mit Kindern von Betroffenen zu spielen, sagt Abraham. Wegen der Armut, der Familiengeschichte, vielleicht den familiären Schwierigkeiten.

Beat lernte als Jugendlicher von unterstützenden Pflegeeltern, wie er sich «bürgerlich» zu verhalten habe. Lernte Tischregeln und die «richtige» Art, sich zu bewegen, «den Normen entsprechend», wie er sagt. Denn das konnten ihm seine Eltern und die Betreuer*innen der verschiedenen Pflegeplätze davor nicht beibringen.

Das soziale Stigma sei von den Betroffenen verinnerlicht worden, erklärt Abraham: «Das Narrativ ‹Du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nichts›, hat sich bei vielen Betroffenen von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen tief eingeprägt und wirkte in den Familien weiter.»

Auch im Bildungsweg zeigte sich die Benachteiligung: «Viele Eltern waren aufgrund ihrer Verfassung und wegen fehlender schulischer Bildung nicht in der Lage, ihre Kinder zu unterstützen. Andere förderten ihre Kinder umso mehr, weil sie nur durch schulische Bildung den Ausweg aus der Armut sahen», führt Abraham aus.

Fast alle Eltern hätten in irgendeiner Weise etwas von der Kindheit durchblicken lassen. Wirklich darüber sprechen konnte aber kaum jemand. «Befragte erzählten uns, dass plötzlich Menschen auftauchten, von denen sie nicht wussten, wer sie waren. Oder aber, dass gewisse Familienmitglieder wie die Grosseltern einfach nicht da waren.»

Beat wusste kaum etwas über die Kindheit seiner Mutter. Als Kinder wurden er und seine Geschwister selten von einer Tante besucht, einer Schwester seiner Mutter. Ein Gespräch mit ihr über das Schicksal seiner Mutter war nicht möglich. Sie war selbst fremdplatziert worden und davon schwer traumatisiert.

Seit der öffentlichen Aufarbeitung werde weniger geschwiegen, stellt Abraham fest: «Angehörige der zweiten Generation konnten sich nun erklären, was mit ihren Eltern passiert war. In den Familien wurden Gespräche, wurde ein Austausch möglich.»

Als Erwachsener versuchte Beat mehr über die Biografie seiner Mutter in Erfahrung zu bringen. Er vermutet, dass sie als kleines Mädchen von der Pro Juventute in die Schweiz geholt wurde, die sie hier als Verdingkind vermittelt hat. In den Akten der Pro Juventute konnte er dafür aber keinen Nachweis finden.

Das Ende der Gewaltspirale

Es gebe auch Eltern, die mit ihren Kindern nach wie vor nicht über das Erlebte sprechen und sich selbst auch nicht als Opfer sehen wollen, berichtet Abraham. Und Kinder, die mit der Geschichte der Eltern keinen Umgang finden. Für sie sei es sehr belastend, zu erfahren, was die Eltern erlebt haben.

In extremen Fällen sei es vorgekommen, dass Täter*innen, die im Rahmen fürsorgerischer Zwangsmassnahmen gehandelt hatten, immer noch in das Familienleben involviert waren. «Wenn man dann erfährt, dass es sich bei diesem nahen Menschen um eine Person handelt, die einem Elternteil viel Leid zugefügt hat, erschüttert das die eigene Geschichte zutiefst», erklärt sie. Angehörige der zweiten Generation mussten zum Teil ihre ganze Biografie hinterfragen oder neu rahmen.

Gemeinsame Aufarbeitung

Abrahams Untersuchung zeigt zudem, dass es vielen der zweiten Generation gelang, belastete Familiennarrative und Gewalt zu durchbrechen. Das habe auch mit der politischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung und den therapeutischen Möglichkeiten zu tun, meint sie. Auffällig sei, dass sich viele Angehörige der zweiten Generation in ihrem Alltag oder Beruf sozial engagierten. Dass sie damit gewissermassen das getane Unrecht kompensieren oder präventiv verhindern wollen.

Beat gründete eine Familie. Und er ist finanziell gut situiert. Die lebenslange Therapie half und hilft ihm, einen Umgang mit dem Erlebten zu finden und mit den eigenen Kindern eine andere Beziehung zu führen, als die, die er als Kind erlebt hatte. Er verfolgte den Runden Tisch und nahm am Betroffenenforum teil, an dem die Aufarbeitung und Wiedergutmachung durch den Bund besprochen wurde. Und er hat sich später dafür eingesetzt, dass Betroffene sich austauschen können.

Wenn Vertreter*innen der zweiten Generation ihre Erfahrungen miteinander teilen können, kann aus einer individuellen Geschichte eine kollektive werden. Und vielleicht ermöglicht das Treffen des Erzählbistro auch einen Austausch der Generationen und ein gegenseitiges Verstehen.

Das Erzählbistro mit der zweiten Generation findet am Dienstag 14. November von 13 Uhr bis 17 Uhr an der Fabrikstrasse 12 in Bern statt. Es richtet sich an direkt Betroffene und Angehörige der zweiten Generation.



Fürsorgerische Zwangsmassnahmen

Als Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen gelten:

– Verdingkinder: Kinder und Jugendliche, die als billige Arbeitskräfte auf Bauernhöfen ausgebeutet wurden. Sie erlebten schwere körperliche, physische und zum Teil sexualisierte Gewalt.
– Heimkinder: Kinder und Jugendliche, die in Heimen untergebracht und dort misshandelt wurden.
– Administrativ Versorgte: Menschen, die ein Leben führten, das gesellschaftlich als inakzeptabel galt und die deshalb in Arbeits- oder Strafanstalten eingewiesen wurden – ohne einen strafgerichtlichen Beschluss.
– Junge Frauen, die unter Zwang oder grossem psychischem Druck Abtreibungen oder Sterilisationen durchführen liessen oder Kinder zur Adoption freigeben mussten.
– Menschen, die Opfer von Medikamentenversuchen wurden.
– Jenische Familien, die gewaltsam auseinandergerissen wurden, durch die systematische Fremdplatzierung jenischer Kinder.

Bis 1981 wurden fürsorgerische Zwangsmassnahmen von den Behörden und Stiftungen – wie der Pro Juventute, die für die Kindswegnahme von rund 600 Jenischen Kindern verantwortlich war – praktiziert. Zehntausende Kinder und Erwachsene wurden Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen.
(https://www.hauptstadt.be/a/verdingkinder)