Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
+++SCHWEIZ
Sonntagszeitung 24.09.2023
Mehr illegale Einreisen: Die Schweiz verstärkt den Grenzschutz im Tessin
Die Migrationsströme nach Europa nehmen zu. Nach Frankreich und Österreich handelt nun auch der Bund. Die Bitte der EU, freiwillig Flüchtlinge aus Lampedusa aufzunehmen, schlägt er jedoch aus.
Adrian Schmid, Mischa Aebi
Jetzt reagiert die Schweiz auf den Flüchtlingsstrom, den Europa zu bewältigen hat. Der Bund schickt mehr Personal an die Grenze im Tessin. Aufgrund der aktuellen Lage habe man entschieden, den Zoll Süd «mit zusätzlichen Mitarbeitenden aus der Deutschschweiz moderat zu verstärken», teilt das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) auf Anfrage mit.
Diese Massnahme diene primär zur Entlastung der Mitarbeitenden im Tessin. Mehr will man aus «einsatztaktischen Gründen» nicht sagen. Diese Woche hat sich auch der Bundesrat mit der Problematik beschäftigt.
Grund für den Entscheid ist der Anstieg der illegalen Einreisen in die Schweiz. Diese haben «in erster Linie an der Südgrenze im Tessin» stark zugenommen, wie das BAZG unlängst mitteilte. Im Juli zählte man im Tessin 1486 irreguläre Grenzübertritte, im August waren es schon 2873. Hauptsächlich handelt es sich um Menschen aus Afghanistan, die über die Balkanroute auf die Schweiz zusteuern.
Kommen Flüchtlinge aus Lampedusa auch in die Schweiz?
Für die Schweiz weniger problematisch sind bislang die auf Lampedusa gestrandeten Flüchtlinge. Denn auf der italienischen Mittelmeerinsel sind vor allem Menschen aus Guinea und der Elfenbeinküste gelandet. Flüchtlinge aus diesen beiden Ländern bevorzugen laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) erfahrungsgemäss nicht die Schweiz als Asylland.
Das könnte sich in den nächsten Wochen aber ändern, wenn sich herumspricht, dass die Einreise in die Schweiz einfacher ist als in andere EU-Länder. Denn die Nachbarländer Frankreich und Österreich gehen in Sachen Grenzschutz weiter als die Schweiz.
Der französische Präsident Emmanuel Macron rechnet damit, dass viele Migranten von Lampedusa aus via italienisches Festland versuchen werden, die französische Grenze zu überschreiten. Nun haben die Franzosen die Kontrollen mit zusätzlichem Personal, Drohnen und Helikoptern ausgebaut. Österreich ist daran, Grenzkontrollen zu Italien einzuführen – so wie das bereits an der Grenze zu Slowenien der Fall ist. Dies hat Bundeskanzler Karl Nehammer vor ein paar Tagen angekündigt.
Armeedrohnen für Grenzüberwachung fehlen
Die Schweiz hingegen hat im Moment allein schon bei der technischen Überwachung der Grenzen Schwachstellen: Die Zollbeamten können derzeit nicht einmal auf Drohnen der Armee zurückgreifen, weil das neue Modell des Militärs noch nicht zur Verfügung steht. Deshalb hat das zuständige Bundesamt nach eigenen Angaben die Zahl der Flugstunden mit Armeehelikoptern erhöht.
Doch nun steigt der Druck aus dem bürgerlichen Lager, dem Vorbild von Frankreich und Österreich zu folgen. «Ich kann nicht nachvollziehen, weshalb der Bundesrat dem Asylansturm tatenlos zuschaut», sagt SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi. Er fordert, dass die Schweizer Grenzen besser kontrolliert werden, und verweist darauf, dass allein im letzten Jahr 52’000 Illegale aufgegriffen worden seien – täglich 143 Personen. «Wenn der Grenzschutz überfordert ist, muss die Armee mobilisiert werden», sagt Aeschi.
Schweiz schlägt Bitte der EU in den Wind
Am explosivsten ist die Flüchtlingskrise in Italien. Regierungschefin Giorgia Meloni bezeichnete die aktuellen Flüchtlingsströme als «unerträglich» und rief die EU um Hilfe.
Die Situation in Europa ist allerdings vertrackt. EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen bat die EU-Länder, freiwillig Flüchtlinge aus Italien zu übernehmen. Doch Deutschland und Frankreich lehnten ab. Begründung: Italien halte sich seit längerem nicht mehr an die Rückübernahmeregeln des Dublin-Abkommens. Deshalb sei man jetzt auch nicht bereit, den Italienern entgegenzukommen.
Am Freitag hat die EU-Kommission auch die Schweiz offiziell gebeten, freiwillig Flüchtlinge aus Lampedusa aufzunehmen, wie das Staatssekretariat für Migration gegenüber der SonntagsZeitung mitteilt.
Der Bundesrat ist aber nicht bereit, Italien unter die Arme zu greifen. «Dies ist bis auf weiteres nicht vorgesehen», schreibt das SEM. Denn Italien hat auch gegenüber der Schweiz das Dublin-Abkommen seit Dezember letzten Jahres ausgesetzt. Die Italiener weigern sich, Flüchtlinge, die zuerst in Italien registriert wurden, von der Schweiz zurückzunehmen, wie dies die Regeln des Abkommens von Dublin vorsehen.
Die Zahl der Menschen, welche die Schweiz in den vergangenen zehn Monaten ins Asylverfahren aufnehmen musste, obwohl eigentlich Italien zuständig wäre, steigt rasant: Im Mai waren es noch 81, jetzt sind es laut aktuellen Angaben des SEM bereits 293 Personen.
Kontrollen bald auch an der Grenze zu Deutschland?
Selbst in Deutschland werden aufgrund der aktuellen Migrationsströme Forderungen nach Grenzkontrollen laut. Der CDU-Fraktionsvorsitzende Friedrich Merz forderte diese Woche: «Leider werden erneut Grenzkontrollen zu Tschechien, Polen und der Schweiz notwendig.» Denn Deutschland müsse gemäss neusten Prognosen bis Ende Jahr mit bis zu 400’000 illegalen Einwanderern rechnen.
Zwischen der Schweiz und Deutschland schwelt bereits seit letztem Jahr ein Grenzkonflikt betreffend Flüchtlinge. Deutschland warf der Schweiz vor, Flüchtlingen aktiv den Weg durch die Schweiz nach Deutschland zu weisen.
Im letzten Dezember vereinbarte die damalige Justizministerin Karin Keller-Sutter mit ihrer deutschen Amtskollegin Nancy Faeser, dass deutsche Grenzbeamte in beschränktem Mass auch auf Schweizer Boden Kontrollen durchführen dürfen, um so Flüchtlinge an der illegalen Einreise nach Deutschland zu hindern.
Die Kooperation hat den Konflikt allerdings höchstens entschärft, nicht aber gelöst. Bereits seit Februar klagt Baden-Württemberg erneut über Flüchtlingsströme aus der Schweiz.
(https://www.derbund.ch/mehr-illegale-einreisen-die-schweiz-verstaerkt-den-grenzschutz-im-tessin-765816274149)
-> https://www.blick.ch/politik/deutschschweizer-muessen-aushelfen-schweiz-verstaerkt-grenzschutz-im-tessin-id18974317.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/mehr-illegale-einwanderer-der-bund-verstaerkt-den-grenzschutz-an-der-suedgrenze
—
Ausschaffen unmöglich: Was soll Bund mit Eritrea-Flüchtlingen tun?
Nach Eritrea können Flüchtlinge nicht ausgeschafft werden, auch nicht nach Krawallen. Soll der Bundesrat Eritrea unter Druck setzen?
