Medienspiegel 30. Oktober 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Regierungsratsantwort auf Motion M 159-2023 Messerli (Nidau, EVP) Integration für Flüchtlinge fordern, fördern und ermöglichen – so früh wie möglich!
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=91ee08abf6b849c883fe092343ea7c6c



derbund.ch 30.10.2023

Vom Krieg in den Hörsaal: Wie die Uni Bern Geflüchtete integriert

Die eine Frau flüchtete vor Putin, die andere vor Erdogan. Nun wollen sie in Bern an die Universität. Ein neues Pilotprojekt bereitet sie darauf vor.

Andres Marti

Als Russland im Frühling 2022 die Ukraine überfällt, studiert Diana Pashchenko an der Universität in Kiew Marketing. Heute wohnt die 20-Jährige mit ihrer Mutter und ihrem kleinen Bruder in einer Wohnung in Bern. Aufgewachsen ist Pashchenko in der Stadt Sumy, rund 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. In den ersten Monaten nach der Flucht besuchte sie in Bern noch die Onlinekurse der Universität Kiew. «Ich dachte anfangs nicht, dass ich lange in der Schweiz bleiben werde», sagt Pashchenko beim Treffen in der Universitätsbibliothek an der Münstergasse.

Doch als sich nach einem halben Jahr kein Ende des Kriegs abzeichnete, fing Diana Pashchenko an, sich über das Schweizer Bildungswesen zu informieren («ziemlich kompliziert»). Das Hauptproblem: Sie spricht zwar sehr gut Englisch, aber für ein Studium werden sehr weit fortgeschrittene Deutschkenntnisse verlangt. Und eine Schweizer Matura hat die Ukrainerin natürlich auch nicht.

Viele müssen von vorn beginnen

«Wer vor der Flucht ein Studium begonnen hat, dieses aber nicht abschliessen konnte, oder wer seine Diplome verloren hat, muss in der Schweiz meist von vorne beginnen», sagt Bettina Looser, Geschäftsführerin der eidgenössischen Migrationskommission.

Looser ist überzeugt, dass der Hochschulzugang für Geflüchtete verbessert werden muss: «In unserem Asylwesen, das auf die schnellstmögliche berufliche Integration setzt, ist ein Studium bislang meist nicht vorgesehen.» Bei Personen mit akademischer Vorbildung oder entsprechendem Potenzial sei das zu kurzfristig gedacht. Die grösste Hürde ist dabei die Sprache. «In der Praxis erhalten Geflüchtete oft nicht rasch genug Zugang zu Sprachkursen bis zu jenem Niveau, das für die Zulassung zu einem Hochschulstudium vorausgesetzt wird», sagt Looser.
Geflüchtet und gebildet

Der Krieg in der Ukraine hat hier jedoch zu einem Umdenken geführt. Wohl auch, weil viele der rund 65’000 in der Schweiz lebenden Personen mit Schutzstatus S relativ gut ausgebildet sind. Zwei Drittel verfügen laut dem Bund über eine tertiäre Ausbildung und über 90 Prozent über mindestens eine Sekundarbildung. Für Geflüchtete aus anderen Regionen ist der Bildungsstand weniger gut bekannt.

Inzwischen betreiben mehrere Universitäten und studentische Initiativen Vorbereitungskurse speziell für Geflüchtete aus allen Regionen. An der Universität Bern startete Ende August das zweisemestrige «Kompass»-Vorbereitungsjahr mit 20 Teilnehmenden, darunter auch Diana Pashchenko. Finanziert wird das zweijährige Pilotprogramm von Bund und Kanton, privaten Stiftungen und der Universität.

Kurs bietet Orientierung

Angemeldet hatten sich mehr als dreimal so viele, insgesamt über 70 Personen. Doch sehr viele habe man wegen mangelnder Sprachkenntnisse ablehnen müssen, sagt Projektleiterin Ann-Seline Fankhauser.

Neben Deutsch lernen die Kompass-Teilnehmenden auch, wie man sich an der Universität zurechtfindet, sich für Kurse einschreibt und zu Informationen kommt. «Viele der Teilnehmenden stammen aus völlig anderen Bildungssystemen», sagt Fankhauser. Der Kurs hilft ihnen, sich hier zurechtzufinden und sich für eine reguläres Studium vorzubereiten. Nun sitzen sie bereits als Hörende in Vorlesungen.

Kopftuch als Hindernis

Neben der Ukraine stammen die meisten Kursteilnehmenden aus der Türkei. So wie Fatma Aydin und ihr Mann. «Meine Geschichte ist etwas kompliziert», sagt Fatma Aydin beim Gespräch an der Universität im Berner Länggassquartier. In der Türkei haben sie beide als Lehrpersonen gearbeitet. Doch weil die türkische Regierung sie verdächtigt, Mitglieder der verbotenen Gülen-Bewegung zu sein, drohte ihnen dort Gefängnis. 2017 flüchtete sie deshalb zusammen mit den beiden Kindern über Griechenland in die Schweiz. Die Familie wohnt heute als anerkannte Flüchtlinge in Worblaufen.

In der Türkei arbeitete Fatma Aydin als Englischlehrerin. Doch weil sie in der Schweiz mit Kopftuch kaum einen Job als Lehrerin erhalten wird, will sie nun an der Uni Projektmanagement oder Soziale Arbeit studieren.

Ihr Mann möchte hingegen Informatik studieren. Im Gegensatz zu ihr, die bereits drei Fremdsprachen fliessend spricht, bereitet ihm das Deutschlernen mehr Mühe. «Wir sind deshalb sehr froh um Programme wie Kompass», sagt Aydin.

Für Migrationsexpertin Looser sind Programme wie Kompass eine gute Sache. «Aber es braucht noch mehr Information, Studienbegleitung und Stipendien für die Geflüchteten, damit ihr Fachkräftepotenzial besser genutzt werden kann.»

Eine grosse Herausforderung bleibt laut Looser die Anerkennung ausländischer Diplome. Sie schlägt deshalb vor, die Zulassungskriterien an den Hochschulen zu «flexibilisieren» – auch an den Pädagogischen Hochschulen. «Beim gegenwärtigen massiven Lehrpersonenmangel wäre es doch sinnvoll, die geflüchteten Fachpersonen rasch in unser Bildungssystem einzuführen und die anspruchsvollsten Sprachnachweise erst am Ende des Studiums zu verlangen», sagt Looser. Eine ausgebildete Lehrperson, ob aus der Ukraine oder aus Syrien, sollte nicht als Hilfskraft in einem Hotel arbeiten, sagt Looser. «Das ergibt auch ökonomisch keinen Sinn.»

