Medienspiegel 20. September 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++AARGAU
Flüchtlingsunterkunft Möriken-Wildegg: Nach grossem Widerstand aus der Bevölkerung und der Gemeinde selbst, ziehen der Gemeinderat und der Kanton nach den ersten Monaten eine positive Bilanz. (ab 06:29)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/solothurner-ausgleichskasse-gesamter-verwaltungsrat-tritt-zurueck?id=12457596
-> https://www.telem1.ch/aktuell/zwischenbilanz-wie-sieht-es-bei-der-asylunterkunft-moeriken-wildegg-aus-153639241
-> https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/seit-drei-monaten-in-betrieb-wie-laeuft-es-in-der-asylunterkunft-wildegg-153640958?autoplay=true&mainAssetId=Asset:153640842



aargauerzeitung.ch 20.09.2023

«Bevölkerung ist überrascht, wie ruhig es ist»: So läuft der Betrieb der Asylunterkunft im «Aarehof» bislang

Die Wogen gingen hoch, als klar wurde, dass bis zu 140 Einzelmänner ins ehemalige Hotel am Bahnhof in Möriken-Wildegg einziehen. Es kommen immer noch Rückmeldungen – aber positive.

Eva Wanner

127 sind es inzwischen. 127 sogenannte Einzelmänner, die meisten aus der Türkei und aus Afghanistan, vereinzelte aus Syrien, dem Iran und dem Irak. Der grösste Teil ist unter 25 Jahre alt, viele zwischen 25 und 35 und einige über 35. Sie alle leben zusammen in Möriken-Wildegg, im «Aarehof», der vom Hotel zur kantonalen Asylunterkunft umfunktioniert wurde.

Als das im März bekannt wurde, war die Aufregung gross. Eine Petition gegen die Unterkunft wurde lanciert, eine – unbewilligte – Demo vor dem Haus fand statt. In den sozialen Medien überschlugen sich kritische Kommentare. Es kam so weit, dass die Sommergemeindeversammlung von Möriken-Wildegg unter Polizeischutz stattfinden musste. Es waren Drohungen gegen den Gemeinderat eingegangen.

Jetzt, über drei Monate nach Inbetriebnahme der Unterkunft, ist es still geworden. Zumindest aus jener Ecke, die lautstark den Unmut kundgetan hatte. Andere Töne sind dafür lauter geworden – sehr zur Freude der Gemeinde. «Wir bekommen sehr viele positive Rückmeldungen», sagt Frau Gemeindeammann Jeanine Glarner. «Die Bevölkerung ist überrascht, wie ruhig und sauber es ist und dass keine grösseren Gruppen im Dorf unterwegs sind.»

Temporärbüros fragen an

Am Mittwochmorgen, an dem Kanton und Gemeinde die Medien zu einem Rundgang durch die Asylunterkunft luden, war es besonders ruhig. Kaum Männer in der Unterkunft, der Töggelikasten verlassen, der Fernsehraum ebenfalls und das Schachbrett stand spielbereit auf einem Tisch, nur die Spieler fehlten. Wurde das extra für diesen Termin so hergerichtet? Nein, sagt der Zivildienstleistende, der aktuell hier Dienst tut. Besonders Schach sei beliebt, aber auch andere Spiele.

Dass in diesem Moment niemand Karten mischt, liegt an der Uhrzeit: Mittwoch, 10 Uhr. Einige wenige sitzen noch beim Frühstück, andere sind ihren Zimmern oder im Lernraum in Deutsch-Lernbücher vertieft. Die meisten aber sind unterwegs. Denn: 70 Prozent der Bewohner sind mit Deutschkursen oder Beschäftigungsprogrammen ausgelastet, einige arbeiten, erklärt Kerstin Bornemann, Leiterin der Unterkunft. Etwa im Lager von Coop. Es hätten schon mehrere Temporärfirmen angerufen und gefragt, ob die Männer einsatzbereit wären. Das seien sie absolut, betont Bornemann. Der Bildungsstand der Männer ist unterschiedlich, je nach Herkunftsland und der dortigen Möglichkeiten. Im Haus finden sich Ingenieure, Physiker, Lehrer aber auch Handwerker.

