Medienspiegel 8. November 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++AARGAU
Aargau: Bundesamt für Migration zu Problemen mit Flüchtlingen
Im Aargauer Kantonsparlament waren am Dienstag kritische Töne rund um das Asylzentrum des Bundes in Brugg zu hören. Zwischenfälle würden sich häufen. Die Regierung muss nun Massnahmen vorschlagen, wie das Sicherheitsgefühl verbessert werden kann. Was sagt das Bundesamt für Migration zur Kritik?
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/aargau-bundesamt-fuer-migration-zu-problemen-mit-fluechtlingen?id=12484266
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/aargauer-kantonsparlament-will-sicherheitsgefuehl-erhoehen?id=12484116
-> https://www.telem1.ch/aktuell/mehr-sicherheit-braucht-es-rund-um-asylzentren-massnahmen-wie-vom-grossen-rat-gefordert-154767865


+++THURGAU
Ukraine-Flüchtlingen unkompliziert geholfen: Gastfamilien ernten viel Lob vom Grossen Rat und von der Regierung
Die Thurgauer Bevölkerung hat beim Ausbruch des Krieges in der Ukraine viel Gastfreundschaft bewiesen bei der Aufnahme von Schutzsuchenden. Zu diesem Schluss kommt nicht nur der Regierungsrat in seiner Antwort auf eine entsprechende Interpellation. Auch alle Fraktionen im Grossen Rat sind voll des Lobes für die Gastfamilien.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/ukraine-fluechtlinge-ukraine-fluechtlingen-unkompliziert-geholfen-gastfamilien-ernten-viel-lob-vom-grossen-rat-und-von-der-regierung-ld.2539107


+++SCHWEIZ
Gefährliche Gastfreundschaft
Ein entfernter Verwandter steht vor der Tür. Er wird höflich aufgenommen und bewirtet. Doch schon bald meldet sich die Polizei – und die Gastgeberin bekommt es mit der Strafjustiz zu tun.
https://www.republik.ch/2023/11/08/am-gericht-gefaehrliche-gastfreundschaft


Pushbacks in Griechenland: Das Elend an der Grenze beenden
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) teilt die Aufforderung der Organisation Ärzte ohne Grenzen, die völkerrechtswidrigen Pushbacks und alle gewalttätigen Massnahmen an der Grenze Griechenlands umgehend und dauerhaft einzustellen. Auch die Schweiz muss sich dafür einsetzen, dass Verantwortung und Recht an den europäischen Aussengrenzen konsequent eingehalten und durchgesetzt werden.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/2023/pushbacks-griechenland
-> https://www.msf.ch/de/neueste-beitraege/pressemitteilung/asylsuchende-griechenland-gefesselt-geschlagen-und-ins-meer


Schweizer Politiker zu Giorgia Melonis Albanien-Deal: FDPler findet Abschreckung erfolgversprechend
Asylsuchende überqueren das Mittelmeer, um in den Schengenraum zu gelangen. Doch sie dürften bald unfreiwillig in Albanien landen. Denn dort hin will sie Italien fürs Verfahren bringen. Schweizer Politikerinnen und Politiker bewerten den Albanien-Deal unterschiedlich.
https://www.blick.ch/politik/schweizer-politiker-zu-giorgia-melonis-albanien-deal-fdpler-findet-abschreckung-erfolgversprechend-id19124860.html


+++DEUTSCHLAND
Einigung zwischen Bund und Ländern: Pro Asyl bezeichnet Asylverfahren in Drittländern als „Irrweg“
Die Auslagerung in Länder außerhalb Europas birgt aus Sicht von Pro Asyl menschenrechtliche Risiken. Die Drittländer könnten ihre „Türsteher-Rolle für Europa“ ausnutzen.
https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-11/pro-asyl-asylverfahren-auslagerung-irrweg-menschenrechtsverletzung
-> https://www.proasyl.de/news/historischer-moment-der-entrechtung-und-abschottung/


Bundesregierung droht ziviler Seenotrettung mit bis zu 5 Jahren Haft
Laut Bericht der Süddeutschen Zeitung plant das Innenministerium in einem Gesetzesentwurf “zur Verbesserung der Rückführung”, dass zivile Seenotretter:innen zukünftig als Kriminelle verfolgt werden können. Nach dem von Innenministerin Faeser dem Kabinett vorgelegten Entwurf drohen für die Rettung von Menschen aus Seenot zukünftig bis zu 5 Jahre Haft.
https://sea-watch.org/bundesregierung-droht-mit-bis-zu-5-jahren-haft/
-> https://twitter.com/seawatchcrew/status/1722300450685300785


+++ITALIEN
Italien und Albanien: Das Sterben im Mittelmeer wird weitergehen
Italien will Asylsuchende in Albanien unterbringen. Die albanische Regierung verspricht sich davon mehr Gehör in der EU. Ausgeklügelt scheint der Plan aber nicht.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-11/italien-albanien-migration-aufnahme-eu/komplettansicht


+++EUROPA
Migrationsforscherin: „Abschotten, Abschrecken, Auslagern hat nichts gebracht“
Die Auslagerung von Asylverfahren in Drittstaaten sei keine Lösung, Geflüchtete könne man nicht dauerhaft zurückhalten, so Migrationsforscherin Kohlenberger. Wichtig wäre, auf alle EU-Mitglieder einzuwirken, wieder Asylverantwortlichkeit zu übernehmen.
https://www.deutschlandfunk.de/mehr-als-symbolpoltik-wie-realistisch-sind-asylverfahren-ausserhalb-der-eu-dlf-fa177105-100.html


+++UGANDA/SENEGL
Uganda und Senegal: Afrikas unterschiedliche Asylsysteme
In Afrika haben fast alle Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention und die „afrikanische Flüchtlingskonvention“ unterschrieben. Uganda nimmt mit 1,5 Millionen am meisten Geflüchtete auf. Im politisch stabilen Senegal dagegen suchen wenige Schutz.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/uganda-und-senegal-afrikas-unterschiedliche-asylsysteme-dlf-kultur-ac526e90-100.html


+++GASSE
Von Crack bis Hustensaft: Hat die Schweiz ein Drogenproblem?
Spritzen auf dem Spielplatz, bewusstlose Abhängige im Stadtpark, Gewalt in Anlaufstellen: In verschiedenen Schweizer Städten spielen sich Szenen ab, die Erinnerungen an die 90er-Jahre wachrufen. Gleichzeitig gibt es neue Gefahren, seit Drogen mit wenigen Klicks über das Internet verfügbar sind.
Was ist passiert, dass der Drogenkonsum plötzlich wieder so sichtbar ist? Wie muss diesen Problemen begegnet werden, um zu verhindern, dass mehr Menschen in die Abhängigkeit rutschen? Ein «Club» mit Betroffenen, Fachleuten und politischen Verantwortlichen.
https://www.srf.ch/play/tv/club/video/von-crack-bis-hustensaft-hat-die-schweiz-ein-drogenproblem?urn=urn:srf:video:158d43e2-e691-400e-b8a5-d51efeb87eb9


Armut nimmt zu: Gassenküche St.Gallen hat immer mehr Gäste
Die Inflation, steigende Mieten und Krankenkassenprämien machen gerade Menschen am Existenzminimum zu schaffen. Immer mehr Armutsgefährdete rutschen endgültig in die Armut ab. Dies spürt auch die Gassenküche in St.Gallen – und platzt bald aus allen Nähten.
https://www.tvo-online.ch/aktuell/armut-nimmt-zu-gassenkueche-st-gallen-hat-immer-mehr-gaeste-154768534


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
BE:
Regeln für Kundgebungen ab Mitte November
In den kommenden Wochen finden in der Berner Innenstadt zahlreiche Veranstaltungen und Grossanlässe statt. Zudem stehen mit der Adventszeit verschiedene bewilligte Weihnachtsmärkte sowie andere Winteranlässe bevor, welche eine Vielzahl von Besucher*innen anziehen. Im Zeitraum ab dem 17. November bis und mit 24. Dezember 2023 können in der Innenstadt keine Grosskundgebungen oder Umzüge bewilligt werden. Da die öffentlichen Plätze in der Innenstadt bereits stark genutzt und viele Flächen insbesondere durch Weihnachtsmärkte besetzt sind, fliessen auch sicherheitsrelevante Überlegungen in diese Handhabung ein. Kleinere Kundgebungen, beispielsweise Mahnwachen, können in der Innenstadt nach wie vor bewilligt werden. Auch im restlichen Stadtgebiet sind Kundgebungen möglich.
https://www.bern.ch/mediencenter/medienmitteilungen/aktuell_ptk/regeln-fuer-kundgebungen-ab-mitte-november
-> https://www.derbund.ch/news-ticker-bern-region-kanton-polizei-verkehr-politik-kultur-216-290281918894
-> https://www.20min.ch/story/berner-gemeinderat-bewilligt-keine-kundgebungen-940330631354
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/stadt-bern-verbietet-ab-mitte-november-grosse-kundgebungen?id=12484293
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/stadt-bern-will-keine-grossdemos-mehr-bis-weihnachten-154760663
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/bis-weihnachten-bern-verbietet-grosse-demonstrationen-in-der-innenstadt
-> https://www.watson.ch/schweiz/bern/763913339-stadt-bern-will-keine-grossdemos-mehr-bis-weihnachten
-> https://www.nau.ch/politik/regional/stadt-bern-will-bis-heiligabend-keine-demos-mehr-66645685
-> https://twitter.com/Amnesty_Schweiz/status/1722265521239085314
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/stadt-bern-verbietet-demos-bis-heiligabend-154768158
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/keine-demos-mehr-in-bern-sollen-pro-palaestina-kundgebungen-in-der-schweiz-verboten-werden
-> https://www.20min.ch/story/bern-voellig-unverhaeltnismaessig-heftige-reaktionen-auf-demostopp-475306806075
-> https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft%20&%20politik/609924062-widerrechtlich-demokratische-juristen-und-sp-kritisieren-demo-verbot


«Verstoss gegen Verfassung»: Staatsrechtler kritisiert Bern wegen Demoverbot
Volle Agenda und «angespannte Stimmung»: Im Zentrum der Bundesstadt sind bis Weihnachten grössere Kundgebungen untersagt. Das sorgt für Kritik.
https://www.derbund.ch/demo-verbot-in-bern-staatsrechtler-spricht-von-verstoss-gegen-verfassung-342693383255



derbund.ch 08.11.2023

Besorgter Berner Sicherheitsdirektor: «Es gibt eine antisemitische Stimmung, wie ich sie noch nie erlebt habe»

Regierungspräsident Philippe Müller (FDP) ruft dazu auf, von weiteren Palästina-Demos abzusehen. Die Gefahr von Gewaltakten sei zu gross.

Bernhard Ott

Wie haben Sie die propalästinensische Kundgebung auf dem Bundesplatz erlebt?

Ich war vor Ort und hatte sehr gemischte Gefühle. Es gab radikale Elemente und Einpeitscher. Für weitere Demonstrationen muss man negative Prognosen stellen. Es könnte zu Gewalt und strafbaren Handlungen kommen. Zu diesem Schluss komme ich im Rahmen einer Lagebeurteilung in Zusammenarbeit mit der Polizei und dem polizeilichen Nachrichtendienst. Wenn Manifestierende sich gegen die Schweiz wenden, Polizisten anspucken und auf Kommando den Stinkefinger gegen das Bundeshaus erheben, wird das Gastrecht definitiv missbraucht. Daher rufe ich dazu auf, von weiteren solchen Kundgebungen abzusehen.

Allein wegen eines möglichen Gefahrenpotenzials?

Es geht nicht um ein Potenzial, sondern um eine hohe Wahrscheinlichkeit von Gewalt bei einer nächsten solchen Kundgebung. Zudem ist die Innenstadt mit dem Besuch des französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron, dem Zibelemärit und dem Match YB – Roter Stern Belgrad sowie den Weihnachtsmärkten mehr als ausgelastet. Auch haben die Leute genug von Demonstrationen.

Was befürchten Sie konkret?

Bei einem nächsten Anlass könnte es zu mehr Gewalttätigkeiten und mehr Fahnen mit verbotenen Inhalten kommen. Wenn es deutlich mehr Transparente und Fahnen geben sollte, die man aus der Kundgebung herausholen muss, wird es kritisch. Das Ganze würde kontraproduktiv. Wer für den Frieden ist, kann kein Interesse daran haben.

Gibt es konkrete Hinweise auf noch radikalere Kreise, die kommen könnten?

In der deutschen Stadt Essen gab es eine Kundgebung, bei der man die Einführung des Kalifats in Deutschland gefordert hat. Niemand kann garantieren, dass solche Leute nicht auch in die Schweiz kommen und die Stimmung anheizen. Da muss man sich schon fragen, ob das noch durch die Meinungs­äusserungs­freiheit gedeckt werden soll.

Von deutschen Zuständen sind wir noch weit entfernt.

