Medienspiegel 14. Oktober 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++ATLANTIK
Migranten aus Westafrika – Die vielen Flüchtlinge überfordern die Kanaren
Die spanische Inselgruppe ist kaum für die vielen Ankömmlinge ausgerüstet. Und Hilfe aus Madrid gibt es bislang keine.
https://www.srf.ch/news/international/migranten-aus-westafrika-die-vielen-fluechtlinge-ueberfordern-die-kanaren


+++FREIRÄUME
Genève se rebelle, occup’ en cours !
[Suivi] Le Collectif Bâtiments Vides et ses allié.e.x.s occupent en ce moment un quartier entier à Meyrin et dénoncent l’expansion industrielle par le projet T27. Viens nous rejoindre !
https://renverse.co/infos-locales/article/geneve-se-rebelle-occup-en-cours-4179


Kesselhaus der EWZ an Wasserwerkstrasse wurde erneut besetzt
«Heute, dem 14. Oktober 2023 haben wir das seit langem leerstehende Gebäude der EWZ an der Wasserwerkstrasse in Wipkingen wieder besetzt», kündigt die Besetzer-Truppe an. Das Kesselhaus an der Limmat wurde bereits vor einem Jahr, Ende Oktober 2022 besetzt. Das EWZ reichte damals Strafanzeige ein, und das Gebäude, das sich in einem schlechten baulichen Zustand befindet, wurde polizeilich geräumt.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/ewz-kesselhaus-an-der-wasserwerkstrasse-wurde-erneut-besetzt-145130875
-> https://twitter.com/i/status/1713297212480864753
-> https://twitter.com/OA_Zuerich/status/1713274339359887695
-> https://alleswirdbesetzt.ch/was-passiert/der-autonome-umschlagplatz-ist-eroeffnet/


+++GASSE
«Ich hoffe, dass ich irgendwann nicht mehr für Gratis-Essen und -Kleidung anstehen muss»
Die Armutsquote steigt in der Schweiz an. Angebote wie Gratis-Essensausgabe oder Caritas-Märkte verzeichnen Rekorde.
https://www.watson.ch/schweiz/wirtschaft/847795499-armut-in-der-schweiz-organisationen-schlagen-alarm


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Solidarität mit Palästina: Rund 400 Menschen versammeln sich in Bern
Am Samstag haben sich in Bern Menschen versammelt, um ihre Solidarität zu Palästina auszudrücken.
https://www.derbund.ch/solidaritaet-mit-palaestina-rund-200-menschen-versammeln-sich-in-bern-891362926929
-> https://www.blick.ch/ausland/hamas-ruft-weltweit-zu-protesten-auf-kommt-es-heute-zu-gewalt-demos-auf-den-strassen-id19036615.html
-> https://www.20min.ch/story/bewilligte-kundgebung-organisatoren-rufen-zu-pro-palaestina-demo-in-bern-auf-121673218515
-> https://twitter.com/swissfenian/status/1713194014554399103
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/theater-als-stadtrundgang-ein-berner-anwalt-soll-mut-machen?id=12472296
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/palaestina-kundgebung-fordert-humanitaere-hilfe-fuer-gaza-154170502
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/hunderte-leute-versammelten-sich-fuer-pro-palaestina-demo-in-bern-154161580?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154171236
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/mehrere-hundert-menschen-solidarisieren-sich-in-bern-mit-palastina-66628550
-> https://www.20min.ch/story/bewilligte-kundgebung-organisatoren-rufen-zu-pro-palaestina-demo-in-bern-auf-121673218515



derbund.ch 14.10.2023

Palästina-Demo in Bern: Viel Israel-Kritik und umstrittene Redner auf der «Schütz»

Rund 400 Menschen solidarisierten sich am Samstag in Bern mit Palästina. Die Demo blieb friedlich, wirft aber dennoch Fragen auf.

Michael Bucher

Es mutet seltsam an: Am Donnerstag leuchtet der Zytglogge, Berns Wahrzeichen, in den Israel-Farben. Nach dem Terrorangriff der Hamas setzte die Stadt damit ein Zeichen der Solidarität gegenüber dem überfallenen Land. Ein ganz anderes Bild gibt die Bundesstadt am Samstagnachmittag ab. «Israel Terroristen! Israel Kindermörder!», hallt es über die Schützenmatte. Ein Redner stimmt an, viele in der Menge sprechen ihm nach.