Elf neue Asylsuchende pro Tag

Marcel Thueler, stellvertretender Leiter Sektion Betreuung Asyl, betont: Wer hierher kommt, der bleibt oder hat zumindest eine sehr gute Bleibeperspektive. Der Aargau sei ein Integrationskanton. Aktuell werden ihm jeden Tag elf neue Asylsuchende zugewiesen. Sie kommen in die Unterkunft in Buchs und werden von dort aus, je nach Alter, Gesundheitszustand und so weiter, in andere Unterbringungen gebracht.

Die Asylunterkunft in Möriken-Wildegg hat eine Entlastung gebracht, aber die steigende Zahl der Einreisenden bedingt, dass mehr Unterkünfte geschaffen werden. In Aarau etwa wird im Oktober die Geschützte Operationsstelle (GOPS) beim KSA wieder in Betrieb gehen.

Einwohnerinnen und Einwohner bieten Hilfe an

Beschäftigungsprogramme gibt es im «Aarehof» auch intern. Verschiedene Ämtlipläne sind aufgehängt; beispielsweise, wer wann die gemeinsame Küche putzt. Bei den Betreuungspersonen besonders grosse Freude löst aus, dass sich auch Menschen aus dem Dorf anbieten, Aktivitäten zu planen und durchzuführen. Die Bäckerei gleich vis-à-vis der Unterkunft habe etwa vorgeschlagen, einer Gruppe zu zeigen, wie ein Zopf gebacken wird. Vertretende der evangelischen Kirche hätten angeboten, sportliche Unternehmungen wie Velofahren, Joggen oder Spaziergänge zu organisieren und zu begleiten.

Fester Teil der täglichen Routine: Jeden Morgen finden Kontrollen in den Zweier- und Viererzimmern statt. Sauberkeit und Ordnung werden geprüft, ebenso, ob im Zimmer verbotenerweise geraucht wurde. Es gehe bei diesen Kontrollen, sagen die Betreuungspersonen, aber auch darum, Kontakt aufzunehmen und zu pflegen.

Betreuung während 24 Stunden

Mit ein Grund, weshalb es in der Asylunterkunft so gut laufe, sei sicher die Infrastruktur, sagt Thueler. Die Zimmer haben eigene Toiletten und Duschen – seien die sanitären Anlagen Gemeinschaftsräume für mehrere Personen, berge das Konfliktpotenzial. Gibt es doch Unklarheiten oder wird es mal lauter, sind die Männer rund um die Uhr betreut. Mit 600 Stellenprozenten sind die Betreuung dotiert, in der Nacht ist Sicherheitspersonal unterwegs.

Die Gemeinde ist soweit zufrieden. Jeanine Glarner sagt aber auch: Es bleibe zu hoffen, dass das auch im Winter so bleibt. Dann, wenn die Männer ihre Freizeit vor allem drinnen verbringen werden.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/lenzburg/moeriken-wildegg-bevoelkerung-ist-ueberrascht-wie-ruhig-es-ist-so-laeuft-der-betrieb-der-asylunterkunft-im-aarehof-bislang-ld.2515432)


+++SCHWEIZ
Die Krise auf Lampedusa und die Schweiz – Echo der Zeit
Derzeit kommen viele Geflüchtete auf der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa an. Letzte Woche waren es mehrere tausend. Das hat auch Folgen für die Schweiz: Die Zahl der Asylgesuch nimmt zu, ebenso die irregulären Grenzübertritte im Tessin.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/die-krise-auf-lampedusa-und-die-schweiz?partId=12457653
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/gefluechtete-auf-lampedusa-die-wenigsten-gefluechteten-reisen-in-die-schweiz



nzz.ch 20.09.2023

Nur 600 statt 1800 Plätze: Baume-Schneider war zu optimistisch

Die Flüchtlingsunterkünfte werden knapp – aber nicht wegen Lampedusa.

Irène Troxler, David Biner

Die italienische Mittelmeerinsel Lampedusa wird derzeit von Bootsmigranten aus Afrika überrannt. Trotz gegenteiligen Beteuerungen gelingt es der Regierungschefin Giorgia Meloni nicht, die illegalen Überfahrten zu stoppen. Muss sich nun auch die Schweiz auf einen Ansturm aus dem Süden gefasst machen?

