Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
+++SCHWEIZ
Motion angenommen: Abgewiesene Asylbewerber sollen besser ausgeschafft werden können
Rückführungen von abgewiesenen Asylsuchenden sollen effizienter werden. Die Staatspolitische Kommission des Nationalrates (SPK-N) hat dazu eine Motion angenommen. Demnach soll Italien das Dublin-Abkommen einhalten.
https://www.watson.ch/schweiz/migration/720376651-schweiz-abgewiesene-asylbewerber-sollen-besser-ausgeschafft-werden-koennen
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/215316/
+++DEUTSCHLAND
Migranten-Aufnahmezentren in Albanien: Scholz zeigt sich offen
Italien hat vorgeschlagen, in Albanien Zentren zur Aufnahme von Migranten einzurichten. Kanzler Olaf Scholz hält das für möglich. Doch reicht das der Opposition – insbesondere der Union? CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt macht Druck.
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/migranten-aufnahmezentren-in-albanien-scholz-zeigt-sich-offen,TvJTCgW?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter
++++DEMO/AKTION/REPRESSION
BS:
„Basel heute: Demo anlässlich des Welt-Kobane-Tages Die Kobane Befreiung vom Islamischen Staat hat den Weg eröffnet den IS komplett zu besiegen. Heute ist die Türkei einer der grössten Helfer, dass der IS wieder zurück kommt! Darum #smashturkishfascism“
(https://twitter.com/gegen_oben/status/1723398886138536327)
LU:
Palästina-Demonstration im Vögeligärtli: «From the river to the sea»-Rufe jetzt auch in Luzern
Am Samstagnachmittag versammelten sich rund 300 Demonstranten mitten in Luzern. Sie forderten eine Waffenruhe und bezeichneten Israel als «Terrorist».
https://www.zentralplus.ch/regionales-leben/from-the-river-to-the-sea-rufe-jetzt-auch-in-luzern-2596004/
SG:
tagblatt.ch 11.11.2023
«Es sterben Patienten, weil wir eingespart werden!» – 3000 Menschen demonstrieren gegen Massenentlassung in Spitälern
Mit einem Sarg und Transparenten machte Spitalpersonal in St.Gallen ihrer Wut Luft und setzte ein Zeichen. Zwischen Parolen flossen Tränen von entlassenen Ärztinnen und Pflegepersonal.
Tabea Leitner und Raphael Rohner
Tausende Frauen und Männer haben genug: Die laufenden Massenentlassungen am Kantonsspital St.Gallen zwingen das Spitalpersonal auf die Strasse. Mit Transparenten und Trillerpfeifen machen sie darauf aufmerksam, dass ihre Stellen nicht nur für sie selbst lebenswichtig sind: «Wir sind sowieso schon am Limit und letzte Woche haben sie in unserer Abteilung erneut zwei Leute entlassen – wir sind schon völlig überfordert», sagt eine Pflegerin. Neben ihr steht eine Ärztin und hält ein Transparent: «Ich habe letzte Woche fast 30 Überstunden gemacht, weil sie unsere Assistenzärzte entlassen haben.»
Eine Gruppe Pfleger trägt einen Sarg durch die Stadt St.Gallen: «Wir tragen unsere Gesundheitsversorgung zu Grabe – nur weil die da oben sich verspekuliert haben», sagt einer der Sargträger. Sein Kollege ergänzt: «Noch ist niemand gestorben, doch das wird bald passieren, wenn wir nicht mehr nachkommen.»
Organspenden nicht mehr möglich?
Einige Demonstrierende sehen das anders. Laut ihnen soll das Kantonsspital St.Gallen vor kurzem eine Ärztin entlassen haben, die eine einzigartige Funktion hatte. «Als bei uns ein Patient für hirntot erklärt wurde, hätte der eigentlich seine Organe spenden wollen – doch die dafür zuständige Ärztin wurde entlassen und die Organe konnten nicht mehr entnommen werden.» Das Gerücht bestätigen auch mehrere Pflegerinnen, von denen eine ebenso den «blauen Brief» bekommen hat vor einer Woche. Sie ergänzt: «Es sterben Patienten, weil wir eingespart werden!»