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/ausschaffen-unmoglich-was-soll-bund-mit-eritrea-fluchtlingen-tun-66605763
Wegen Kritik an eritreischen Flüchtlingen: Flüchtlingsorganisation greift Ständerat Damian Müller frontal an
Der Luzerner Ständerat Damian Müller hat in einem Meinungsbeitrag ein härteres Durchgreifen bei Eritreern gefordert. Nun kontert der Verein «Give a Hand»: Müller gehe auf Kosten eritreischer Flüchtlinge auf Stimmenfang.
https://www.zentralplus.ch/politik/fluechtlingsorganisation-greift-staenderat-damian-mueller-frontal-an-2581665/
-> https://www.nau.ch/news/stimmen-der-schweiz/eritrea-replik-auf-standerat-damian-muller-66613316
«Vergebene Chance» : Schweiz will keine Lampedusa-Flüchtlinge – Affront gegen die EU?
Die Schweiz weigert sich wohl trotz einer Bitte aus Brüssel, in Italien gelandete Flüchtende aufzunehmen. Schadet das den Beziehungen zur EU? Politiker sind gespalten.
https://www.20min.ch/story/vergebene-chance-schweiz-will-keine-lampedusa-fluechtlinge-affront-gegen-die-eu-104908464871?version=1695574608305&utm_source=twitter&utm_medium=social
+++DEUTSCHLAND
tagesanzeiger.ch 24.09.2023
Begrenzung der Migration: In Deutschland bahnt sich eine Asylwende an
Angesichts steigender Zuwanderung prüft die Regierung stationäre Grenzkontrollen zu Polen und Tschechien – aber nicht zur Schweiz. Die Opposition will das Asylrecht stark einschränken.
Dominique Eigenmannaus Berlin
«Schaffen wir das noch mal?», fragte der «Spiegel» am Wochenende auf seinem Titelblatt. Vor dem Bild einer Schlange von Menschen auf Lampedusa gab das Nachrichtenmagazin die Mischung aus Angst, Unmut, Überforderung und Stimmungsmache gut wieder, die Deutschland in diesen Wochen gewaltig aufwühlt.
Etwa 350’000 Asylgesuche werden dieses Jahr erwartet, mehr waren es zuletzt 2016. Um 77 Prozent sind die Zahlen im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Die Gemeinden klagen schon lange, sie seien mit der Aufnahme vollkommen überlastet. In einer Umfrage des «Spiegels» meinten jetzt 84 Prozent, dass derzeit zu viele Flüchtende nach Deutschland kämen.
Der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz sprach am Wochenende selbst erstmals von einer «dramatischen» Zunahme und stellte Massnahmen in Aussicht, um die «irreguläre Migration» zu begrenzen. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) zeigte sich zum ersten Mal offen, dafür kurzfristig stationäre Kontrollen an den Grenzen zu Polen und Tschechien einzurichten.
Über Polen kommen seit einiger Zeit deutlich mehr Flüchtende nach Deutschland als über Österreich oder die Schweiz: Allein beispielsweise im August waren es 4000, an der Grenze zu Bayern dagegen 3000, an der zu Baden-Württemberg 1200. Einerseits weichen Schleuser auf der sogenannten Balkanroute vermehrt über Serbien, Ungarn und die Slowakei nach Polen aus, andererseits schicken Russland und Weissrussland Afghanen, Syrer oder Türken gezielt nach Polen, um die EU unter Druck zu setzen.
Die migrationsfeindliche polnische Regierungspartei PIS wiederum hat offenbar Hunderttausende von Arbeitsvisa für den Schengen-Raum illegal in Asien und Afrika verkauft. Kanzler Scholz kritisierte Polen dafür am Samstag deutlich. Es gehe nicht an, dass der Nachbar Migranten einfach nach Deutschland durchwinke. Sonst seien zusätzliche Massnahmen an der Grenze nötig.
Die Schweiz wird gelobt
Die Schweiz steht in dieser Hinsicht derzeit nicht im Visier Deutschlands. Scholz und Faeser lobten vielmehr die gemeinsamen deutsch-schweizerischen Patrouillen auf Schweizer Boden, die zu weniger irregulären Einreisen führten, und priesen diese als Modell auch für die Grenze zu Tschechien. Man führe mit Prag dazu Gespräche.
Scholz und Faeser sehen stationäre Kontrollen an europäischen Binnengrenzen eigentlich als letzte Massnahme, wenn alle anderen versagt haben. Brüssel kann diese als befristete Ausnahme erlauben; die stationären Kontrollen zwischen Deutschland und Österreich bestehen allerdings bereits seit 2015. Faesers und Scholz’ Weigerung, weitere stationäre Kontrollen einzurichten, hat in den letzten Wochen dazu geführt, dass Bundesländer wie Sachsen ihre Grenze nach Osten durch die eigene Landespolizei stärker überwachen.
Die AfD treibt alle anderen vor sich her
Zuletzt hat der politische Druck auf die Bundesregierung aber noch einmal stark zugenommen. Die Alternative für Deutschland steigt nach Ansicht von Demoskopen vor allem wegen der grossen Zuwanderung in den Umfragen auf immer neue Rekordwerte und ist erstmals in ihrer Geschichte zweitstärkste Partei. Auch die Christlich-Demokratische Union, laut Umfragen stärkste Partei, bedrängt SPD, Grüne und FDP zunehmend.
CDU-Chef Friedrich Merz machte am Wochenende die Regierung offen dafür verantwortlich, dass sich die Mitte im Land immer stärker radikalisiere. Die Migrationsfrage sei «Sprengstoff» für die Gesellschaft, den man unbedingt entschärfen müsse. Er bot der Regierung Kooperation an, um die Migration schnell zu begrenzen.
Ein überparteilicher Kraftakt wie 1992/93?
Wie Merz legte auch Christian Lindner, FDP-Chef und Finanzminister, nahe, dass man dafür einen überparteilichen Kraftakt benötige wie 1992/93, als Regierung und Opposition nach den Fluchtbewegungen vom Balkan und zahlreichen rassistischen Anschlägen in Deutschland gemeinsam das Asylrecht einschränkten.
Thorsten Frei, Merz’ rechte Hand in der Bundestagsfraktion von CDU/CSU, hatte schon im Sommer vorgeschlagen, das individuelle Recht auf Asyl abzuschaffen und im Gegenzug dafür notleidende Menschen über Kontingente direkt aus Krisengebieten aufzunehmen. Mittlerweile verfolgt die Union diese Idee zwar nicht weiter, sie zeigt aber, wie radikal die diskutierten Lösungsvorschläge mittlerweile sind.
Zurzeit fordern CDU und CSU beispielsweise, nicht nur Georgien und Moldau als sogenannt sichere Herkunftsländer zu deklarieren, sondern auch Algerien, Marokko, Tunesien und Indien. Menschen, die aus diesen Ländern flüchten, sollen künftig nur in Ausnahmefällen noch in Deutschland Asyl erhalten.
Statt Geld sollen Asylsuchende künftig nur noch «Sachleistungen» erhalten. Zudem sollen Sozialhilfen auf das Niveau anderer europäischer Länder gesenkt werden. Stimmen in der CDU fordern darüber hinaus, europäische Kriegsschiffe sollten im Mittelmeer Flüchtlingsboote aufhalten und nach Afrika zurückbringen. Asylverfahren könnten künftig auch in weit entfernten Drittstaaten durchgeführt werden.
Die EU ist derzeit selbst daran, das gemeinsame Asylsystem mit der Absicht zu reformieren, dass die Zuwanderung nach Europa sinkt. Die Regierungsparteien SPD und FDP wirken dabei aus Überzeugung mit, die Grünen tun sich mit manchen Massnahmen – der möglichen Internierung von Familien etwa – immer noch sehr schwer.