Rund 400 Menschen haben sich um 14 Uhr trotz teils heftiger Regenschauer auf der Schützenmatte eingefunden, um ihre Solidarität mit Palästina kundzutun. Denn seit Israel zum Gegenangriff im Gazastreifen angesetzt hat, sterben auch dort Zivilisten. Zur Kundgebung aufgerufen hatte die Organisation Palästina-Gruppe Bern. Anders als Zürich und Basel am Freitag hat Bern die Pro-Palästina-Kundgebung nicht verboten.

«Wir werden friedlich demonstrieren, dafür setze ich mich ein», sagte Rima Faragalla, welche die Demonstration mitorganisiert hat, im Vorfeld gegenüber dieser Zeitung. Die 19-Jährige ist in Bern aufgewachsen, hat aber Familienangehörige im Gazastreifen. Zur Hamas geht sie auf Distanz: «Die Terrorangriffe verurteilte ich zu hundert Prozent.»

Heikle Parolen und Kritik an der Stadt

Tatsächlich verläuft die Kundgebung friedlich. Es werden Palästina-Fahnen geschwungen, arabische Musik läuft und es wird getanzt. Viele Anwesende fordern angesichts der israelischen Bodenoffensive in Gaza den Schutz der Menschenrechte und humanitäre Hilfe für die dortige Zivilbevölkerung.

Doch dann hat es eben auch Redner, die mit antiisraelischen Parolen auffallen. Selbst die junge Mitorganisatorin stimmt die umstrittenen Zeilen «From the river to the sea, Palestine will be free» an. Mit dem Satz ist gemeint, es solle ein freies Palästina geben auf einem Gebiet vom Fluss Jordan bis zum Mittelmeer – dort, wo sich jetzt Israel befindet. In ihrer Rede übt sie auch Kritik an der Stadt Bern für die Projektion am Zytglogge.

Vor Ort ist auch die marxistische Gruppierung Der Funke und verteilt Flugblätter mit dem Titel: «Was können wir Kommunisten tun, um Palästina zu befreien?» Die Gruppe hatte am Donnerstag eine Veranstaltung an der Universität Bern geplant, was diese jedoch untersagte.

Unter den Rednern auf der «Schütz» befindet sich auch Nicolas Blancho, Präsident des Vereins Islamischer Zentralrat Schweiz (IZRS). Der umstrittene Muslim darf gar als Erster eine Rede halten, die allerdings aufgrund der schlechten Tonqualität kaum hörbar ist.

Mitorganisatorin Rima Faragalla meinte dazu später auf Anfrage: «Da ich zu Beginn beschäftigt war, hatte ich keine Kenntnis darüber, wer der erste Sprecher war.» Weiter wollte sie sich nicht zur Kundgebung äussern.

Nause: «Absolut unschön»

Berns Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte) hatte im Vorfeld keine Kenntnisse von den Rednern, wie er auf Anfrage sagt. Zu den teils antiisraelischen Parolen, die skandiert wurden, meint er: «Das ist natürlich absolut unschön.»

Hätte man die Kundgebung besser doch nicht bewilligen sollen? Das findet Nause nicht. «Die Lageeinschätzung der Kantonspolizei war gut, die Kundgebung verlief friedlich.» Man habe sehr genau hingeschaut, wer der Absender der Kundgebung war. «Das werden wir auch in Zukunft tun.» Nause befürchtet, dass die Situation im Nahen Osten der Bundesstadt noch einige heikle Demos bescheren könnte. «Ich blicke diesbezüglich mit grosser Sorge in die Zukunft.»

Nach zwei Stunden löst sich die Kundgebung auf. Eine junge Frau aus Zürich hat die Versammlung schon früher verlassen. Sie hatte ihre Kollegen mit palästinensischen Wurzeln begleitet. «Wir wollten ein Zeichen für die Einhaltung der Menschenrechte in Gaza setzen», sagt sie. Doch als sie realisiert habe, dass Leute wie Nicolas Blancho auftreten, hätten sie und ihre Kollegen die Demo verlassen. «Dahinter können wir nicht stehen.»
(https://www.derbund.ch/palaestina-demo-in-bern-viel-israel-kritik-und-umstrittene-redner-auf-der-schuetz-298119815341)



Organisatoren rufen zu Pro-Palästina-Demo in Bern auf
Unter dem Motto «Solidarität für Palästina» findet am Samstag in der Berner Innenstadt eine bewilligte Kundgebung statt.