Ungewisse Zukunft

Während Fatma Aydin und ihre Familie als anerkannte Flüchtlinge in der Schweiz bleiben dürfen, steht die Ukrainerin Diana Pashchenko vor einer ungewissen Zukunft. Die grösste Herausforderung sei für sie die Ungewissheit, sagt sie. Zwar hat der Bund entschieden, den Schutzstatus bis mindestens am 4. März 2024 nicht aufzuheben, «sofern sich die Lage in der Ukraine nicht nachhaltig stabilisiert». Doch wie soll sie mit dieser Perspektive ein Studium planen?

Natürlich wünsche sie sich, dass der Krieg so schnell wie möglich zu Ende gehe, sagt Pashchenko. «Aber wie schnell muss ich danach die Schweiz verlassen? Kann ich mein Studium noch beenden?»

Das Konzept des Bundes zur Aufhebung des Schutzstatus sieht jedenfalls Ausnahmen vor: Doch während Berufslernende ihre Lehre in der Schweiz abschliessen dürfen, sollen Studierende nur ihr Studienjahr beenden dürfen.
(https://www.derbund.ch/universitaet-bern-wie-sie-gefluechtete-asylbewerber-integriert-493948397393)


++++BASEL
Unter der Grün 80: Kanton Basel-Stadt stellt Erstaufnahmezentrum für Geflüchtete bereit
Ende Jahr schliesst der Kanton die Asylunterkunft Bonergasse, die er seit Oktober 2022 zeitlich befristet an den Bund vermietet. Um ausreichend Plätze für die Erstaufnahme sicherzustellen, wird ab nächster Woche die unterirdische Armeeliegestelle in der Grün 80 mit 90 Plätzen bereitgestellt.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/asylunterkunft-schliesst-unter-der-gruen-80-kanton-basel-stadt-stellt-erstaufnahmezentrum-fuer-gefluechtete-bereit-ld.2535342


+++SCHWEIZ
Migrations-Hotspot Basel: Deutsche Polizei weist Migranten noch auf Schweizer Boden ab
Deutschland hat Grenzkontrollen verstärkt, um Migration den Riegel zu schieben. Ein Hotspot ist die Schweiz. Dabei setzten die Deutschen auf eine bemerkenswerte Praxis. Sie weisen Migranten schon auf Schweizer Boden ab. Rechtlich ist das einwandfrei – doch auch wirksam?
https://www.blick.ch/ausland/migrations-hotspot-basel-deutsche-polizei-weist-migranten-noch-auf-schweizer-boden-ab-id19091637.html


Iraner*innen forden eine Praxisänderung vom SEM
Spätestens seit der globalen Protestwelle 2022 ist der Weltöffentlichkeit klar, dass es sich beim Iran um ein Unrechtsregime handelt. Die Grundrechte der Bevölkerung werden systematisch unterdrückt, das Regime geht willkürlich gegen Menschen vor.
Dennoch lehnt die Schweiz zahlreiche Asylgesuche von Geflüchteten aus dem Iran ab. Regelmässig führen die Schweizer Behörden Ausschaffungen in den Iran durch.
Eine Gruppe abgewiesener Iraner*innen prangert diesen Zustand an und fordert vom SEM eine Praxisänderung. Sie haben sich unter dem Namen «Empathie und Einheit» organisiert und wollen am Dienstag mit einer Kundgebung in Bern auf ihre Anliegen aufmerksam machen.
https://rabe.ch/2023/10/30/iranerinnen-forden-eine-praxisaenderung-vom-sem/
-> Kundgebung am 31. Oktober, 14:00 auf dem Bundesplatz Bern: https://migrant-solidarity-network.ch/2023/10/24/schutz-und-perspektive-fuer-abgewiesene-gefluechtete-iranerinnen


Kein Gratis-Wahlkampf: SVP blitzt mit Eilantrag auf Asyl-Debatte ab
Die SVP nimmt die steigenden Asylgesuche zum Anlass, um erneut eine ausserordentliche Asyl-Debatte zu fordern. Doch der Rest des Parlaments weist die Partei in die Schranken.
https://www.blick.ch/politik/kein-gratis-wahlkampf-svp-blitzt-mit-eilantrag-auf-asyl-debatte-ab-id19093278.html


+++DEUTSCHLAND
Scholz will Migrationszentren in Nigeria ausbauen
Um die Flüchtlingskrise in den Griff zu bekommen, will Deutschlands Bundeskanzler Olaf Scholz Nigeria vor Ort unterstützen.
https://www.nau.ch/news/ausland/scholz-will-migrationszentren-in-nigeria-ausbauen-66639928
-> https://www.tagesschau.de/inland/scholz-nigeria-migration-100.html


Gespräche über Migration: Warum Faeser nach Marokko reist
Die Bundesregierung will mehr und schneller abschieben. Dabei ist sie auch auf die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern angewiesen. Was kann Innenministerin Faeser in Marokko erreichen?
https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/migrationsabkommen-100.html


++++FREIRÄUME
Diskriminierungsfreie Räume: Machtstrukturen im Nachtleben: Ein Kollektiv hält dagegen
Die Gruppe will ein Zeichen setzen – gegen Diskriminierung und für mehr Sichtbarkeit von Minderheiten im Nachtleben: Für sein Engagement erhält das OKRA-Kollektiv den Basler Kulturförderpreis. Gründungsmitglieder Katie und Mirco erzählen, was ihre Arbeit ausmacht und warum sie von Awareness-Konzepten nichts halten.
https://bajour.ch/a/clobm9ye22959592sf49uske7x0/okra-ein-kollektiv-haelt-dagegen


Türstehen 2023: Worte statt Fäuste
Aufgepumpt und aggressiv: Türsteher haben keinen sehr guten Ruf. Doch die Zeiten ändern sich. Mittlerweile hält Kommunikationskompetenz und Awareness Einzug in der Security-Branche. Doch reicht reden und empathisch sein morgens um 4 Uhr an der Zürcher Langstrasse?
https://www.srf.ch/audio/sounds-story-talk/tuerstehen-2023-worte-statt-faeuste?id=12480276&fbclid=IwAR1EmdWZQkDNh-YN873Urkqmn0hs_s_KIDY1jEZ1GUZL0Z-6m8rkpV5dJpQ


+++DEMO/AKTION&REPRESSION
Communiqué Antifaschistischer Abendpaziergang
Heute haben wir uns erneut selbstbestimmt die Strassen Berns genommen.
https://barrikade.info/article/6178