Oppositionsführer Merz forderte Kanzler Scholz am Wochenende deswegen dazu auf, bei der Verschärfung der Asylgesetze zusammenzuspannen: «Ich biete Ihnen an: Lassen Sie uns das zusammen machen. Und wenn Sie das mit den Grünen nicht hinbekommen, dann werfen Sie sie raus, dann machen wir es mit Ihnen.»
(https://www.derbund.ch/begrenzung-der-migration-in-deutschland-bahnt-sich-eine-asylwende-an-968014185579)
+++ITALIEN
NZZ am Sonntag 24.09.2023
Bühne frei für das grosse Migrationsdrama
Der Ansturm von Migranten auf die italienische Insel Lampedusa hat die europäische Politik aufgeschreckt. Doch die Migrationskrise sieht schlimmer aus, als sie ist. Das ist gewollt.
Virginia Kirst, Rom
Alle paar Jahre geht auf Lampedusa der Theatervorhang auf. Dann dient die kleine, italienische Mittelmeerinsel der grossen Politik als Bühne. Am vergangenen Sonntag war es wieder so weit, diesmal mit Auftritten der EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen und der italienischen Ministerpräsidentin. Giorgia Meloni hatte von der Leyen eingeladen, um ihr zu zeigen, wie sehr Italien mit den steigenden Migrationszahlen zu kämpfen hat.
Die Bühne ist eigentlich idyllisch: kristallklares Meer, eine Handvoll Sandstrände, 6400 Einwohner, ein einziger Ort, der den Namen verdient. Doch näher an Tunesien als an Italien gelegen, ist die Insel das Ziel vieler Flüchtlinge und Migranten, die nach Europa wollen.
2023 sind bereits mehr als doppelt so viele Menschen über das Mittelmeer nach Italien gekommen wie im Vorjahr, und sehr viele steuern Lampedusa an. Allein in der Woche vor dem Besuch hatten mehr als 9000 Menschen die Insel erreicht – so viele wie noch nie in einem so kurzen Zeitraum.
Zweistündiges Spektakel
Insel und Erstaufnahmezentrum waren komplett überfordert. Der sogenannte Hotspot ist nur für 400 Menschen ausgelegt, darum passten die Menschen nicht auf das Gelände und verteilten sich auf die Strassen. Es fehlte an allem: Essen, Duschen, Betten – und sogar an Schuhen. Die Bilder der Migranten, wie sie auf den staubigen Strassen in der prallen Sonne sitzen und um Plätze auf dem nächsten Schiff Richtung Festland streiten, gingen um die Welt.
Auftritt Meloni und von der Leyen. Gemeinsam schritten sie die Insel ab, und bei der folgenden Pressekonferenz verkündete von der Leyen: «Wir entscheiden, wer in die Europäische Union kommt und unter welchen Bedingungen – und nicht die Schlepper.» Und Meloni legte nach: «Europas Zukunft hängt von seiner Fähigkeit ab, die epochalen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, und illegale Einwanderung ist eine davon.» Vorhang zu. Dauer der Aufführung: genau zwei Stunden. Dann flogen die wichtigen Frauen ab, während neue Migrantenboote im Hafen andockten.
I came here to say to all of you:
Migration is a European challenge
that requires a European solution.
It is concrete actions that will bring change on the ground.
It is only through solidarity and unity that we can achieve this.
L’Italia può contare sull’Unione Europea. pic.twitter.com/CzHygK0g3V
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen) September 17, 2023
Zurück blieben Hunderte Migranten in menschenunwürdigen Bedingungen und frustrierte Einwohner. Michele etwa, ein Mann in seinen Sechzigern, der seinen Nachnamen nicht in der Zeitung lesen möchte. Er kommentierte von einem roten Plastikstuhl aus das Treiben auf der Via Roma, Lampedusas Hauptstrasse, wo Migranten die Touristen um etwas Essen baten: «Es sind einfach zu viele. Das Problem ist zu gross für unsere kleine Insel.»
Michele hat sein ganzes Leben auf Lampedusa verbracht, Politiker kommen und gehen sehen, und mittlerweile ist er überzeugt: «Die Lage wäre beherrschbar. Aber für die Regierung ist es nützlicher, alles so zu lassen, wie es ist.»
Alle auf die Mini-Insel!
Das sieht der Migrations-Experte Matteo Villa vom Mailänder Politikforschungsinstitut ISPI ähnlich. Er argumentiert, dass die Situation auf Lampedusa eine «von Italien verursachte Krise» sei. Denn als 2015 gut
150 000 Migranten mit dem Boot nach Italien gekommen waren, betraten nur 9000 davon Lampedusa. Dieses Jahr sind es insgesamt 160 000 Ankömmlinge – aber ganze 100 000 erreichten Lampedusas Küste. Der Grund? «Wir haben aufgehört, aktive Seenotrettung zu betreiben», so Villa.
Tatsächlich gab es 2015 noch die EU-Mission «Sophia», die Migranten in Seenot aktiv rettete, direkt aufs Festland brachte und Schlepper verfolgte. Auch während der Covid-Pandemie liess die Regierung Fährschiffe vor der Küste ankern, auf denen die Migranten erst medizinisch versorgt und dann ans Festland gebracht wurden. Der Ausnahmezustand auf Lampedusa könnte also verhindert werden. Doch der rechtsnationalistischen Meloni dürften die Bilder von Lampedusa dieser Tage ganz recht gewesen sein, konnte sie diese nutzen, um mehr Hilfe von den EU-Partnern einzufordern und eine Verschärfung ihrer Migrationspolitik zu rechtfertigen.
So kündigte sie kurz vor ihrer Visite an, beim nächsten EU-Gipfel einen «blocco navale», eine Schiffsblockade, zu fordern, um die irreguläre Migration einzuschränken. Am Tag danach beschloss ihr Kabinett den Bau zusätzlicher Rückführungszentren, in denen ausreisepflichtige Migranten bis zu ihrer Abschiebung eingesperrt werden – und das dank einer Entscheidung von Montag künftig nicht mehr nur für 12 Monate, sondern für bis zu 18 Monate.
Bei beiden Massnahmen geht es mehr darum, Meloni das Image jener Migrations-Hardlinerin zu verpassen, als die sie sich im Wahlkampf ausgegeben hatte. Denn es ist fraglich, wie genau diese Massnahmen umgesetzt werden sollen und ob sie die Zahl der Migranten verringern können.
Für eine Schiffsblockade müsste eine EU-Mission Migrantenschiffe davon abhalten, in Italien anzulegen. Doch das wären Pushbacks, mit denen Migranten von ihrem Recht abgehalten würden, Asyl zu beantragen – und somit illegal. Und bei den Rückführungen hapert es nicht etwa an mangelndem Platz in den Zentren oder einer zu kurzen Internierungsdauer. Das Problem ist die fehlende Kooperation der Herkunftsstaaten. Immerhin bemüht sich Meloni parallel auch um diese und hat für November bereits zum zweiten Afrika-Gipfel ihrer Amtszeit nach Rom eingeladen.
Doch bis es zu Fortschritten auf diplomatischer Ebene kommt, müsste Italien sich gemäss den EU-Verträgen besser um die Migranten kümmern, die schon jetzt im Land sind. Allem voran brauchte es mehr Kapazitäten in den Aufnahmezentren, denn diese sind – auch auf dem Festland – übervoll, wie etwa Tayeb Mahmoud aus dem Sudan berichtet. Er hat Italien vorvergangene Woche erreicht und wurde nach Apulien gebracht.