Dass rund 3000 Menschen demonstrierend durch die Stadt St.Gallen laufen und ihre Wut kundtun, findet die St.Galler Stadtpräsidentin Maria Pappa bedenklich. Sie steht am Rand der Demonstration und führt Gespräche mit Betroffenen: «Dass es dazu gekommen ist, ist ein dunkles Kapitel unserer Geschichte.» Auch ihre Kollegin, SP-Nationalrätin Barbara Gysi ist da. Doch sie steht mitten in der aufgebrachten Meute und hebt ihre Faust in den kühlen Novemberhimmel: «Es braucht uns alle!»
Mitten in der Menschenmasse bricht eine junge Frau in Tränen aus. Ihre Kollegin hält sie im Arm. Sie sagt mich zittriger Stimme: «Ich wurde vorgestern entlassen und stehe heute hier ohne Perspektive.»
Sie habe mehrere Weiterbildungen gemacht und sei schon während der Pandemie nah an einem Burn-Out gewesen, weil ihre Abteilung unterbesetzt war. Jetzt suche sie eine neue Stelle. Doch habe sie auch dafür kaum Zeit, weil sie so lange arbeiten müsse.
Die Stimmung in der Marktgasse ist angespannt: Frauen erheben ihre Fäuste, schreien ihre Parolen und verlangen, dass die Geschäftsleitung von der Politik zur Verantwortung gezogen wird. Ein Mann, der mit seinen Kindern vor Ort ist, sagt: «Meine Frau arbeitet im Spital als Ärztin und rettet Menschenleben. Alle in ihrer Abteilung zittern um ihren Job. Gleichzeitig kommuniziert das Spital, dass man ein neues Zentrum für Herzchirurgie eröffnen wollen? – Ein PR-Gag. Die spinnen doch völlig!» Er bekommt nickende Zustimmung für seine Aussagen von allen Frauen um ihn herum.
Eine der Rednerinnen fragt, wo all die verantwortlichen Politiker heute seien? «Dass sie sich heute nicht hierher trauen, sagt doch einiges?» – Jubelnde Zustimmung von den Frauen und Männern in der Menge. Ein Sprechgesang beginnt: «Totes Krankenhaus, Bruno Damann raus!» Viele verlangen einen sofortigen Rücktritt des Gesundheitschefs des Kantons.
Internationale Anteilnahme – das Thema beschäftigt alle
Die Empörung ist nicht nur in St.Gallen zu spüren. Medizinisches Personal aus den Kantonen Aargau, Zürich und Bern ist angereist, um Solidarität mit den St.Galler Betroffenen zu zeigen. Sogar Delegationen aus Vorarlberg und Deutschland waren anwesend. «Das Thema kennt keine Grenzen. Überall kämpfen die Leute mit den gleichen Bedingungen und Ängsten», so Melanie Helfenberger, Pflegefachfrau und Stationsleiterin am Kantonsspital St.Gallen. Sie ist eine von neun Frauen, die die bisherigen Demonstrationen gegen die Massenentlassung initiierten. Sie ist überwältigt vom zahlreichen Erscheinen der Bürger und Bürgerinnen: «Das gibt Mut!» Anfangs hätten sie damit gerechnet, dass sich lediglich wenige hundert Demonstrierende versammeln würden.
Helfenberger wehrt sich dagegen, dass ein Spital wie ein Privatbetrieb behandelt wird. Die Forderungen der Spitalleitung «intelligenter und effizienter» am Menschen zu arbeiten, findet sie irrational. Schliesslich würde der Patient mitbestimmen, wie schnell die Arbeit erfolgt. «Ich kann nicht schneller ein Baby trösten, eine ältere Person aus dem Bett bringen oder schneller spritzen.»