Guerre Israël-Hamas: Environ 6000 manifestants pro-palestiniens à Genève
La branche armée du Hamas a lancé une offensive surprise contre Israël, samedi 7 octobre, suivie de représailles de Tsahal. Des centaines de personnes ont perdu la vie dans les deux camps. Suivez les événements en direct.
https://www.20min.ch/fr/story/operation-deluge-dal-aqsa-des-centaines-de-roquettes-tirees-de-la-bande-de-gaza-vers-israel-238434023542
-> https://www.rts.ch/info/regions/geneve/14391001-la-cause-palestinienne-fait-descendre-6000-personnes-dans-la-rue-a-geneve.html


«Walk for Freedom»: Protest in Bern gegen Menschenhandel und Sklaverei
Am Samstag fanden weltweit über 500 «Walk for Freedom» statt. Auch in Bern demonstrierten rund 150 Personen gegen Menschenhandel und Sklaverei.
https://www.derbund.ch/walk-for-freedom-protest-in-bern-gegen-menschenhandel-und-sklaverei-249774311549
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/150-personen-demonstrieren-am-walk-for-freedom-in-bern-154169961


Slow March in Zürich
Max Voegtli bei Klima-Aktion auf Quaibrücke verhaftet
Am Samstagnachmittag blockierten 12 Klimaaktivisten von Renovate Switzerland kurzzeitig die Quaibrücke in Zürich. Mit ihrem Slow March forderten sie unter anderem, dass der Klimanotstand ausgerufen werde. Gemäss einer Mitteilung der Aktivisten wurde Max Voegtli bei der Aktion verhaftet.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/max-voegtli-bei-klima-aktion-auf-quaibruecke-verhaftet-154169142?autoplay=true&mainAssetId=Asset:154169118


+++HISTORY
Frühe LGBTIQ-Szene Schweiz: Chronistin einer Parallelwelt
Sie war eine Uneheliche, ein Pflegekind, eine Lesbe. Nach einer dunklen Kindheit fand Liva Tresch in der schwullesbischen Szene im Zürich der 1960er- und 70er-Jahre ihre Befreiung – und wurde zur Chronistin einer Parallelwelt, die über die Schweiz hinaus ausstrahlte.
https://www.swissinfo.ch/ger/die-unberuehrbare/48701478



beobachter.ch 13.10.2023

Schweizer Babys in alle Welt exportiert

Die St. Galler Adoptionsvermittlerin Alice Honegger vermittelte Säuglinge von «gefallenen Müttern» ins Ausland – teils mit Wissen der Behörden.

Von Otto Hostettler

Ein «uneheliches» Kind brachte Frauen in den 1950er- und 1960er-Jahren oft in grosse Not. Sie gerieten in den Fokus der Behörden, sie wurden in Heime, Anstalten und ins Frauengefängnis gesteckt und «administrativ versorgt». Gleichzeitig drängte man sie dazu, ihre Babys zur Adoption freizugeben.

Jetzt belegen Recherchen des Beobachters erstmals, was mit den Babys passierte: Eine unbekannte Anzahl wurde an kinderlose Paare im Ausland verschachert. Strippenzieherin war auch da die umstrittene Adoptionsvermittlerin Alice Honegger.

Bekannt und von verschiedenen Forschungsarbeiten bestätigt ist, dass die St. Gallerin 50 Jahre lang den Kinderwunsch von Schweizer Ehepaaren erfüllte – mit ethisch fragwürdigen Methoden. Das weisen verschiedene Forschungsarbeiten nach. Ab den 1970er-Jahren brachte sie Hunderte Babys unter illegalen Umständen aus Sri Lanka in die Schweiz. Die Einträge auf den Adoptionsurkunden waren oft frei erfunden, Frauen in Sri Lanka unterschrieben sie gegen Bezahlung, obschon sie gar nicht die leiblichen Mütter waren (siehe «Fragwürdige Adoptionen werden untersucht», unten).