Ja, noch. Aber man muss bei der Integration auch nicht träumen. «Wir schaffen das» hat nicht funktioniert. Die Deutschen haben es nicht geschafft. Und jetzt gibt es extremistische Elemente in Deutschland. Dieser Realität muss man ins Auge schauen.

Die Kundgebungsverbote am Wahlwochenende wurden von Staatsrechtlern kritisiert. Es brauche mehr als Hinweise auf die gespannte Lage für ein Verbot. Kommt Ihr Appell, weil ein Verbot rechtlich nicht haltbar wäre?

Nein. Wir haben nicht geprüft, ob ein Verbot legitim wäre. Zudem ist die Bewilligungsbehörde die Stadt Bern und nicht der Kanton.

Haben Sie sich mit dem Berner Gemeinderat abgesprochen?

Ich habe im Regierungsrat und später auch mit Gemeinderat Reto Nause darüber diskutiert. Es ist aber die Kantonspolizei, die die Einsätze ausführen muss. Der Aufruf kommt von mir als kantonalem Sicherheitsdirektor.

Was soll tun, wer seiner Meinung Ausdruck geben möchte?

Es gab ja nun schon mehrere Demos. Man könnte auch eine Mahnwache organisieren, zum Beispiel auf dem Rosalia-Wenger-Platz in der Wankdorf-City.

Sie sehen keinen Konflikt zwischen Ihrem Appell und der Meinungs­äusserungs­freiheit?

Nein. Die Meinungs­äusserungs­freiheit kann auch missbraucht werden, indem Leute an einer Demonstration für Frieden extreme Parolen skandieren. Der Missbrauch der Meinungsfreiheit ist nicht geschützt.

Wie erleben Sie die Stimmung im Land seit dem 7. Oktober?

Es gibt eine antisemitische Stimmung, wie ich sie noch nie erlebt habe und auch nicht für möglich gehalten hätte. Als im Geschichtsunterricht in der Schule von Antisemitismus die Rede war, hielt ich das für eine Sache von rechtsextremen «Spinnern». Aber die Parolen, die heute gesprayt und skandiert werden, sind schockierend.

Und das kommt nicht nur von «Spinnern»?

Früher kamen solche Sprüche fast nur von rechts. Heute ist es leider so, dass der Antisemitismus auch links verankert ist. Darum ist die Situation auch wesentlich bedrohlicher. Antisemitismus ist einfach nicht akzeptabel in der Schweiz. Es ist eine besondere Tragik, dass sich just in diesen Tagen die Reichs­kristall­nacht zum 85. Mal jährt. Und ich habe den Eindruck, dass man in Nachkriegseuropa noch nie so nahe bei den damaligen Zuständen war wie heute. In der Schweiz scheinen noch nicht alle gemerkt zu haben, welche Auswirkungen die internationale Lage auf unser Land hat. In dieser Situation braucht es keine Demonstrationen, von denen man weiss, dass sie durch Extremisten missbraucht werden könnten.

In Steffisburg wurde eine Lesung aufgrund einer Beurteilung der Polizei abgesagt.

Der Entscheid der Organisatoren war richtig. Aber dass wir wieder so weit sind, dass Anlässe wegen möglicher Gewalt abgesagt werden müssen oder nicht angekündigt werden dürfen, ist inakzeptabel. Die einen kündigen ihre Kundgebungen an und machen Lärm, und die anderen kündigen ihre Anlässe aus Angst vor Anschlägen gar nicht erst an – wie die Gedenkanlässe für die Opfer der Hamas-Massaker auf dem Bundesplatz.
(https://www.derbund.ch/palaestina-demos-in-bern-sicherheitsdirektor-mueller-ruft-zu-demoverzicht-auf-422068231362)

-> https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/berner-sicherheitsdirektor-gegen-weitere-palaestina-proteste-154753005
-> https://www.20min.ch/story/berner-sicherheitsdirektor-gegen-weitere-palaestina-demos-529957854273
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/keine-demos-bis-heiligabend-die-stadt-bern-erlaesst-ein-verbot?id=12484581 (ab 02:34)

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ZH:
nzz.ch 08.11.2023

Der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr warnt: «Anti-Israel-Demonstrationen werden zunehmend von Extremisten gekapert»

Der Regierungspräsident findet es fahrlässig, dass die Stadt Zürich hasserfüllte Palästina-Kundgebungen bewilligt. Seinen Unmut hat er den städtischen Behörden mitgeteilt – «mit Nachdruck».

Daniel Fritzsche

Herr Fehr, antisemitische Vorfälle nehmen in der Schweiz und in Zürich zu. Besorgt Sie das als Sicherheitsdirektor?

Mario Fehr: Ja, ich bin sehr besorgt. Der grassierende Antisemitismus ist unerträglich. Jüdische Freunde berichten mir von üblen Beschimpfungen und Anfeindungen. An Hauswänden lese ich Sprüche wie «Tod den Juden». Das dürfen wir in einem toleranten, friedlichen Land nicht zulassen. Unsere jüdischen Mitbürger verdienen Schutz und Sicherheit – so wie alle Bewohner der Schweiz. Diesen Donnerstag gedenken wir der Opfer der Reichspogromnacht vor 85 Jahren. So weit darf es nie mehr kommen.

Woher rührt der Hass?

Der Antisemitismus ist tief verwurzelt in Teilen der Gesellschaft. Nun tritt er an die Oberfläche.

Ist das Problem ein gesamtgesellschaftliches, oder gibt es Gruppen, die besonders anfällig sind für Antisemitismus?

Wir sehen an Palästina-Demonstrationen, dass der Antisemitismus in bestimmten Kulturkreisen stärker verbreitet ist. Namentlich in Teilen des arabischen Raumes lernen Kinder von klein auf, Juden und Israel zu hassen. Wir müssen aufpassen, dass wir diesem Hass bei uns keinen Raum geben.

Das heisst?

Deutschland sollte uns eine Lehre sein. In Essen haben Demonstranten vor ein paar Tagen die Errichtung eines Kalifats gefordert. Frauen und Männer marschierten getrennt. Solche Leute sind eine Gefahr für die innere Sicherheit eines Landes. Die Integration hat in Deutschland offensichtlich versagt. In deutschen Städten werden solche hasserfüllten Demonstrationen nun zu Recht nicht mehr bewilligt.

Was hat das mit der Schweiz zu tun?

Ich will keine deutschen Verhältnisse auf Schweizer Plätzen. Auch bei uns finden Anti-Israel-Demonstrationen statt, die zunehmend von Extremisten gekapert werden. Sie haben die Auslöschung Israels und aller Juden zum Ziel. Die Gefahr, dass Islamisten aus Deutschland oder anderen Ländern nun in die Schweiz ausweichen und ihren Hass verbreiten, ist real. In Bern hat letzten Samstag eine grosse Palästina-Demo stattgefunden, die nächste ist für dieses Wochenende in der Stadt Zürich geplant und bewilligt worden. Ich halte das für fahrlässig.

Warum schreiten Sie als kantonaler Sicherheitsdirektor nicht ein?

Ich habe die zuständige städtische Sicherheitsvorsteherin mit Nachdruck darauf hingewiesen, in der derzeitigen, gefährlichen Lage keine weiteren Palästina-Demos zu bewilligen. Solche Demonstrationen können rasch ausarten und sind schwer kontrollierbar. Die Gemeinden, die im Kanton Zürich für Demo-Bewilligungen zuständig sind, sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein.

Die Stadt Bern hat am Mittwoch angekündigt, grosse Demos im Zentrum bis Weihnachten zu unterbinden. Die Meinungsäusserungs- und die Versammlungsfreiheit sind aber wichtige Grundrechte. Sie sollten nur in absoluten Ausnahmefällen eingeschränkt werden.

Natürlich. Aber wenn hasserfüllte Parolen skandiert und Demos von Extremisten unterwandert werden, hat das nichts mit Meinungsfreiheit zu tun. Gegen Mahnwachen und stille Anteilnahme im öffentlichen Raum ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil. Es gibt viele Menschen, die zurzeit in echter Sorge und Trauer sind – sei es für die Opfer der Hamas-Terrorattacken, für die von der Hamas in Gaza festgehaltenen Geiseln oder die Zivilbevölkerung in Israel und Gaza.

Wird die Kantonspolizei die Stadtzürcher Behörden weiter unterstützen – obschon die Stadt solche Demonstrationen zulässt?

Wir werden wie bis anhin jüdische Einrichtungen beschützen. Mit allen Mitteln, die uns zur Verfügung stehen.
(https://www.nzz.ch/zuerich/mario-fehr-und-israel-antisemitismus-ist-besorgniserregend-ld.1764679)


BS:
Demo-Verbot: Basler Linke kritisieren Sicherheitsdirektorin scharf
Die Basler Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann steht nach einem allgemeinen Demonstrationsverbot im Oktober in der Kritik.
https://www.nau.ch/politik/regional/demo-verbot-basler-linke-kritisieren-sicherheitsdirektorin-scharf-66645828
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/demo-verbot-sorgt-fuer-hitzige-debatte-im-basler-parlament?id=12484602
-> https://primenews.ch/articles/2023/11/demo-verbot-eymann-schweigt-zu-einsatzkosten
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/grosser-rat-von-linker-seite-unter-beschuss-stephanie-eymann-verteidigt-demoverbot-ld.2539333
-> https://www.baseljetzt.ch/eymann-verteidigt-demoverbot-vom-oktober/145418



Basler Zeitung 08.11.2023

Linke kritisieren Eymann: Basler Demo-Verbot hat politisches Nachspiel

Rot-Grün deckt die Regierung mit Vorstössen ein. Im Fokus der Kritik steht vor allem die Sicherheitsdirektorin. Es stellen sich auch juristische Fragen.

Oliver Sterchi

Es war ein in der jüngeren Geschichte des Stadtkantons einmaliger Vorgang: Am 18. Oktober erliess die Kantonspolizei für das folgende Wochenende ein allgemeines Demonstrations- und Kundgebungsverbot. Die Behörden begründeten dies mit der angespannten Sicherheitslage infolge des Nahost-Krieges (die BaZ berichtete).

An besagtem Wochenende war eine trinationale Kundgebung von Corona-Massnahmen-Gegnern angekündigt, die ursprünglich auch bewilligt worden war. Linksautonome Kreise hatten derweil zu einer Gegendemo aufgerufen. Beide Gruppierungen versammelten sich an jenem Samstag trotz des Verbots. Während die Massnahmengegner nach Weil am Rhein auswichen, wurden die Gegendemonstranten auf der Dreirosenanlage von der Polizei eingekesselt.

Das allgemeine Demoverbot sorgte seitens der politischen Linken von Anfang an für geharnischte Reaktionen. Die Rede war von einer völlig überrissenen und unverhältnismässigen Massnahme, welche die Grundrechte ausheble. Die Sache hat nun ein politisches Nachspiel für die verantwortliche LDP-Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann: Anfang Woche haben Grossrätinnen und Grossräte von SP, Grünen und Basta gleich drei Vorstösse im Parlament eingereicht, die kritische Fragen zum Demoverbot, zum Polizeieinsatz an jenem Samstag sowie zu den daraus entstandenen Kosten stellen.

Kampfansage an Eymann?

Die Interpellationen stammen von Lisa Mathys (SP), Raffaela Hanauer (Grüne) und Nicola Goepfert (Basta). Mathys fokussiert auf die Kosten des Polizeieinsatzes sowie auf die Kritik, welche die UNO am Kundgebungsverbot geäussert hatte. «Wie positioniert sich die Basler Regierung zu dieser Kritik?», will sie wissen. Hanauer rückt die rechtsstaatlichen Fragen in den Vordergrund und stellt die Rechtsgrundlage der besagten Verfügung zur Debatte. Goepfert will unter anderem in Erfahrung bringen, ob die Regierung den Polizeieinsatz als verhältnismässig beurteilt.

Drei Vorstösse zum selben Thema – ist das als Kampfansage der Linken an die Adresse von Eymann zu verstehen? «Dieses Demoverbot war schweizweit einmalig und stellte einen schweren Eingriff in die Grundrechte dar. Deshalb ist es dringend angezeigt, kritische Fragen zu stellen», sagt Grünen-Grossrätin Raffaela Hanauer zur BaZ. «Wir wollen fundierte Antworten von der Regierung zu diesem Vorgang.» Sicherheitsdirektorin Eymann müsse endlich «Verantwortung übernehmen», so Hanauer.

Die politische Linke stört sich nämlich auch daran, dass die Verfügung der Polizei nicht unterzeichnet war, dass also gar nicht klar ist, wer für diesen Schritt verantwortlich ist.

«Tendenz zu immer mehr Repression»

In den Vorstössen wird auch eine generelle Unzufriedenheit von Rot-Grün mit der Amtsführung von Eymann deutlich. Das Demoverbot wird dabei als jüngstes Glied in einer Kette von Eskalationsschritten betrachtet, die mit der Einkesselung der Frauendemo am 8. März begann und im Grosseinsatz der Polizei am 1. Mai eine neue Dimension erreichte.