Im Interview mit dieser Zeitung zeigt sich auch Barbara Gysi erfreut, dass die Anteilnahme in der Bevölkerung so gross ist. «Ich habe von vielen Personen gehört, dass dies ihre erste Demonstration war, an der sie mitgelaufen sind. Das zeigt, dass die Massenentlassungen die ganze Bevölkerung treffen. Doch ich glaube auch, dass es ein Ausdruck der Wertschätzung ist, der gegenüber dem medizinischen Personal in unserer Gesellschaft da ist.»
Zudem sagt Gysi: «Heute hat man einmal mehr gesehen, mit wie viel Herzblut und Feuer die Pflegenden und die Ärzteschaft dabei sind. Diese Leute wollen arbeiten.» Jetzt brauche es Lösungen von Seiten der Spitalleitung und der Politik, um die Versorgungssicherheit im Kanton St.Gallen aufrechtzuerhalten.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/demonstration-es-sterben-patienten-weil-wir-eingespart-werden-3000-menschen-demonstrieren-gegen-massenentlassung-in-spitaelern-ld.2540540)
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-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/grossdemonstration-gegen-stellenabbau-an-den-st-galler-spitaelern?id=12485916
-> https://barrikade.info/article/6204
-> https://www.tvo-online.ch/aktuell/spital-demo-tausende-demonstrieren-in-st-gallen-gegen-massenentlassung-154843147
ZH:
Pro-Palästina-Demonstration in Zürich: Tausende marschierten in Zürich erneut für Palästina
Am Samstag demonstrierten rund 3000 Personen in Zürich. Sie forderten das Ende der Gewalt in Palästina. Die bewilligte Demo verlief friedlich.
https://www.tagesanzeiger.ch/pro-palaestina-demonstration-in-zuerich-tausende-marschierten-in-zuerich-erneut-fuer-palaestina-242486153555
-> https://www.blick.ch/video/aktuell/auf-dem-zuercher-helvetiaplatz-demonstranten-fordern-freies-palaestina-id19134489.html
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/freies-gaza-tausend-personen-demonstrieren-in-zuerich-154842649?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154842608
+++RASSISMUS
Judenfeindlichkeit in Basel: Antisemitische Vorfälle nehmen drastisch zu
Seit dem Angriff der Terrororganisation Hamas und Israels Gegenreaktion erfahren Jüdinnen und Juden weltweit Antisemitismus. Auch in Basel wird Judenfeindlichkeit präsenter.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/antisemitismus-judenfeindlichkeit-in-basel-antisemitische-vorfaelle-nehmen-drastisch-zu-ld.2540032
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bzbasel.ch
«Antisemitismus könnte wieder salonfähig werden»: Alt Bundesrätin Ruth Dreifuss ist besorgt – und warnt Israel
Ruth Dreifuss (83) war das erste Bundesratsmitglied jüdischer Abstammung. Sie verurteilt die «abscheulichen Gräueltaten» der Hamas, erinnert Israel aber auch an die Genfer Konvention. Und sie sagt, was ihr Hoffnung macht auf eine Lösung des Konflikts.
Othmar von Matt
Am 7. Oktober kam es zum grössten Massaker an Juden seit dem Zweiten Weltkrieg. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie vom Terror der Hamas hörten?
Ruth Dreifuss: Dieser Angriff auf die Bevölkerung, diese Gräueltaten sind abscheulich, nichts kann sie legitimieren. Wenn ich erfahre, dass irgendwo auf der Welt solche Taten stattfinden, bin ich tief aufgewühlt, und als Mensch von einem Schamgefühl überwältigt, dass Menschen so grausam sein können.
Israel macht vom Selbstverteidigungsrecht Gebrauch, ging mit Bodentruppen in den Gazastreifen. Wie beurteilen Sie das Vorgehen?
Es ist schwierig die Strategie der israelischen Armee zu kommentieren, wenn man kein Militärspezialist ist. Ein Gegenangriff kann legitim sein, Repressalien sind es hingegen nicht. Eines ist ganz klar: Das Selbstverteidigungsrecht ist kein Freipass für Kriegsverbrechen.
Es ist wichtig, dass Israel das internationale Völkerrecht einhält?
