Medienspiegel 5. November 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BASEL
Er war Flüchtling – jetzt ist er Orthopädist: «Ohne Gastfamilie hätte ich mich verloren»
Innerhalb weniger Jahre hat Arash Hosseini Deutsch gelernt, eine Lehre gemacht und eine Stelle gefunden – auch dank seiner Gasteltern.
https://www.blick.ch/gesellschaft/er-war-fluechtling-jetzt-ist-er-orthopaedist-ohne-gastfamilie-haette-ich-mich-verloren-id19108921.html


+++OBWALDEN
Asylzentrum Glaubenberg – «Nicht vertretbar, mehr Leute hier hin zu sperren»: RESolut fordert Schliessung
Erst kürzlich ist es im Bundesasylzentrum Glaubenberg zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen den Asylsuchenden gekommen. Gleichzeitig wurde auch bekannt, dass das Zentrum erweitert werden soll. Der Gruppierung RESolut gefällt dies gar nicht. Sie fordert die sofortige Schliessung.
https://www.pilatustoday.ch/zentralschweiz/obwalden/nicht-vertretbar-mehr-leute-hier-hin-zu-sperren-resolut-fordert-schliessung-154700756?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154703235
-> RESolut: https://resolut.noblogs.org/post/2023/11/02/stoppt-die-isolation-in-den-bundes-asylzentren/


+++NIGER
Sonntagszeitung 05.11.2023

Der Wall in der Wüste bröckelt

Niger galt als Schlüsselland im Kampf gegen die illegale Migration. Flüchtlinge auf dem Weg nach Europa wurden hier gestoppt oder zurück in ihre Herkunftsländer gebracht. Doch seit dem Putsch der Generäle droht der Staat zum Transitland zu werden.

Christian Putsch, Niamey

Was ihn um den Verstand gebracht hat, ist unklar. Die riskante Reise von Guinea nach Algerien? Dass er dort aufgegriffen und in der Sahara-Wüste ausgesetzt wurde? Oder die Monate, in denen er seitdem auf seine Rückkehr in die Heimat gewartet hat? Die Aussicht, als Verlierer zurückzukehren?

Jetzt liegt der junge Mann im Staub von Nigers Hauptstadt Niamey. Er windet sich vor Schmerzen. Sechs Meter war der Guineer an einem Strommast hinaufgeklettert, nur mit kurzer Hose bekleidet – direkt neben dem Durchgangszentrum der Internationalen Organisation für Migration (IOM), in dem er lebt. Am rechten Arm, mit dem er offenbar die Leitung berührte, hat er Verbrennungen. Als der Verletzte in ein Spital abtransportiert wird, flüstert ein Passant: «Der überlebt die Nacht nicht.»

Der Vorfall gibt Einblick in die dramatische Lage in Niger. Jahrelang galt der Wüstenstaat in Westafrika als Verbündeter Europas bei der Bekämpfung der illegalen Migration. Er versperrte westafrikanischen Wirtschaftsflüchtlingen die Durchfahrt nach Libyen, organisierte aber auch die Rückführung der abgefangenen Migranten in ihre Herkunftsländer. Er verhaftete Schlepper und beschlagnahmte deren Geländewagen.

Die dafür nötigen Sicherheitskräfte und Patrouillen wurden von der Europäischen Union finanziert. Angela Merkel flog während ihrer Zeit als deutsche Bundeskanzlerin zweimal nach Niger, ihr Nachfolger Olaf Scholz stattete dem Land 2022 gleich bei seiner ersten Afrika-Reise einen Besuch ab.

Ausgesetzt mitten in der Sahara

Doch nun ist all dies in Gefahr. Im vergangenen Juli wurde völlig überraschend Präsident Mohamed Bazoum vom Militär gestürzt. Die Hintergründe des Putschs sind noch immer unklar. Es wird gemunkelt, dass sein Vorgänger Mahamadou Issoufou seine Hände im Spiel gehabt habe, weil Bazoum dem Issoufou-Clan die wachsenden Erdöleinnahmen habe entreissen wollen. Ob das Land weiterhin ein Wall gegen die Migration nach Europa sein kann, ist nun ungewiss.

Mit ein Grund dafür ist die Tatsache, dass die Nachbarstaaten Algerien und Tunesien ihre Abschiebepraxis verschärft haben. Allein in den ersten drei Oktoberwochen registrierte die IOM 2500 Ausweisungen nach Niger, mehr als das Doppelte im Vergleich zu den Vormonaten. Die nur als Durchgangsstation angelegten IOM-Zentren in dem Land sind um 40 Prozent überbelegt. Ihre Bewohner verzweifeln zunehmend.

Seidou Faouziath aus Benin zum Beispiel. Die 28-Jährige arbeitete ein Jahr lang als Pflegefachfrau in Algerien, ohne Papiere. Dann geriet sie in eine Polizeikontrolle im Bus. Es war das Ende für sie: Mit Hunderten von anderen Migranten wurde sie zur Grenze zu Niger gebracht, genannt Point Zero, mitten in der Sahara-Wüste.

«Sie haben mir eine Wasserflasche gegeben, dazu Kekse und Brot», sagt Faouziath. «Wir sollten einfach losgehen, wir würden die Schilder der IOM schon irgendwann sehen.» 15 Kilometer lang ist der Marsch. Faouziath, damals im zweiten Monat schwanger, trat ihn in der Nacht an und schaffte es. Man werde alles tun, um sie schnell zurück nach Benin zu bringen, sagte man ihr bei der Ankunft.