+++KNAST
Staatsanwalt fordert 9 Jahre und 7 Monate für Brian
Der berühmteste Häftling der Schweiz ist wegen Angriffen auf Gefängnispersonal angeklagt. Das Protokoll live aus dem Gerichtssaal.
-> https://www.watson.ch/schweiz/justiz/591956097-brian-keller-vor-gericht-doch-er-erscheint-nicht
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/muskelprotz-soll-30-delikte-in-zuercher-strafanstalt-poeschwies-begangen-haben-brian-28-steht-mal-wieder-vor-gericht-id19091807.html
-> https://www.20min.ch/story/bezirksgericht-dielsdorf-prozess-gegen-brian-k-beginnt-ohne-beschuldigten-448884246773?version=1698650921806
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/der-suedtrakt-des-zuercher-hauptbahnhofs-zeigt-sich-in-neuer-pracht?id=12480405
-> https://www.tagesanzeiger.ch/prozess-gegen-brian-gutachter-spricht-von-klar-verbotener-einzelhaft-808347616059
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/prozess-in-dielsdorf-brian-das-war-der-1-tag-vor-gericht
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/brian-steht-wegen-delikten-hinter-gittern-in-dielsdorf-vor-gericht-00224336/
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/straftaeter-brian-ist-wegen-delikten-hinter-gittern-angeklagt?urn=urn:srf:video:062c95c7-2d5d-4d8d-b6cb-a7d5512931b2
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/erneuter-prozess-gegen-straftaeter-brian-154569434
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/kanton-zuerich/so-verlief-der-erste-tag-im-brian-prozess-154490069?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154570149
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/fdp-nationalraetin-doris-fiala-ueber-das-formtief-ihrer-partei?id=12479166 (ab 03.25)
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/weiterer-prozess-gegen-brian-am-bezirksgericht-dielsdorf?id=12479961
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/brian-gutachter-kritisiert-in-dielsdorf-die-haftbedingungen-66639868
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/kanton-zuerich/dann-gibts-halt-farben-an-die-fuesse-diese-frau-hat-brian-bunte-socken-gelismet-154563849?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154563810
-> https://www.tagesanzeiger.ch/prozess-beginnt-am-montag-die-verfahren-rund-um-brian-k-ein-ueberblick-423388595900



nzz.ch 30.10.2023

«Folter», «Krieg», «Hass», «Horror»: Im Fall Brian fliegen vor Gericht die Fetzen – und ein Gutachter überrascht alle

Wie konnte der Konflikt zwischen dem bekanntesten Häftling der Schweiz und seinen Aufsehern nur so eskalieren? Die wichtigsten Antworten zum Prozess am Bezirksgericht Dielsdorf.

Fabian Baumgartner, Giorgio Scherrer (Text), Anja Lemcke (Illustration)

Wieder sprechen andere über ihn, über seine Gefährlichkeit und seine Gewaltausbrüche. Über die Glasscherben, die er geworfen, die Drohungen, die er ausgestossen, die Zellen, die er demoliert hat. Und darüber, ob er dabei aus einer Notlage heraus gehandelt hat.

Brian selbst, einst bekannt unter dem Pseudonym «Carlos», der wohl bekannteste Häftling der Schweiz, spricht nicht. Er ist nicht zur Verhandlung vor dem Bezirksgericht Dielsdorf erschienen. Er wollte nicht kommen, das Gericht hat ihn dispensiert.

Das sind die wichtigsten Punkte aus dem Prozess:

– Der neuste Brian-Prozess handelt von einer Gewalteskalation – zwischen einem, der sich als Justizopfer sieht, und dem Gefängnispersonal, für das er ein hochgefährlicher Straftäter ist. Brian werden unter anderem versuchte schwere Körperverletzung, Gewalt gegen Behörden und Beamte, Drohungen und Sachbeschädigung vorgeworfen. Alle Vorfälle haben sich in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies abgespielt.
– Die Staatsanwaltschaft fordert einen Schuldspruch und eine Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 7 Monaten. Für sie hat Brian mit seinen Taten den Gefängnisaufsehern erhebliches Leid zugefügt, für das er zur Rechenschaft gezogen werden muss. Der Staatsanwalt sagt: «Brian hatte Spass daran, gegen die Aufseher in den Krieg zu ziehen.»
– Die Verteidigung fordert einen Freispruch. Brian habe sich wegen der äusserst harten «Horror-Haftbedingungen» in einer Notlage befunden. Die Bedingungen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies kämen dem Tatbestand der Folter gleich. Das Bild des gefährlichen Gewaltstraftäters sei dagegen «ein Märchen», sagte einer seiner Anwälte.
– In diesem Fall geht es auch darum, wie der Staat mit schwierigen Häftlingen umgehen darf – und wie nicht. Dabei spielt die Beurteilung von Brians Haftregime in der Pöschwies eine zentrale Rolle. Während mehrerer Jahre war Brian dort in strenger Einzelhaft mit minimalem Aussenkontakt, dies obwohl er zu jenem Zeitpunkt keine Strafe absitzen musste, sondern wegen eines laufenden Verfahrens in Untersuchungs- und Sicherheitshaft sass.
– Am Prozess kommt ein Gutachter zu einem eindeutigen Fazit: Die Haftbedingungen in der Pöschwies seien «eindeutig als menschenrechtlich verbotene Langzeiteinzelhaft zu bewerten», so Strafrechtsprofessor Jonas Weber. Die zulässige Dauer sei mit 3,5 Jahren «bei weitem überschritten» und zwischenmenschlicher Kontakt «nur unzureichend gewährleistet» worden.
– Zu reden gibt im Verfahren die Frage nach Brians Gefährlichkeit. Laut einem forensischen Psychiater gibt es bei ihm mehrere ungünstige Risikofaktoren, etwa eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Es bestehe deshalb eine stark erhöhte Rückfallgefahr. «Eine Freilassung wäre ein grosses Experiment.»

Um welche Vorfälle geht es am Prozess?

32 Punkte sind in der Anklageschrift der Zürcher Staatsanwaltschaft aufgeführt. Die dem Angeklagten vorgeworfenen Straftaten haben zwischen November 2018 und Juli 2021 stattgefunden, als Brian in strenger Einzelhaft in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies sass. 23 Stunden am Tag in der Zelle, fast kein Aussenkontakt, keine Freizeitgestaltung. Ein Haftregime, das später auch die nationale Anti-Folter-Kommission kritisieren wird.

Die schwersten Vorfälle sind ein Glasscherbenwurf und zwei Beissattacken auf Gefängnispersonal – einmal in den Oberschenkel und einmal in die Hand eines Aufsehers.