«Das Zentrum war voller Menschen. Da war kein Platz, nirgendwo», sagt der 19-Jährige. Er habe sich dort nicht sicher gefühlt und sei geflüchtet. Jetzt sitzt er auf einem Trottoir in Rom und wartet darauf, dass die Freiwilligen der spendenfinanzierten Organisation Baobab Experience mit der Ausgabe des Abendessens beginnen. Es gibt Saft, Pasta mit Tomatensauce, Nachtisch und einen Plastikbecher mit heissem, gezuckertem Tee.
Endziel England
Von der Politik, der Stadt oder der Polizei fehlt hier jede Spur. Der Baobab-Vorsitzende Andrea Costa hilft, den Tee auszuschenken. «Die Politiker reden von einer Invasion, aber was sie nicht sagen, ist, dass Italien nur ein Transitland ist», sagt er. Die grosse Mehrheit der Migranten, die in Italien ankämen, reisten weiter gen Norden. «Sie wollen nach Frankreich, in die Schweiz, nach Österreich oder Deutschland», sagt Costa. Er weiss das, weil Baobab den Migranten nicht nur mit Essen, Kleidung und medizinischer Erstversorgung hilft, sondern auch dabei, ihre Weiterreise zu organisieren.
Costa hält das Reden über einen Migrations-Notfall für ungerechtfertigt. «Der heutige Andrang wäre zu bewältigen. Es sind ja weniger Flüchtlinge, als aus der Ukraine gekommen sind.» Doch die Regierung kümmere sich absichtlich nicht um die Migranten, damit sie weiterziehen. Auch für Mahmoud ist Rom nur ein Zwischenstopp. Er will weiter bis nach England, hofft, dort sein Medizinstudium fortsetzen zu können. Doch bevor seine Reise weitergeht, muss er in Rom noch eine Nacht auf der Strasse schlafen. Einen anderen Platz gibt es hier nicht für ihn.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/international/buehne-frei-fuer-das-grosse-migrationsdrama-ld.1757647)
—
Rom empört über deutsche Finanzhilfe für Seenotretter
Im Streit um deutsche Finanzhilfe für Organisationen, die sich in Italien um Bootsmigranten kümmern, schlägt die rechte Regierung in Rom gegen Berlin immer härtere Töne an. Verteidigungsminister Guido Crosetto sprach in der Zeitung «La Stampa» (Sonntag) von einem «sehr schwerwiegenden» Verhalten. «Damit tut Berlin so, als ob es nicht wüsste, dass es damit ein Land in Schwierigkeiten bringt, mit dem es theoretisch »befreundet« ist.» Crosetto gehört zur ultrarechten grössten Regierungspartei Fratelli d’Italia. Protest kam auch vom kleineren Koalitionspartner Lega.
https://www.watson.ch/international/italien/151511266-rom-empoert-ueber-deutsche-finanzhilfe-fuer-seenotretter
-> https://www.nau.ch/news/europa/rom-emport-uber-deutsche-finanzhilfe-fur-seenotretter-66615249
Knapp 5.000 Euro: Italien fordert von Migranten Kaution
Italien verschärft weiter seine Flüchtlingspolitik. So müssen abgelehnte Migranten künftig eine Kaution von 5.000 Euro zahlen, um Abschiebehaft zu vermeiden. Deutschlands Hilfe für Geflüchtete sorgt zudem für Verärgerung in Rom.
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/italien-migranten-kaution-100.html
+++EUROPA
Migration: Wie will die EU ihre Außengrenze schützen?
Der Druck auf die EU wächst. Angesichts der angespannten Situation in Lampedusa will die EU die Kooperation mit Tunesien ausbauen. Mit Hilfe eines Partnerschaftsabkommen soll das dortige Grenzmanagement gestärkt werden. Doch bislang hat der Deal keine Erfolge gezeigt. Italien fordert jetzt eine Seeblockade. Wir beleuchten die unterschiedlichen Pläne der EU und bewerten sie. Autorin: Olga Chladkovà
https://www.ardmediathek.de/video/europamagazin/migration-wie-will-die-eu-ihre-aussengrenze-schuetzen/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2V1cm9wYW1hZ2F6aW4vOGQwNmY5ZmMtNzZjMi00OTUwLTlmZDItMmUyMWQyNTk5Y2Ni
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Rassemblement en soutien aux inculpé•es du 8.12
Nous nous sommes rassemblé-es devant l’ambassade de France à Berne pour envoyer un petit signe de solidarité avec les camarades inculpé-es le 8.12 en France. Nous voulons aussi envoyer un signe aux autorités françaises et leur montrer que leur répression nous rassemble, et renforce notre détermination
https://renverse.co/infos-locales/article/rassemblement-en-soutien-aux-inculpe-o-es-du-8-12-4148
-> Deutsch: https://barrikade.info/article/6130
+++REPRESSION DE
Sicherheitsbehörden besorgt Zahl untergetauchter Linksextremisten steigt
Rund 20 Linksextremisten gelten nach Informationen von NDR und WDR als untergetaucht. Im Fokus steht vor allem das Umfeld von Lina E. Der Verfassungsschutz sieht im Rechtsextremismus aber das größere Problem.
https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr-wdr/linksextremisten-untergrund-100.html
+++KNAST
NZZ am Sonntag 24.09.2023
Ausländische Häftlinge: Wer freiwillig heimkehrt, darf früher aus dem Gefängnis
70 Prozent der Gefängnisinsassen in der Schweiz sind Ausländer. Jetzt wollen die Kantone sie zur Heimkehr motivieren.
Mirko Plüss
Ihr Name wurde geändert, doch ihre Geschichte ist echt. 2016 reiste die heute 38-jährige Angela aus Brasilien nach Europa. Nach eigenen Angaben wollte sie der «schwierigen Situation» in der Heimat entkommen. Doch hier wurde es auch nicht besser.
Angela handelte mit Drogen und landete in einem Schweizer Gefängnis. Sie erhielt eine Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren, wurde aber nach zwei Dritteln der Strafe bedingt entlassen. So sieht es das Strafgesetzbuch für kooperative Verurteilte vor. Angela musste das Land zwar verlassen, konnte sich aber mit Schweizer Unterstützung in Brasilien eine neue Existenz als Fremdenführerin aufbauen. «Ich zeige den Leuten gerne Sehenswürdigkeiten und Landschaften», sagt sie.
Von der Drogendealerin zur Fremdenführerin: Möglich macht dies das neue Projekt «Retour». Es bringt Akteure zusammen, die bei der Rückführung von ausländischen Straftätern eine Rolle spielen. Die Leitung hat das Schweizerische Kompetenzzentrum für den Justizvollzug (SKJV) inne, eine Stiftung von Bund und Kantonen.
Frust hinter Gittern
Ausländische Straftäterinnen und Straftäter sind für den Justizvollzug eine Herausforderung. Ein grosser Teil von ihnen muss nach dem Ende der Haft ausreisen, doch viele haben im Herkunftsland keine Perspektive und verhalten sich entsprechend unkooperativ. Deshalb intensivieren die Kantone nun ihre Bemühungen, die Insassen zur freiwilligen Ausreise zu motivieren. Mit Geld, Beratungen und dem Entwerfen von Zukunftsprojekten.
Wie im Fall von Angela. Zusammen mit einer Sozialarbeiterin entwickelte die mehrsprachige Brasilianerin den Plan, zurück in ihrer Heimat Touristen herumzuführen. Worauf ihr schliesslich die frühzeitige, bedingte Entlassung gewährt wurde. Ein Video, in dem Angela ihre Geschichte erzählt, ist auf der Website von «Retour» aufgeschaltet.