Knapp ein Jahr später ist die junge Frau immer noch in Niger. Fast voll verschleiert sitzt sie in einem Zimmer eines Durchgangszentrums für Frauen in Niamey. An der Wand Kinderzeichnungen, im Regal Brettspiele. Eigentlich hätte sie im August ausreisen sollen, die Papiere waren damals endlich ausgestellt. Doch dann kam der Putsch, die Grenzen wurden geschlossen. Faouziath und ihr Baby, das sie inzwischen geboren hatte, sassen fest – wie so viele andere. «Das ist sehr frustrierend für mich», sagt sie, «aber ich muss es akzeptieren.»

Immerhin hat sie ein Dach über dem Kopf. Tausende, die ebenfalls aus Algerien ausgeschafft wurden, leben auf der Strasse. Neben einem Busbahnhof in Niamey beispielsweise haben Dutzende Migranten aus Sierra Leone im Schatten einer Mauer Zelte aus Plastikabfällen gebaut. An Malaria erkrankte Frauen liegen auf dem Boden. Eine junge Mutter gibt ihrem Säugling die von einer Hautinfektion befallene Brust.

«Wir können einfach nicht mehr», sagt Fodah Janka Nabay. Der 30-Jährige wurde in Algerien auf dem Weg nach Deutschland abgefangen und ausgeschafft. Nun sitzt er seit acht Monaten mit seiner Frau und zwei Kindern in Niger fest. Ohne Unterstützung der IOM, sagt er. Umgerechnet 2200 Franken hat Nabay der geplatzte Traum von Europa gekostet. Einige seiner Freunde bezahlten ihn gar mit dem Leben. «Ich habe meine Lektion gelernt», sagt er: nie mehr mit Schleppern. Seine Chancen auf ein reguläres Visum, stehen nicht gut. Da macht er sich keine Illusionen.

Niger ist auch zunehmend damit überfordert, die Migranten gar nicht erst Richtung Norden ziehen zu lassen. Darüber wird einige Strassen weiter in einem Bürogebäude beraten. Dort sitzt Ousmane Mamane, ein stattlicher Mann im weissen Gewand, unter flackerndem Halogenlicht. Er leitet die im Kampf gegen Schlepper federführende Regierungsbehörde Nigers, die ANTLP.

2016 habe man die Migranten schon Hunderte von Kilometern vor der Grenze Libyens eingesammelt, erzählt Mamane. Das entsprechende Gesetz habe man nicht im Interesse der EU, sondern wegen der vielen toten Migranten erlassen, die man in der Wüste gefunden habe, beteuert er. Aber erst die Hunderte Millionen Euro der EU ermöglichten es, die dafür nötigen Patrouillen einzusetzen. Besonders in Agadez, der damals wichtigsten Stadt auf der Migrationsroute, verloren dadurch viele Schlepper ihre Arbeit. Ihnen war das Gesetz deshalb schon damals ein Dorn im Auge.

Zahl der Migranten steigt wieder

Nun gibt es in der Sache offenbar Bewegung. Vor einigen Wochen habe der Chef der Militärjunta, Abdourahamane Tchiani, in Agadez lokale Politiker getroffen, sagt Mamane. «Sie haben neben der Abschaffung des Gesetzes die Freilassung der inhaftierten Schlepper und die Rückgabe der beschlagnahmten Geländewagen gefordert.»

Tchiani zögert aber offenbar noch. Er hat Mamane aufgefordert, einen Bericht zu erstellen, in dem die Argumente der Bewohner von Agadez aufgelistet werden. Dieser ist fast fertig. Danach könnte Tchiani die Patrouillen per Dekret kippen. Als Leiter des derzeit obersten Regierungsorgans, des Nationalen Rats für den Schutz des Vaterlandes, liegt bei ihm alle Macht.

Wird das Gesetz abgeschafft, bricht das System zusammen. Dieses wackelt jetzt schon. Denn das Regierungsbudget ist nach dem Putsch wegen eingefrorener Unterstützungsgelder, Sanktionen und wirtschaftlicher Probleme von fünf auf drei Milliarden Franken geschrumpft. Das hat auch Auswirkungen auf den Grenzschutz. «Wir arbeiten auch ohne die EU-Hilfe weiter an der Kontrolle der Migrationswege», sagt Mamane, «aber unsere Mittel sind jetzt sehr eingeschränkt. Wir müssen uns auf bestimmte Routen konzentrieren.»

Es gibt einige Hinweise dafür, dass die Patrouillen schon seit längerem reduziert wurden. Zunächst war die Zahl der Migranten auf dem Weg durch Niger in Richtung Libyen nach dem Höchstwert von 2016 von knapp 300 000 wegen der Patrouillen deutlich gesunken: auf maximal 50 000 jährlich. Doch im Jahr 2022 verdoppelte sich die Zahl der Migranten auf dem Weg nach Libyen und erreichte den Wert von 109 000. Auch in Richtung Algerien gab es eine Verdoppelung innerhalb zweier Jahre von rund 40 000 auf über 80 000 Menschen. Das lässt sich nicht allein mit der saisonalen Migration von Nigrern erklären.

Die Frage ist, ob sich die Zahlen der Migration in Richtung Libyen wieder den Rekordwerten aus den Jahren 2015 und 2016 annähern werden. Beobachter gehen davon aus, dass Tchiani die Migration als Druckmittel einsetzen wird, etwa bei Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds, den die Militärjunta mit einiger Dreistigkeit bereits um Finanzhilfe gebeten hat.