26. Januar 2019. Das Glasstück trifft den Aufseher an der Stirn. Der Insasse Brian hat es gegen die schwere Metalltüre seiner Zelle geworfen, die gerade einen Spaltbreit offen steht. Brian hat das Sicherheitsglas in seiner Zelle zertrümmert. Ein Bruchstück davon prallt nun – abgelenkt von der Metalltüre – gegen den Kopf des Aufsehers. Dort hinterlässt es mehrere kleine Schnittwunden.

9. April 2019. Sechs Aufseher in Vollmontur holen Brian zum Hofgang ab – dem einzigen täglichen Termin, bei dem er seine Zelle verlassen darf. Mit gefesselten Händen und Füssen läuft Brian aus seiner Zelle, dreht sich zu den Aufsehern um und spuckt sie an. Einer von ihnen drängt mit einem Schild in seine Richtung, Brian schlägt dagegen, dann bringen ihn die Aufseher zu Boden und fixieren ihn – bis er aufhört, sich zu wehren.

Dazu kommen unzählige Vorfälle wie jener im Gang vor der Zelle: Gerangel mit Gefängnispersonal, Schläge auf Schutzschilde, Gespucke, eine Faust in den Magen.

Auch seine Zelle versucht Brian gemäss Anklageschrift mehrfach zu demolieren. Er flutet sie mit Wasser, zerstört Sicherheitsglas, die Gegensprechanlage und die Klappe, durch die ihm das Essen gereicht wird. Mit seinem Blut schreibt er «Brian Boss» an die Wand. Insgesamt soll er einen Sachschaden von exakt 21 824 Franken und 50 Rappen verursacht haben. So hat es die Staatsanwaltschaft errechnet.

Und dann sind da noch die unzähligen Drohungen an die Adresse der Aufseher. Er werde sie töten, kündigt Brian an. Ihre Frauen werde er vergewaltigen und ihre Kinder verspeisen. Diverse haben es als Tonaufnahmen in die Prozessakten geschafft. Darauf sagt Brian zum Beispiel mit ruhiger Stimme: «Ich esse deine Kinder, du Gartenzwerg.»

Oder es ist dieser Austausch in der Anklage festgehalten. Brian: «Ich will dich aufschlitzen, dein Blut und dein Herz essen. (Laute Schmatzgeräusche.)» – Aufseher: «Es bringt eigentlich gar nichts, wenn Sie Ramadan machen, wenn Sie dann solches Zeugs labern.» – Brian: «Ich morde euch. (Weiteres Schmatzen.) Morden! (Geknurre.) Hals aufschlitzen! (Wolfsgeheul.)»

Waren die Haftbedingungen unmenschlich?

Das Zürcher Obergericht hat Strafrechtsprofessor Jonas Weber mit einem Gutachten beauftragt, um die Haftbedingungen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies abzuklären. Weber hat an der Verhandlung vor dem Bezirksgericht Dielsdorf ein mündliches Zwischenfazit zu den Bedingungen gezogen.

Der Gutachter kommt zu einem eindeutigen Fazit: Das Vollzugssetting in der Pöschwies ist als menschenrechtlich verbotene Langzeiteinzelhaft zu werten. «Die zulässige Dauer war bei weitem überschritten. Der Beschuldigte war während dreieinhalb Jahren unter Hochsicherheitsbedingungen inhaftiert. Ein wirklicher zwischenmenschlicher Kontakt war nur unzureichend gewährleistet», sagt Weber. Erschwerend komme hinzu, dass auch der Kontakt zu den Aufsehern problematisch gewesen sei. Denn mit diesen sei Brian in ein Strafverfahren verwickelt gewesen.

Die menschenrechtlichen Vorgaben seien auch bei der medizinischen Versorgung nicht eingehalten worden. «Nach meinem Verständnis hätte der Beschuldigte regelmässig durch externe ärztliche Fachpersonen untersucht werden müssen.» Das sei in einem Einzelhaftsetting unbestritten notwendig, hier aber nicht eingehalten worden.

Der Fall ist laut Weber hinsichtlich menschenrechtlicher Vorgaben als sehr problematisch einzustufen. Er stützt auch die Schlussfolgerung von Nils Melzer, dem ehemaligen Uno-Sonderberichterstatter für Folter, der im Fall Brian eine unmenschliche Behandlung konstatierte. Die Haftbedingungen hätten das aggressive Verhalten wohl erheblich verschärft, so Weber. Darauf deute auch der aktuelle Führungsbericht aus dem Gefängnis Zürich hin, wo sich Brian derzeit unter gelockerten Bedingungen befindet. Seine Renitenz sei in diesem veränderten Setting deutlich zurückgegangen.

Wie gefährlich ist Brian?

Die Staatsanwaltschaft hat den Psychiater und Chefarzt der Uniklinik Basel, Henning Hachtel, mit einer Risikobeurteilung beauftragt. Hachtel kommt in seinem Gutachten vom März 2023 zu den gleichen Schlüssen, die er bereits bei einem früheren Gutachten gefällt hatte.

Laut diesem leidet der Straftäter an einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Zudem gebe es Hinweise auf ein Erwachsenen-ADHS. Mit Fortdauer der Isolationshaft seien zudem Hinweise auf eine depressive Entwicklung aufgetaucht.

Eine klare Diagnose, so Hachtel, sei ohne direkten Kontakt mit Brian allerdings nicht möglich. Der Straftäter weigert sich nämlich, an der Begutachtung teilzunehmen. Das Gutachten beruht deshalb allein auf Akten.

Vor dem Bezirksgericht Dielsdorf hat Hachtel an seinen Einschätzungen weitgehend festgehalten. Der 28-jährige Straftäter weise weiterhin viele ungünstige Risikofaktoren auf. Sollte Brian ohne Vorbereitung entlassen werden, sei eine stark erhöhte Rückfallgefahr anzunehmen, sagt Hachtel. Daran habe auch der Wechsel in das Gefängnis Zürich nichts Grundlegendes geändert. Denn dort befinde er sich in einem engmaschigen und wohlwollenden Betreuungsverhältnis.

Hachtel erwähnte insbesondere einen Vorfall im Mai, als bei einer Zellenkontrolle ein Handy sichergestellt wurde. Brian reagierte darauf emotional. Es fielen Schimpfwörter und Drohungen gegen Mitarbeiter des Gefängnisses. Brian verlangte, in die Pöschwies zurückgebracht zu werden, damit er den Krieg gegen die Justiz wieder aufnehmen könne. Es gelang schliesslich, ihn zu beruhigen. Insgesamt stellt ihm das Gefängnis ein gutes Zeugnis aus.

Für Hachtel zeigt der Vorfall, wie schnell die Situation eskalieren kann. Er sagt: «Wenn sich der Beschuldigte nicht auf eine therapeutische Begleitung einlässt, wird sich nichts Grundlegendes ändern. Eine Freilassung wäre ein grosses Experiment.»