Jetzt kommt ans Licht: Bevor Honegger Kinder aus dem Ausland in die Schweiz holte, exportierte sie Schweizer Babys in alle Welt. Dokumente zeigen, dass die Adoptionsvermittlerin damals direkt von Frauenspitälern kontaktiert wurde, wenn ein Baby fremdplatziert werden sollte. Sie nutzte ein Netz von Familien, bei denen sie die Neugeborenen unterbringen konnte, bis sie die nötigen Papiere für die Ausreise der Säuglinge besorgt hatte.

53 Pflegekinder bei einer Familie

Erika und Paul H. waren eine solche Pflegefamilie. Innerhalb von 15 Jahren hatte das Ehepaar aus Schaffhausen 53 Pflegekinder. Das erzählt die Tochter der beiden, Erica B., heute 75 Jahre alt. Das erste Baby kam 1956 zur Familie, noch am früheren Wohnort in Erstfeld UR. Vater Paul H., SBB-Lokomotivführer, führte genau Buch, welches Kind zu welchem Zeitpunkt zur Familie stiess und wann es der Adoptivfamilie übergeben wurde. Von der Liste der Babys ist nur die erste Seite erhalten, sie dokumentiert das Schicksal von 38 Kindern.

Mindestens 16 dieser Kinder wurden an Familien im Ausland vermittelt. Drei Babys kamen nach Holland, zwei nach Südafrika (Johannesburg), andere kamen nach Frankreich (Paris), Bahrain, Saudi-Arabien, Spanien (Madrid), Indien (Mumbai), Pakistan (Karatschi) oder Mexiko.

Sieben Franken pro Tag und Kind

Wie die Familien rund um den Globus von Alice Honegger erfahren haben, geht aus den Dokumenten nicht hervor. Zu einigen dieser Adoptionen liegen im Staatsarchiv Zürich noch Akten, die aber aufgrund der gesetzlichen Schutzfrist noch bis mindestens 2035 unter Verschluss bleiben.

Pro Tag und Kind erhielt die Familie in Schaffhausen von Alice Honegger sieben Franken, erzählt die Tochter. Aus Unterlagen des Staatsarchivs Zürich geht hervor: Das nötige Geld trieb Alice Honegger bei der Mutter ein, bei Angehörigen oder der Amtsvormundschaft, bei der Heimatgemeinde oder der Wohngemeinde der leiblichen Mutter.

In den Akten fehlt jede Spur

Erica B. erzählt, wie sie mit ihrer Mutter in verschiedenen Spitälern die Neugeborenen abholte. Die leiblichen Mütter hätten sie nie getroffen. «Meine Mutter erhielt jeweils von Alice Honegger einen Anruf, wir könnten das Kind in diesem oder jenem Spital abholen.» Sie erinnert sich an das Spital Luzern, Dokumente liegen dem Beobachter zu zwei Fällen aus dem Frauenspital Basel vor. In einem anderen Fall ist klar, dass auch die Frauenklinik des Unispitals Zürich involviert war.

In den beiden Basler Fällen kontaktierte die Sozialarbeiterin des Spitals – damals Fürsorgerin genannt –  die Adoptionsvermittlerin und bot ihr die Neugeborenen an. In einem dieser Fälle, so belegen Akten der damaligen Fremdenpolizei, wurde die Basler Vormundschaftsbehörde nicht informiert, und es wurde auch kein Beistand eingesetzt. Gemäss Auskunft des Einwohneramts wurde dieses Baby auf der Registerkarte der Mutter nicht eingetragen.

In den Schaffhauser Vormundschaftsakten ist kein einziges der 53 Pflegekinder erwähnt. Und auch die Pflegefamilie H. ist nicht aktenkundig.

Die Babys am Flughafen Zürich abgegeben

Ihre Mutter habe in der Kinderbetreuung so etwas wie ihre Lebensaufgabe gefunden, erzählt Erica B. «Mit fast jedem Kind ist meine Mutter am Bahnhof in den Fotoautomaten gesessen und fotografierte sich gemeinsam mit dem Baby.» Diese Fotos habe die Mutter zu Hause in der Küche an den Schrank gehängt. Dort blieben sie, bis sie 2011 starb und ihr Mann ins Altersheim zog. Dann nahm die Tochter die Kinderfotos zu sich.