Das lasse sich nicht vorhersagen, antwortet Reto Kormann, Mediensprecher des Staatssekretariats für Migration (SEM), auf die Frage. Die Zahl der Asylanträge hänge aber stärker mit der Migration auf der sogenannten Balkanroute zusammen als mit der Lage im Mittelmeerraum.

In Italien seien seit dem Januar 2023 rund 26 000 Personen aus Guinea oder Côte d’Ivoire an Land gegangen, argumentiert der SEM-Sprecher. In der Schweiz seien im gleichen Zeitraum aber bloss 350 Asylgesuche aus diesen Ländern eingegangen. Viel wichtiger als die Lage in Italien sei die Migration aus der Türkei. Daher habe man bis jetzt auch keine Korrekturen an den Asylprognosen vorgenommen. Am wahrscheinlichsten sei weiterhin die Zahl von 28 000 Gesuchen für das Jahr 2023. Das Szenario hoch (rund 35 000 Gesuche) sei mit einer Wahrscheinlichkeit von 35 bis 40 Prozent aber ebenfalls denkbar.

SVP und FDP überbieten sich

Im August gingen gemäss SEM in der Schweiz 3001 Asylgesuche ein, das sind 38 Prozent mehr als im Juli. Auch die Zahl der illegalen Grenzübertritte machte einen Sprung von 3721 im Juli auf 5763 im August. Diese Angaben werden vom Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit erhoben.

Im Tessin wird bereits diskutiert, was in einigen Wochen auf den Grenzkanton zukommen könnte. Aus der SVP-Fraktion gibt es ein paar Vorstösse dazu. Sonst ist es bis dato aber auffallend ruhig geblieben – was sich indes rasch ändern kann.

Wie explosiv das Asylthema einen Monat vor den eidgenössischen Wahlen ist, hat sich über das Wochenende gezeigt. Die FDP war für einmal schneller als die SVP und machte sich ein Thema zu eigen, das die «Weltwoche» aufbrachte. Das SEM habe «still und heimlich» die Asylpraxis geändert, indem es Afghaninnen grundsätzlich das Anrecht auf Asyl gewährt.

Damit werde die Schweiz «zum bevorzugten Zielland in Europa», sagte die FDP warnend. Und Damien Cottier, der smarte und stets auf die humanitären Traditionen bedachte Fraktionschef der Freisinnigen, kommt plötzlich vor dem SVP-Hardliner Jean-Luc Addor in den Westschweizer Nachrichten.

Im Mittelpunkt der Kritik bleibt die Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider. Die SP-Bundesrätin steht seit ihrem Amtsantritt Anfang Jahr für eine Asylpolitik , an der sich die bürgerlichen und die linken Parteien abwechselnd abarbeiten. Für die Rechte ist sie zu lax, für die Linke kann sie nicht «menschlich» genug sein. Baume-Schneiders Offenheit gegenüber den EU-Plänen, Asylverfahren an Europas Aussengrenzen durchzuführen, bescherte ihr aus dem eignen Lager ähnlich schrille Schimpfe wie jetzt von FDP und SVP bei den Afghaninnen. Dazu kommt der teilweise schwierige Umgang mit den Kantonen.

Im August war die Justizministerin vor die Medien getreten. Zwar hatte der Ständerat kurz zuvor ihr Projekt für 3000 Flüchtlingsbetten in Conainterbauten versenkt. Aber nun würden die Kantone 1800 zusätzliche Plätze in Zivilschutzanlagen zur Verfügung stellen, verkündete sie zufrieden und gab sich optimistisch. Zu optimistisch, wie sich heute zeigt: Das SEM relativiert die Zahl. Derzeit stünden gegen 600 Plätze in den Kantonen Bern, Genf und Zürich fix in Aussicht, nicht die versprochenen 1800.

Die Anlagen des Bundes seien derzeit zu 76 Prozent ausgelastet, schreibt das Staatssekretariat. Zwar sind dort zurzeit noch 2400 Betten frei. Sollten aber weiterhin monatlich über 3000 Gesuche oder mehr eingehen, dürfte es kritisch werden mit der Unterbringung. Immerhin ist zumindest die Mittelmeerroute ab Spätherbst nicht mehr attraktiv. Die See ist dann für kleine Boote viel zu gefährlich.