Vielleicht muss auch die EU bald mit ihm verhandeln. So wie einst mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der viel Geld dafür bekommt, dass er für die Flüchtlinge aus Syrien nicht die Tore nach Europa öffnet. Vielleicht wird Tchiani ja der Erdogan der Sahara.

Immerhin eine gute Nachricht gibt es. Der junge Guineer, der den Strommast hinaufgeklettert ist, lebe, schreibt eine Mitarbeiterin der IOM in einer Textnachricht. Er sei auf dem Weg der Besserung – «zum Glück». Aus seiner misslichen Lage rettet ihn das freilich nicht.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/international/prellbock-in-der-wueste-broeckelt-ld.1764109)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Pressefreiheit – Basler Medien sehen sich an Demos von Polizei an Arbeit gehindert
Bei Demonstrationen hält die Polizei in Basel Medien vom Ort des Geschehens fern. Die Pressefreiheit wird zum Thema.
https://www.srf.ch/news/schweiz/pressefreiheit-basler-medien-sehen-sich-an-demos-von-polizei-an-arbeit-gehindert


„Einige Bilder von der heutigen Mietendemo in Zürich. «Oisi Stadt, oisi Quartier» ist nicht nur eine Demoparole, sondern eine Perspektive. Organisieren wir uns! Lasst uns widerständige Quartiere schaffen!“
(https://twitter.com/OA_Zuerich/status/1720935692564365758)


240 Marxisten in Biel
Marxisten sind in Biel für ihre autonome Universität. Bern wollte sie nicht wegen ihrer Meinung zum Nahostkonflikt. (ab 03:15)
https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2023-11-05


+++POLIZEI CH
Ein Tag in der Polizeischule Hitzkirch
https://telebasel.ch/sendungen/punkt6/212166


+++RASSISMUS
NZZ am Sonntag 05.11.2023

Antisemitismus in der Schweiz: «Es gibt Leute, die dazu aufrufen, mich zu töten»

Der Antisemitismus ist Mainstream geworden, sagt der in Zürich lebende Psychoanalytiker und Publizist Daniel Strassberg und spricht von Gefühlen zunehmender Bedrohung und Entfremdung.

Sacha Batthyany und Thomas Isler

Herr Strassberg, wie antisemitisch ist die Schweiz?

Daniel Strassberg: Ich nehme einen wachsenden Antisemitismus wahr, nicht erst seit dem Massaker der Hamas. Ich meine damit etwas Atmosphärisches, es steckt in Bemerkungen von Freunden, die scheinbar unschuldig klingen, die man auch als mangelndes Wissen interpretieren könnte. Dahinter aber drücken bestimmte Vorstellungen durch, die, grob gesagt, etwas mit der jüdischen Weltverschwörung zu tun haben und davon, dass die Juden aller Welt Macht ausüben. Dieser uralte Topos kocht in den letzten Jahren wieder hoch. Gesagt wird das so natürlich nie. Für mich neu und sehr bedrohlich ist die Tatsache, dass dieses Denken in meinen linksliberalen Kreisen vorkommt. Es ist Mainstream geworden.

Können Sie uns Beispiele nennen?

Ich war etwa mit Freunden wandern in Davos, als wir orthodoxen Juden begegneten, die flämisch sprachen. Da wurde ganz unschuldig gefragt, man höre ja, dass die Orthodoxen nicht arbeiteten, ob die auch vom israelischen Staat bezahlt würden? In dieser Nachfrage steckt der Gedanke, dass alle Juden der Welt miteinander verbunden sind: Wieso sollte der israelische Staat sonst belgischen Bürgern Geld bezahlen? Aber es gibt noch andere Beispiele, die zeigen, dass die alten Bilder wieder durchdrücken, durch alle Poren. Ich weiss schon, was jetzt viele denken: Tu doch nicht so empfindlich!

Wie reagieren Ihre Freunde, wenn Sie sie darauf hinweisen, ihre Aussagen seien antisemitisch?

Ich mache das nicht, weil ich die Diskussion nicht mag. Auch weil ich sprachlos bin. Es gibt Situationen, da korrigiere ich falsche Tatsachen. Und sofort kommt entweder die Reaktion: Nichts ist mir ferner als Antisemitismus! Oder eben, ich sei ziemlich empfindlich. Oder beides.

Richard David Precht, der Fernsehphilosoph, sagte das neulich auch. Nachdem er in einem ZDF-Podcast ein antisemitisches Stereotyp verbreitet hatte und sich danach eiligst entschuldigte.

Precht ist ein typisches Beispiel.

Die Kernfrage lautet: Wer entscheidet, was antisemitisch ist?

Bei Sexismus oder Rassismus hat sich in den letzten Jahren der Konsens durchgesetzt, dass der oder die Diskriminierte darüber entscheiden: Wenn eine Frau sagt, das Tätscheln auf den Po sei für sie ein Übergriff, gilt das. Niemand sagt: Du bist aber empfindlich. Aber die Juden scheinen nicht das Recht zu haben, darüber zu bestimmen, was antisemitisch sei. Auch gilt sonst der Konsens, dass Rassismus und Sexismus nichts mit den Handlungen der Diskriminierten zu tun haben. Wer einen sexuellen Übergriff mit dem Minirock erklären will, den das Opfer getragen hat, disqualifiziert sich. Das Beispiel Davos zeigt, dass dies für Juden nicht gilt.

Warum?