Was fordert die Staatsanwaltschaft?

Der fallführende Staatsanwalt Ulrich Krättli fordert in seiner Anklage einen Schuldspruch wegen versuchter schwerer Körperverletzung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher Sachbeschädigung, mehrfacher Drohung sowie mehrfacher Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.

Dafür verlangt Krättli eine Freiheitsstrafe von 9 Jahren und 7 Monaten. Auf den Antrag auf Anordnung einer Verwahrung verzichtet der Staatsanwalt hingegen. Dies, obwohl aus seiner Sicht die Voraussetzungen grundsätzlich erfüllt gewesen wären.

Krättli begründet das geforderte hohe Strafmass mit dem Verhalten des Straftäters. Brian habe immer wieder gedroht und beschimpft, er habe Sachbeschädigungen begangen und Mitarbeiter der Pöschwies attackiert. Krättli sagt: «Das Motiv Brians war abgrundtiefer Hass auf alle Institutionen und insbesondere die Aufseher der Pöschwies.»

Diese hätten bloss ihren Job gemacht, dabei hätten schwere Beleidigungen und Brians Renitenz zur Tagesordnung gehört. Die Aufseher hatten einen schweren Alltag und hätten um ihr leibliches Wohl fürchten müssen. «Brian nahm bei seinem hasserfüllten Tun auch schwere Verletzungen in Kauf.»

Krättli hat auch zum von der Verteidigung geltend gemachten Notstand Stellung genommen. Aus Sicht des Staatsanwalts ist dieser klar nicht erfüllt. Der Straftäter sei selbst für die rigiden Haftbedingungen verantwortlich. «Es wäre ein minimal adäquates Verhalten gefordert gewesen. Aber Brian hat es nie interessiert. Er hatte Spass daran, gegen die Aufseher in den Krieg zu ziehen.»

Wie argumentiert die Verteidigung?

Die Verteidiger von Brian fordern einen vollumfänglichen Freispruch, Schadenersatz sowie Genugtuung in Millionenhöhe. Brians Anwälte stellten nicht nur die Beweislage gegen den 28-Jährigen infrage. Insbesondere den Wahrheitsgehalt der Aussagen der Pöschwies-Aufseher seien zweifelhaft.

Die Verteidiger machten auch eine Notstandslage geltend. Der Anwalt Thomas Häusermann erklärte: «Die Staatsanwaltschaft kann und will nicht loslassen vom Bild des angeblich gefährlichen Gewaltstraftäters. Doch das ist ein Märchen.» Wahr sei, dass Brian auf die «Horror-Haftbedingungen» reagiert habe, unter denen er in der Pöschwies während dreieinhalb Jahren zu leiden hatte.

Brians zweiter Anwalt, Bernard Rambert, sagte: «Brian ist kein Chorknabe, er ist straffällig geworden. Wir bestreiten aber, dass diese Vorfälle den Behörden das Recht gibt, sich über das Gesetz zu stellen.» Und Rambert fragte: «Wer kümmert sich in diesem Staat um Menschenrechte?» Die Antwort gab er gleich selber: «Offenbar niemand.»

Die Anwälte zogen für die Geltendmachung der Notstandslage auch die Vollzugsbedingungen in der Vergangenheit heran. Brian sei seit seinem 10. Lebensjahr wiederholt unmenschlich und erniedrigend behandelt worden. Und die Bedingungen in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies kämen dem Tatbestand der Folter gleich.

Für die Anwälte Brians ist deshalb klar: Das angeklagte Verhalten gegenüber den Gefängnisaufsehern kann ihrem Mandanten nicht vorgeworfen werden. Im Gegenteil: Es sei gerechtfertigt gewesen.

Brian selbst hat sich in den letzten Monaten auf Social-Media-Kanälen zu Wort gemeldet. Er filmt sich regelmässig mit einem Handy in seiner Gefängniszelle und verbreitet die Videos auf Instagram und Tiktok. Unter anderem beklagt er darin den Umgang der Behörden mit ihm. Er sei ein politisches Opfer, sagt er einmal. Ein anderes Mal, man wolle ihn als Monster darstellen: «Ich bin sicher kein Engel, aber kein Mensch darf so behandelt werden.»

Bloss: Eigentlich dürften Gefängnisinsassen gar keine Handys haben. Brian umgeht die Regeln, indem er mit mutmasslich geschmuggelten Handys direkt mit der Aussenwelt kommuniziert. In einigen Medien wird der 28-Jährige deshalb bereits als «Knast-Influencer» bezeichnet.

Wo befindet sich Brian derzeit?

Seit Januar 2022 befindet sich Brian unter gelockerten Haftbedingungen im Gefängnis Zürich, nachdem er auf Geheiss des Bundesgerichts aus der Einzelhaft entlassen wurde. Seither ist es merklich ruhiger geworden um ihn. Die Zürcher Justizbehörden und das Obergericht stellten eine positive Entwicklung bei Brian fest. Für Schlagzeilen sorgen derzeit vor allem seine Auftritte auf Social-Media-Kanälen.

Dass Brian überhaupt noch im Gefängnis sitzt, ist das Resultat eines Teufelskreises aus Gewaltausbrüchen und Haftaufenthalten.

Im Sommer 2017 verbüsst Brian eine Strafe wegen versuchter schwerer Körperverletzung. Er steht kurz vor der Entlassung, als es zu einem Zusammenstoss mit Aufsehern kommt. Es wird erneut ein Strafverfahren lanciert, Brian kommt abermals in Untersuchungs- und später in Sicherheitshaft.

Im Herbst 2022 steht Brians Entlassung kurz bevor. Der Grund: Das Zürcher Obergericht entschied, die Fortführung der Sicherheitshaft sei nicht mehr verhältnismässig. Das Verfahren daure schon so lange, dass Überhaft drohe. Doch die Staatsanwaltschaft verhindert im letzten Moment die Freilassung mit einem neuen Verfahren und dem Antrag auf Untersuchungshaft. Es ist das Verfahren, das nun vor dem Bezirksgericht Dielsdorf verhandelt wird. Brian befindet sich seit rund sechs Jahren ohne gültiges Urteil hinter Gittern.

Wie wurde Brian, wer er ist?

Es begann mit einer Fernsehdokumentation. 2013 erscheint ein SRF-Dok über den Jugendanwalt Hansueli Gürber. Darin kommt auch Brian vor, damals unter dem Pseudonym «Carlos». Er ist 17, gilt als Problemkind, hat Heimaufenthalte und eine Freiheitsstrafe wegen einer Messerattacke hinter sich. Aber auch einen Aufenthalt in der Psychiatrie, während deren er als 15-Jähriger dreizehn Tage an ein Bett gefesselt wird.