Es ist nicht nur wichtig, sondern absolut wesentlich. Das Kriegsrecht – die vier Genfer Konventionen – haben zum Ziel, die Barbarei der Kriege in Schranken zu halten.
Haben Sie Angst vor einer Eskalation im Nahen Osten?
Viele befürchten das. Viele engagieren sich aber auch, um eine Eskalation wenn immer möglich zu verhindern. Zum Beispiel die Amerikaner, die eine wichtige Rolle spielen in dieser Region. Auch die Rede von Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah und die Signale aus dem Iran und aus der Türkei zeigen: Man ist sich der Gefahr bewusst, dass ein regionaler Konflikt entstehen könnte, der sich dann sogar ausweiten könnte. Und es gibt Verhandlungen und Gespräche, um dies zu verhindern. Dazu kommt die Sorge, die Zivilbevölkerung vor Angriffen zu schützen.
Wie ist es möglich, eine Eskalation zu verhindern?
Da Israel direkt in den Gazastreifen eingedrungen ist und ein grosses Risiko für seine Soldaten und für die Geiseln in Kauf nimmt, hoffe ich, dass die systematische Bombardierung der Wohnungen abnimmt. Aber die erzwungene Evakuierung der Bevölkerung vom Norden in den Süden verursacht viel Leid. Sie bringt nur ungenügend Schutz und humanitäre Hilfe, birgt aber viele Gefahren.
Antisemitismus ist inzwischen in Europa wieder stärker verbreitet, gerade in Deutschland. Vor einer Woche wurde an einer pro-palästinensischen Demonstration in Essen die Errichtung eines Kalifats gefordert. Was sagen Sie dazu?
Zwar hat eine militärische Koalition die Schaffung eines Islamischen Staates – eines Kalifats also – verhindern können. Damit ist aber der Islamismus nicht verschwunden. Ich befürchte, bei den Hamas geschieht dasselbe. Selbst wenn der Krieg ihre Angriffskraft zerstört, wird sie nicht verschwinden. Ideologie kann nicht mit einem Krieg besiegt werden. Es braucht dafür gesellschaftliche und politische Lösungen. Nach dem Angriff von 7. Oktober ist ein Gegenschlag legitim, aber er muss proportional geführt werden und auf militärische Ziele fokussiert sein. Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit müssen vermieden und verboten werden. Sollten Armeeangehörige solche tätigen, müssen sie bestraft werden. Es ist wichtig, die Vertreibung der arabischen Bevölkerung in den besetzten Gebieten und Attentate gegen sie zu vermeiden, zu verbieten und zu bestrafen, um eine friedliche und sichere Zukunft für alle zu ermöglichen.
Auch in der Schweiz gibt es bedenkliche antisemitische Signale. Die Meldestelle für Antisemitismus hat seit dem 7. Oktober 50 antisemitische Vorfälle erfasst. Besteht die Gefahr, dass sie weiter zunehmen?
Diese Gefahr gibt es. Antisemitismus ist zwar nicht salonfähig. Man versteckt antisemitisches Gedankengut, tauscht es nur mit Gleichgesinnten aus, umso mehr, als es jetzt die Antirassismusstrafnorm gibt, die ich sehr begrüsse. Der «Tages-Anzeiger» hat das Bundesamt für Statistik gebeten, spezifische Fragen zu Juden zu analysieren. Der Artikel erschien am 6. November 2023, wobei die Fragen vor dem 7. Oktober gestellt wurden. Bis zu einem Viertel der Befragten stimmten antisemitischen Vorurteilen zu. Sie sind Erben jahrhundertealter Stigmatisierungen religiöser, wirtschaftlicher und politischer Natur.
Diese Zahl ist erschreckend hoch.
In der aktuellen Situation muss man befürchten, dass Antisemitismus wieder salonfähig werden könnte. Das kann zu Sprayereien, verbalen Beleidigungen und körperlichen Angriffen führen. Gleichzeitig muss man auch Araber und Moslem gegen antiislamische Vorurteile, Diskriminierungen und Übergriffe schützen.