Der Judenhass hat einen grundlegend anderen Charakter als die anderen Formen der Diskriminierung. Beim Rassismus etwa sagt man, er habe etwas mit der Angst vor dem Fremden zu tun. Auch beim Sexismus gilt die Frau als das Fremde. Die Juden aber sind nicht das Andere. Man kann, auch wenn immer wieder etwas anderes behauptet wird, einen Juden nicht von einem Nichtjuden unterscheiden. Der zweite Unterschied ist, dass sich der Judenhass gefährlich mit Bewunderung vermischt. Die Juden werden quasi nach oben gehasst. Weil sie so schlau und so intelligent sind.

Wieso ist das gefährlich?

Erstens kippt jede Idealisierung irgendwann in Verachtung, und zweitens stützt es die Selbsteinschätzung, man sei nicht antisemitisch, wenn man die Juden bewundert. Die Diskriminierung entschuldigt sich gewissermassen selbst, wenn man darauf hinweist, wie viele jüdische Nobelpreisträger es gibt! Was ich sagen will: Es ist ein Hass aus der Nähe. Und nicht aus der Ferne. Wenn wir das einmal annehmen, dann folgt daraus, dass man etwas an sich selber hasst.

Im Mittelalter gab es den Antijudaismus, da wurden Juden praktisch von allen gehasst. Woher aber stammt der Antisemitismus von heute?

Die Aufklärung brachte eine Universalisierung der Werte, sie brachte aber auch den Kapitalismus, der negative Seiten hatte, denken Sie an die Lage der Arbeiterschaft in den Fabriken, die Ungleichheit, das Elend. Für diese negativen Seiten, die Ambivalenz gegenüber der Moderne, so glaube ich, wurden die Juden verantwortlich gemacht. Die negativen Aspekte wurden abgespalten und auf die Juden projiziert. Das Positive an der Moderne – die universal geltende Mathematik etwa, der Austausch und Handel – hatte eine negative Entsprechung: das kleinliche Rechnen, die Heimatlosigkeit – und die schrieb man den Juden zu. Daraus speiste sich der moderne Antisemitismus. August Bebel, der Begründer der Sozialdemokratie, sagte: Antisemitismus sei der Sozialismus der Idioten.

Der Antisemitismus kommt aus der Globalisierungskritik?

Es ist, wie Bebel gesagt hat, Globalisierungskritik für Idioten. Zudem ist Antisemitismus auch eine Komplexitätsreduktion. Das ist in komplexen Zeiten wie unseren sehr gefragt, was sich auch im Nahostkonflikt zeigt, wo die Lage verworren und kompliziert ist.

Sie sagten, der Antisemitismus sei Mainstream geworden, und deshalb für Sie bedrohlich. Was meinen Sie damit?

Solange der Antisemitismus vornehmlich ein rechtes Phänomen war, war es für mich relativ einfach. Aber nun dringt er in meinen Freundeskreis ein, was bei mir zu einem Gefühl der Entfremdung führt.

Sie blicken um sich und denken, Sie gehören hier nicht mehr dazu?

Richtig. Es ist auch der Grund, warum ich auf gewisse antisemitische Klischees nicht reagiere. Es ist sinnlos. Ich habe den Glauben verloren, mit Argumenten und Fakten etwas verändern zu können.

Dabei wären gerade im Moment sehr viele Menschen, auch hierzulande, froh darum. Es gibt den verbreiteten Wunsch nach einer Leitlinie: Wo hört Israelkritik auf, und wo fängt Antisemitismus an?

Ich verstehe diesen Wunsch, aber er ist auch problematisch. Er entbindet vom selbständigen Denken: Was den Terrorangriff der Hamas betrifft, hat ein Freund von mir ein sehr gutes Kriterium aufgestellt. Sehr häufig hört man den Satz, die Massaker am 7. Oktober seien schrecklich gewesen, aber . . . Und er meinte, der Antisemitismus bemesse sich in der Zeit bis zum «aber».

Ein anderes Beispiel: Wer in den sozialen Netzwerken schreibt, Israel müsse das humanitäre Völkerrecht einhalten in Gaza, wird oft bereits als Israel-Feind eingeordnet. Ist das gerechtfertigt?

Natürlich darf man, ja muss man das fordern. Doch ich halte es bei diesen Kommentaren über Israel und Gaza für sehr merkwürdig, wie schnell das andere, das Massaker, vergessen wurde. Denken Sie etwa an 9/11 oder Butscha. Wissen Sie, wie die Ortschaften geheissen haben, wo die Massaker stattfanden?

Nein.

Sehen Sie? Aber Butscha oder Srebrenica kennen alle.

Auf dem Cover der letzten Ausgabe des «Spiegels» sind Porträts von Juden in Deutschland abgebildet, und die Zeile lautet: «Ich habe Angst.» Haben Sie Angst als Jude in der Schweiz?

Ich empfinde ein starkes Gefühl der Bedrohung, das mit der Entfremdung verbunden ist. Ich habe nicht das Gefühl, hinter der nächsten Ecke warte einer mit dem Messer, aber schon, mich nur noch auf wenige verlassen zu können. Das kannte ich in dieser Form noch nicht. Ich passe wahnsinnig auf, was ich sage, auch im engsten Freundeskreis. Ich kann nicht mehr frei reden. Durch den mehr oder weniger latenten Antisemitismus werde ich in eine Identifikation hineingezwungen, die ich gar nicht will.

Hat sich Ihr Jüdischsein verändert mit den Jahren?

Ich habe keine andere Wahl. Jean-Paul Sartre hat mal geschrieben: Die Antisemiten machen die Juden. Das ist, was ich im Moment spüre, und das ist das eigentlich Bedrohliche. Dazu kommt, dass es Leute gibt – die Hamas –, die dazu aufrufen, mich zu töten, wenn sie sagen, sie wollen Juden in Europa töten. Da bin ich mitgemeint – und da hört meine Ausgewogenheit auf. Und es gibt tatsächlich Menschen, die sich mit dieser Organisation solidarisieren.