«Wir stellen seitens der Polizei eine Tendenz fest, die immer mehr in Richtung Eskalation und Repression geht», sagt SP-Grossrätin Lisa Mathys. Es gebe «keine Verhältnismässigkeit mehr». Dabei bräuchte es jetzt «eine Strategie der Deeskalation». Mathys beschreibt diese Tendenz gar als «gefährlich»: «Mit einem radikalen Demoverbot die Grundrechte auszuhebeln, ist ein sehr gravierender Schritt, da müssen wir genau hinschauen.»

Das Demoverbot wird nicht nur politisch aufgearbeitet, sondern auch juristisch. Die Basler Sektion der «Demokratischen Juristinnen und Juristen» hat zusammen mit SP, Basta und Grünen im Nachhinein Rekurs dagegen eingereicht. Obschon die Verfügung nur für knapp 48 Stunden galt.

Das sagt der Staatsrechtler

«Darum geht es nicht», betont Christian von Wartburg von den «Demokratischen Juristen», «sondern um die gründliche Überprüfung des Prozesses, der zu dieser Verfügung geführt hat.» Gemäss der Einschätzung von von Wartburg wäre nämlich der Gesamtregierungsrat für den Erlass eines solchen generellen Verbots zuständig gewesen, nicht die Polizei. Dies müsse nun von einem Gericht geklärt werden. Denn: «Ein solches Szenario kann sich jederzeit wiederholen. Eine Klärung ist wichtig.»

Gemäss Staatsrechtsprofessor Markus Schefer von der Uni Basel ist die entscheidende Frage, ob die Allgemeinverfügung der Polizei nicht vielmehr als Verordnung betrachtet werden muss, da das Verbot pauschal ausgesprochen wurde. «Und eine solche Verordnung hätte nur der Gesamtregierungsrat erlassen können.» Eine Allgemeinverfügung hingegen beschränke sich auf sehr spezifische Geltungsbereiche, etwa die Sperrung einer bestimmten Strasse durch die Polizei. Diese Frage abschliessend zu klären, sei aber Sache des Gerichts.
(https://www.bazonline.ch/linke-kritisieren-eymann-basler-demo-verbot-hat-politisches-nachspiel-284915097843)

-> https://www.nau.ch/politik/regional/demo-verbot-basler-linke-kritisieren-sicherheitsdirektorin-scharf-66645828



SG:
tagblatt.ch 08.11.2023

«Es war keine Eskalation zu erwarten» – St.Galler Regierung nimmt erstmals zu Eritrea-Demonstrationen Stellung

Erstmals seit den Ausschreitungen von Flüchtlingen aus Eritrea nimmt die St.Galler Regierung Stellung. Grund für die Stellungnahme war eine Anfrage eines SVP-Politikers, der hartes Durchgreifen verlangte.

Raphael Rohner

Sie kamen in Scharen nach Oberuzwil und gingen gegen ihre eigenen Landsleute vor, damit diese keine Propaganda aus ihrem Heimatland Eritrea verbreiten: Hunderte Menschen, die ursprünglich aus Eritrea vor einem Regime geflohen sind, dessen Anhänger in der Schweiz Steuern eintreiben und die Propaganda ihres Diktators verbreiten. Plötzlich geriet Oberuzwil in den Strudel eines Konflikts der eritreischen Diaspora. Hunderte Oppositionelle demonstrierten gegen eine als «Kulturfestival» getarnte Propaganda-Aktion der Regimeanhänger.

«Die Polizei hatte mich vor der Sache gewarnt, und ich habe den Fehler gemacht, nicht auf sie zu hören», sagt Vermieter Hans Müggler heute, zwei Monate nach dem Aufmarsch der eritreischen Oppositionellen vor seinem Kulturlokal «Alte Gerbi».

Die Polizei musste mit einem Grossaufgebot in Oberuzwil auffahren, um die erzürnten Eritreer davon abzuhalten, das «Kulturfestival» ihrer Landsleute zu stören. Die Oppositionellen, die nach Oberuzwil gereist waren, vermuteten, dass das «Kulturfestival» eine getarnte Propagandaveranstaltung von Anhängern des Diktators sei. Vor Ort wurden sie jedoch von der Polizei eingekesselt und von der «Alten Gerbi» weggeführt. Ins Innere der Lokalität konnte niemand. Der Vermieter sagt heute: «Ich war nach der ganzen Sache noch einmal drin und wie ein Familienfest sah das nicht aus: Es hingen überall Flaggen.»

Kantonsrat bezeichnet Eritreer als Extremisten

Im St.Galler Kantonsrat wurden kurz nach den Auseinandersetzungen in Oberuzwil und im Zürcher Opfikon schnell Stimmen laut, die von der Regierung Antworten dazu verlangten. SVP-Kantonsrat Sascha Schmid aus Buchs kritisierte, dass man die Veranstaltung nie hätte bewilligen dürfen: «Im Kanton St.Gallen besteht mit dem Polizeigesetz Artikel 50 eine Rechtsgrundlage zur Bekämpfung von extremistischen Veranstaltungen.» Das Gesetz, dass seit 2020 in Kraft ist, ermöglicht es den Behörden, auf kantonaler Ebene bereits erteilte Bewilligungen für Veranstaltungen extremistischer Gruppierungen wieder zu entziehen.

Damit stellt Schmid die Veranstalter des «Festivals» auf die gleiche Ebene wie etwa das vom Kanton im Jahr 2022 abgesagte Nazi-Konzert von Kaltbrunn. Schmid stuft die eritreischen Gruppierungen als extremistisch ein. Die St.Galler Regierung weist dies jedoch zurück. Sie schreibt dazu: «Die Befürwortung oder die Ablehnung des Regimes in Eritrea oder eine tätliche Auseinandersetzung reicht nicht aus, um jemanden als Mitglied einer extremistischen Organisation zu betrachten.»

Polizei schätzte die Lage falsch ein

Nun hat die Regierung des Kantons die Fragen des SVP-Kantonsrats schriftlich beantwortet – mit einem erstaunlichen Ergebnis: «Die Lagebeurteilung der Kantonspolizei hat damals ergeben, dass vom bewilligten Anlass keine Eskalation zu erwarten sei.» Dies trotz zahlreicher Medienberichte über ähnliche Festivals. In Giessen (D) beispielsweise wurden mehrere Polizisten und Demonstrierende verletzt, die Behörden erstatteten 181 Strafanzeigen. Die Antwort der Regierung enthält auch die Aussage, dass die Kantonspolizei St.Gallen nicht für die Beobachtung und Einschätzung des Extremismus- oder Gefährdungspotenzials dieser Gruppierungen zuständig sei – das sei Sache des Nachrichtendienstes. Dort hielt man sich jedoch bei mehreren Medienanfragen bedeckt und verwies auf die zuständige Kantonspolizei.

Auch die Thematik einer möglichen ausländerrechtlichen Untersuchung gegen die gewaltbereiten Demonstrierenden wurde im Bericht der St.Galler Regierung aufgenommen. SVP-Politiker Schmid will von der Regierung wissen, inwiefern der Kanton gegen die Menschen vorgehe, die an der Demonstration beteiligt waren. Schmid fragt die Regierung, ob der Kanton bereit sei, «extremistische eritreische Gruppierungen» zu verbieten und deren Mitglieder auszuweisen.

Der Kanton schreibt in seiner Antwort: «Ob allenfalls Personen von gewalttätigen, extremistischen Gruppierungen involviert waren, kann die Regierung nicht beurteilen.» Der Regierung sei ebenso nicht bekannt, über welchen ausländerrechtlichen Aufenthaltstitel die in die Massenschlägerei in Opfikon involvierten Personen verfügten. Es sei auch nicht Sache des Kantons, darüber zu urteilen und migrationsrechtliche Konsequenzen zu ziehen. Das sei Sache der Strafverfolgungsbehörden.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/eritrea-demonstrationen-es-war-keine-eskalation-zu-erwarten-stgaller-regierung-nimmt-erstmals-zu-eritrea-demonstrationen-stellung-ld.2538734)


+++JUSTIZ
Strategische Prozessführung vor den UN-Ausschüssen und Sonderberichterstatter*innen
Videoaufzeichnung des Workshops mit Stephanie Motz
Im Rahmen unserer Online-Workshopserie «How to UN Committee» fand am 18. Septemeber 2023 der Workshop «Strategische Prozessführung vor den UN-Ausschüssen und Sonderberichterstatter*innen» statt. Rechtsanwältin Dr. iur. Stephanie Motz sprach über ihre Erfahrungen mit diversen Verfahren an die UN-Ausschüsse (CAT, CEDAW, CERD, CRC und CED). Im Gespräch mit Katja Achermann teilte sie strategische Überlegungen zur nationalen und internationalen Prozessführung in den Bereichen Klima, Frauenrechte, Racial Profiling und Migration. Die Aufzeichnung des Gespräches sehen Sie im Video.
https://www.humanrights.ch/de/anlaufstelle-strategische-prozessfuehrung/tutorials/praxisbeispiele-anlaufstelle/strategische-prozessfuehrung-un-ausschuessen-sonderberichterstatterinnen


+++POLICE BE
Polizeigesetz bereit für die zweite Lesung
Die Sicherheitskommission des Grossen Rates hat die zweite Lesung des teilrevidierten Polizeigesetzes für die Wintersession 2023 vorberaten. Im Weiteren beantragt die Kommission Beiträge an den Neubau des Berner Tierzentrums und an eine zweite Eishockeyhalle in Langnau.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=457628ac-38bd-4e00-aff0-d966d434bee1
-> https://www.gr.be.ch/de/start/grosser-rat/aktuell.html?newsID=457628ac-38bd-4e00-aff0-d966d434bee1
-> https://www.derbund.ch/videoueberwachung-widerstand-gegen-lex-reitschule-haelt-an-517461720281
-> https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/gegner-fordern-lex-reitschule-abzuschwaechen-154758368


Debatte um Videoüberwachung: Widerstand gegen «Lex Reitschule» hält an
Ein neues Gesetz soll Gemeinden zur Videoüberwachung von Hotspots zwingen können. Eine Minderheit der Sicherheitskommission will dagegen vorgehen.
https://www.derbund.ch/videoueberwachung-widerstand-gegen-lex-reitschule-haelt-an-517461720281
-> https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/gegner-fordern-lex-reitschule-abzuschwaechen-154758368
-> https://www.gr.be.ch/de/start/grosser-rat/aktuell.html?newsID=457628ac-38bd-4e00-aff0-d966d434bee1
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/keine-demos-bis-heiligabend-die-stadt-bern-erlaesst-ein-verbot?id=12484581


+++POLIZEI TG
Thurgauer Grosser Rat entschärft umstrittenes Polizeigesetz
Das Thurgauer Kantonsparlament hat am Mittwochvormittag erneut das revidierte kantonale Polizeigesetz beraten. Die Fraktionen zeigten sich mit der Streichung umstrittener Bestimmungen einverstanden. Die Polizei soll demnach nicht das Recht erhalten, elektronische Geräte vorsorglich zu überprüfen.
https://www.toponline.ch/news/thurgau/detail/news/thurgauer-grosser-rat-entschaerft-umstrittenes-polizeigesetz-00224987/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/anna-goeldi-keine-wissenschaftliche-aufarbeitung?id=12484497



tagblatt.ch 08.11.2023

«Kein freudiges Ereignis, aber weise»: Der Handyparagraf fällt aus dem Polizeigesetz – alle Fraktionen einverstanden

Seit über einem Jahr bearbeiten Regierung und Grosser Rat im Thurgau die Revision des Polizeigesetzes. Uneinigkeit herrschte vor allem darüber, ob der Polizei das Recht eingeräumt werden sollte, im Verdachtsfall private Handys einzusehen. Der Grosse Rat hat sich dagegen entschieden, die Schlussabstimmung steht noch aus.

Thomas Wunderlin

Mit knapper Mehrheit – 62 Ja zu 56 Nein – hatte der Grosse Rat am 3. Mai den sogenannten Handyparagrafen ins neue Polizeigesetz eingefügt. «Herzlich willkommen im Schnüffelstaat», kommentierte Michèle Strähl, Rechtsanwältin und FDP-Kantonsrätin aus Weinfelden. Die Freisinnigen holten ein juristisches Kurzgutachten ein, das auf die fehlende Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht hinwies. Der öffentliche Protest, den auch diese Zeitung äusserte, tat seine Wirkung.

Bei der zweiten Lesung am 7. Juni schickte der Rat das Gesetz mit 125 zu 0 Stimmen zur Überarbeitung zurück in die Kommission. Diese legte wie erwartet eine neue Version der Vorlage ohne den umstrittenen Paragrafen vor. Diesen Mittwoch hat nun der Grosse Rat die zweite Lesung beendet und die Kommissionsfassung übernommen.