Im Fokus des Projekts stehen potenziell Tausende: Ausländerinnen und Ausländer, die keinen gültigen Aufenthaltsstatus besitzen oder vor Gericht einen Landesverweis erhielten. Sie müssten nach dem Ende ihrer Strafe eigentlich sofort in ihr Land zurück – das sie aber je nachdem gar nicht wirklich kennen oder schon lange nicht mehr besucht haben. Laut dem SKJV führt dies oft zu Frustration, Wut oder Verzweiflung.
Das Ziel von «Retour» ist es, mit den Häftlingen auf eine Wiedereingliederung in der Heimat hinzuarbeiten und sie dazu zu bringen, auch tatsächlich auszureisen. Zudem sollen sie nicht erneut straffällig werden.
Joe Keel kennt diese Herausforderungen zur Genüge. Er ist Sekretär des Ostschweizer Strafvollzugskonkordats und leitete jahrelang das Amt für Justizvollzug im Kanton St. Gallen. «Ohne Rückkehrvorbereitung geht es nicht», sagt Keel. «Die Praxis zeigt, dass die Umsetzung von Landesverweisen immer wieder zu Problemen führt.»
Die Betroffenen verhielten sich schon während der Haft unkooperativ, beispielsweise wenn es um die Beschaffung von Papieren gehe. «Und nach dem Absitzen der Gefängnisstrafe weigern sie sich dann einfach, in das Flugzeug zu steigen, was zu noch mehr Aufwand führt.»
Kritiker mögen einwenden, es brauche eher mehr Härte bei unkooperativen Kriminellen als Beratung und Hilfe. Keel aber sagt: «Wenn man die Leute schon früh berät und ihnen eine Rückkehrperspektive aufzeigt, gewinnen am Ende alle.»
Dann könne man die Betroffenen auch frühzeitig bedingt entlassen. Bei einheimischen Insassen ist das heute schon die Regel. «Dass die Kantone so mehr Plätze in Gefängnissen freimachen und die entsprechenden Kosten einsparen können, ist natürlich ebenfalls sehr erwünscht.»
Das bestätigt auch der Berner Sicherheitsdirektor Philippe Müller. Für Rückkehrberatungen arbeitet sein Departement schon länger mit dem Roten Kreuz zusammen. Potenzielle Einsparungen spielten durchaus eine Rolle. «Allein wenn eine Person zur pflichtgemässen Ausreise zum Zeitpunkt der bedingten Entlassung motiviert werden kann, fallen die potenziellen Strafvollzugskosten für die Reststrafe und auch jene für einen Sonderflug weg.»
Die Einsparungen können enorm hoch ausfallen. Ein Gefängnistag kostet Hunderte Franken, die Höhe variiert je nach Kanton. Pro Jahr und Häftling kann die öffentliche Hand durch Rückkehrberatungen also mehrere zehntausend bis weit über hunderttausend Franken einsparen.
Gerade für die Schweiz ist dies nicht unerheblich. Denn die Quote ausländischer Straftäter ist rekordhoch. Derzeit sind im ganzen Land knapp 6400 Personen inhaftiert. Laut einer aktuellen Erhebung der Universität Lausanne und des Europarats beträgt der Ausländeranteil 70,1 Prozent. Über diesem Wert liegen europaweit nur noch Kleinststaaten wie Monaco.
Zum Vergleich: Österreich weist eine Quote von 49 Prozent aus, Deutschland eine von knapp 26 Prozent. Der europäische Durchschnitt beträgt 28 Prozent. Für den hohen Schweizer Wert werden verschiedene Gründe genannt, unter anderem der generell hohe Ausländeranteil sowie die hohe Kaufkraft. Sie macht die Schweiz attraktiv für Kriminelle.
Gleichzeitig sind immer wieder Gefängnisse überfüllt. So weisen laut einem Monitoring derzeit Bern und mehrere Westschweizer Kantone zum Teil ausgeprägte Überbelegungen auf. Und existierende Abkommen, wonach Ausländer ihre Strafen in der Heimat absitzen könnten, wurden nie zum durchschlagenden Erfolg.
Deshalb rückt nun auch der Kanton Zürich die Rückkehrberatung ins Zentrum. Im März startete die Justizdirektion einen Pilotversuch. Eines der Ziele ist die Kostensenkung. Im Fokus steht aber nicht nur die verkürzte Haft. Laut Projektbeschrieb sind auch nach Ende der Haft Einsparungen möglich. So fallen die Administrativhaft oder die Nothilfe weg, wenn jemand freiwillig ausreist.
Der Kanton will den Betroffenen Geld für Unterkunft, Kleidung und Essen zur Verfügung stellen. Zudem ist eine wirtschaftliche Starthilfe geplant.
Kein Geld direkt in die Hand
Damit hat Genf schon Erfahrung. Dort werden ausländische Straftäter vom Kanton dabei unterstützt, ihren Lebensunterhalt selber bestreiten zu können. Wer etwa in der Heimat einen Coiffeursalon eröffnet, erhält allenfalls eine moderne Haarschneidemaschine.
Bei der Rückkehrberatung arbeitet Genf mit dem Internationalen Sozialdienst Schweiz (SSI) zusammen. Die Projektideen kämen jeweils von den Insassen und würden mit Partnern im Ausland auf ihre Machbarkeit geprüft, sagt die SSI-Direktorin Cilgia Caratsch. «Wir schauen das wirtschaftliche Umfeld im Herkunftsland an und machen vielleicht auch eine Mini-Marktanalyse.» Das Geld bekämen die Betroffenen bei der Ausreise aber nicht direkt in die Hand. «Die Rechnungen werden von einer unserer weltweiten Partnerinstitutionen kontrolliert und bezahlt.»
Auch wenn die freiwillige Rückkehr für die Schweiz eine Ersparnis bedeute, warnt Caratsch vor einer «zu einseitigen Sicht». Man müsse in komplexeren Dimensionen denken: «Im Zentrum steht, wie man diesen Menschen helfen und wie man Rückfälle in die Kriminalität vermeiden kann. Darauf haben sie und die Gesellschaft ein Recht, genau wie die einheimischen Gefängnisinsassen.»
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/auslaendische-haeftlinge-wer-freiwillig-heimkehrt-darf-frueher-aus-dem-gefaengnis-ld.1757447)
-> https://www.blick.ch/politik/dank-geld-und-beratung-kriminelle-auslaender-sollen-schweiz-schneller-verlassen-id18974090.html
+++POLIZEI BS
Update zu dem rassistischen Schläger-Cop Ben Thiele
Im Frühjahr dieses Jahres berichteten nacheinander mehrere Leute von Misshandlungen durch die Basler Polizei. Ein Polizist taucht hierbei immer wieder auf: Ben Thiele
Thiele hat wiederholt Leute rassistischen Polizeikontrollen unterzogen und verbal wie körperlich misshandelt!
https://barrikade.info/article/6121
+++RASSISMUS
Rassismus im Alltag – Aktivistin Sharon Dodua Otoo: „Das geht uns alle an“
Viele Menschen erleben immer wieder rassistische Übergriffe im Alltag. Auch Sharon Dodua Otoo und ihre Kinder können davon berichten. Darum appelliert die Autorin dafür, mehr aufeinander acht zu geben und sich im Ernstfall bei Angriffen zu verbünden.
https://www.deutschlandfunkkultur.de/das-geht-alle-an-wie-wir-uns-solidarisch-zeigen-wenn-wir-rassismus-beobachten-dlf-kultur-1fb1333b-100.html
+++RECHTSPOPULISMUS
SVP-Aeschi bei einem Coiffeur und Unternehmer, der aus Syrien geflohen ist: Weshalb machen Sie Stimmung gegen Asylsuchende?