Mit der Hamas solidarisieren sich wenige. Der Grossteil solidarisiert sich mit den Menschen in Gaza, die unter der Politik der Israelis litten.

Wer das Narrativ übernimmt, die Hamas sei ein Befreiungsbewegung, die sich für diese Menschen einsetzt, solidarisiert sich in gewisser Weise. Obschon Israel seit Jahren die Menschen im Gazastreifen fürchterlich behandelt, sind die Massaker vom 7. Oktober keine direkte Folge der israelischen Politik. Sie standen im Dienst Irans. Es war Iran, das wegen des Russlandkrieges und der Annäherung der Saudi an Israel die Felle davonschwimmen sah und eine Umkehr des Momentums wollte. Und das ist gelungen. Die Bevölkerung in Gaza ist im Moment die Geisel der iranischen Machtpolitik.

Die Videos über die Massaker sind an Grausamkeit nicht zu überbieten. Was bringt Menschen dazu, zu foltern und vergewaltigen? Woher kommt dieser Sadismus?

Es ist auf beiden Seiten seit langer Zeit eine Sprache des Genozids zu beobachten. Der Hamas geht es nicht um Israel, sondern um die Juden. Wir wissen aus der Geschichte Europas im Zweiten Weltkrieg, dass Menschen nur eine Entschuldigung brauchen, also ein Rational, um den Worten Taten folgen zu lassen. Auf Israels Seite aber ist diese Rhetorik auch immer stärker geworden: Weg mit denen! Das sind Tiere!

Wie werden wir dereinst auf den 7. Oktober 2023 zurückblicken?

Es wird alles verschlimmern. Viele Menschen sagen, Benjamin Netanyahu werde das nicht überleben. Ich bin der Überzeugung, dass er gestärkt daraus rauskommt. Weil er derjenige sein wird, der sagt, er habe die Hamas besiegt. Und er wird sein faschistisches Programm noch ungebremster durchsetzen können. Meine grösste Befürchtung ist, dass es zu Pogromen in Israel kommen wird, gegen israelische Araber. Das hat ja schon begonnen.

Hätte Israel mit der Vergeltung nicht warten sollen?

Israel geht es primär darum, diese Organisation zu vernichten, die behauptet, sie werde nicht aufhören, bis der letzte Jude tot ist. Sobald aber Rache als Motiv dazukommt, wird es gefährlich und unmenschlich. Rache ist eine primitive Form eines Rechtssystems, zwar relativ einleuchtend, aber für komplexere Gesellschaften ungeeignet, weil es nie aufhört. Das Problem ist: Die Rache muss immer etwas gewalttätiger sein als das Gerächte. Und deshalb wird es nie ausgeglichen und geht immer weiter.

Wie sehr erleben Sie den sogenannten importierten Antisemitismus als Bedrohung, arabische Einwanderer in Deutschland etwa, die gegen Juden hetzen?

Es gibt die Erzählung, dass der muslimische Antisemitismus Folge sei des israelischen Staates und der Unterdrückung. Muslime und Juden seien früher immer gut miteinander ausgekommen. Das ist falsch. Der Ursprung des muslimischen Antisemitismus in diesem Jahrhundert ist die Zusammenarbeit mit den Nazis. Sie bündelt sich in der Figur des Grossmuftis in Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, aber er ist nur einer von vielen. Und dann gibt es noch eine sehr alte Geschichte vom Antisemitismus. Darf ich ausholen?

Bitte.

Das Christentum ist aus dem Judentum entstanden. Paulus wollte einen Deal machen: Wir befreien euch von diesem lästigen Gesetz, und dafür werden wir zusammen eine universelle Kirche bilden. Doch einige Juden haben nicht mitgemacht, was uns die Christen nie verziehen. Das Gleiche passierte 600 Jahre später mit Mohammed. Er war der vollkommenen Überzeugung, dass die Juden ihm folgen würden. Wer behauptet, der muslimische Antisemitismus sei postkolonial begründet, betreibt Geschichtsfälschung.

Trotzdem die Frage: Wenn Sie heute an Palästina-Demonstrationen vorbeikommen, wie mulmig wird Ihnen?

Ich habe es in Berlin selbst gesehen. Es ist schon ein merkwürdiges Gefühl, neben drei jungen Frauen im Gaza-Look – so nennt man in Berlin Röcke über Jeans, Kopftuch und palästinensische Flagge – zu stehen, die explizit dazu auffordern, mich zu ermorden. Ich schaue gerade die Serie «Babylon Berlin», die in Berlin Ende der 1920er Jahre spielt. Sie beschreibt das langsame Kippen einer Stimmung ziemlich gut.

Haben Sie sich die Videos des Massakers angeschaut?

Das tue ich mir nicht an. Ich habe mich anfänglich über «Haaretz» informiert, aber seit einer Woche lese ich kaum mehr was. Ich schalte den Fernseher aus, wenn Beiträge zu Israel kommen.

Aus Schutz?