«Eine Rückweisung ist nie ein Freudenereignis für ein Mitglied der Regierung», sagte Regierungsrätin Cornelia Komposch (SP). Die Bedenken seien berechtigt gewesen. Das moderne, zielführende Gesetz werde schweizweit Beachtung finden. Es stütze die Polizisten in ihrer Arbeit. Sie hoffe, sagte die Polizeidirektorin, auch die Thurgauer Zeitung werde die Vorlage nicht mehr als missglückt bezeichnen.

«Kein freudiges Ereignis, aber ein weiser Entscheid», sagte Pascal Schmid (SVP, Weinfelden), der anstelle des zurückgetretenen Martin Stuber als Kommissionssprecher amtierte.

Dass es zwischen Bundes- und Kantonsrecht Grauzonen gebe, sei im föderalen Staat normal. Das Polizeigesetz solle die Verbrechensbekämpfung ermöglichen, ohne die Bürgerrechte zu beschränken. Der Paragraf 47, Absatz 3 – der Handyparagraf – sei nicht das Herzstück der Vorlage, «auch wenn die Medienberichte es vermuten liessen».

Die Polizei darf alles durchsuchen – ausser Handys

Die Thurgauer Kantonspolizei kann ohnehin Handys und Laptops durchsuchen, wenn sie einem Verdacht auf eine Straftat nachgeht. Das neue Polizeigesetz erlaubt es ihr, auch «zur Gefahrenabwehr und zur Fahndung» Bürger zu verpflichten, mitgeführte Sachen vorzuzeigen oder Behältnisse zu öffnen – Handys und Laptops hingegen nicht. Wie Schmid erklärte, ist die Durchsuchung elektronischer Geräte heikler als die Durchsuchung von Aktenmappen.

Gegenüber der Fassung der ersten Lesung hat die Kommission auch das Recht der Polizei eingeschränkt, zur Verhinderung von Menschenhandel und schwerer Betäubungsmitteldelikte Hotels und Erotikbetriebe zu durchsuchen. Nun ist keine allgemeine Durchsuchung zulässig, sondern nur eine Suche nach Personen. Schmid verwies bei diesem Punkt auf Polizeikommandant Jürg Zingg, der diesen Punkt als entscheidend bezeichnet habe.

Auch soll die Polizei in Asylunterkünften nur Personenkontrollen, keine Durchsuchungen vornehmen dürfen. Damit kann sie aber auch die Zimmer von minderjährigen Asylbewerbern durchsuchen, die von Pflegeeltern aufgenommen worden sind. Reto Ammann (GLP, Kreuzlingen) warnte davor, dass Pflegeeltern dadurch abgeschreckt werden könnten. «Ich kann garantieren», sagte Regierungsrätin Komposch, «dass die Polizei sensibel vorgeht».

Mit der Revision des Polizeigesetzes reagiert der Kanton Thurgau auf neuere Entwicklungen, insbesondere die Digitalisierung. Ein wichtiger Stellenwert kommt der Prävention und der Früherkennung von Personen mit hohem Gefahrenpotenzial zu, die zu einem Amoklauf oder einem Terroranschlag fähig sind. Die Polizei soll eingreifen können, bevor etwas passiert.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/thurgau-handyparagraf-definitiv-gestrichen-der-grosse-rat-verabschiedet-das-ueberarbeitete-polizeigesetz-ld.2538878)


+++RASSISMUS
Autorin Hami Nguyen über Rassismus: „Es fängt mit Sichtbarkeit an“
Nguyen fordert in ihrem Debüt eine Auseinandersetzung mit anti-asiatischem Rassismus. Dieser würde wenig beachtet, auch wegen positiver Stereotype.
https://taz.de/Autorin-Hami-Nguyen-ueber-Rassismus/!5968505/


+++HISTORY
Illegal adoptierte Kinder aus Sri Lanka: “Diese Wunden heilen nicht”
Die Wurzeln aus Sri Lanka wurden ihnen abgeschnitten, doch ganz schweizerisch fühlten sie sich auch nicht: Die Doktorandin Surangika Jayarathne zeigt mit ihrer Studie erstmals, welche Folgen die Adoption in die Schweiz für die betroffenen Kinder hatte.
https://www.swissinfo.ch/ger/illegal-adoptierte-kinder-aus-sri-lanka—diese-wunden-heilen-nicht-/48906664


Anna Göldi: Keine wissenschaftliche Aufarbeitung
Das Glarner Parlament will die Geschichte der sogenannt «letzten Hexe Europas», die 1782 im Kanton Glarus hingerichtet wurde, nicht wissenschaftlich aufarbeiten. Es hat den dafür nötigen Beitrag von einer Viertel Million Franken nicht genehmigt.  (ab 10:05)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/anna-goeldi-keine-wissenschaftliche-aufarbeitung?id=12484497
-> https://www.suedostschweiz.ch/sendungen/rondo-news/churer-stadtraetin-will-stadtpraesidentin-werden-08-11-23 (ab 03:46)


Im Kerker eingesperrt: Die düstere Vergangenheit des Käfigturms
Mörder, Hexen, Diebe – die Turmbücher zeigen den Umgang mit der Kriminalität im alten Bern. Sie sind eine einzigartige historische Quelle.
https://www.derbund.ch/kaefigturm-bern-historische-dokumente-zeigen-seine-duestere-vergangenheit-122739406470


Durch den Monat mit Uschi Waser (Teil 2): Hat Bundesrätin Keller-Sutter geantwortet?
Uschi Waser erklärt, was sie unter einer «unbürokratischen Rente für seelische Schrotthüfeli» versteht – und warum eine solche den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen zustehen würde.
https://www.woz.ch/2345/durch-den-monat-mit-uschi-waser-teil-2/hat-bundesraetin-keller-sutter-geantwortet


+++KNAST
Urteil im Brian-Prozess: Brian kommt am Freitag frei – bleibt aber nicht straflos
Das Bezirksgericht Dielsdorf hat entschieden: Brian wird bestraft, aber viel milder als vom Staatsanwalt beantragt.
https://www.tagesanzeiger.ch/urteil-im-brian-prozess-bezirksgericht-dielsdorf-verurteilt-brian-zu-2-5-jahren-932065262551
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/trotz-schuldspruch-brian-k-kommt-uebermorgen-frei-vorerst?partId=12484311
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/prozess-brian-keller-gericht-verurteilt-brian-zu-zwei-jahren-und-sechs-monaten-haft
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/delikte-prozesse-einzelhaft-die-unglaubliche-chronologie-des-falls-brian
-> https://www.watson.ch/schweiz/justiz/302208306-trotz-freiheitsstrafe-brian-keller-kommt-uebermorgen-frei
-> https://www.watson.ch/schweiz/justiz/141996803-der-fall-carlos-die-haarstraeubende-chronologie-von-brians-leben
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/brian-k-erneut-zu-freiheitsstrafe-verurteilt-66645553
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/anwalte-zu-freilassung-brian-wird-zuerst-zur-familie-gehen-66645751
-> https://www.20min.ch/story/bezirksgericht-dielsdorf-prozess-gegen-brian-k-beginnt-ohne-beschuldigten-448884246773
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/gericht-faellt-heiklen-entscheid-kommt-brian-heute-aus-dem-gefaengnis-id19121171.html
-> https://www.blick.ch/schweiz/drogen-sondersetting-einzelhaft-das-protokoll-des-falls-brian-id19123827.html
-> https://www.blick.ch/video/aktuell/anwalt-von-brian-keller-unerbittlichkeit-habe-ich-in-27-jahren-nie-gesehen-id19123292.html
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/sehr-zufrieden-mit-dem-urteil-anwaltsteam-von-brian-nimmt-stellung-154760740?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154570149
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/brian-kommt-trotz-verurteilung-in-zwei-tagen-frei-154757873?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154570149
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/bezirksgericht-dielsdorf-verurteilt-brian-zu-25-jahren-00224973/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/bezirksgericht-dielsdorf-setzt-brian-am-freitag-auf-freien-fuss?id=12484335
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/strafrechts-anwalt-andre-kuhn-ordnet-brian-urteil-ein-die-art-der-haft-war-nicht-korrekt-id19124734.html
.> https://www.20min.ch/story/darum-wird-brian-trotz-schuldspruch-freigelassen-437675697422?version=1699461488423
-> https://www.woz.ch/taeglich/2023/11/08/fall-brian-behoerdenversagen-gehoert-aufgearbeitet
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/gericht-brian-wird-trotz-erneuter-verurteilung-entlassen?urn=urn:srf:video:8587cacb-2e58-4781-9853-118d2e7445ed
-> https://www.telebaern.tv/talktaeglich/brian-kommt-frei-gerechtigkeit-oder-risiko-153845216
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/trotz-freiheitsstrafe-kommt-brian-frei-154767809
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/ein-leben-in-freiheit-was-die-herausforderungen-fuer-brian-sind-154767805
-> https://www.telem1.ch/aktuell/trotz-freiheitsstrafe-kommt-brian-frei-154767874
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/brian-frei-gefahr-dass-langeweile-aufkommt-und-er-abdriftet-66645664
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/brian-kommt-frei-grune-sind-froh-svp-sorgt-sich-um-bevolkerung-66645780
-> https://www.zueritoday.ch/videos/wie-brian-sich-draussen-verhalten-wird-ist-eine-blackbox-154765770?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154765755



nzz.ch 08.11.2023

Gericht verurteilt Brian zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten – trotzdem wird er auf freien Fuss gesetzt

Wie konnte der Konflikt zwischen dem bekanntesten Häftling der Schweiz und seinen Aufsehern nur so eskalieren? Die wichtigsten Antworten zum Prozess am Bezirksgericht Dielsdorf.

Fabian Baumgartner, Giorgio Scherrer (Text), Anja Lemcke (Illustration)

Wieder sprechen andere über ihn, über seine Gefährlichkeit und seine Gewaltausbrüche. Über die Glasscherben, die er geworfen, die Drohungen, die er ausgestossen, die Zellen, die er demoliert hat. Und darüber, ob er dabei aus einer Notlage heraus gehandelt habe.

Brian selbst, einst bekannt unter dem Pseudonym «Carlos», der wohl bekannteste Häftling der Schweiz, spricht nicht. Er ist nicht zur Verhandlung vor dem Bezirksgericht Dielsdorf erschienen. Er wollte nicht kommen, das Gericht hat ihn dispensiert. Nach zwei Prozesstagen hat es nun Brian zu einer Freiheitsstrafe verurteilt.

Das sind die wichtigsten Punkte aus dem Prozess:

– Das Bezirksgericht Dielsdorf hat sein Urteil im Fall Brian am Mittwochmorgen (8. 11.) um 10 Uhr gefällt. Es verurteilt den 28-jährigen Straftäter zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten. Trotz Schuldspruch wird Brian am 10. November aus der Sicherheitshaft entlassen. Das Gericht betrachtet eine Fortführung der Haft als nicht mehr verhältnismässig. Vom schwersten Vorwurf, einer versuchten schweren Körperverletzung, wird der Straftäter freigesprochen.
– Der neuste Brian-Prozess handelt von einer Gewalteskalation – zwischen einem, der sich als Justizopfer sieht, und dem Gefängnispersonal, für das er ein hochgefährlicher Straftäter ist. Brian werden unter anderem versuchte schwere Körperverletzung, Gewalt gegen Behörden und Beamte, Drohungen und Sachbeschädigung vorgeworfen. Alle Vorfälle haben sich in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies abgespielt.
– Die Staatsanwaltschaft forderte einen Schuldspruch und eine Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 7 Monaten. Für sie hat Brian mit seinen Taten den Gefängnisaufsehern erhebliches Leid zugefügt, für das er zur Rechenschaft gezogen werden muss. Der Staatsanwalt sagt: «Brian hatte Spass daran, gegen die Aufseher in den Krieg zu ziehen.»
– Die Verteidigung forderte einen Freispruch. Brian habe sich wegen der äusserst harten «Horror-Haftbedingungen» in einer Notlage befunden. Die Bedingungen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies kämen dem Tatbestand der Folter gleich. Das Bild des gefährlichen Gewaltstraftäters sei dagegen «ein Märchen», sagte einer seiner Anwälte.
– In diesem Fall geht es auch darum, wie der Staat mit schwierigen Häftlingen umgehen darf – und wie nicht. Dabei spielt die Beurteilung von Brians Haftregime in der Pöschwies eine zentrale Rolle. Während mehrerer Jahre befand sich Brian dort in strenger Einzelhaft mit minimalem Aussenkontakt; dies, obwohl er zu jenem Zeitpunkt keine Strafe absitzen musste, sondern wegen eines laufenden Verfahrens in Untersuchungs- und Sicherheitshaft sass.
– Am Prozess kommt ein Gutachter zu einem eindeutigen Fazit: Die Haftbedingungen in der Pöschwies seien «eindeutig als menschenrechtlich verbotene Langzeiteinzelhaft zu bewerten», so der Strafrechtsprofessor Jonas Weber. Die zulässige Dauer sei mit dreieinhalb Jahren «bei weitem überschritten» und zwischenmenschlicher Kontakt «nur unzureichend gewährleistet» worden.
– Zu reden gibt im Verfahren die Frage nach Brians Gefährlichkeit. Laut einem forensischen Psychiater gibt es bei ihm mehrere ungünstige Risikofaktoren, etwa eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Es bestehe deshalb eine stark erhöhte Rückfallgefahr. «Eine Freilassung wäre ein grosses Experiment.»