Schweizer Jüdinnen und Juden fühlen sich in der Schweiz nicht mehr sicher. Wie geht es Ihnen?
Ich fühle mich nicht bedroht. Aber eine gewisse Spannung ist Realität. Der Krieg im Nahen Osten spaltet auch hier die Meinungen und es kann zu Angriffen gegen Einrichtungen und sogar auf Menschen kommen. Die jüdische Diaspora ist nach den Pogromen und nach der Shoah immer noch unsicher, ob sich solche Dramen nicht wiederholen könnten. Der Massenmord in Israel weckt bei vielen Juden ein altes Trauma. Gerade Israel gilt für sie als Hort der Sicherheit gegen einen derartigen Fall. Vergessen wir dabei nicht, dass auch die Palästinenser – in einem anderen Mass – ein traumatisiertes Volk sind.
Die Frage ist: Was ist Antisemitismus genau? Wann ist jemand antisemitisch? Können Sie das definieren?
Es gibt verschiedene Grade von Antisemitismus. Die erste Stufe ist die der Vorurteile: Alle Juden sollen dieselben Charakterfehler haben, dieselben heimlichen Ziele verfolgen, einfach anders sein «als wir». Man betrachtet den einzelnen Menschen nicht mehr als Menschen mit individuellen Eigenschaften und seiner Geschichte, sondern schafft eine angebliche Identität aller Juden. Niemand kann absolut sicher sein, dass er oder sie keine Vorurteile gegen eine Menschengruppe hat. Man sollte sich jeden Morgen genau im Spiegel anschauen und diese Frage für sich selber prüfen.
Was ist die zweite Stufe?
In der zweiten Stufe ist man bereit, Diskriminierungen gegenüber einer ganzen Gruppe zu akzeptieren. In der Schweiz durften Juden lange Zeit nicht Offiziere oder Diplomaten werden, weil man davon ausging, dass Juden eine doppelte Loyalität haben. Sie seien zwar Schweizer, aber eben doch nicht ganz. Diese zwei Beispiele sind nicht die einzigen Diskriminierungen, die Juden in der Schweiz erlitten haben.
Haben Sie ein Beispiel, das Ihre Familie betrifft?
Meine Familie, die schon 300 Jahre in einem Aargauer Dorf lebte, konnte erst Ende des 19. Jahrhunderts frei wählen, wo sie anderswo in unserem Land wohnen will. Ich behalte deshalb eine spezielle Beziehung zu den Gemeinden Endingen und Lengnau. Sie waren lange Zeit die einzigen, in denen Christen und Juden zusammenleben konnten. Es brauchte eine Volksabstimmung, um das Niederlassungsverbot aus der Verfassung zu kippen. Der Aufruf zu Hass gehört ebenfalls zu dieser zweiten Stufe des Antisemitismus. Er ist der Nährboden für juristische und gesellschaftliche Diskriminierungen. Der Aufruf zu Hass gehört aber auch zur dritten Stufe, weil er Gewalt fördert. Deswegen ist er durch das Antirassismusgesetz verboten.
Wie sieht die dritte Stufe aus?
Die dritte Stufe ist die physische Gewalt. Sie kann so weit gehen, dass man eine Volksgruppe auslöschen will. Das ist ein Genozid. Man betrachtet Menschen nicht mehr als Menschen, ihre Menschlichkeit wird verneint, was alle Grausamkeiten gegen sie ermöglicht. Deswegen war ich erschüttert über die Gräueltaten vom 7. Oktober, aber auch über die Aussage eines israelischen Ministers, die Angreifer hätten wie Bestien agiert und Israel werde dementsprechend reagieren.
Im Zweiten Weltkrieg gab es einen Genozid an den Juden. Geht auch der Terrorakt der Hamas in diese Richtung?
Ja. Israel als Land zu vernichten, seine Bevölkerung entweder zu vertreiben oder zu töten, ist immer noch Bestandteil des Programms der Hamas. Juristen sollten beurteilen ob es das Programm eines Genozids darstellt und ob der 7. Oktober ein Versuch dazu war.