Während die Babys in Schaffhausen waren, besorgte Alice Honegger Reisepapiere und organisierte mit der Adoptivfamilie die Übergabe. Erica B. erinnert sich, wie sie mehrmals mit ihrer Mutter und den Babys zum Flughafen Zürich-Kloten fuhr. Dort trafen sie die neuen Eltern und übergaben ihnen das Kind. Das seien keine einfachen Momente gewesen, meint Erica B. «Für uns war es sehr traurig, wenn die Kinder nach so kurzer Zeit schon wieder gehen mussten.»

«Systematischer Babyhandel»

«Honeggers Tätigkeit war systematischer Babyhandel, bei dem die Akteure auch daran verdient haben», sagt Thomas Gabriel, der an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften zu Adoptionen forscht. Der Leiter des Instituts für Kindheit, Jugend und Familie fragt sich: «Wer hat diese Adoptionen ins Ausland von Seiten der Behörden eigentlich überwacht, wie erhielten diese Babys Identitätspapiere für ihre Ausreise?»

Die neuen Erkenntnisse passen für Historiker Thomas Huonker ins Bild der damaligen Zeit. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Kindswegnahmen und Fremdplatzierungen durch die Behörden. «In den 1960er-Jahren wurden ledige Frauen in grosser Anzahl dazu gedrängt, ihre Kinder zur Adoption freizugeben.»

Aufgrund dieser fürsorgerischen Zwangsmassnahmen habe es in der Schweiz zeitweise ein grosses Angebot an Kindern gegeben, die adoptionswilligen Eltern vermittelt wurden. Aufgrund des gesellschaftlichen Wandels seien Anfang der 1970er-Jahre Mädchenheime und Anstalten für «liederliche» Frauen geschlossen worden. So sei es dann zu einem Überhang an adoptionswilligen Ehepaaren in der Schweiz gekommen. Die Folge: Adoptionen aus dem Ausland, vor allem Sri Lanka, nahmen sprunghaft zu.

«Bedenken und unkorrekte Abrechnungen»

Hinweise, dass Alice Honegger Schweizer Kinder im Ausland platzierte, gab es bereits 2018. In einem Bericht im Auftrag des Kantons St. Gallen zu den fragwürdigen Adoptionen aus Sri Lanka schreibt die Studienautorin Sabine Bitter: Mit ihrer «privaten Mütter- und Kinderfürsorge» habe Honegger Kinder nicht nur «an Ehepaare in der Schweiz, sondern auch an Familien im Ausland» vermittelt. Und: «Ende der 1950er-Jahre sah sie sich deswegen zunehmender Kritik ausgesetzt.» Die Studienautorin bezieht sich dabei auf den Präsidenten der Vermittlungsstelle, der angeblich auf Wunsch von Alice Honegger 1958 das Amt übernahm und einen Ausschuss bildete, «um die Auslandsplatzierungen zu überwachen».

Aktenkundig wurden die Aussagen des Vereinspräsidenten, weil die Kantonspolizei 1966 dem Kanton über die Vermittlertätigkeit von Alice Honegger Bericht erstatten musste und ihn deshalb befragte. Der Präsident sprach im Zusammenhang mit den Auslandsplatzierungen von «Bedenken und unkorrekten Abrechnungen». Es hiess, Honegger habe sich bei Auslandsplatzierungen «unrechtmässig» bereichert, und ihre Arbeitsweise «grenze an Kinderhandel». Alice Honegger bestritt «solche Machenschaften» stets.

Die Vermittlerin betrieb ihr Geschäft weiter

Im März 1964 wurde Alice Honegger vom Verein «suspendiert» und fünf Monate später entlassen. 1965 versicherte der Verein dem zuständigen St. Galler Regierungsrat, Platzierungen ins Ausland würden in Zukunft nur noch äusserst selten und nur in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Sozialdienst stattfinden.