Gürber will im Dokumentarfilm zeigen, wie er diesen jungen Mann mit einem Sondersetting – inklusive Thaiboxunterricht und eigener Wohnung – wieder in die Gesellschaft integriert. Doch er erreicht das Gegenteil.

Der Blick titelt «Sozial-Wahn!», andere Medien springen auf. Das Sondersetting und insbesondere dessen Kosten von monatlich 29 000 Franken werden skandalisiert. Der Jugendstraftäter wird zum Politikum, sein Sondersetting wird abrupt beendet, und er wird wieder ins Gefängnis gesteckt. Nach seiner Entlassung 2014 begeht er – nun als Erwachsener – zwei weitere Straftaten. Im Gefängnis landet er in jener strengen Einzelhaft, mit welcher der Teufelskreis aus Zusammenstössen mit Aufsehern und weiterer Inhaftierung beginnt.

Im Januar 2022 bezeichnet eine Uno-Arbeitsgruppe den Fall Brian als «krasses Beispiel für systemischen Rassismus». Brian sei, so der Vorwurf, auch aufgrund seiner Hautfarbe härter behandelt worden als nötig. Die Zürcher Justizbehörden weisen diese Vorwürfe vehement zurück.

Wie läuft der Prozess ab?

Die Hauptverhandlung in dem Fall ist auf zwei Tage angesetzt. Da die Befragung von Brian aufgrund eines Dispenses wegfällt, geht es am ersten Prozesstag ausser um Vorfragen vor allem um die Meinung der beiden Gutachter Jonas Weber und Henning Hachtel zum jungen Straftäter. Sie werden vor Gericht ihre Einschätzungen zu den Haftbedingungen und ihren Auswirkungen auf das Verhalten des 28-jährigen Straftäters abgeben.

Am zweiten Prozesstag folgen die Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung. Die Urteilseröffnung ist für den 8. November vorgesehen.
(https://www.nzz.ch/zuerich/fall-brian-worum-es-im-neusten-prozess-gegen-carlos-geht-ld.1762441)


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Neuer Durchgangsplatz für Schweizer Fahrende in Herzogenbuchsee
Der Kanton Bern und die Gemeinde Herzogenbuchsee haben einen neuen Durchgangsplatz für Schweizer Fahrende in Herzogenbuchsee geplant. Am Standort Waldäcker sollen 15 Stellplätze für Jenische und Sinti entstehen. Die Inbetriebnahme ist für Sommer 2024 geplant.
https://www.neo1.ch/artikel/neuer-durchgangsplatz-fuer-schweizer-fahrende-in-herzogenbuchsee


+++RASSISMUS
„Es ist eine Verunsicherung in jüdischen Kreisen spürbar“
Dach dem Terror – Anrigg der Hamas auf Israel sind auch Jüdinnen und Juden in Basel verunsichert. Die jüdische Leo – Adler Schule rät den Schülerinnen und Schülern keine sichtbaren Zeichen jüdischer Religion zu tragen.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/es-ist-eine-verunsicherung-in-juedischen-kreisen-spuerbar?id=12480285
-> https://www.baseljetzt.ch/seit-kriegsausbruch-auch-in-basel-gibt-es-mehr-uebergriffe-gegen-juden/140462
-> https://www.bazonline.ch/schueler-dispensiert-antisemitischer-vorfall-an-schule-in-muttenz-516783364768


Fotografin Carrie Mae Weems – Mit diesen Bildern sollen wir Rassismus tief in die Augen blicken
Rassistische Strukturen, die Rolle der schwarzen Frau: Carrie Mae Weems spricht mit ihrer Kunst die unangenehmen Themen an – und zeigt Auswege aus diesen Dilemmata. Jetzt widmet das Kunstmuseum Basel ihr eine Schau.
https://www.srf.ch/kultur/kunst/fotografin-carrie-mae-weems-mit-diesen-bildern-sollen-wir-rassismus-tief-in-die-augen-blicken


Übergriffe auf Juden häufen sich
https://telebasel.ch/sendungen/punkt6/212030


++++RECHTSPOPULISMUS
Regierungsratsantwort auf Interpellation I 144-2023 SVP (Müller, Orvin) Geschlechtsänderungen: Wie bekämpft der Regierungsrat das Missbrauchspotenzial?
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=c585a4ae769040e0a793cbeebac15e9a


Antisemitische Parolen: «Wahnsinn muss enden»
An Pro Palästina-Demos in Basel wurden streit¬bare Slogans präsen¬tiert. SVP-Gross¬rat Pascal Messerli will Anzeige erstatten.
https://primenews.ch/articles/2023/10/antisemitische-parolen-wahnsinn-muss-enden


+++RECHTSEXTREMISMUS
tagblatt.ch 30.10.2023

In Schweizer Brockis werden Nazi-Gegenstände gehandelt – doch die Politik tut sich schwer mit einem Verbot

Seit über zwanzig Jahren diskutieren Bundesrat und Parlament darüber, ob rassistische, gewaltverherrlichende Symbole verboten werden sollen. Doch ein Entscheid liegt bis heute nicht vor. Die Politik dreht sich im Kreis.

Chiara Stäheli

Eine Recherche dieser Zeitung wühlt auf. Die Tatsache, dass in Schweizer Brockenhäusern Gegenstände aus der Nazi-Zeit zur Schau gestellt und verkauft werden, sei «erschreckend», die Verharmlosung dieser Symbole «unverständlich», schreiben Leserinnen und Leser in der Kommentarspalte zum Artikel. Darin wird auch die Frage diskutiert, ob die Verwendung solcher Gegenstände und Kennzeichen des Nationalsozialismus verboten und unter Strafe gestellt werden sollen.

Ebendies beschäftigt Bundesrat und Parlament seit Jahren. Nationalrätin Marianne Binder (Mitte/AG), die sich schon lange für ein Verbot von rassistischen Symbolen einsetzt, spricht von einer politischen Endlosschlaufe: «Die Diskussion fängt immer wieder von vorne an. Zuerst scheiterte ein Vorschlag, weil es hiess, er sei zu weit gefasst. Und nun wiederum gilt eine konkrete Motion meinerseits als zu spezifisch.»

Verbot sei nur «sehr schwer anzuwenden»

Tatsächlich treibt das Thema das Parlament seit bald zwanzig Jahren um. Nachdem der Bundesrat 2003 eine Debatte über die öffentliche Verwendung von rassistischen Kennzeichen lancierte, forderte 2004 die nationalrätliche Kommission für Rechtsfragen in einer Motion, dass die «öffentliche Verwendung von Symbolen, welche extremistische, zu Gewalt und Rassendiskriminierung aufrufende Bewegungen verherrlichen», unter Strafe zu stellen sei. Beide Räte stimmten dem Vorstoss zu.