Schweiz ist passiv gegenüber Italien

Trotz chaotischen Szenen in Lampedusa ist Italien anteilsmässig weniger betroffen von den internationalen Fluchtbewegungen als Deutschland, Spanien oder die Schweiz. Dennoch verweigert sich das Land der im Dublin-Abkommen vereinbarten Kooperation, und zwar nicht nur temporär. In Deutschland und Frankreich hat dies bereits harsche Reaktionen und Grenzkontrollen provoziert. In der Schweiz bleibt es still, was manche der Justizministerin als Untätigkeit auslegen.

Dabei hätte die Schweiz durchaus Druckmittel, bezahlt sie doch über einen Fonds jährlich rund 5 Millionen Franken an das italienische Asylwesen. Die Schweiz könnte die italienische Regierung auch darauf aufmerksam machen, dass es für sie von Interesse ist, wenn weiterhin Tausende Grenzgänger unkompliziert hier arbeiten können. Und sie könnte Personen, die illegal die Südgrenze übertreten wollen, ohne ein Asylgesuch zu stellen, stoppen und direkt zurückschicken.

Fragt man das SEM nach der Schweizer Antwort auf die italienische Verweigerungshaltung, lautet die Antwort: Die Schweiz ersucht weiterhin um vertragsgemässe Überstellungen.
(https://www.nzz.ch/schweiz/fluechtlingskrise-in-lampedusa-was-kommt-auf-die-schweiz-zu-ld.1756955)



Neue IZA-Strategie: Es braucht Partnerschaft statt Migrationsabwehr
Der Bundesrat hat bis zum 20. September die Vernehmlassung für die Strategie der internationalen Zusammenarbeit (IZA-Strategie 2025 – 28) durchgeführt. Die immer stärkere Ausrichtung der Entwicklungszusammenarbeit an sicherheits- und migrati-onspolitischen Interessen ist aus Sicht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) problematisch. Vielmehr sollte der Bundesrat eine partnerschaftliche Migrationspolitik stärken.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/neue-iza-strategie-es-braucht-partnerschaft-statt-migrationsabwehr


FDP und SVP: Gemeinsam für die Taliban
Die Schweiz anerkennt Afghaninnen als Geflüchtete. Die Rechtsparteien skandalisieren den vernünftigen Entscheid.
https://www.woz.ch/2338/fdp-und-svp/gemeinsam-fuer-die-taliban/!RSCR4SXR8CT8



nzz.ch 20.09.2023

„NZZ Akzent“: Warum prügeln sich die Eritreer?
Podcast: https://audio.podigee-cdn.net/1220788-m-d3f592ffbc52e8a31f9d11fc6d8b7c71.mp3?source=webplayer

2. September 2023, Samstagabend im Glattpark, einer Grünanlage in der Nähe von Zürich. Viele Menschen, unter ihnen Familien mit Kindern, wollen hier den lauschigen Spätsommertag ausklingen lassen, als es plötzlich laut wird. Wie aus dem Nichts tauchen etwa hundert Männer auf, bewaffnet mit Fahnenstangen und Stöcken. Auf der anderen Seite des Parks erscheinen ebenfalls bewaffnete Männer. Es kommt zu einer Massenschlägerei. Zwölf Menschen werden verletzt. Erst nach zwei Stunden hat die Polizei das Ganze unter Kontrolle.

Bei den Männern handelt es sich um Eritreer. «Die Schlägerei ist ein Ausdruck der tiefen Spaltung der eritreischen Diaspora», erklärt der Zürich-Redaktor Tobias Marti in der neuen Folge von «NZZ Akzent». Auf der einen Seite die, welche das diktatorische Regime in Eritrea unterstützten, und auf der anderen Seit jene, die es verabscheuten.