Alice Honegger hingegen eröffnete im August 1964 in Bollingen SG das Mütterheim «Haus Seewarte». Hier nahm sie ledige schwangere Frauen bis nach der Geburt ihrer Kinder auf. Das Vermittlergeschäft ging weiter. Zum Beispiel am 14. Februar 1965, als der zwei Monate alte Martin nach Südafrika gebracht wurde. Oder am 29. Juli 1966. An diesem Tag holte ein holländisches Paar in Schaffhausen ein knapp vier Monate altes Mädchen ab. Es hiess Susanne.

Mitarbeit: Alessia Cerantola, Leslie Knott



Fragwürdige Adoptionen werden untersucht

Die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) untersuchte 2020 im Auftrag des Bundesamts für Justiz die Tätigkeit der Adoptionsvermittlerin Alice Honegger und kam zum Schluss: Zwischen 1973 und 1997 stellten die Schweizer Behörden 950 Einreisebewilligungen für Babys aus Sri Lanka aus.

Schockierend daran: Seit den frühen 1980er-Jahren wusste die breite Öffentlichkeit von dem Kinderhandel. Mehr noch: «Den Schweizer Behörden war bekannt, dass in Colombo Kinder gegen Geld, Güter des täglichen Bedarfs und Luxuswaren eingetauscht wurden. Die Personen, die Kinder aus Sri Lanka in die Schweiz vermittelten, waren Teil eines korrupten Systems», heisst es in der ZHAW-Studie.

Das Ausmass von Alice Honeggers Vermittlertätigkeit wird derzeit weiter untersucht. Aus einer Studie im Auftrag des Kantons St. Gallen von 2018 geht hervor, dass Honegger 1973 angab, rund 2000 Pflege- und Adoptivkinder platziert zu haben. Ihre Arbeit führte sie danach 25 Jahre weiter. Noch diesen Herbst soll ein neuer Bericht der ZHAW veröffentlicht werden, in der die Adoptionen aus zehn weiteren Ländern thematisiert werden. Für nächstes Jahr ist die Veröffentlichung eines Forschungsberichts der Uni St. Gallen zu Adoptionen aus Indien geplant.
(https://www.beobachter.ch/gesellschaft/schweizer-babys-in-alle-welt-exportiert-639827)



Zwangsadoptierte haben Recht auf Entschädigung
Das Bundesgericht hat entschieden: Auch Zwangsadoptierte haben ein Anrecht auf Wiedergutmachung. Der Bund muss seine bisherige Praxis ändern.
https://www.beobachter.ch/administrativ-versorgte/zwangsadoptierte-haben-recht-auf-entschadigung-607675
-> https://www.derbund.ch/leitentscheid-des-bundesgerichts-opfer-von-zwangsadoption-erhalten-eine-entschaedigung-954152983018



hauptstadt.be 14.10.2023

Gerade jetzt: Mutgeschichten

Ein neues Stationentheater führt durch Bern. Es wirft den Blick zurück auf das Leben eines jungen Berner Anwalts vor dem Zweiten Weltkrieg – und erzählt auch andere mutmachende Geschichten.

Von Marina Bolzli (Text) und Manuel Lopez (Bilder)

Das Besondere an einem Stationentheater sind die flüchtigen Momente, wenn das ganz normale Berner Alltagsleben auf eine Fiktion trifft. Vor dem Mobiliar-Gebäude beim Hirschengraben blicken die vorbeisausenden Velofahrer*innen plötzlich ganz erstaunt zur Seite, weil sie nicht verstehen, warum da jemand mit einem Schild in der Hand auf sie zeigt. Auf der kleinen Schanze unterhalten sich Jugendliche in einer slawischen Sprache einen Tick zu laut, vermutlich gerade, weil sie merken, dass nebenan ein Theatermonolog gesprochen wird. Und am Loebegge tanzt eine Strassenkünstlerin mit wilden Verrenkungen zu einem technoiden Stück, während das Publikum mit raschen Schritten weitergeht.