Ich halte es körperlich nicht aus. Zudem beelendet mich dieser infantile Automatismus: Da sind die Bösen, die Israeli, dann müssen ihre Feinde, die Hamas, die Guten sein. Alle haben dazu plötzlich eine Meinung, alle haben eine Position. Jetzt auch noch Greta Thunberg, was geht sie das überhaupt an? Alle haben das Gefühl, etwas über Israel meinen zu müssen, warum eigentlich? Bald meldet sich noch der Baumeisterverband mit einem Positionspapier.
(https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/antisemitismus-in-der-schweiz-daniel-strassberg-ueber-bedrohung-und-entfremdung-ld.1763929)



Daniel Strassberg

Daniel Strassberg, 1954 geboren, ist Psychoanalytiker und unterrichtet Philosophie an verschiedenen Universitäten. Er ist Mitbegründer des Netzwerks Entresol und schrieb unter anderem: «Der Wahnsinn der Philosophie», «Verrückte Vernunft von Platon bis Deleuze» und «Spektakuläre Maschinen. Eine Affektgeschichte der Technik». Seit 2018 schreibt er in der «Republik» monatlich eine philosophisch-politische Kolumne.
(https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/antisemitismus-in-der-schweiz-daniel-strassberg-ueber-bedrohung-und-entfremdung-ld.1763929)



NZZ am Sonntag 05.11.2023

Juden trauen sich nicht mehr mit Kippa auf die Strasse

Antisemitische Vorfälle haben auch in der Schweiz sprunghaft zugenommen. Aber ab wann spricht man überhaupt von Antisemitismus? Ein Test kann weiterhelfen.

Daniel Foppa

«Die Situation ist sehr beunruhigend», sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG). Kreutner steht seit fünfzehn Jahren dem grössten jüdischen Dachverband der Schweiz vor und kann sich nicht erinnern, dass Jüdinnen und Juden in der Schweiz mit so vielen Anfeindungen konfrontiert waren. Der SIG hat letztes Jahr insgesamt 57 antisemitische Vorfälle gezählt. Nun sind es allein seit dem 7. Oktober 50 Vorfälle, darunter vier Tätlichkeiten.

So wurden am Bahnhof Zürich Flughafen ein jüdischer Mann und eine jüdische Frau mit Boxschlägen attackiert. Ein anderer jüdischer Mann, der eine Kette mit Davidstern trug, wurde in Winterthur von zwei Jugendlichen angegangen. Sie haben ihm auf die Füsse gespuckt und «Free Palestine» geschrien.

Zu den Vorfällen kommen in derselben Zeitspanne 173 registrierte Fälle antisemitischer Äusserungen im Internet. «Es gib Juden, die trauen sich nicht mehr mit der Kippa auf die Strasse und verzichten darauf, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen», sagt Kreutner.

Mit Sorge hat er auch auf die Pro-Palästina-Kundgebung vom Samstag in Bern geblickt. Mindestens 5000 Personen versammelten sich trotz strömenden Regens auf dem Bundesplatz. «Kundgebungen dürfen nicht Emotionen weiter hochkochen und Hass verbreiten, da stehen alle in der Verantwortung», sagt Kreutner. Der SIG stufe das Demonstrationsrecht hoch ein. Aber komme es dabei zu antisemitischen Vorfällen, müsse die Polizei eingreifen.

Kreutner spielt unter anderem auf den Slogan «From the river to the sea, Palestine will be free» an, der auch am Samstag Nachmittag auf dem Bundesplatz immer wieder laut skandiert wurde und auf Plakaten zu lesen war. Die Parole ist laut Kreutner antisemitisch, denn sie spricht Israel das Existenzrecht ab: «Hier wird von einem freien palästinensischen Gebiet zwischen dem Fluss Jordan und dem Mittelmeer gesprochen, gemeint ist aber ein Gebiet ohne jüdisches Leben und ohne israelischen Staat.»

Wo liegt die Grenze?

Wo aber liegt die Grenze zwischen legitimer Israelkritik – etwa an der Bombardierung des Gazastreifens – und Antisemitismus? Der israelische Politiker Natan Scharanski hat dazu 2004 einen sogenannten 3-D-Test für Antisemitismus entworfen. Der Test ist leicht merkbar und floss in die umfangreichere Antisemitismus-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance ein, die breit anerkannt ist. Laut dem Test liegt Antisemitismus in folgenden Fällen vor:

Dämonisierung: Eine Aussage ist antisemitisch, wenn der Staat Israel dämonisiert, also zum ultimativen Bösen erklärt wird. Ein Mittel der Dämonisierung sind Vergleiche der Politik Israels mit der Politik der Nationalsozialisten.

Delegitimierung: Eine Aussage ist antisemitisch, wenn dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen wird.

Doppelte Standards: Eine Aussage ist antisemitisch, wenn an den Staat Israel andere Massstäbe angelegt werden als an andere Staaten – wenn etwa die Uno Resolutionen gegen Menschenrechtsverletzungen Israels erlässt, nicht aber gegen solche von China oder Iran.

Kritikerinnen wie die Schweizer Historikerin Christina Späti bemängeln, der 3-D-Test sei unwissenschaftlich und ein Produkt der Politik. Späti bevorzugt die detailliertere «Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus», die eine Gruppe internationaler Wissenschafter 2021 verfasst hat. Die Erklärung stuft beispielsweise Boykottaufrufe gegen Israel, wie sie etwa die umstrittene BDS-Bewegung vertritt, nicht per se als antisemitisch ein – was wiederum zu Kritik von Antisemitismusforschern führt.

Islamisten und Linksextreme stärker vertreten

Und wer steckt hinter der starken Zunahme der antisemitischen Vorfälle in der Schweiz? Laut dem SIG stammen die Urheber aus allen Milieus, von links- und rechtsextremer sowie islamistischer Seite, wie auch aus der «Mitte der Gesellschaft». «Beim aktuellen Trigger Nahost sind jedoch Islamisten und Linksextreme stärker vertreten als in anderen Perioden», sagt Kreutner.