Im Podcast erläutert Tobias Marti die Hintergründe. «Es geht in diesem Konflikt auch um Geld.» Geld, ohne das die Regierung in Eritrea nicht überleben würde. Doch es gebe einen Verdacht, so Marti weiter: «Die Gelder werden unter Zwang erhoben.»
(https://www.nzz.ch/podcast/warum-sich-die-eritreer-untereinander-so-heftig-bekaempfen-nzz-akzent-ld.1756484)


+++GRIECHENLAND
Waldbrände in Griechenland: Brandstiftung von rechts
In der Region Evros an der Grenze zur Türkei machen Einheimische Migranten für das Feuer verantwortlich – und greifen teilweise zur Selbstjustiz.
https://taz.de/Waldbraende-in-Griechenland/!5958241/


+++ITALIEN
Aufnahmelager für Geflüchtete: Wachen wir auf!
Die Proteste auf Lampedusa gegen die Politik an der EU-Außengrenze halten an
Das Erstaufnahmelager der Insel Lampedusa platzt aus allen Nähten: mehr als 1700 Insassen, darunter 450 unbegleitete Minderjährige. Nur mit Hilfe vieler Lampedusani gelingt die Notversorgung. Der Ärger über die EU-Politik ist groß.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176437.lampedusa-aufnahmelager-fuer-gefluechtete-wachen-wir-auf.html


Lampedusa: Härte gegen Schutzsuchende statt Humanität
Die humanitäre Situation auf Lampedusa spitzt sich zu. Das Leid der Schutzsuchenden ist das vorhersehbare Ergebnis eines politischen Versagens und wird instrumentalisiert, um Zerrbilder der »Überforderung« und des »Kontrollverlusts« zu kreieren. Sie werden aktuell bewusst genutzt, um flüchtlingsfeindlichen Politiken voranzutreiben.
https://www.proasyl.de/news/lampedusa-haerte-gegen-schutzsuchende-statt-humanitaet/


Migrationskrise auf Lampedusa – Geflüchtete ohne Bleiberecht können länger eingesperrt werden
Mehr und mehr Migranten kommen im Erstaufnahmelager an. Das italienische Kabinett hat die Bedingungen massiv verschärft.
https://www.srf.ch/news/international/migrationskrise-auf-lampedusa-gefluechtete-ohne-bleiberecht-koennen-laenger-eingesperrt-werden


+++EUROPA
Destabilisierung: So schleust Putin Tausende Geflüchtete nach Europa
Ob über Weissrussland und Polen oder mit gezielter Desinformation in Afrika: Russland übt mit Geflüchteten zunehmend Druck auf Europa aus.
https://www.20min.ch/story/destabilisierung-so-schleust-putin-tausende-gefluechtete-nach-europa-272268453560?version=1695206490643


Was kann die EU in der Migrationskrise ausrichten? – Echo der Zeit
Die Lage auf Lampedusa beunruhigt die EU, Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen verspricht Italien Unterstützung. Doch welche Instrumente hat die EU in der Frage überhaupt? Ein Gespräch mit der Migrationsforscherin Victoria Rietig.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/was-kann-die-eu-in-der-migrationskrise-ausrichten?partId=12457656


Abschiebegefängnisse für Flüchtlinge
Italiens postfaschistische Regierung von Giorgia Meloni will aus der Debatte um die steigende Migration politisch Kapital schlagen
Die Lage in Lampedusa ist bedrückend. Auch in Triest an der Grenze zu Slowenien kommen immer mehr Migranten an, in diesem Fall über die Balkanroute.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1176439.politik-gegen-migranten-abschiebegefaengnisse-fuer-fluechtlinge.html


Frontex abschaffen!
Frontex ist die Europäische Agentur für Grenz- und Küstenwache. Sie wird stark kritisiert, Menschenrechte zu verletzten. Illegales und gewaltsames Zurückdrängen von Menschen an den Grenzen (Push-Backs) und heimliche Treffen mit der Waffenlobby machten Schlagzeilen. Trotzdem soll Frontex rasant ausgebaut werden, 2027 erhält Frontex das 10fache des aktuellen Budgets: 5,6 Milliarden Euro, 10.000 eigene Grenzbeamte. Auch die Schweiz ist personell und finanziell beteiligt. Dagegen hat sich die Kampagne Abolish Frontex (dt.: Frontex Abschaffen) gegründet. Sie fordert u.a. ein Ende der Militarisierung von Grenzen, den sofortigen Stopp von Abschiebungen und der Überwachung von Menschen on the move, Bewegungsfreiheit für alle sowie eine Verantwortungsübernahme für die (neo-)koloniale Schuld der beteiligten Länder. Ilai Krämer hat Moses Ferry von Abolish Frontex im Subkutan Talk zu den Forderungen sowie Visionen interviewt.
https://rabe.ch/2023/09/20/frontex-abschaffen-2/