In der neuen Serie «Beni da richtig?» nimmt Blick-Moderator Beni Fisch die Parteichefs dorthin mit, wo ihre Politik auf das wahre Leben trifft. SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi besucht einen erfolgreichen Berner Coiffeur, der als Flüchtling aus Syrien in die Schweiz kam.
https://www.blick.ch/video/specials/svp-aeschi-bei-einem-coiffeur-und-unternehmer-der-aus-syrien-geflohen-ist-weshalb-machen-sie-stimmung-gegen-asylsuchende-id18974200.html
+++RECHTSEXTREMISMUS
Junge Tat für Wahlkampf engagiert: Die Rechtsextremen-Connection der Winterthurer SVP-Chefin
Nationalratskandidatin Maria Wegelin hat die Medienarbeit an die Junge Tat ausgelagert. Anführer der militanten Gruppierung produzieren ihre Wahlvideos und betreuen einen Teil ihrer Social-Media-Accounts.
https://www.blick.ch/politik/junge-tat-fuer-wahlkampf-engagiert-die-rechtsextremen-connection-der-winterthurer-svp-chefin-id18972316.html
-> https://www.watson.ch/schweiz/rassismus/695939795-maria-wegelin-engagiert-fuer-ihren-wahlkampf-die-junge-tat
-> https://www.tagesanzeiger.ch/politikerin-in-winterthur-svp-chefin-maria-wegelin-laesst-wahlvideos-von-rechtsextremen-produzieren-952909553115
-> https://www.20min.ch/story/junge-tat-engagiert-winterthurer-svp-praesidentin-spannt-rechtsextreme-fuer-wahlkampf-ein-838763272742
-> https://twitter.com/marko_kovic/status/1705873956299743523
-> https://www.toponline.ch/tele-top/detail/news/svp-praesidentin-maria-wegelin-engagiert-fuer-ihren-wahlkampf-die-rechtsextremen-gruppe-junge-tat-00221710/
-> https://www.blick.ch/politik/nationalratswahlen/kantonalpraesident-zur-rechtsextremen-connection-der-winterthurer-svp-chefin-geschaeftsbeziehungen-von-parteimitgliedern-sind-privatsache-id18975168.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/um-ueber-meine-beschneidung-zu-reden-brauchte-ich-viel-mut?id=12459282
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/winterthur/junge-tat-betreibt-wahlkampf-fuer-winterthurer-svp-praesidentin-153706718
Hammerskins-Verbot: Das Millionengeschäft mit dem Rechtsrock
Die Hammerskins haben als wichtige Rechtsrock-Organisatoren gegolten. Über Konzert- und Musik-Einnahmen generierten sie Geld für die extreme Rechte. Welche Folgen hat das Verbot und welche Rolle spielt Rechtsrock für die Szene?
https://www.deutschlandfunkkultur.de/hammerskins-verbot-rechtsrock-100.html
++++FUNDIS
Nach Gewaltvorwürfen gegen Jürg Läderach wehrt sich seine evangelische Gemeinde: «Klima der Offenheit» statt «Klima der Angst»
Nach den bekanntgewordenen Misshandlungsvorwürfen in der evangelischen Gemeinde Hof Oberkirch in Kaltbrunn SG fand am Sonntag ein Gottesdienst statt. Die Evangelikalen wollen sich öffnen und empfangen Blick. Dorfbewohner sind skeptisch.
-> https://www.blick.ch/schweiz/ostschweiz/st-gallen/nach-gewaltvorwuerfen-gegen-juerg-laederach-wehrt-sich-seine-evangelische-gemeinde-klima-der-offenheit-statt-klima-der-angst-id18975292.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/um-ueber-meine-beschneidung-zu-reden-brauchte-ich-viel-mut?id=12459282 (ab 01:37)
-> https://www.watson.ch/blogs/sektenblog/236485681-laederach-dok-ueber-pruegel-privatschule-das-ist-die-geschichte-dahinter
+++HISTORY
NZZ am Sonntag 24.09.2023
Sie glaubten, Gutes zu tun
Wenn Kinder zu Hause gefährdet sind, müssen sie fremdplatziert werden. In der Schweiz hat der Staat Zehntausende Mädchen und Buben zur strengen Erziehung in Anstalten versorgt. Dabei stützten sich die Behörden zuerst auf die bürgerliche Moral, dann auf die Wissenschaft.
Mirjam Janett
Das neue Jahr ist noch keine Woche alt. Am Dreikönigstag, der 1951 auf einen Samstag fällt, trifft sich die Vormundschaftsbehörde von Innerrhoden im Hauptort Appenzell zu ihrer ersten Sitzung. Traktandum Nummer eins ist die sechsköpfige Familie M. Aufgeboten sind auch der Gemeindepfarrer und zwei Frauen, die sich um die Familie kümmern.
Der Pfarrer ist an diesem Samstag allerdings verhindert, deswegen hat er der Behörde telefonisch Auskunft gegeben: Die Situation im Haus sei desolat. Die Mutter sei nicht in der Lage, für die «nötige Ordnung» zu sorgen, ihre Erziehung lasse schwer zu wünschen übrig. Der Vater halte sich zwar mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, sein Einkommen reiche jedoch bei weitem nicht aus, um die Familie zu versorgen. Im Dorf werde er als «Faulenzer» bezeichnet. Der Pfarrer appelliert an die Behörde, dem Ehepaar im Mindesten vorübergehend alle vier Kinder wegzunehmen; im Zweifelsfall könne das jüngste eventuell in der Familie bleiben.
Die Vormundschaftsbehörde, der sechs Männer vorstehen, funktioniert nach dem Milizprinzip: Die Ämter werden als Nebenbeschäftigung und ohne fachliche Qualifikation ausgeübt. Von Beruf sind die Herren gelernte Tierärzte, Juristen, auch ein Ladenbesitzer ist dabei. Es sind die Honoratioren der dörflichen Gemeinschaft, die am christlichen Feiertag über das Schicksal der Familie M. entscheiden.
Zum schweizerischen Wohlfahrtsmodell gehörte neben dem Milizprinzip auch die Auslagerung gewisser sozialstaatlicher Aufgaben an halbprivate oder private Stellen. Freiwillige Fürsorgerinnen kümmerten sich zum Beispiel ehrenamtlich um bedürftige Familien. Von oben herab unterrichteten sie die Mütter in reinlichem Haushalten und christlicher Erziehung. In der Regel zeigten sie wenig Verständnis für die schwierige Situation von Arbeiterfamilien mit zahlreichen Kindern und einem geringen Einkommen. Oft «halfen» sie an ihren Bedürfnissen vorbei; sie bewerteten ihr Verhalten nach bürgerlichen Massstäben.
So auch die zwei Frauen, die am Dreikönigstag in Appenzell in den Raum gebeten werden. Die «guten Katholikinnen» und «rechtschaffenen Bürgerinnen» geben Auskunft über die Hausbesuche, die sie der Familie M. regelmässig abgestattet haben. Ihr Bericht lässt insbesondere an der Mutter kein gutes Haar. «Himmeltraurig» seien die Verhältnisse. Den Schmutz, die Beengtheit, die dunklen Kammern mit den vielen Betten und die allgegenwärtige Armut sind die Frauen nicht gewohnt.
Die Herren sehen sich durch die Schilderungen bestätigt. Noch im alten Jahr haben sie die Mutter vorgeladen, die sich jedoch gegen die behördliche Intervention wehrte. Sie habe gedroht, «sich ein Leid anzutun», nehme man ihr die Kinder weg. Die Drohung hat die Behörde zögern lassen, doch nun greift sie durch. Sie beschliesst, drei der vier Kinder auf unbestimmte Zeit ins örtliche Kinderheim zu versorgen; nur das jüngste soll der Mutter belassen bleiben. Das halten sie für vertretbar, hat doch der Pfarrer diese Möglichkeit in Betracht gezogen.