«Zivilcourage bewegt – das Prinzip Brunschvig» heisst der neue theatrale Rundgang des Theaters an der Effingerstrasse, der an diesem Samstag Premiere feiert. Er dauert gut 1,5 Stunden und führt über knapp zwei Kilometer durch die Innenstadt, vom Theater an der Effingerstrasse bis in die Heiliggeist-Kirche. Dabei wird die Geschichte des mutigen jüdischen Berner Anwalts Georges Brunschvig (1908-1973) erzählt, der sich sein Leben lang für Menschenrechte eingesetzt hat und Anwalt beim damaligen Berner Prozess war, auf den die «Hauptstadt» diesen Sommer ausführlich zurückgeschaut hat.
-> https://www.hauptstadt.be/a/berner-prozess

Der Tag der Premiere am 14. Oktober ist nicht zufällig gewählt: Genau 50 Jahre zuvor ist Brunschvig an einem Herzinfarkt gestorben, den er kurz nach Beginn des Jom-Kippur-Kriegs gegen Israel erlitten hatte. Dass sich Israel nach dem Angriff der Hamas vor Wochenfrist erneut im Kriegszustand befindet, ist zwar nicht in das Theater eingeflossen, hat aber Einfluss auf die Stationen: Die Kantonspolizei Bern hat der Theatergruppe kurzfristig untersagt, wie ursprünglich geplant eine Episode vor der Berner Synagoge zu spielen.

Die persönlichen Kämpfe

Regisseurin Uta Plate hat das Stück mit 16 Berner Laien-Schauspieler*innen entwickelt. Dabei sind die persönlichen Geschichten der Darsteller*innen ein wichtiger Teil davon. In Generationentandems erzählen sie von ihren persönlichen Kämpfen: dem Gang bis vor Gericht, um eine Lehre beenden zu können; den unermüdlichen Anstrengungen, als Mädchen in den 1960er-Jahren eine Lehre als Hochbauzeichnerin machen zu können; aber auch das bis heute andauernde Ringen um gleiche Rechte von Frauen und Männern und queeren Personen.

Eindringlich ist insbesondere der Monolog der jungen Frau, die im öffentlichen Raum sexuell belästigt wurde und sich überwinden musste, überhaupt zur Polizei zu gehen. Es ist ein wütender Monolog, den sie noch auf der Polizeistation geschrieben hat und jetzt im schmucken Saal des offenen Hauses La Prairie vorträgt.

Die Geschichten berühren, gerade weil sie echt sind, weil sie vielleicht alltäglich sind und doch etwas erzählen: Dass es auch im Alltag Mut braucht, um Dinge zu ändern. Und dass jede*r zu einer mutigen Person werden kann.

Brunschvig als roter Faden

Als roter Faden dient die Lebensgeschichte von Georges Brunschvig. In jeder der sieben Stationen erfährt das Publikum einen Teil seiner Biografie: Da geht es darum, in welchem Haus er aufgewachsen ist. Oder wie er seiner Angebeteten einen Antrag machte und sie schliesslich heiratete. Und natürlich geht es um den langen und zähen Prozess vor dem Berner Regionalgericht, in dem darum gerungen wurde, ob die antisemitischen «Protokolle der Weisen von Zion» zu «Schund» erklärt werden könnten.

Die Protagonist*innen lesen dabei auch aus dem Werk vor, das nachweislich eine Fälschung und keine Weltverschwörung der Juden ist. So zum Beispiel kommt diese Passage mehrmals ins Stück vor: «Bald werden alle Hauptstädte der Welt von Stollen der Untergrundbahnen durchzogen sein. Von diesen Stollen aus werden wir die ganzen Städte in die Luft sprengen.»

Genau dieselben Sätze geistern heute immer noch in verschwörungstheoretischen Foren herum, so etwa in Telegram-Chats von Corona-Leugner*innen.

Georges Brunschvig war mutig, er trat gegen das gefälschte Pamphlet an. Und der Rundgang «Zivilcourage bewegt – das Prinzip Brunschvig» ermutigt, auch heute hinzustehen und hinzusehen. Das ist keine neue Botschaft. Aber eine, die man sich immer wieder in Erinnerung rufen muss.

Die Rundgänge finden bis Ende Oktober und wieder ab März 2024 statt. Die Plätze müssen im Voraus gebucht werden. Der Eintritt ist frei, es gibt eine Kollekte. Im nächsten Frühling wird es im Theater an der Effingerstrasse auch ein Theaterstück zum «vergessenen Prozess» geben.
(https://www.hauptstadt.be/a/gerade-jetzt-mutgeschichten-stationentheater-georges-brunschvig)
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/theater-als-stadtrundgang-ein-berner-anwalt-soll-mut-machen?id=12472296 (ab 01:30)