Hat sich Europa die Flüchtlingsströme selbst eingebrockt? Ein Historiker ordnet ein
Die italienische Insel Lampedusa ächzt unter den Massen an Migrantinnen und Migranten, die über das Mittelmeer flüchten. Sind die Flüchtlingsströme eine Folge der Kolonialisierung Afrikas durch Europa? Historiker Wolfgang Reinhard ordnet ein.
https://www.watson.ch/international/interview/733056987-migrationschaos-auf-lampedusa-der-zusammenhang-mit-dem-kolonialismus


+++TUNESIEN
Tunesien hält tausende Migranten von Überfahrt ab – Rendez-vous
Täglich erreichen derzeit hunderte Flüchtlinge die italienische Insel Lampedusa. Vergangene Woche waren es innert eines Tages sogar 5000. Nun vermeldet die tunesische Küstenwache, sie habe mehr als 2500 Menschen an der Überfahrt nach Europa gehindert. Wie realistisch ist das?
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/tunesien-haelt-tausende-migranten-von-ueberfahrt-ab?partId=12457383
-> https://www.watson.ch/international/migration/389967284-tunesische-kuestenwaechter-halten-2500-migranten-von-ueberfahrt-ab


+++FREIRÄUME
Wieder eine Hausbesetzung in Basel: Kollektiv verschanzt sich in einem Haus in der Schanzenstrasse
Das Kollektiv «Schanze beleben» hat am Mittwoch ein Haus in der Grossbasler Schanzenstrasse besetzt. Laut einem Communiqué verstehen die Aktivistinnen und Aktivisten die Aktion als Protest gegen eine angebliche Luxussanierung, die dem Gebäude bevorsteht.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/teuere-mietpreise-wieder-eine-hausbesetzung-in-basel-kollektiv-verschanzt-sich-in-einem-haus-in-der-schanzenstrasse-ld.2517790


+++GASSE
Psychiater Thilo Beck: «Viele Zürcher Angebote sind nicht vorbereitet auf Crack»
Die Bäckeranlage in Zürich steht seit einem Monat im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Die Rede ist von Zuständen, die der offenen Drogenszene der 90er-Jahre gleichen sollen. Doch ist die Situation wirklich derart angespannt? Und was muss passieren, damit das System nicht gänzlich zusammenbricht? Thilo Beck, Chefpsychiater einer der führenden suchtmedizinischen Institutionen, ordnet ein.
https://tsri.ch/a/clmq9alee2428702sccbs9rou2y/psychiater-thilo-beck-ueber-die-baeckeranlage-crack-und-legalisierung



Drogenszene in der Bäckeranlage: Zürcher Stadtparlament will keine Räumung der offenen Crack-Szene
Die Mehrheit des Rats zeigt Verständnis für die Anwohner des Parks, lehnt aber einen SVP-Vorstoss ab. Die Partei argumentierte, sie wolle einen zweiten Platzspitz verhindern.
https://www.derbund.ch/drogenszene-in-der-baeckeranlage-zuercher-stadtparlament-will-keine-raeumung-der-offenen-crack-szene-508213015294
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/zuercher-stadtparlament-will-keine-raeumung-der-offenen-crack-szene-153640525?autoplay=true&mainAssetId=Asset:153105693
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/stadtparlament-entscheidet-zuercher-crack-szene-wird-nicht-geraeumt-id18962783.html



tagesanzeiger.ch 20.09.2023

Suchtproblem in Zürich: Drogenszene der «Bäcki» verlagert sich in Quartier

In der Bäckeranlage hat sich die Lage entschärft, doch Crack und Heroin sind im Kreis 4 immer noch präsent. Am Mittwoch stritt die Politik über die Strategie.