In der Geschichte der modernen Schweiz waren es besonders zwei Ereignisse, in deren Zusammenhang es gehäuft zu antisemitischen Äusserungen kam. So wurde 1893 mit der Annahme der allerersten Volksinitiative das Schächtverbot in die Bundesverfassung aufgenommen. Der Abstimmungskampf war geprägt von antisemitischen Ressentiments. Das Schächtverbot besteht noch heute, ist aber im Tierschutzgesetz verankert.

Hohe Wellen schlug auch die Debatte um nachrichtenlose Vermögen. Der SVP-Politiker Christoph Blocher sagte 1997 in einer vielbeachteten Rede: «Die ausländischen jüdischen Organisationen, die Geld fordern, sagen, es gehe ihnen letztlich nicht ums Geld. Aber genau darum geht es.» Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die Holocaust-Gelder griff Blocher zum Klischee des geldgierigen Juden und sorgte damit für Empörung – wie zuvor bereits der FDP-Bundespräsident Jean-Pascal Delamuraz, der die Idee eines Entschädigungsfonds für Holocaust-Opfer als «Lösegeld und Erpressung» bezeichnet hatte. Die internationale Kritik an Delamuraz führte in der Schweiz zu einem starken Anstieg antisemitischer Vorfälle.

Schliesslich entflammte in den letzten Jahren eine Antisemitismus-Debatte in Arosa und Davos, wo Tourismusverantwortliche orthodoxen Juden ungebührliches Benehmen vorwarfen. Doch die Vorfälle der letzten Jahre und Jahrzehnte seien kein Vergleich zur aktuellen Situation, sagt Kreutner: «Der Antisemitismus ist subkutan in unserer Gesellschaft stets vorhanden – und momentan verschafft er sich auf erschreckende Weise Luft.»
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/hintergrund/steckt-in-uns-allen-ein-antisemit-ld.1763802)



NZZ am Sonntag 05.11.2023

Dialog zwischen den Religionen: Jüdische Vertreter ziehen sich aus Protest zurück

Als Präsidentin der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft Schweiz soll Rifa’at Lenzin zwischen den verschiedenen Glaubensrichtungen vermitteln. Doch sie ist selbst Mitglied einer antiisraelischen Gruppierung. Das sorgt jetzt für einen Eklat.

Georg Humbel

Jetzt entzweit der Krieg im Nahen Osten auch die Religionen hierzulande: Die beiden Vertreter der jüdischen Dachverbände treten per sofort aus dem Vorstand der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft IRAS COTIS aus. Dieser Verein umfasst 70 Religionsgemeinschaften und soll den Austausch zwischen ihnen fördern. Er wird mehrheitlich von der öffentlichen Hand, von Kirchen und Stiftungen finanziert.

Der Grund für den Eklat ist die Präsidentin. Die Islamwissenschafterin Rifa’at Lenzin ist die «Grande Dame» des interreligiösen Dialogs. Sie ist eine gefragte Expertin und wird häufig in den Medien zitiert. Die Universität Bern hat sie sogar mit einem Ehrendoktortitel ausgezeichnet. Doch wie Recherchen der «NZZ am Sonntag» zeigen, ist Lenzin auch Mitglied der Gesellschaft Schweiz-Palästina (GSP).

«Das stellt einen grundlegenden Vertrauensbruch gegenüber der jüdischen Gemeinschaft dar», sagt Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG). Er hat erst durch Anfrage dieser Zeitung davon erfahren. Kreutner sagt, er habe sie kontaktiert und bis zuletzt gehofft, dass Lenzin im Interesse des interreligiösen Dialoges aus der umstrittenen Vereinigung austrete. Weil sie dazu aber nicht bereit sei und auch ihr Amt als Präsidentin nicht zur Verfügung stelle, bleibe ihm keine andere Wahl als der Austritt.

Heikle Nazi-Vergleiche

Die Gesellschaft Schweiz-Palästina ist stark israelfeindlich. Präsident Geri Müller hat als Grünen-Nationalrat 2012 Vertreter der Hamas ins Bundeshaus eingeladen. Die Vereinigung kanzelt Israel als «kolonialistischen Apartheidstaat» ab und ruft zum Boykott bestimmter Produkte aus Israel auf. Seit den Terroranschlägen gegen Israel hat die GSP mehrfach problematische Stellungnahmen abgegeben.

So hat sie diese Woche ein Gedicht mit einem Nazi-Vergleich gepostet. Darin werden die Palästinenser mit gequälten KZ-Häftlingen in Auschwitz während des Zweiten Weltkriegs verglichen. Israel habe das palästinensische Volk ebenfalls in Lager gesperrt. Und wenn es sich zu wehren versuche, bedrohe Israel es mit Bomben und Napalm.

Rifa’at Lenzin hat sich gegenüber dieser Zeitung nur schriftlich geäussert. «Aus persönlichen und familiären Gründen setze ich mich schon seit vielen Jahren für die legitimen Rechte der Palästinenserinnen ein», schreibt sie. Deshalb sei die Mitgliedschaft bei der GSP für sie «folgerichtig».

Für den Dialog zwischen den Religionen ist der Rückzug der jüdischen Seite ein Rückschlag. Der reformierte Pfarrer Christoph Knoch ist Vizepräsident von IRAS COTIS. «Jahrelange Arbeit und Vertrauensaufbau ist in Gefahr», sagt er. Er sei entsetzt über gewisse Äusserungen der Gruppe Schweiz-Palästina. So sei es inakzeptabel, das Existenzrecht Israels infrage zu stellen. Dass die Präsidentin Mitglied sei, sei eine persönliche und private Entscheidung. «Ich hätte mir von ihr aber gewünscht, dass sie da kritischer hinschaut», so Knoch.