Der Aktuar informiert noch am selben Tag die Kantonspolizei, damit diese die Versorgung in der kommenden Woche vollzieht. Bereits am Montag schreitet der Polizist durch die engen Gassen zum Riet, dem Armenquartier in Appenzell. Die Mutter will die Wegnahme verhindern, doch ihr Protest ist vergeblich. Der Polizist begibt sich schliesslich mit den Kindern auf den Weg ins Kinderheim am Dorfrand. Das Heim wird von den Ingenbohler Schwestern geführt, einer Ordensgemeinschaft der katholischen Kirche.
Fast nur Kinder aus der Unterschicht
Vielen Familien erging es ähnlich wie der Familie M. Staatliche Behörden nahmen Zehntausende Kinder ihren Familien weg. Im 19. Jahrhundert waren es noch kommunale Armenbehörden gewesen, die Kinder bedürftiger und verarmter Familien in Heime einwiesen, nicht die kantonal organisierten Vormundschaftsbehörden. Diese kümmerten sich um die Vermögensverwaltung von meist wohlhabenden Personen, die ihre Geschäfte nicht mehr allein besorgen konnten; für Fremdplatzierungen waren sie nicht zuständig.
Das änderte sich mit dem entstehenden Sozialstaat. 1912 trat das Schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB) in Kraft. Es regelte nicht nur die Vormundschaft schweizweit einheitlich, sondern weitete ihren Kompetenzbereich auch auf die Kinder- und Jugendfürsorge aus. Bei «pflichtwidrigem Verhalten der Eltern» mussten die Vormundschaftsbehörden fortan die «zum Schutz des Kindes geeigneten Vorkehrungen» treffen; bei Gefährdung des «leiblichen oder geistigen Wohls» und bei «Verwahrlosung» des Kinds konnte sie es den Eltern wegnehmen und in einer Pflegefamilie oder Anstalt versorgen. Das ZGB ermöglichte Kindswegnahmen auf unbestimmte Zeit, gegen den Willen der Eltern und ohne vorherigen Entzug der elterlichen Gewalt.
Der Staat begründete die Interventionen mit der Sorge um das Kind. De facto betrieb er damit Unterschichtenpolitik. Wie verschiedene Studien zeigen, kamen fremdplatzierte Kinder fast ausschliesslich aus den unteren sozialen Schichten. Die repressive Fürsorgepolitik richtete mit der Fremdplatzierung individuelles Verhalten an einer bürgerlichen Norm aus und unterwarf die Betroffenen dieser Norm.
Einerseits übten die Behörden mit der Kindswegnahme also Zwang aus. Gemäss dem Historiker und Philosophen Michel Foucault hat Macht aber nicht nur repressive, sondern auch gestaltende, zurichtende Wirkung. Sie unterdrückt nicht nur unerwünschtes Verhalten, sondern fördert auch das gewünschte. So nahm die Obrigkeit die Kinder und ihre Familien in disziplinierender Absicht ins Visier: Mit der Fremderziehung versuchte sie, das Verhalten der Kinder und Jugendlichen in die gewünschten Bahnen zu lenken.
Die Vormundschaftsbehörde schritt – wie bei Familie M. – von Amtes wegen ein, wenn sie ein Kind als gefährdet ansah. Im Gegensatz dazu hatten die früheren Armenbehörden erst interveniert, wenn Bedürftige an sie gelangten, weil sie Unterstützung brauchten. Das ZGB hatte neu den Präventionsgedanken im Kinder- und Jugendschutz verankert. Das janusköpfige Ziel war es, das Kind durch den vorübergehenden Ausschluss aus dem angestammten Umfeld «in die menschliche Gesellschaft und geltende Sozialordnung zurückzugliedern», wie es der Vorsteher der Basler Vormundschaftsbehörde 1954 formulierte.
So wurde in Basel 1947 etwa die Jugendliche R. wegen «drohender Verwahrlosung» in eine Erziehungsanstalt versorgt. Den Beschluss fasste der Basler Vormundschafts- und Jugendrat. Die Behörde war bereits damals professionalisiert: Neben Juristinnen und Juristen arbeiteten auch geschulte Fürsorgerinnen und später Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter für sie. Im «Blauen Haus», dem repräsentativen Sitz der baselstädtischen Vormundschaftsbehörden, entschieden die Ratsmitglieder, wie es mit R. weitergehen sollte.
Der Vormund rapportierte der Behörde im Vorfeld, R. sei «illegitim», also unehelich geboren, und «geistig zurückgeblieben». Man dürfe sich nicht täuschen lassen: Da sie hübsch sei, sehe man ihr die «schlechte Veranlagung» nicht an. R. mache, was sie wolle, streife umher und gebe sich, seit sie dreizehn sei, «mit Burschen ab». Sie sei «sexuell verwahrlost». Der Vormund wollte verhindern, dass R. wie ihre Mutter ausserehelich schwanger würde. R.s Verhalten war für ihn nicht nur ein moralisches Problem, er verstand es als «krankhaft». Es resultiere aus dem Zusammenspiel von ungünstigem Milieu und angeborener Veranlagung. R. habe die «schlechten Anlagen» ihrer Mutter geerbt.
Psychiatrische Laiendiagnosen
Wie diese Charakterisierung zeigt, gewann die Psychiatrie in der Kinder- und Jugendfürsorge ab den späten 1920er Jahren an Einfluss. Es entstanden Beobachtungsstationen, in denen auffällige Kinder psychiatrisch abgeklärt wurden, und ambulante psychiatrische Einrichtungen. Die Vormundschaftsbehörden führten um die Mitte des 20. Jahrhunderts vermehrt psychiatrische Aspekte ins Feld: Es häuften sich in ihren Akten Diagnosen wie «schlechte Veranlagung», «geistig zurückgeblieben» oder «triebhaft».
Für die Behörden war die Psychiatrie ein Angebot, weil sie ältere moralische Zuschreibungen aufgriff und wissenschaftlich formatierte. «Verwahrlosung» zum Beispiel war zuerst ein alltagssprachliches Wort, es beschrieb einen Zustand von Unreinheit oder mangelnder Ordnung. Ein schmutziges und ungepflegtes Kind war «verwahrlost», ein Haushalt «verwahrloste», wenn die Mutter sich nicht um die Hausarbeit kümmerte. Die Psychiatrie übernahm den Begriff, um auf eine krankhafte Verfassung hinzuweisen.
Eine Jugendliche, die sich sexuell mit Jungen einliess, war nun nicht mehr «moralisch verdorben», sondern «sexuell verwahrlost». Die Promiskuität, die vorher für die Behörden ein moralisches Problem gewesen war, deuteten sie neu als Zeichen einer krankhaften Sexualität. Sowohl die moralische als auch die psychiatrische Einschätzung rechtfertigten rigide fürsorgerische Massnahmen.
Um R. vor «sittlicher Gefährdung und Verwahrlosung» zu schützen, beantragte der Vormund die «vorsorgliche» Einweisung in eine Erziehungsanstalt. Der Basler Vormundschafts- und Jugendrat gab dem Wunsch statt: Für ihn war die Massnahme unumgänglich, weil die Mutter einer Arbeit nachgehe und R. kaum beaufsichtigen könne.