Es gibt den Slogan der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) «From the river to the sea, Palestine will be free». Palästina werde vom Fluss bis zum Meer frei sein, bedeutet das auf Deutsch. In Berlin ist dieser Slogan inzwischen strafbar. Wie bewerten Sie ihn?
Er kann zwei Bedeutungen haben. Erstens: Es ist ein Aufruf dazu, den Staat Israel auszulöschen und seine Bewohnerinnen und Bewohner zu vertreiben oder zu ermorden. Diese Interpretation führte wahrscheinlich zum Verbot in Berlin, abgesehen von «normalen» Sicherheitsvorkehrungen.
Und zweitens?
Die zweite Interpretation trage ich selbst im Herzen: Die Region soll vom Jordan bis zum Mittelmeer frei sein von Krieg und Diskriminierung. Das bedeutet, der Nahostkonflikt wird friedlich gelöst, entweder mit einer Zweistaatenlösung oder mit einem Staat, der allen Bewohnerinnen und Bewohnern vom Jordan bis zum Mittelmeer volle Rechte garantiert. Leider ist die Zweistaatenlösung inzwischen wortwörtlich verbaut worden – mit israelischen Siedlungen.
Also bleibt noch die Einstaatenlösung?
Es geht um einen Einheitsstaat in einer Form, die noch zu finden ist. Zum Beispiel ein föderalistischer Staat oder ein Staatenbund.
Sie denken also an die Schweiz als Beispiel mit vier Sprachen, diversen Religionen und 26 Kantonen?
Es muss zu einer Lösung dieser Art kommen. Sei es mit zwei Staaten oder mit einem Staat, in dem alle Menschen miteinander leben können, in gegenseitigem Respekt ihrer Diversität.
Haben Sie Hoffnung, dass das möglich ist?
Ich habe eine Hoffnung. Sie beruht auf den vielen Organisationen im Nahen Osten, die mit Palästinensern und jüdischen, muslimischen und christlichen Israeli zusammenarbeiten – sei es im rechtlichen, sozialen und medizinischen Bereich. Wo anders auf der Welt als im Nahen Osten setzen sich so viele Menschen in einer derart angespannten Situation schon so lange mit konkreten Aktivitäten für Frieden und Menschenrechte ein?
Das gibt Ihnen Hoffnung?
Ja. Nur müsste man diese Organisationen auch unterstützen. Leider suspendierte die Schweiz ihre Hilfe nach dem 7. Oktober.
Sie strich elf Hilfsorganisationen im Nahen Osten das Geld. Das ist falsch?
Mehr als falsch. Das ist eine Schwächung der Friedensbewegung auf beiden Seiten.
Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz in diesem Konflikt generell? Sie unterstützte die UNO-Resolution für einen Waffenstillstand.
Ich halte mich zurück mit Kritik am Bundesrat und will mich nicht in die Details der Schweizer Diplomatie begeben. Was ich aber kritisiere: Dass die Schweiz jenen Organisationen im Nahen Osten die Hilfe strich, die Frieden und Zusammenarbeit in der Zivilgesellschaft fördern. Sie tun das mit grossem Einsatz und oft in grosser Einsamkeit. Dabei sind sie, die Palästinenser noch mehr als die Israeli, grossen Gefahren ausgesetzt.
Es fällt auf, dass Bundespräsident Alain Berset kaum zu hören ist in diesem Konflikt. Zwar forderte er am Tag nach dem Terrorakt ein sofortiges Ende der Gewalt. Aber es war Bundesrat Albert Rösti, der am 16. Oktober an einer Gedenkveranstaltung in der Synagoge Bern seine Solidarität für die Opfer des Terrors in Israel bekundete. Sagen Sie dazu etwas?
Nein.
Auch in Lausanne gab es eine Trauerfeier für die israelischen Opfer. Die Regierung war mit drei Mitgliedern vertreten. Ebenfalls eingeladen waren die Waadtländer Parlamentsmitglieder. Es kamen aber keine linken Parlamentarier. Haben diese ein Israel-Problem?