Wie lautet das Urteil des Bezirksgerichts Dielsdorf?

Das Bezirksgericht Dielsdorf hat den 28-jährigen Straftäter zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten verurteilt. Dies unter anderem wegen einfacher Körperverletzung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie Sachbeschädigungen. Vom schwersten Vorwurf, einer versuchten schweren Körperverletzung, hat das Gericht den jungen Straftäter hingegen freigesprochen.

Den von der Verteidigung geltend gemachten Notstand erkannte das Gericht nicht. Die teilweise unmenschlichen Haftbedingungen in der Pöschwies genügten nicht, um das gewalttätige Verhalten des Straftäters zu erklären. Denn den Kampf gegen die Justizbehörden habe Brian schon zuvor, also noch vor den rigiden Haftbedingungen, aufgenommen. «Wenn es einen gewaltfreien Weg gibt, darf man nicht den gewalttätigen wählen», sagte der Richter.

Trotz Schuldspruch wird Brian am 10. November aus der Sicherheitshaft entlassen. Das Gericht hat die Weiterführung der Sicherheitshaft als nicht mehr verhältnismässig beurteilt, wie der vorsitzende Richter in seiner mündlichen Urteilsbegründung ausführte. Brian drohe weder eine Verwahrung noch eine therapeutische Massnahme, sondern eine endliche Strafe. «Die Verteidigung hat zudem ein Konzept für die Zeit nach der Freilassung ausgearbeitet, bei der er gecoacht und begleitet wird von einem Sozialtherapeuten.»

Berücksichtigt hat das Gericht auch die von einem Gutachter als unmenschlich bezeichneten Haftbedingungen in der JVA Pöschwies sowie der Umstand, dass Brian sich seit nunmehr 73,5 Monaten in Untersuchungs- und Sicherheitshaft befindet. Statt die Sicherheitshaft fortzuführen, hat das Gericht Brian unter anderem ein Kontaktverbot zu den am Strafverfahren beteiligten Aufsehern auferlegt.

Der Richter erklärte: «Damit geht ein neues Kapitel auf. Brian ist eine Chance auf Bewährung in Freiheit zu geben.» Alle, die sich für Brian interessieren würden, lade man ein, sich nun um ihn zu kümmern. «Es wird nicht einfach sein, sich zu bewähren. Aber hoffen wir, dass es ein Schritt in eine bessere Zukunft ist.»

Um welche Vorfälle geht es im Prozess?

32 Punkte sind in der Anklageschrift der Zürcher Staatsanwaltschaft aufgeführt. Die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten haben zwischen November 2018 und Juli 2021 stattgefunden, als Brian in strenger Einzelhaft in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies sass. 23 Stunden am Tag in der Zelle, fast kein Aussenkontakt, keine Freizeitgestaltung. Ein Haftregime, das später auch die nationale Anti-Folter-Kommission kritisieren wird.

Die schwersten Vorfälle sind ein Glasscherbenwurf und zwei gegen das Gefängnispersonal gerichtete Beissattacken – einmal ein Biss in den Oberschenkel und einmal ein Biss in die Hand eines Aufsehers.

26. Januar 2019. Das Glasstück trifft den Aufseher an der Stirn. Der Insasse Brian hat es gegen die schwere Metalltüre seiner Zelle geworfen, die gerade einen Spaltbreit offen steht. Brian hat das Sicherheitsglas in seiner Zelle zertrümmert. Ein Bruchstück davon prallt nun – abgelenkt von der Metalltüre – gegen den Kopf des Aufsehers. Dort hinterlässt es mehrere kleine Schnittwunden.

9. April 2019. Sechs Aufseher in Vollmontur holen Brian zum Hofgang ab – dem einzigen täglichen Termin, bei dem er seine Zelle verlassen darf. Mit gefesselten Händen und Füssen läuft Brian aus seiner Zelle, dreht sich zu den Aufsehern um und spuckt sie an. Einer von ihnen drängt mit einem Schild in seine Richtung, Brian schlägt dagegen, dann bringen ihn die Aufseher zu Boden und fixieren ihn – bis er aufhört, sich zu wehren.

Dazu kommen unzählige Vorfälle wie jener im Gang vor der Zelle: Gerangel mit Gefängnispersonal, Schläge auf Schutzschilde, Gespucke, eine Faust in den Magen.

Auch seine Zelle versucht Brian gemäss Anklageschrift mehrfach zu demolieren. Er flutet sie mit Wasser, zerstört Sicherheitsglas, die Gegensprechanlage und die Klappe, durch die ihm das Essen gereicht wird. Mit seinem Blut schreibt er «Brian Boss» an die Wand. Insgesamt soll er einen Sachschaden von exakt 21 824 Franken und 50 Rappen verursacht haben. So hat es die Staatsanwaltschaft errechnet.

Und dann sind da noch die unzähligen Drohungen an die Adresse der Aufseher. Er werde sie töten, kündigt Brian an. Ihre Frauen werde er vergewaltigen und ihre Kinder verspeisen. Diverse haben es als Tonaufnahmen in die Prozessakten geschafft. Darauf sagt Brian zum Beispiel mit ruhiger Stimme: «Ich esse deine Kinder, du Gartenzwerg.»

Oder es ist dieser Austausch in der Anklage festgehalten: Brian: «Ich will dich aufschlitzen, dein Blut und dein Herz essen. (Laute Schmatzgeräusche.)» – Aufseher: «Es bringt eigentlich gar nichts, wenn Sie Ramadan machen, wenn Sie dann solches Zeugs labern.» – Brian: «Ich morde euch. (Weiteres Schmatzen.) Morden! (Geknurre.) Hals aufschlitzen! (Wolfsgeheul.)»

Waren die Haftbedingungen unmenschlich?

Das Zürcher Obergericht hat den Strafrechtsprofessor Jonas Weber mit einem Gutachten beauftragt, um die Haftbedingungen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies abzuklären. Weber hat an der Verhandlung vor dem Bezirksgericht Dielsdorf ein mündliches Zwischenfazit zu den Bedingungen gezogen.

Der Gutachter kommt zu einem eindeutigen Fazit: Das Vollzugssetting in der Pöschwies ist als menschenrechtlich verbotene Langzeiteinzelhaft zu werten. «Die zulässige Dauer war bei weitem überschritten. Der Beschuldigte war während dreieinhalb Jahren unter Hochsicherheitsbedingungen inhaftiert. Ein wirklicher zwischenmenschlicher Kontakt war nur unzureichend gewährleistet», sagt Weber. Erschwerend komme hinzu, dass auch der Kontakt zu den Aufsehern problematisch gewesen sei. Denn mit diesen sei Brian in ein Strafverfahren verwickelt gewesen.

Die menschenrechtlichen Vorgaben seien auch bei der medizinischen Versorgung nicht eingehalten worden. «Nach meinem Verständnis hätte der Beschuldigte regelmässig durch externe ärztliche Fachpersonen untersucht werden müssen.» Das sei in einem Einzelhaftsetting unbestritten notwendig, hier aber nicht eingehalten worden.

Der Fall ist laut Weber hinsichtlich menschenrechtlicher Vorgaben als sehr problematisch einzustufen. Er stützt auch die Schlussfolgerung von Nils Melzer, dem ehemaligen Uno-Sonderberichterstatter für Folter, der im Fall Brian eine unmenschliche Behandlung konstatierte. Die Haftbedingungen hätten das aggressive Verhalten wohl erheblich verschärft, so Weber. Darauf deute auch der jüngste Führungsbericht aus dem Gefängnis Zürich hin, wo sich Brian derzeit unter gelockerten Bedingungen befindet. Seine Renitenz sei in diesem veränderten Setting deutlich zurückgegangen.

Wie gefährlich ist Brian?

Die Staatsanwaltschaft hat den Psychiater und Chefarzt der Uniklinik Basel, Henning Hachtel, mit einer Risikobeurteilung beauftragt. Hachtel kommt in seinem Gutachten vom März 2023 zu den gleichen Schlüssen, die er bereits bei einem früheren Gutachten gezogen hatte.

Laut diesem leidet der Straftäter an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Zudem gebe es Hinweise auf ein Erwachsenen-ADHS. Mit Fortdauer der Isolationshaft seien zudem Hinweise auf eine depressive Entwicklung aufgetaucht.

Eine klare Diagnose, so Hachtel, sei ohne direkten Kontakt mit Brian allerdings nicht möglich. Der Straftäter weigert sich nämlich, an der Begutachtung teilzunehmen. Das Gutachten beruht deshalb allein auf Akten.

Vor dem Bezirksgericht Dielsdorf hat Hachtel an seinen Einschätzungen weitgehend festgehalten. Der 28-jährige Straftäter weise weiterhin viele ungünstige Risikofaktoren auf. Sollte Brian ohne Vorbereitung entlassen werden, sei eine stark erhöhte Rückfallgefahr anzunehmen, sagt Hachtel. Daran habe auch der Wechsel in das Gefängnis Zürich nichts Grundlegendes geändert. Denn dort befinde er sich in einem engmaschigen und wohlwollenden Betreuungsverhältnis.

Hachtel erwähnte insbesondere einen Vorfall im Mai, als bei einer Zellenkontrolle ein Handy sichergestellt wurde. Brian reagierte darauf emotional. Es fielen Schimpfwörter und Drohungen gegen Mitarbeiter des Gefängnisses. Brian verlangte, in die Pöschwies zurückgebracht zu werden, damit er den Krieg gegen die Justiz wieder aufnehmen könne. Es gelang schliesslich, ihn zu beruhigen. Insgesamt stellt ihm das Gefängnis ein gutes Zeugnis aus.

Für Hachtel zeigt der Vorfall, wie schnell die Situation eskalieren kann. Er sagt: «Wenn sich der Beschuldigte nicht auf eine therapeutische Begleitung einlässt, wird sich nichts Grundlegendes ändern. Eine Freilassung wäre ein grosses Experiment.»

Was fordert die Staatsanwaltschaft?

Der fallführende Staatsanwalt Ulrich Krättli fordert in seiner Anklage einen Schuldspruch wegen versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfacher Drohung sowie mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.

Dafür verlangt Krättli eine Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 7 Monaten. Auf den Antrag auf Anordnung einer Verwahrung verzichtet der Staatsanwalt hingegen. Dies, obwohl aus seiner Sicht die Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt gewesen wären.

Krättli begründet das geforderte hohe Strafmass mit dem Verhalten des Straftäters. Brian habe immer wieder gedroht und beschimpft, er habe Sachbeschädigungen begangen und Mitarbeiter der Pöschwies attackiert. Krättli sagt: «Das Motiv Brians war abgrundtiefer Hass auf alle Institutionen und insbesondere die Aufseher der Pöschwies.»

Diese hätten bloss ihren Job gemacht, dabei hätten schwere Beleidigungen und Brians Renitenz zur Tagesordnung gehört. Die Aufseher hatten einen schweren Alltag und hätten um ihr leibliches Wohl fürchten müssen. «Brian nahm bei seinem hasserfüllten Tun auch schwere Verletzungen in Kauf.»

Krättli hat auch zum von der Verteidigung geltend gemachten Notstand Stellung genommen. Aus Sicht des Staatsanwalts ist dieser klar nicht erfüllt. Der Straftäter sei selbst für die rigiden Haftbedingungen verantwortlich. «Es wäre ein minimal adäquates Verhalten gefordert gewesen. Aber Brian hat das nie interessiert. Er hatte Spass daran, gegen die Aufseher in den Krieg zu ziehen.»

Wie argumentiert die Verteidigung?

Die Verteidiger von Brian fordern einen vollumfänglichen Freispruch, Schadenersatz sowie Genugtuung in Millionenhöhe. Brians Anwälte stellten nicht nur die Beweislage gegen den 28-Jährigen infrage. Insbesondere der Wahrheitsgehalt der Aussagen der Pöschwies-Aufseher sei zweifelhaft.

Die Verteidiger machten auch eine Notstandslage geltend. Der Anwalt Thomas Häusermann erklärte: «Die Staatsanwaltschaft kann und will nicht loslassen vom Bild des angeblich gefährlichen Gewaltstraftäters. Doch das ist ein Märchen.» Wahr sei, dass Brian auf die «Horror-Haftbedingungen» reagiert habe, unter denen er in der Pöschwies während dreieinhalb Jahren zu leiden gehabt habe.