R. wurde versorgt, ohne dass sie ein Delikt begangen hätte, nur weil sie sich anscheinend mit Jungen abgab. Ob sie mit ihnen tatsächlich Liebesbeziehungen unterhielt, ist nicht bekannt. Sie wurde in eine Erziehungsanstalt ausserhalb Basels geschickt. Dort fügte sie sich gut ein. Der Vormund lobte gegenüber der Behörde ihre erfreuliche «Entwicklung» trotz ihrer «schlechten Veranlagung»; sie bereite keine Probleme. Zwei Jahre später wurde sie entlassen.
Der Vormund schickte sie zu einer Familie in die Westschweiz, wo sie im Haushalt arbeitete. Als sie nach Basel zurückkehrte, nahmen die Konflikte zwischen ihr und dem Vormund zu. Mittlerweile arbeitete sie als Küchengehilfin, doch es gab Spannungen mit ihrem Arbeitgeber. Sie habe gekündigt und danach ein «durch Einnässen ganz zerstörtes Bett und Wäsche und andere Effekten im beispiellosen Zustand» zurückgelassen, wie der Vormund berichtete. Er sah darin den Beweis für R.s «verwahrlostes Wesen».
Sie sei zweifellos gefährdet und müsse lernen, «ihre Triebhaftigkeit in Zügel zu halten», wenn sie «im Leben bestehen» wolle. Erneut wurde sie zur «Nacherziehung» in eine Erziehungsanstalt eingewiesen, damit ihre «ungünstige» Entwicklung gestoppt werde. Diesmal war die «Triebhaftigkeit» ausschlaggebend für die Versorgung.
Die Behörden nutzten das psychiatrische Wissen selektiv und passten es ihren Bedürfnissen an. Für ihre Verfügungen brauchten sie keine psychiatrischen Gutachten. So überprüfte bei R. niemand die Laiendiagnosen des Vormunds, die angebliche sexuelle Verwahrlosung und Triebhaftigkeit. In anderen Fällen forderten die Behörden zwar Gutachten an, sie waren aber nicht bindend.
Neue Ansätze nach 1968
Erst der in den 1960er Jahren einsetzende gesellschaftliche Wandel veränderte die behördliche Politik. Die weltweiten Proteste der 1968er-Bewegung stellten althergebrachte Ordnungen infrage und rüttelten an Hierarchien. Die Jugendrevolten riefen zunächst Abwehrreaktionen hervor, Beamtinnen und Beamte waren verunsichert, wie mit dem sozialen Wandel umzugehen sei. In den Betrieben attestierte man der Jugend eine «Orientierungskrise», die Zeitungen sprachen von «Drogenwellen», der Staat zeigte sich um die psychische Gesundheit der Bevölkerung besorgt.
Gleichzeitig stieg die Nachfrage nach Therapie und Beratung. Wie der Historiker Jens Elberfeld gezeigt hat, wurde therapeutisches Wissen ab den 1970er Jahren in der Öffentlichkeit vermehrt akzeptiert. Es entstand ein breites Angebot an Lebensberatung, psychotherapeutischer Ratgeberliteratur und Selbsthilfegruppen.
Dieser «Psychoboom» machte auch vor den Behörden nicht halt. Sie fragten nun vermehrt psychologische Dienstleistungen nach; gleichzeitig ging die Zahl der psychiatrischen Diagnosen zurück. Für den 14-jährigen T. forderte die Basler Behörde 1970 ein Gutachten beim Schulpsychologen an, nachdem sich die Schule wegen des Buben beim Jugendamt gemeldet hatte.
Der Psychologe diagnostizierte bei T. eine «Frühverwahrlosung». Er führte sie darauf zurück, dass ein «ihm selber nicht bewusster Urwunsch nach Angenommensein und Geborgenheit» nicht erfüllt worden sei. Weil er mittlerweile derart verhaltensauffällig sei, werde der «kleine, armselige, nach affektiver Zuneigung hungernde Junge» in ihm übersehen. Sein «familiäres Milieu» bringe wenig Verständnis dafür auf und kooperiere nicht.
Die Verhaltensschwierigkeiten beruhten gemäss Gutachten auf der individuellen Disposition des jungen Manns und auf dem verständnislosen familiären Umfeld. Die Behörde übernahm die Deutung des Psychologen und beschloss, T. in eine Erziehungsanstalt zu versorgen, um ihn von seinem Umfeld zu trennen.
Im Gegensatz zur Psychiatrie zielte die Psychologie nicht auf die Therapie eines «kranken» Verhaltens. Die psychologischen Angebote sollten durch frühzeitige Massnahmen verhindern, dass sich soziale Auffälligkeiten zu Verhaltensstörungen entwickelten. Vormundschaftsbehörden thematisierten nun vermehrt Entwicklungsdefizite wie «gestört in der frühkindlichen Entwicklung», Persönlichkeitsprobleme wie «Bindungsunfähigkeit» oder ein zu geringes «Selbstwertgefühl». Gleichzeitig verschwanden psychiatrische Diagnosen wie «debil», «idiotisch» oder «imbezil» aus ihrem Wortschatz. Die klinische Psychologie untermauerte den im ZGB verankerten Präventionsgedanken: Ihr ging es um eine Therapie der «Störungen».
Kontrolle des Staats hält an
Das kam den Behörden entgegen. In den Städten baute die Kinder- und Jugendfürsorge das Beratungswesen aus, um möglichst früh intervenieren zu können. Es entstanden Familienberatungsstellen, ambulante Dienste und Drogenberatungsstellen. Die Behörden schufen Kontrollstrukturen, um möglichst rechtzeitig einschreiten zu können. Detektive überwachten zum Beispiel in Basel für das Jugendamt einschlägige Orte wie Kinos, Bars und Dancings, wo sich nach Ansicht der Behörde «dubiose Elemente» herumtrieben. Minderjährige, die den Detektiven «durch ihr Auftreten und allfällige Süchtigkeit oder sexuelle Gefährdung» auffielen, mussten dem Jugendamt umgehend gemeldet werden.
Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts ging die Zahl der vormundschaftlichen Fremdplatzierungen stark zurück. Zum einen entschied nun vorwiegend das Jugendgericht über Versorgungen, nicht mehr die Vormundschaftsbehörde. Zum anderen kamen vormundschaftliche Fremdplatzierungen nur noch als letztes Mittel zum Einsatz, wenn alle anderen Massnahmen gescheitert waren. Der Kinder- und Jugendschutz verschob sich auf Beratungsstellen, ambulante Kliniken oder therapeutische Organisationen.
Seit den 1970er Jahren durchlief zudem das Familienrecht verschiedene Revisionen. 1978 regelte die Pflegekinderverordnung das Pflegekinderwesen erstmals national einheitlich. 2013 fand eine umfassende Revision des Erwachsenen- und Kinderschutzrechts statt. Sie ersetzte die vormals kantonal unterschiedlich organisierten Vormundschaftsbehörden durch national einheitlich geregelte, interdisziplinär zusammengesetzte und professionalisierte Kindes- und Erwachsenenschutzbehörden (Kesb).
Im 20. Jahrhundert rechtfertigte insbesondere die «Gefährdung des Kinds» rigide behördliche Eingriffe in Familien. Das gefährdete Kind war immer auch gefährlich – für sein Umfeld, den Staat und die Gesellschaft. Die staatliche Kontrolle über Kinder und ihre Familien hält allerdings bis heute an. Die sozialstaatlichen Akteure betreiben nach wie vor eine wirkmächtige Familienpolitik. Sie bestimmen über Ein- und Ausschluss und legen Normalität fest. Die Familie ist weiterhin das Scharnier zwischen der Öffentlichkeit und dem Privaten.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/wissen/fremdplatzierungen-wie-der-staat-tausende-kinder-in-anstalten-versorgte-ld.1756656)