David Sarasin, Martin Huber

Seit Wochen steht die Bäckeranlage im Fokus der Öffentlichkeit. Anfang der Sommerferien wurde sichtbar, dass sich dort eine Szene von Crack-Konsumierenden trifft. Im Quartier machte die Besorgnis die Runde, dass sich eine neue offene Drogenszene bilden könnte. Einige der anliegenden Cafés beklagten Umsatzeinbussen.

Mitverantwortlich für den Missstand waren die bis auf weiteres ersatzlos geschlossene Kontakt- und Anlaufstelle (K&A) in der Alten Kaserne. Dieser Verlust traf auf die Verbreitung von Crack in mehreren Schweizer Städten. Bis heute gab die Stadt noch keinen Ersatzstandort für eine K&A im Kreis 4 bekannt.

Szene hat sich verteilt

Derzeit bietet sich ein weniger dramatisches Bild in der Bäckeranlage und auf den Pausenhöfen der umliegenden Schulhäuser. Doch taucht die Szene stattdessen an unterschiedlichen Orten im Quartier auf. Dies machen Gespräche mit Anwohnenden und der aufsuchenden Sozialarbeit der Stadt Zürich (SIP) deutlich.

So beobachten die SIP-Teams, die rund um die Uhr im Kreis 4 patrouillieren, eine verstärkte Bildung von kleinen Gruppen an verschiedenen Orten im Quartier. Dies sagt Rebecca Fröhlicher, Teamleiterin der SIP.

Der Grund dafür: Sogenannte Mikrodeals, die früher in der K&A stattgefunden haben, gehen nun vermehrt im Quartier über die Bühne. «Solche kleinen Gruppen können an jeder Ecke an einem Tag auftauchen und am nächsten wieder verschwinden», sagt Fröhlicher. Sie sagt aber auch, dass sich Ähnliches in einer verminderten Form im Kreis 4 seit vielen Jahren abspiele.

Vom vermehrten Auftreten solcher und ähnlicher kleinen Drogenszenen berichten dieser Redaktion auch mehrere Quartierbewohnerinnen und -bewohner: vereinzeltes Dealen in Hinterhöfen, Konsumation in Hauseingängen, Sicherheitspersonal an exponierten Kiosken. Fröhlicher relativiert aber auch: Von einer offenen Drogenszene sei man nach wie vor weit entfernt.

Weniger nächtlicher Betrieb im Park

So hat sich die Situation in der Bäckeranlage und bei den umliegenden Schulhäusern seit einigen Wochen beruhigt. Hannes Lindenmeyer, der direkt an der Bäckeanlage wohnt, sagt: «Die Lage in der Bäckeranlage hat sich jüngst entschärft.» Lindenmeyer beobachtete jüngst viel weniger nächtlichen Betrieb im Park als während der Sommermonate. «Das Problem wurde aber auch verlagert», sagt er. Viele Anwohnende würden diesen Frieden deshalb als brüchig beurteilen.

Die Entschärfung der Situation rund um die Bäckeranlage hat laut Fröhlicher von der SIP vor allem mit der deutlich gesteigerten Präsenz von Polizei, privaten Sicherheitsfirmen sowie der aufsuchenden Sozialarbeit der Stadt Zürich zu tun. So ist derzeit rund um die Uhr eine Art mobile Polizeistation der Stadtpolizei in der Bäckeranlage anzutreffen. Das wirkt. «Die Bäckeranlage und die Schulhäuser sind dadurch für viele Süchtige weniger attraktiv geworden», sagt Fröhlicher.

Sicherheitsfirma patrouilliert weniger

Ähnlich äussert sich auch ein Mitarbeiter einer Sicherheitsfirma, der im Auftrag der Stadt seit einigen Wochen regelmässig nächtens die Schulhäuser kontrolliert. Mit der Zeit sei das Patrouillieren immer wenger nötig geworden. «Viele Süchtigen respektieren unsere Präsenz und vermeiden es deshalb, auf den Pausenhöfen zu konsumieren», sagt der Mann, der anonym bleiben möchte. Die Sicherheitsfirma kontrolliere aufgrund dieser Beruhigung in den vergangenen Wochen immer weniger.

Auffällig ist für Sicherheitsmitarbeitende wie auch die aufsuchende Sozialarbeit auch, dass sich vermehrt bisher unbekannte Süchtige in Zürich aufhielten.