Brians zweiter Anwalt, Bernard Rambert, sagte: «Brian ist kein Chorknabe, er ist straffällig geworden. Wir bestreiten aber, dass diese Vorfälle den Behörden das Recht geben, sich über das Gesetz zu stellen.» Und Rambert fragte: «Wer kümmert sich in diesem Staat um Menschenrechte?» Die Antwort gab er gleich selber: «Offenbar niemand.»

Die Anwälte zogen für die Geltendmachung der Notstandslage auch die Vollzugsbedingungen in der Vergangenheit heran. Brian sei seit seinem 10. Lebensjahr wiederholt unmenschlich und erniedrigend behandelt worden. Und die Bedingungen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies kämen dem Tatbestand der Folter gleich.

Für die Anwälte Brians ist deshalb klar: Das angeklagte Verhalten gegenüber den Gefängnisaufsehern kann ihrem Mandanten nicht vorgeworfen werden. Im Gegenteil: Es sei gerechtfertigt gewesen.

Brian selbst hat sich in den letzten Monaten auf Social-Media-Kanälen zu Wort gemeldet. Er filmt sich regelmässig mit einem Handy in seiner Gefängniszelle und verbreitet die Videos auf Instagram und Tiktok. Unter anderem beklagt er darin den Umgang der Behörden mit ihm. Er sei ein politisches Opfer, sagt er einmal. Ein anderes Mal, man wolle ihn als Monster darstellen: «Ich bin sicher kein Engel, aber kein Mensch darf so behandelt werden.»

Bloss: Eigentlich dürften Gefängnisinsassen gar keine Handys haben. Brian umgeht die Regeln, indem er mit mutmasslich geschmuggelten Handys direkt mit der Aussenwelt kommuniziert. In einigen Medien wird der 28-Jährige deshalb bereits als «Knast-Influencer» bezeichnet.

Warum fordert die Verteidigung eine finanzielle Entschädigung?

Die Verteidigung hat am zweiten Prozesstag gefordert, dass der Staat eine finanzielle Genugtuung leiste – er solle für das in der Pöschwies entstandene Leid haftbar gemacht werden. Die genaue Geldforderung ist entgegen ersten Berichten noch unklar. Die Verteidigung stellte diesbezüglich eine weite Bandbreite in den Raum: von 50 000 Franken bis hin zu 2000 Franken pro Tag – was bei über 900 Tagen Einzelhaft ein Total von rund zwei Millionen ergäbe.

Die Begründung für die Forderung: Die Zürcher Justizbehörden hätten gegen das Folterverbot und das Verbot einer unrechtmässigen Haft in der Europäischen Menschenrechtskonvention verstossen. Es sei hinlänglich belegt, welch gravierende psychische und physische Folgen lange andauernde Einzelhaft habe, so der Anwalt Philip Stolkin. Brian sei diesem Regime nicht nur extrem lange ausgesetzt gewesen, die Behörden hätten es auch verpasst, es regelmässig zu überprüfen, die medizinische Versorgung sicherzustellen und für genügend soziale Kontakte zu sorgen, wie dies internationalen Vorgaben entspreche.

«Er ist beinahe dem Wahnsinn anheimgefallen, hat beträchtliche Haftschäden zu gewärtigen – und soll nun nochmals dafür bestraft werden, dass er sich dagegen wehrte», sagte Stolkin. Die Justiz habe Brian mit unnötiger Härte angefasst, ja führe gar einen «Krieg gegen Brian». «Wenn Brian in der falschen Tonart furzt, steht die Spezialeinheit Enzian vor der Türe», sagte Stolkin. Wenn er dagegen in Einzelhaft leide, werde weggeschaut.

Wo befindet sich Brian derzeit?

Seit Januar 2022 befindet sich Brian unter gelockerten Haftbedingungen im Gefängnis Zürich, nachdem er auf Geheiss des Bundesgerichts aus der Einzelhaft entlassen worden ist. Seither ist es merklich ruhiger geworden um ihn. Die Zürcher Justizbehörden und das Obergericht stellten eine positive Entwicklung bei Brian fest. Für Schlagzeilen sorgen derzeit vor allem seine Auftritte auf Social-Media-Kanälen.

Wie wurde Brian, wer er ist?

Es begann mit einer Fernsehdokumentation. 2013 erscheint ein SRF-«Dok» über den Jugendanwalt Hansueli Gürber. Darin kommt auch Brian vor, damals unter dem Pseudonym «Carlos». Er ist 17, gilt als Problemkind, hat Heimaufenthalte und eine Freiheitsstrafe wegen einer Messerattacke hinter sich. Aber auch einen Aufenthalt in der Psychiatrie, wo er als 15-Jähriger dreizehn Tage an ein Bett gefesselt wird.

Gürber will im Dokumentarfilm zeigen, wie er diesen jungen Mann mit einem Sondersetting – inklusive Thaiboxunterrichts und eigener Wohnung – wieder in die Gesellschaft integriert. Doch er erreicht das Gegenteil.

Der Blick titelt «Sozial-Wahn!», andere Medien springen auf. Das Sondersetting und insbesondere dessen Kosten von monatlich 29 000 Franken werden skandalisiert. Der Jugendstraftäter wird zum Politikum, sein Sondersetting wird abrupt beendet, und er wird wieder ins Gefängnis gesteckt. Nach seiner Entlassung 2014 begeht er – nun als Erwachsener – zwei weitere Straftaten. Im Gefängnis landet er in jener strengen Einzelhaft, mit welcher der Teufelskreis aus Zusammenstössen mit Aufsehern und weiterer Inhaftierung beginnt.

Im Januar 2022 bezeichnet eine Uno-Arbeitsgruppe den Fall Brian als «krasses Beispiel für systemischen Rassismus». Brian sei, so der Vorwurf, auch aufgrund seiner Hautfarbe härter behandelt worden als nötig. Die Zürcher Justizbehörden weisen diese Vorwürfe vehement zurück.
(https://www.nzz.ch/zuerich/fall-brian-worum-es-im-neusten-prozess-gegen-carlos-geht-ld.1762441)



nzz.ch 08.11.2023
Der bekannteste Häftling der Schweiz kommt frei. Der Richter sagt: «Damit geht ein neues Kapitel auf. Es wird für Brian nicht einfach sein, sich zu bewähren»

Über ein Urteil mit Folgen im Fall des 28-jährigen Straftäters.

Fabian Baumgartner, Giorgio Scherrer (Text), Anja Lemcke (Illustration)

Einmal am Tag darf er nach draussen, allein. Sechs Männer mit schwarzen Helmen, schwarzen Schutzwesten und Schutzschilden holen ihn aus seiner Zelle. Er muss die Füsse durch eine Klappe stecken, erhält Fesseln angelegt. Dann dasselbe mit den Händen.

So verlässt er die Einzelhaft für eine Stunde am Tag in einen vergitterten Innenhof. Den Rest der Zeit ist er in der Zelle, mit den Aufsehern als einzigem Kontakt. Zwei Mal in der Woche kommen seine Eltern. In einem kleinen Raum sitzt er dann, stützt sich auf eine Oberfläche aus Chromstahl und sieht die zwei durch eine Panzerglasscheibe hindurch.

Das ist während rund dreieinhalb Jahren der Alltag von Brian, dem bekanntesten Häftling der Schweiz, der zwischen 2018 und 2022 in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies einsass – unter Bedingungen, die in ihrer Härte aussergewöhnlich sind.

Zeitweise gibt es ausser der Anwaltspost und dem Koran nichts zu lesen. Manchmal, wenn Brian wieder einmal seine Aufseher attackiert, fällt auch der Hofgang aus. In Überwachungsvideos aus jener Zeit sieht man einen auf und ab tigernden Schatten hinter den Gitterstäben, einen jungen Mann, der mit wippendem Gang aus seiner Zelle spaziert, gefesselt und geladen, als ob er gleich explodieren würde.

Was er auch regelmässig tut: Rempeleien, Sachbeschädigungen, das Ausstossen übler Drohungen, dazu kommen zwei Bisse und der Wurf einer handgrossen Scherbe aus Sicherheitsglas, der bei einem Aufseher zu Blessuren am Kopf führt.

Wegen 32 Vorfällen hinter Gittern hat sich Brian vor dem Bezirksgericht Dielsdorf verantworten müssen. Es geht jedoch um mehr. Das Gericht hat am Prozess auch eine andere, entscheidende Frage beantworten müssen: Ist das, was Brian im Gefängnis widerfahren ist, menschenrechtswidrig, ist es gar Folter? Rechtfertigt es Brians Taten hinter Gittern? Oder rechtfertigen vielmehr seine Taten die harte Behandlung – weil sie zeigen, wie gefährlich er ist?

Es geht also um Grundsätzliches: um eine potenzielle Mitschuld des Staates an der Gewalt hinter Gefängnismauern.

Weit tieferes Strafmass als vom Staatsanwalt gefordert

Das Bezirksgericht Dielsdorf legt seine Antwort auf diese Fragen am Mittwoch ausführlich dar. Es verurteilt den 28-jährigen Straftäter zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten und einer Geldstrafe.

Dies wegen einfacher Körperverletzung, Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte sowie Sachbeschädigungen und Hinderung einer Amtshandlung. Es folgt zwar in den meisten Punkten der Anklage der Staatsanwaltschaft, beim Strafmass hingegen bleibt es weit milder.

Den schwersten Vorwurf in der Anklage, den einer versuchten schweren Körperverletzung, beurteilt das Gericht jedoch anders als der zuständige Staatsanwalt Ulrich Krättli.

Der Vorfall passierte am 26. Januar 2019. Brian warf an jenem Tag ein Glasstück gegen die schwere Metalltüre seiner Zelle in der Pöschwies, die gerade einen Spaltbreit offen stand. Brian hatte das Sicherheitsglas zuvor in seiner Zelle zertrümmert. Ein Bruchstück davon prallte beim Wurf – abgelenkt von der Metalltüre – gegen den Kopf eines Aufsehers. Dort hinterliess es mehrere kleine Schnittwunden.

Der Gerichtspräsident Marc Gmünder bejaht zwar, dass Brian mit dem Wurf Verletzungen in Kauf nahm, «aber aller Voraussicht nach keine schweren». Der Aufseher habe denn auch nur sehr leichte Blessuren davongetragen.

Die Verteidiger von Brian hatten an der Verhandlung einen Notstand geltend gemacht und einen Freispruch gefordert. Der Straftäter habe bloss auf die «Horror-Haftbedingungen» reagiert, unter denen er in der Pöschwies während dreieinhalb Jahren zu leiden gehabt habe.

Dem ist das Gericht in Dielsdorf allerdings nicht gefolgt. Der Richter Gmünder fragt: «Handelte Brian so gewalttätig wegen der Haftbedingungen, oder waren die staatlichen Interventionen eine Reaktion auf das Verhalten Brians?» Seine Antwort: Die teilweise unmenschlichen Haftbedingungen in der Pöschwies genügten nicht, um das gewalttätige Verhalten des Straftäters allein zu erklären. Sie seien nur die halbe Wahrheit.

Denn den Kampf gegen die Justizbehörden habe Brian schon zuvor aufgenommen. Das belegten die Akten. Brian habe sich immer wieder mit Gewalt und Sachbeschädigungen gegen die Justiz aufgelehnt. Er trage deshalb eine Mitverantwortung. Darum ist für Gmünder klar: «Wenn es einen gewaltfreien Weg gibt, darf man nicht den gewalttätigen wählen.» Das spreche gegen einen Notstand.

Der Antrag von Brians Anwälten auf Schadenersatz und Genugtuung für die menschenunwürdige Haft hat das Gericht auf das Verfahren nach dem kantonalen Haftungsgesetz verwiesen.

In den Augen des Richters geht für Brian neues Kapitel auf

Das Urteil hat Folgen: Trotz Schuldspruch wird Brian am 10. November aus der Sicherheitshaft entlassen. Das Gericht taxiert ihre Weiterführung als nicht mehr verhältnismässig. Brian drohe weder eine Verwahrung noch eine therapeutische Massnahme, sondern eine endliche Strafe, sagt der Richter Gmünder. «Die Verteidigung hat zudem ein Konzept für die Zeit nach der Freilassung ausgearbeitet, in der er von einem Sozialpädagogen gecoacht und begleitet wird.»

Berücksichtigt hat das Gericht unter anderem auch die von einem Gutachter als unmenschlich bezeichneten Haftbedingungen in der JVA Pöschwies sowie den Umstand, dass Brian sich seit nunmehr 73½ Monaten in Untersuchungs- und Sicherheitshaft befindet. Statt die Sicherheitshaft fortzuführen, hat das Gericht Brian unter anderem ein Kontaktverbot zu den am Strafverfahren beteiligten Aufsehern auferlegt.

Der Richter Gmünder erklärt: «Damit geht ein neues Kapitel auf. Brian ist eine Chance auf Bewährung in Freiheit zu geben.» Alle, die sich für Brian interessieren würden, lade er ein, sich nun um ihn zu kümmern. «Es wird nicht einfach sein, sich zu bewähren. Aber hoffen wir, dass es ein Schritt in eine bessere Zukunft ist.»