Vier Jahre später schickte der Bundesrat – wie in der Motion gefordert – einen Vorschlag für ein Verbot in die Vernehmlassung. Obschon sich gemäss damaliger Mitteilung des Bundesrats «rein rechnerisch eine Mehrheit grundsätzlich für den Vorschlag» aussprach, verzichtete die Landesregierung darauf, eine neue Strafnorm zu schaffen. Die Begründung: Eine solche Bestimmung sei «nur sehr schwer anzuwenden», weil eine klare Definition der rassistischen Symbole nicht möglich sei.

Der Bundesrat wies zudem daraufhin, dass sich gemäss geltendem Gesetz schon jetzt strafbar mache, wer rassistische Symbole mit der Absicht verwendet, für eine entsprechende Ideologie zu werben oder Angehörige einer Rasse, Ethnie oder Religion systematisch herabzusetzen. Dieser Grundsatz ist im Antirassismus-Gesetz geregelt.

Nationalrat stimmt Verbot zu

Die Kritik aus der Vernehmlassung veranlasste Politiker in der Folge dazu, sich auf ein Verbot bestimmter Symbole zu fokussieren. Schliesslich schien eine allgemeine Formulierung an der Abgrenzungsproblematik zu scheitern. Weil sich der Antisemitismus gerade während der Corona-Pandemie wieder stärker auszubreiten schien, reichte etwa Marianne Binder vor zwei Jahren einen neuen Vorstoss ein. Sie fordert darin ein Verbot für die Verwendung von Kennzeichen des Nationalsozialismus in der realen und digitalen Öffentlichkeit. Dazu zählen gemäss Binder namentlich Gesten, Parolen, Grussformen, Zeichen und Fahnen sowie Gegenstände, welche solche Kennzeichen darstellen.

Allerdings vermochte auch dieser Vorstoss den Bundesrat nicht von seiner Haltung abzubringen. Immerhin sah sich dieser gezwungen, die Thematik in einem Bericht genauer anzuschauen. Darin kommt das Bundesamt für Justiz zum Schluss, dass es zwar technisch möglich wäre, ein Verbot im Gesetz zu verankern. Allerdings sehen die Praktiker «keinen dringenden Handlungsbedarf». Zudem würde die Formulierung dieses Verbots «eine grosse Herausforderung darstellen», heisst es im Bericht.

Entgegen der Empfehlung des Bundesrats stimmte der Nationalrat im Mai der Motion Binder deutlich zu. Gegenstimmen gab es vor allem aus der SVP, vereinzelt auch aus der FDP. Man hätte meinen können, eine Lösung sei nun auf gutem Weg – fehlt nur noch die Zustimmung aus der kleinen Kammer. Ebendiese ist aber alles andere als gewiss: Die vorberatende Kommission des Ständerats empfiehlt Binders Motion zur Ablehnung. Sie ist der Meinung, dass ein Verbot nicht auf Nazisymbole limitiert werden soll, sondern dass auch andere rassendiskriminierende, extremistische Symbole unter das Verbot fallen sollen.

Binder staunt über das Vorgehen der ständerätlichen Kommission: «Sie katapultiert uns alle wieder auf Feld 1. So wird das nichts.» Dabei sei es wichtig, nun endlich ein Verbot konkreter Nazi-Symbole zu beschliessen und der «Verharmlosung dieses einmaligen Verbrechens» entschieden entgegenzutreten. «Worauf wartet man denn? In einem weiteren Schritt können immer noch zusätzliche Symbole oder Kennzeichen anderer rassistischer Ideologien verboten werden.»
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/rassismus-in-schweizer-brockis-werden-nazi-gegenstaende-gehandelt-doch-die-politik-tut-sich-schwer-mit-einem-verbot-ld.2535009)

-> https://www.nau.ch/news/schweiz/nazi-stucke-boomen-in-schweizer-brockenhausern-66639749


+++HISTORY
«Wer schreibt denn Geschichte? Wer prägt Erinnerungskultur?»
Die «Tour de Nouvelle Suisse» des Instituts Neue Schweiz (INES) kommt in die Ostschweiz. Projektleiterin Myrsini Arvanitis über das neue Bürger:innenrecht, postmigrantische Netzwerke und die löchrige Schweizer Geschichtsschreibung.
https://www.saiten.ch/wer-schreibt-denn-geschichte-wer-praegt-erinnerungskultur/



derbund.ch 30.10.2023

Koloniale Verstrickungen im Berner Museum: Was tun, wenn die Sammlung mit einem Völkermord zusammenhängt?

Das Bernische Historische Museum geht neue Wege im Umgang mit belasteten Objekten – und verfolgt eine Kooperation mit Namibia, die viel neues Wissen nach Bern bringt.

Michael Feller

Victor Solioz hatte Grosses vor: Der 1857 geborene Ingenieur aus dem Jura sollte für die deutsche Kollonialgesellschaft Otavi Minen- und Eisenbahngesellschaft eine Eisenbahn bauen: Im heutige Namibia, das damals Deutsch-Südwestafrika genannt wurde, sollte die neue Bahnstrecke die Kupferminen von Tsumeb mit der Küstenstadt Swakopmund verbinden. Ein Projekt, das in einer Katastrophe gipfelte.

Gegenstände der lokalen Bevölkerung

Solioz war aber nicht nur damit beschäftigt, von 1902 bis 1905 den Eisenbahnbau zu planen und zu überwachen. Mit seiner Frau Marie Solioz sammelte er in der Gemeinde Usakos, wo er damals lebte, auch Alltagsgegenstände der lokalen Bevölkerung.

Letztlich waren es 545 Objekte, die er 1906 dem Bernischen Historischen Museum übergab, davon 330 aus Namibia. Körbe, Kleidung, Kopfschmuck, die nie ausgestellt wurden und auch sonst niemanden interessierten. Im Museumsjargon spricht man von «toten Objekten»: Man weiss so wenig darüber, dass sie keine Relevanz haben.

Die Sammlung Solioz war also unbedeutend – bis das Museum das ehrgeizige Projekt startete, genau zu erfassen, was in seinen Depots liegt: die «Sammlungserschliessung und Bereinigung». Dabei ging es auch darum, Unnötiges zu deakzessionieren – also andernorts einen geeigneteren Platz dafür zu finden – und Problemzonen ausfindig zu machen. Das Forschungsprojekt «Spuren kolonialer Provenienz» zeigte schliesslich auf, dass im Haus diverse Sammlungen und Einzelstücke von problematischer Herkunft lagern.