Es ist sicher kein allgemeines Problem der Linken. Aber sie sind natürlich viel kritischer gegenüber der rechtsorientierten israelischen Regierung, der Besatzung der Gebiete und der Siedlungsbewegung. Individuell kann es dazu Linke geben, die sich einseitig mit dem vermeintlich Schwächeren identifizieren, obwohl diese Haltung der Komplexität des Nahen Osten nicht gerecht wird.
Zwei SP-Politiker mit jüdischem Hintergrund – Daniel Jositsch und Roger Nordmann – wollen Bundesrat werden. Wäre es wichtig, dass in dieser Zeit jemand mit jüdischem Hintergrund in die Regierung gewählt wird?
Vor allem in der aktuellen Situation darf man Politiker nicht auf ihren jüdischen Hintergrund reduzieren. Es geht nicht um ein Problem, zu dem sich hauptsächlich Juden äussern müssen. Der Krieg geht uns alle an.
Sie selbst waren das erste Bundesratsmitglied mit jüdischem Hintergrund. Bei Ihrer Wahl spielte das aber keine Rolle. Oder erlebten Sie das anders?
Die Frage stellte sich nicht, weil die Nichtwahl von Christiane Brunner am 3. März 1993 zu einer Krisensituation führte. Als das Parlament danach eine der offiziellen sozialdemokratischen Kandidatinnen wählte und die Zauberformel nicht in Frage stellte, waren alle erleichtert. Deswegen blieb fast unbemerkt, dass ich jüdischer Abstammung bin.
In Ihrer Amtszeit wurde Ihre Abstammung aber doch zum Thema, als es um die nachrichtenlosen jüdischen Vermögen auf Schweizer Banken ging.
In der Öffentlichkeit war das kein Thema. Im Bundesrat selbst gab es aber verschiedene Haltungen, wie man auf diese Krise reagieren soll. Sie dehnte sich aus zur Frage, welche Rolle die Schweiz im Zweiten Weltkrieg gespielt hatte.
Als Innenministerin setzten Sie sich für eine unabhängige Expertenkommission ein, die Bergier-Kommission. Diese untersuchte die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg.
Ich war gemeinsam mit Aussenminister Flavio Cotti direkt involviert in die Bewältigung der Krise. Das Departement des Innern, dem ich vorstand, ist zuständig für Stiftungen und für das Bundesarchiv. Da gab es natürlich Diskussionen. Ich war glücklich, dass ich einiges Vorwissen zur Geschichte der Schweiz im Zweiten Weltkrieg in die Regierung einbringen konnte, weil mich das Thema seit längerem interessiert hatte.
Warf man Ihnen damals in der Regierung als Bundesrätin jüdischer Abstammung unterschwellig doppelte Loyalität vor?
Ich weiss nicht, was in den Herzen und Köpfen der Menschen passiert. Eine Gefahr besteht aber immer, weil es die unterschwellige Vorstellung gibt, jüdische Menschen seien anders. Aber das sind sie nicht.
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Ruth Dreifuss wird als erste Frau Bundespräsidentin
Am 10. März 1993 wurde Ruth Dreifuss (SP) als Nachfolgerin von René Felber (SP) in den Bundesrat gewählt. Zuvor hatte das Parlament am 3. März 1993 Francis Matthey statt der offiziellen SP-Kandidatin Christiane Brunner gewählt. In der Folge war es zu einem heftigen Frauenprotest gekommen. Dreifuss wurde 1999 als erste Frau Bundespräsidentin. Sie war gleichzeitig das erste Bundesratsmitglied mit jüdischer Abstammung. Ruth Dreifuss, 83, wurde 1940 in St. Gallen geboren, wuchs aber in Genf auf, machte dort das Lizenziat in Wirtschaftswissenschaften und ist Ehrendoktorin verschiedener Universitäten, etwa der Universität Haifa. (att)
(https://www.bzbasel.ch/schweiz/interview-antisemitismus-koennte-wieder-salonfaehig-werden-alt-bundesraetin-ruth-dreifuss-ist-besorgt-und-warnt-israel-ld.2538870)