«Man sah nur noch das Monster»

Noch ist unklar, ob und wann Brian die Strafe antreten muss. Das hängt auch von einem weiteren hängigen Strafverfahren ab. Zudem ist das Urteil des Bezirksgerichts Dielsdorf nicht rechtskräftig. Es kann noch beim Zürcher Obergericht angefochten werden.

Nach der Urteilsverkündigung hat auch der Staatsanwalt Ulrich Krättli eine Stellungnahme abgegeben. Er hatte eine weit höhere Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 7 Monaten gefordert. Der Staatsanwalt sagt, er sei zufrieden mit dem Urteil. Das Gericht habe den Beschuldigten in den meisten angeklagten Punkten verurteilt. «Das ist das Wesentliche. Die Argumentation der Verteidigung in Sachen Notstand geht nicht auf. Brians Handlungen waren damit nicht entschuldbar.»

Der Staatsanwalt erwähnt erneut die hohe Rückfallgefahr, die ein Gutachter dem Straftäter attestiert hatte. Er erwähnt auch die Gefahr, dass Brian in Freiheit Provokationen ausgesetzt sei. Darum hätte Krättli das Konzept mit der Begleitung durch einen Sozialpädagogen gerne mit Brian persönlich besprochen. Die vom Gericht angeordnete Entlassung aus der Sicherheitshaft wird der Staatsanwalt aber nicht anfechten. «Ich wünsche ihm, dass sein Weg gelingt und er ein Leben ohne Delikte führen kann.»

Krättli will nun zunächst das schriftliche Urteil studieren und danach über einen allfälligen Weiterzug entscheiden. Das tun auch Brians Anwälte. Der Verteidiger Philip Stolkin zeigt sich glücklich über die baldige Freilassung seines Mandanten. Die Staatsanwaltschaft sei mit ihrer völlig überrissenen Forderung nicht durchgekommen. «Zudem ist zum ersten Mal in der Schweiz eine menschenrechtswidrige Haft festgestellt worden.»

Überdies richten die Vertreter des Straftäters einen Appell an die Medien. Diese hätten in den vergangenen Jahren ihre Verantwortung nicht immer wahrgenommen. Brians Handlungen seien skandalisiert worden. «Man sah nur noch das Monster. Ein Monster, das es nie gab, das aber auch die Medien mit erschaffen haben.» Brian bekomme nun endlich die Chance auf ein Leben in Freiheit. Man hoffe, dass das Urteil keine weitere Welle der Empörung hervorrufe, sondern alle zur Besinnung bringe.

Urteil DG 230005 vom 8. 11. 2023, noch nicht rechtskräftig.
(https://www.nzz.ch/zuerich/fall-brian-bekanntester-haeftling-der-schweiz-kommt-frei-ld.1762610)



limmattalerzeitung.ch 08.11.2023

Überraschung im Fall Brian: Der berühmte Häftling kommt am Freitag um 10 Uhr frei

Nach sieben Jahren im Gefängnis kann sich Brian Keller jetzt in Freiheit bewähren. Das Gericht hält eine längere Haft für unverhältnismässig, obwohl «erhebliche Wiederholungsgefahr» bestehe. Das Protokoll einer aussergewöhnlichen Verhandlung.

Andreas Maurer

1. Wie lautet das Urteil?

Der Gerichtspräsident Marc Gmünder (FDP) verkündet das Urteil. Er erklärt Brian in der Mehrheit der 32 Fälle für schuldig. In drei Fällen spricht er ihn frei. Das Gericht verurteilt ihn zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten. Das ist viel weniger als vom Staatsanwalt beantragt.

Dann folgt die Überraschung: Der Gerichtspräsident verkündet, dass Brian am 10. November 2023 um 10 Uhr aus der Sicherheitshaft entlassen wird. Nach sieben Jahren Haft kommt er frei.

Beim schwersten angeklagten Delikt handelt es sich um einen Vorfall im Gefängnis Pöschwies. Brian schleuderte ein Bruchstück eines zerschlagenen Sicherheitsglases in die Richtung der leicht geöffneten Tür. Ein Abpraller traf einen Aufseher an der Stirn. Das Gericht stuft dieses Delikt nur als einfache Körperverletzung ein, nicht aber als versuchte schwere Körperverletzung. Brian habe nicht davon ausgehen können, dass er den Aufseher am Kopf trifft, meint der Richter.

Wurde Brian gewalttätig, weil er sich wegen zu harter Haft in einem Notstand befand? Der Gerichtspräsident sieht das nicht so. Die Gewalt habe schon viel früher begonnen. Er zitiert aus Akten aus dem Kinderhort, als Brian sieben Jahre alt war. Schon damals habe Brian zugeschlagen. Später habe er ein Mädchen in der Mittelschule «karatemässig an die Brust gekickt». Seine Gewalt gefährde die anderen Kinder, heisse es in den Schulakten. Oft habe er ohne Grund zugeschlagen.

Was der Richter damit sagen will: Die Ursache des Problems hat Brian bei sich selber zu suchen.

Im Erwachsenenalter kam Brian in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies. Es ist das Gefängnis, wo die brutalsten und gefährlichsten Straftäter landen, wie der Richter betont. Brian habe dort das «Ende der Fahnenstange» erreicht. Er habe randaliert, Aufseher angegriffen und mit Kot um sich geworfen. So kam er während dreieinhalb Jahre in Einzelhaft. Eigentlich ist diese nur für 15 Tage erlaubt.

Der Gerichtspräsident sagt: «Diese Haft war klarerweise nicht korrekt.» Er habe eine «unmenschliche Behandlung» erdulden müssen. Schadenersatz oder Genugtuung erhält er dafür nicht. Diese müsste er sich vor einem Zivilgericht erstreiten.

Im Strafrecht müssten Ursache und Wirkung auseinandergehalten werden, sagt der Richter. Die Verteidiger würden nur die halbe Wahrheit erzählen, wenn sie dem Gefängnis die Schuld für seine Taten geben. Brian habe der Pöschwies nämlich schon vorher den Krieg erklärt, auch schon im Regionalgefängnis Burgdorf.

Die JVA Pöschwies habe nur von ihm verlangt, dass er sich an die Anstaltsregeln halte. Brian habe stattdessen einen gewalttätigen Weg gewählt und den Krieg erklärt. Auf Dauer habe das restriktive Regime Brians Verhalten allerdings beeinflusst. Er sei hoffnungsloser geworden.

Das Gericht anerkennt keinen «rechtfertigenden Notstand», weil sich Brian nicht für ein höherwertiges Interesse einsetze. Das bedeutet: Die unkorrekten Haftbedingungen würden keinen Angriff auf die Aufseher rechtfertigen. Es handle sich auch nicht um einen «entschuldbaren Notstand», weil sich Brian auf einem anderen Weg hätte wehren können, auf dem Rechtsweg.

Nun erklärt der Richter, warum Brian aus der Sicherheitshaft freikommt. Die Staatsanwaltschaft hat eine Verlängerung beantragt. Es geht um die Frage, ob Wiederholungsgefahr besteht. Der Gutachter stellte eine ungünstige Prognose in einem Setting ohne Strukturen und Kontrolle. Die Wiederholungsgefahr stuft er als erheblich ein.

Die Verteidigung legte dem Gericht ein Konzept vor. Ein Sozialpädagoge solle Brian auf seinem gewünschten Weg zum Profiboxer begleiten. Das Motto: «Brian schlägt nur im Boxring zu, aber nicht ausserhalb.»

Der Richter stellt fest, dass sich Brian im Gefängnis inzwischen angepasst habe und an die Regeln halte. Brian habe in den letzten Jahren keine Möglichkeit gehabt, sich in Freiheit zu beweisen. Es bestehe zwar eine gewisse Wiederholungsgefahr, doch eine Sicherheitshaft wäre nicht mehr verhältnismässig, erklärt der Richter.

Brian sitzt seit sieben Jahren in Haft weil zwei Strafverfahren gegen ihn laufen. Bei beiden geht es um Vorfälle in der Pöschwies. Das erste Verfahren ist noch nicht rechtskräftig, weil das Bundesgericht ein Urteil zurückgewiesen hat. Das Gericht geht davon aus, dass Brian die zu erwartende Gesamtstrafe bald abgesessen habe. Deshalb kommt er nun frei. Nach sieben Jahren im Gefängnis soll er nun eine Chance erhalten. Sein Team hat 48 Stunden Zeit, um Vorbereitungen zu treffen.

Der Richter warnt: «Er muss sich bewusst sein, dass neuerliche Gewalthandlungen wieder zu einer Haft führen würden.»

Nach vielen Jahren beginne im Fall Brian nun ein neues Kapitel. Der Richter beendet die Urteilsverkündung mit einem Appell: «Alle, die sich für ihn persönlich interessieren, sollten sich nun auch um ihn kümmern. Es wird nicht einfach werden.»

2. Wie lauten die Reaktionen?

Eine Zuschauerin überreicht Brians Mutter im Gang des Gerichtsgebäudes einen Blumenstrauss. Mutter und Vater besprechen im Treppenhaus, wo ihr Sohn ab Freitag schlafen soll. Er selber hat sich von der Verhandlung dispensieren lassen und erhält die Nachricht über seine Anwälte. Brians Eltern treten aus dem Gerichtsgebäude und gehen an den Kameraleuten vorbei. «Keine Fotos», sagt die Mutter.

Staatsanwalt Ulrich Krättli tritt vor die Kameras. Er ist der Verlierer des Tages, doch er betont das Positive. Er sei «grundsätzlich zufrieden» mit dem Urteil, da das Gericht Brian in der Mehrheit der angeklagten Fälle verurteilt habe. Den Entscheid zur Haftentlassung bezeichnet er als «gut begründet».

Der Staatsanwalt kritisiert aber, dass Brian nicht vor Gericht erschien. Dieser hätte persönlich erklären sollen, wie er sich in Freiheit bewähren wolle. Krättli sagt: «Er ist eine Reizfigur und wird provoziert werden. Wie wird er darauf reagieren?»

Bevor Brians Anwaltsteam vor die Medien tritt, redet deren Sprecher, Dimitri Rougy, den Medienschaffenden ins Gewissen. «Hinter jedem Pseudonym, das ihr ihm gegeben habt, steht ein Mensch», beginnt er. So sei Brian zu einer Reizfigur geworden. Viele hätten nur noch ein Monster in ihm gesehen. Dieses Monster habe es aber nie gegeben. «Es ist ein Phantom eines Monsters, das ihr mitgeschaffen habt», doziert er. Brian habe sich das öffentliche Leben nicht ausgewählt. Die Berichterstattung solle nun nicht weiter empörend sein, sondern besinnlich.

Die Anwälte selber sprechen kürzer. Verteidiger Philip Stolkin freut sich, dass der Staatsanwalt mit seinen übertriebenen Anträgen nicht durchgekommen sei. «Es ist das erste Mal, dass ein Schweizer Gericht eine menschenrechtswidrige Haft festgestellt hat», sagt er.

3. Wie geht es nun weiter?

Am Freitag um 10 Uhr ist Brian ein freier Mann. Er wird zurück zu seiner Familie gehen. Das Gefängnis hat Brian auf die Haftentlassung nicht vorbereitet, da er sich in Haft befand, nicht im Strafvollzug.

Brian wird das Gefängnis unter folgenden Auflagen verlassen: Er darf die Aufseher, die er attackiert hat, nicht kontaktieren und sich nicht mehr dem Gebiet ums Gefängnis nähern. Der Hintergrund dieser Auflagen sind seine Drohungen. Er drohte mehreren Aufsehern, dass er ihr Leben zerstören werde, wenn er freikomme.

4. Worum geht es im Fall Brian?

Brian Henry Keller ist 28 Jahre alt und sitzt seit sieben Jahren in Gefängnissen. Er hat insgesamt eine längere Zeit hinter Gittern verbracht als in Schulen. In Haft attackierte er regelmässig das Personal, weshalb diese immer wieder verlängert wurde.

Am 30. Oktober begann am Bezirksgericht von Dielsdorf ZH ein weiterer Prozess gegen ihn. Er muss sich wegen 32 Vorfällen in der Justizvollzugsanstalt (JVA) Pöschwies verantworten. Der schwerste Fall betrifft einen Aufseher, den Brian mit einem Glasbruchstück am Kopf getroffen hat. Die Splitter lagen in Brians Zelle, nachdem er randaliert hatte. Das Personal wollte danach die Zelle reinigen.

5. Warum ist das wichtig?

Diese Frage stellen Leserinnen und Leser regelmässig. Viele wundern sich, dass ein Straftäter in den Medien eine «Plattform» erhalte. Doch darum geht es nicht. Der Fall ist relevant, weil er aufzeigt, wie das Justizsystem in Extremsituationen an seine Grenzen kommt. Der Rechtsstaat muss sich daran messen lassen. Wie geht er mit gefährlichen Straftätern um? Wie bewahrt er dabei die Menschenwürde?