Diese Zeitung hat mit Weggefährten und Bekannten der Islamwissenschafterin geredet. Alle betonen, dass sie nie mit antisemitischen Äusserungen aufgefallen wäre. Im Gegenteil: Ihr werden von allen Seiten grosse Verdienste im Dialog zwischen den Religionen attestiert.

Mitglied der Antirassismus-Kommission

Lenzin ist nicht nur Teil des interreligiösen Dialogs, sondern auch vom Bundesrat gewähltes Mitglied der Kommission gegen Rassismus (EKR). Nun gerät sie auch bei diesem Mandat in die Kritik. «Eine solche Person hat in der Antirassismus-Kommission nichts verloren», sagt der jüdische Autor Thomas Meyer. Für ihn ist die Mitgliedschaft in der GSP unvereinbar mit dem Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus. «Das ist hochgradig unglaubwürdig», so der Autor.

Rifat’at Lenzin hat ihre Mitgliedschaft bei der GSP gegenüber der Eidgenossenschaft offengelegt. «Beim Bund fand und findet man es offenbar normal, dass jemand bei so einer Vereinigung mitmacht und gleichzeitig in der Antirassismus-Kommission sitzt», sagt Meyer. Der Staat müsse in Zukunft genauer hinschauen, wer gewählt werde. Meyer fordert, dass die Schweiz Antisemitismus viel entschiedener bekämpfen müsse. Die Schweiz brauche wie Deutschland auch einen Antisemitismus-Beauftragten.

Die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus (EKR) reagiert zurückhaltend auf die Vorwürfe. Präsidentin Martine Brunschwig Graf schreibt, auch die Kommission sei sehr besorgt über den Anstieg des Antisemitismus. Gleichzeitig stellt sie sich schützend vor Lenzin. Sie sei seit 14 Jahren Mitglied und habe gute Arbeit geleistet. «Es hatte nie jemand ein Problem mit der Rolle oder den Interventionen von Frau Lenzin.» Als kompetente Expertin habe sie sich stets für die Bekämpfung von Rassismus und Antisemitismus engagiert. Sie sei auch nur einfaches Mitglied der GSP. Brunschwig betont, es müsse zwischen legitimer Kritik an Israel und antisemitischen Äusserungen unterschieden werden. «Diese Unterscheidung ist manchmal schwierig, da sich hinter politischer Kritik Antisemitismus verbergen kann.»

GSP-Präsident Geri Müller findet den Rückzug der jüdischen Seite aus dem Vorstand der Interreligiösen Arbeitsgemeinschaft «sehr bedauerlich». Müller ist überzeugt, dass seine Gruppierung nicht antisemitisch sei. «Wir verurteilen jegliche Gewalt von beiden Seiten und machen uns für Gleichberechtigung aller Völker im Nahen Osten stark.» Dass Rifa’at Lenzin wegen ihrer Mitgliedschaft nun so unter Druck gerate, grenze an Sippenhaftung.

Der Krieg im Nahen Osten, er reisst auch in der Schweiz Gräben auf. Jonathan Kreutner vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund sagt, solange Rifa’at Lenzin Mitglied bei der GSP sei, sei ein vertrauensvoller Dialog nicht möglich. Die Gesellschaft Schweiz-Palästina habe den Hamas-Terror nie richtig verurteilt und im Gegenteil der israelischen Seite sogar die Verantwortung für das Massaker an den eigenen Leuten zugeschoben. «Eine unmissverständliche Distanzierung von dieser Gewaltorgie und von den Tätern ist für die jüdische Gemeinschaft zwingend.»

Deshalb bleibe ihm nur der Austritt. «Auch wenn wir das bedauern. Der interreligiöse Dialog liegt uns sehr am Herzen.» Das Gespräch über die Religionsgrenzen hinweg helfe, Vorurteile und Ängste abzubauen – das wäre angesichts der angespannten Lage gerade jetzt besonders wichtig.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/juedische-vertreter-ziehen-sich-aus-protest-zurueck-ld.1764115)
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/eklat-bei-interreligioesen-arbeitsgemeinschaft-schweiz-154703759
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+++HISTORY
Neue Ausstellung im Kunsthaus: «Bührle gehört zu Zürich, ob wir wollen oder nicht»
Das Kunsthaus Zürich zeigt eine neue Präsentation der umstrittenen Bührle-Sammlung. SonntagsBlick war zu Besuch.
https://www.blick.ch/news/neue-ausstellung-im-kunsthaus-buehrle-gehoert-zu-zuerich-ob-wir-wollen-oder-nicht-id19112330.html


«Die Schweiz wird aus dem Raster fallen»
Olaf Ossmann ist internationaler Experte für Provenienz und vertritt als Anwalt die Familie Emden bei Rückforderungen aus der dort ausgestellten Sammlung Bührle – eine Verortung der Causa Bührle zur neuen Ausstellung im Kunsthaus Zürich.
https://www.tachles.ch/artikel/kultur/die-schweiz-wird-aus-dem-raster-fallen


Missionieren in Kanada – Wie Schweizer im Land der Sioux Ungläubige bekehrten
Die Geschichte der indigenen Bevölkerung Kanadas ist mit der Zentralschweiz verstrickt. Im Zentrum steht Beromünster.
https://www.srf.ch/news/schweiz/missionieren-in-kanada-wie-schweizer-im-land-der-sioux-unglaeubige-bekehrten