Das jetzige Projekt «Making of Common History» zusammen mit Forschenden aus Namibia und der Bevölkerung von Usakos ist daraus enstanden. Historiker Samuel Bachmann leitet das Projekt, das vor wenigen Tagen in Bern vorgestellt wurde. «Für uns ist Restitution kein Event, der stattfindet und dann abgeschlossen ist», sagt er. «Es ist ein Prozess.» Für das Berner Museum sei es erst mal eine Chance, im Austausch mit Namibia viel zu lernen. Etwa über die – vermeintlich – toten Objekte.

Anders als bei der Kunst

Im Falle der Sammlung Solioz ist es unmöglich, zu rekonstruieren, wem genau die Objekte gehört haben und wie sie in den Besitz des Eisenbahningenieurs kamen. Ein mögliches Szenario ist gar, dass er sie ganz einfach käuflich erworben hat oder dass sie ihm durch die Familien der Eisenbahnbauer geschenkt wurden. Ein anderes Szenario ist, dass sie aus den verlassenen Häusern der Fliehenden eingesammelt wurden.

Wegen der Ungewissheit hat das Historische Museum die Sammlung Solioz als «bedenklich» klassifiziert. Sie ist verstrickt mit dem Kolonialismus und einer Katastrophe, die heute als erster Genozid des 20. Jahrhunderts gilt. Für die Eisenbahnlinie wurden Arbeiter aus dem ganzen Land rekrutiert. Die Otavi Minen- und Einsenbahgesellschaft brachte Arbeit – doch das Deutsche Kaiserreich als Besatzungsmacht handelte unerbittlich und unmenschlich.

Für den Bau der Eisenbahn begingen sie Landraub. Es war eine Aktion, die den schwelenden Konflikt zwischen den Herero und der Kolonialmacht zum Aufstand eskalieren liess. Dieser wurde von den Deutschen blutig niedergeschlagen. Es kam zu Vertreibungen und zum Völkermord an den Herero und Nama.

Viele Menschen flohen in die Omaheke-Wüste. Diese liess der deutsche Generalleutnant Lothar von Trotha abriegeln. Die Flüchtenden wurden von den wenigen Wasserstellen vertrieben. Sie verdursteten samt ihren Viehherden. 40’000 bis 60’000 Herero sowie ungefähr 10’000 Nama kamen ums Leben.

Chance einer «gemeinsamen Geschichte»

Solioz brachte seine Arbeit zu Ende, auch wenn mit seinem Bauwerk ein schreckliches Gemetzel verbunden war. Die Frage, ob er dadurch Profiteur des Unrechts wurde und moralisch schlecht gehandelt hat, ist für das Projekt «Making of Common History» nicht im Zentrum des Interesses. Es geht um eine «gemeinsame Geschichte», die über die Objekte zwischen Bern und Usakos besteht – «und vor allem um eine gemeinsame Zukunft», sagt Projektleiter Samuel Bachmann. Das sei eine «grosse Chance».

Ob die 300 Objekte allesamt und definitiv zurück nach Namibia gehen, ist wahrscheinlich, aber offen. «Das Ziel ist es, sie zugänglich zu machen», sagt Bachmann. Im Sommer fand ein erster Workshop in Usakos statt, unter Beteiligung der lokalen Bevölkerung. Usakos hat rund 7000 Einwohnerinnen und Einwohner – und seit wenigen Jahren ein Museum. Die Museums Association of Namibia fördert dieses Regionalmuseum und ist ebenfalls am Projekt beteiligt.

Die Museen nehmen eine wichtig Rolle in der Entwicklung der namibischen Gesellschaft ein. Der Erarbeitung einer «gemeinsamen Geschichte» kommt im Land selbst einer grossen Bedeutung zu. Nach der Kolonialzeit unter deutscher Herrschaft (1884 bis 1920) geriet das Land unter die Fremdverwaltung Südafrikas.

Namibia hat dadurch nicht nur eine Kolonial- sondern auch eine Apartheidsgeschichte. Erst seit 1990 gibt es das Land in der heutigen Form. Der Zusammenhalt in der multiethnische Gesellschaft ist entsprechend verletzlich – die Gefahr besteht, dass Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt werden.

Neue Erkenntnisse

Dank des Wissens vor Ort gab es neue Erkenntnisse über die Sammlung Solioz. «Es ist keine einheitliche Sammlung. Die Objekte stammen aus verschiedenen Ethnien», sagt Bachmann. Sie zeugen einerseits davon, dass Menschen aus dem ganzen Land an der Eisenbahn unter Vicor Solioz arbeiteten, und andererseits davon, dass Usakos bereits damals eine sehr diverse Gemeinde war. Insofern hat diese Geschichte sehr viel mit der Gegenwart zu tun.

Beim Workshop in Usakos kam der Wunsch auf, dass bei einer Ausstellung nicht nur die Gegenstände der Sammlung Solioz ausgestellt werden, sondern auch Alltagsgegenstände der Schweizerinnen und Schweizer. Eine Idee, die sogleich Fragen aufwirft: Welches sind die Schweizer Pendants zu den Körben, Kleidern und dem Kopfschmuck, die Victor und Marie Solioz Anfang des letzten Jahrhunderts sammelten?

«Wir sind erst am Anfang des Projekts», sagt Bachmann, bis es zu einer Ausstellung in Usakos kommt, gilt es noch viele Fragen zu klären. Ideen hat er schon, wie man die gemeinsame Geschichte mit Objekten aus der Schweiz zeigen könnte. Die Schweiz war damals ebenfalls mit grossen Eisenbahnbauwerken beschäftigt, unter schwierigen Bedingungen für die meist ausländischen Arbeiter. «Diese Gemeinsamkeit wäre vielleicht ein Ansatz», sagt er. Sein Wunsch wäre, dass es auch in Bern eine Ausstellung gibt, bevor die Objekte nach Namibia reisen.

Bis dahin ist es noch ein weiter Weg. Die Richtung des Projekts ist klar. «Die Sammlung soll zugänglich gemacht werden – dort, wo sie herkommt», sagt Samuel Bachmann. Die kolonialistische Verstrickung, die das Museum durch die Objekte hat, bietet letztlich durch Projekte wie diese eine Chance, das Wissen zu vergrössern – über die eigene Sammlung und den bereichernden Umgang damit.
(https://www.derbund.ch/koloniale-verstrickungen-im-berner-museum-was-tun-wenn-die-sammlung-mit-einem-voelkermord-zusammenhaengt-438106564836)