6. Was sagt Brian?

Brian verteidigt sich auf Instagram. Mit mutmasslich geschmuggelten Handys veröffentlicht er regelmässig Videos aus seiner Zelle. Er sagt, der Aufseher habe durch die Glasscherbe «nur ein blaues Auge» erlitten. Er selber sei viel stärker verletzt worden.

Man mache ihn zu einem Monster. «Selbst wenn ich ein Monster wäre – ich bin sicher kein Engel – kein Mensch darf so behandelt werden», klagt er. Damit meint er, dass er jahrelang zu Unrecht in Haft sitze.

Brian sucht die Öffentlichkeit mit seinen Onlinevideos und ausgewählten Interviews. Doch vor Gericht will er sich nicht erklären. Er hat sich von der Verhandlung dispensieren lassen.

Im Saal nimmt dafür sein Vater Platz. Zum ersten Mal erscheint auch seine Mutter.

7. Warum muss Brian nicht vor Gericht erscheinen?

Schon bei der letzten Verhandlung stellte Brian ein entsprechendes Gesuch. Als Begründung gab er den Medienrummel an. Damals lehnte das Gericht das Gesuch zuerst ab. Doch Brian weigerte sich, seine Zelle zu verlassen. Der Gerichtspräsident besuchte ihn darauf in seiner Zelle. Dabei kam er zum Schluss, dass es nicht verhältnismässig wäre, ihn mit Polizeigewalt vor Gericht zu bringen.

Heute sagt der Gerichtspräsident: «Das Gericht hätte Brian auch diesmal gerne angehört.» Doch da Brian dies ablehne, habe das Gericht nun auf das «ganze Rösslispiel» verzichtet. Damit meint er ein Polizeiaufgebot, das Brians Widerstand zu brechen versuche. Zudem habe Brian ohnehin das Recht, alle Aussagen zu verweigern. Deshalb habe das Gericht das Gesuch nun von Anfang an bewilligt.

8. Wie stuft ein Strafrechtsprofessor Brians Haft ein?

Strafrechtsprofessor Jonas Weber beurteilt Brians Haftsituation. Er spricht vor Gericht als sachverständiger Zeuge. Sein Zwischenfazit lautet: Brians Haft habe «teilweise nicht Gesetzen und Konventionen entsprochen». Er bezieht sich auf die Zeit zwischen 2018 und 2022. Damals sass Brian in Einzelhaft.

Weber stuft Brians Fall als «gravierend» und «sehr problematisch» ein. Damit meint er dessen Haftbedingungen. Brian sei «vulnerabel». Deshalb gelte ein strenger Massstab für die Bewertung, ob der Häftling unmenschlich behandelt worden sei. Weber bejaht dies.

Er spricht von «menschenrechtlich verbotener Langzeit-Einzelhaft», weil drei Bedingungen erfüllt seien.

1) Die Einzelhaft dauerte länger als 15 Tage. Brian war während 3,5 Jahren unter Hochsicherheitsbedingungen inhaftiert.
2) Pro Tag hatte Brian nicht mindestens zwei Stunden die Möglichkeit für «sinnhafte zwischenmenschliche Kontakte». Damit meint der Gutachter Begegnungen von Angesicht zu Angesicht. Kontakte zu Gefängnispersonal zählt er nicht dazu.
3) Als ausgleichende Massnahme lockerte das Gefängnis nicht Brians Kontakte zur Aussenwelt, etwa über Videotelefonie, und bot ihm auch keine besondere Beschäftigung an.

Weber meint, das Haftregime lasse sich nicht durch Brians renitentes Verhalten rechtfertigen. Er sagt: «Mehr soziale Kontakte wären möglich gewesen.» Die Bemühungen dafür stuft er als «unzureichend» ein.

Zudem kritisiert der Strafrechtsprofessor, dass keine anstaltsexternen Ärzte Brian untersuchten. In Einzelhaft wäre dies notwendig. Brian habe Misstrauen gegenüber den Ärzten geäussert. Doch die Institution habe deren Unabhängigkeit nicht infrage gestellt, kritisiert Weber. Sein Fazit: «Auch die medizinische Versorgung hält menschenrechtliche Vorgaben nicht ein.»

Das Gutachten könnte bei der Beurteilung des Falls eine Kehrtwende bedeuten. Weber bestätigt als amtlicher Gutachter die Argumente von Brians Anwaltsteam.

9. Wie geht es Brian psychisch?

Henning Hachtel ist Psychiater an der Basler Universitätspsychiatrie. Er kennt Brian nur von den Akten, weil dieser nicht mit ihm sprechen wollte. Hachtel diagnostiziert Brian eine «dissoziale Persönlichkeit mit psychopathischen Wesenszügen» sowie Erwachsenen-ADHS. In Haft sei er depressiv geworden.

Bei der letzten Gewalttat in Freiheit war Brian 21. Heute ist er 28. Nimmt sein Risiko für Gewaltstraftaten mit dem Alter ab? Diese Frage stellt der Richter dem Gutachter. Hachtel bejaht, dass dieses Risiko mit dem Alter tendenziell abnehme – «aber erst mit ungefähr 50 Jahren».

Ein aktueller Führungsbericht des Zürcher Bezirksgefängnisses erteilt Brian gute Noten. Seit fast zwei Jahren verhalte er sich höflich, halte sich an Absprachen und Termine und finde sich auch in grösseren Gruppen gut zurecht. Er könne auch ein Nein akzeptieren, wenn es sachlich begründet sei.

Nur einen negativen Vorfall erwähnt das Gefängnis: Am 13. Mai dieses Jahres fanden Aufseher bei einer Zellenkontrolle unerlaubte Gegenstände. Unter anderem stellten sie ein Handy sicher. Darauf beschimpfte Brian das Personal und randalierte, allerdings verletzte er niemanden. Erst als sein Vater ihn besuchte, beruhigte er sich wieder.

Der Psychiater analysiert die Situation. «Der Vorfall zeigt, wie schnell ein gefährlicher Moment entstehen und die Situation eskalieren kann», sagt er. Generell könne man nicht von einem Wohlverhalten in Haft auf ein Wohlverhalten in Freiheit schliessen. Er bräuchte dafür ein Umfeld, das ihm rund um die Uhr wohlgesonnen sei.

Brian könne sich inzwischen zwar anpassen, aber er sei kein ganz anderer Mensch geworden. Das Risikoprofil bleibe dasselbe. «Er wird immer mit seinen Triggerpunkten konfrontiert sein», sagt der Psychiater.

10. Was könnte aus Brian werden?

Brians Anwaltsteam hat dem Gericht ein Konzept für einen «Empfangsraum» vorgelegt. Nach der Entlassung aus dem Gefängnis soll Brian demnach durch einen Sozialpädagogen begleitet werden, der ihn schon in Haft regelmässig besucht.

Zudem ist ein strenger Trainingsplan vorgesehen. Denn: Brian will Profiboxer werden. Das Sozialamt solle ihm eine Wohnung zur Verfügung stellen.

Psychiater Hachtel beurteilt das Konzept kritisch. Aus seiner Sicht wäre eine Begleitung durch einen Psychotherapeuten notwendig. Doch Brian lehnt dies ab. Das Konzept hat gemäss dem Psychiater wenig «Fleisch am Knochen». Man müsste ein «extrem intensives Setting» aufbauen. Doch intensiv sei nur das vorgesehene Boxtraining. Eine Entlassung wäre deshalb ein «grosses Experiment».

11. Was forderte der Staatsanwalt?

Staatsanwalt Ulrich Krättli beantragt eine hohe Gefängnisstrafe: 9 Jahre und 7 Monate

Er stellt fest, dass Brian seit 2019 nicht mehr mit ihm gesprochen habe. Dieser habe nicht nur die Aussage verweigert, sondern auch vehement den Gang zum Staatsanwalt. Selbst eine Befragung aus dem Gefängnis per Videoübertragung habe er abgelehnt. Stattdessen habe er im gleichen Raum später dem Schweizer Fernsehen ein Interview gegeben.

Was der Staatsanwalt nicht erwähnt: Auch auf Instagram äusserte sich Brian. Er zeigte ein Bild von sich mit angespanntem Bizeps. «FICK DEN STAATSANWALT UND DEN RICHTER», schrieb er dazu.

Der Staatsanwalt kritisiert das Gericht für die Gutheissung des Dispensationsgesuchs: «Brian ist zwingend zu seiner möglichen Zukunft in Freiheit persönlich anzuhören.» Derart wichtige Fragen sollten nicht in seiner Abwesenheit verhandelt werden. Auch seine Opfer müssten direkt aus seinem Mund erfahren, dass sie nichts von ihm in Freiheit zu befürchten hätten.

Zum schwersten Vorfall, zur Verletzung eines Aufsehers mit einem Glasbruchstück, sagt der Staatsanwalt: «Es braucht keine überdurchschnittliche Intelligenz, um zu wissen, dass dadurch eine schwere Augenverletzung entstehen könnte. Das dürfte selbst einem kleinen Kind bekannt sein.»

Die Verteidiger, die einen Notstand geltend machen, erinnert der Staatsanwalt an die Rechtsgrundlagen. Nur wenn er sich in einer psychischen Notlage befunden hätte, wäre seine Gewalt gegen die Aufseher zu rechtfertigen. Doch dies bestreitet der Staatsanwalt.

Schon als Kind habe Brian andere Kinder geschlagen. Deshalb kam er immer wieder in Gefängnisse und Psychiatrien. Und dort sei er auf Mitinsassen losgegangen. «Die Liste der Gefängnisse, in denen Brian gewütet hat, ist lang», sagt der Staatsanwalt. Im Berner Gefängnis Thorberg habe er sogar von der Feuerwehr aus seiner eigenen Zelle gerettet werden müssen, weil er diese so stark demoliert habe. Aus diesem Grund sei er immer stärker abgeschirmt worden.

Der Staatsanwalt gibt dem Angeklagten die Schuld für die Eskalationen: «Brian hatte regelrecht Spass daran, gegen die JVA Pöschwies in den Krieg zu ziehen.» Es sei zwar zu berücksichtigen, dass er eine schwere Jugend hatte. Doch nicht jeder Jugendliche mit Problemen, wende derart Gewalt an.

Die Rückfallgefahr stuft der Staatsanwalt als hoch ein. Und zwei Drittel der beantragten Strafe habe er noch lange nicht abgesessen. Deshalb müsse er in Haft bleiben, findet er.

Der Staatsanwalt gibt weitere Details aus Brians Zukunftsplan bekannt: «Brian will sogar Boxweltmeister im Schwergewicht werden.» Viele Fragen würden im Konzept aber offen bleiben. Zum Beispiel: Wer finanziert die Massnahmen? Und was sind seine Pflichten?

12. Was forderte die Verteidigung?

Brians Anwälte fordern einen Freispruch und Schadensersatz von 50’000 Franken sowie 2000 Franken Genugtuung für jeden Hafttag.

Anwalt Thomas Häusermann: «Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.» Und es sei nicht Brian gewesen, der in den Wald hineinrufe, sondern die Behörden.

Der Staatsanwalt wolle ein Märchen vorgaukeln, wonach Brian grundlos Gewalt angewendet habe. Doch diese Geschichte sei falsch. Brian habe nur auf die Haftbedingungen reagiert. Sein gutes Verhalten im Bezirksgefängnis beweise dies.



Brians Lebenslauf

– Mit 3 Jahren kommt er von einer afrikanischen Grossfamilie in Paris zu seinem Vater nach Zürich. Er ist ein hyperaktives Kind.
– Mit 10 wird er zu Unrecht der Brandstiftung verdächtigt und zum ersten Mal inhaftiert.
– Mit 12 geht er auf seinen Vater los und muss acht Monate in Einzelhaft verbringen.
– Mit 15 sticht er jemanden mit einem Messer zweimal in den Rücken. Es ist sein 34. Delikt. Er muss ins Gefängnis und in die Psychiatrie, wo er ans Bett gefesselt wird.
– Mit 17 erhält er ein Sondersetting. Ein SRF-Film macht ihn unter dem Pseudonym Carlos berühmt. Die Behörden brechen die Massnahme darauf ab. Er kommt wieder ins Gefängnis.
– Mit 21 bricht er jemandem im Tram den Unterkiefer. Seither sitzt er in Haft. Dort geht er auf Aufseher los. Dafür wird er erneut verurteilt.
– Heute ist Brian 28 Jahre alt. Derzeit sitzt er in U-Haft im Bezirksgefängnis Zürich.
(https://www.limmattalerzeitung.ch/schweiz/urteilsverkuendung-ueberraschung-im-fall-brian-der-beruehmte-haeftling-kommt-uebermorgen-freitag-um-10-uhr-frei-ld.2530091)

https://www.instagram.com/brian_nr1