Auch das habe mit der Schliessung der K&A zu tun. «Früher sind jene, die mit dem Zug nach Zürich gereist sind, um Drogen zu kaufen, wieder zurückgefahren», sagt Fröhlicher. Diese Leute seien damals gar nicht erst mit der SIP in Kontakt gekommen. Weil sich nach der Schliessung der K&A die Szene aber weiter ins Quartier verlagert habe, würden viele nach dem Kauf der Drogen den Weg zurück zum Bahnhof nicht mehr auf sich nehmen. Sie befürchteten, auf dem Weg kontrolliert zu werden, und konsumierten deshalb vor Ort.

Gegen «Repressionsfantasien»

Die Crack-Szene in der Bäckeranlage beschäftigte am Mittwochabend auch das Zürcher Stadtparlament. Auslöser war ein dringliches Postulat der SVP mit der Forderung, die «offene Drogenszene» umgehend polizeilich aufzulösen und die Drogensüchtigen zu betreuen.

Es dürfe kein zweiter Platzspitz entstehen, erklärte Michele Romagnolo (SVP). Die Stadtpolizei sei anzuweisen, alle Drogenkonsumenten rigoros wegzuweisen und ihnen ein Rayonverbot zu erteilen. Zudem solle im Umfeld der Bäckeranlage eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Drogen gelten.

Die Linke lehnte den Vorstoss ab. Es brauche Wachsamkeit und gezielte Massnahmen, um die Situation in der Bäckeranlage in den Griff zu bekommen, sagte Hannah Locher (SP). Die von der SVP geforderte Null-Toleranz-Politik und Repression ergebe keinen Sinn und führe nur zu einer Verlagerung der Szene, das zeigten die Erfahrungen mit dem Umgang mit der Drogenszene aus der Vergangenheit.

Es brauche nun sehr rasch eine neue Kontakt- und Anlaufstelle an einem guten Ort, sagte Anna-Béatrice Schmaltz (Grüne). Sie hielt das SVP-Postulat für überflüssig, die Stadt arbeite bereits mit verschiedenen Massnahmen daran, die Situation in der Bäckeranlage zu verbessern.

Moritz Bögli (AL) warnte vor einer Abkehr von der bewährten 4-Säulen-Drogenpolitik und sprach von einem «populistischen Versuch der SVP, sich mit Repressionsfantasien bei der Quartierbevölkerung anzubiedern».

Das Drogenproblem lasse sich nicht mit Repression allein lösen, sagte Andreas Egli (FDP). Verdrängung und ein Katz-und-Maus-Spiel wie in den 90er-Jahren könnten nicht das Ziel sein.

Rykart besorgt wegen Zunahme von Crack-Konsum

Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart sagte, der Stadtrat verfolge die Zunahme des Crack-Konsums in Zürich «mit Besorgnis». Sie räumte ein, dass die Balance im Bereich der Bäckeranlage gestört sei. Es hätten sich dort zwar immer konsumierende Menschen aufgehalten, aber in diesem Sommer seien neue dazugekommen.

Das Problem sei bekannt und die Stadt habe bereits mit verschiedenen Massnahmen reagiert, sagte die Stadträtin. So habe die Stadtpolizei ihre Präsenz in der Bäckeranlage und deren Nachbarschaft deutlich verstärkt und weise auch konsequent Personen weg. Auch die SIP führe vermehrt Kontrollgänge in der Bäckeranlage durch, und im Bereich der Schulhäuser seien private Sicherheitsdienste unterwegs. Wichtig sei, dass der Park gut durchmischt bleibe, sagte Rykart. Das Sozialdepartement arbeite mit Hochdruck daran, ein K&A-Provisorium in Zentrumsnähe zu errichten. Das werde eine Entlastung der Situation in der Bäckeranlage bringen.

Eine polizeiliche Auflösung der Szene ist laut Rykart keine nachhaltige Lösung. Denn allein mit repressiven Massnahmen lasse sich das Problem nicht beheben, es werde nur verlagert. Stattdessen brauche es eine gesamtheitliche Lösung nach dem 4-Säulen-Prinzip.

Der Gemeinderat lehnte den SVP-Vorstoss schliesslich mit 63 zu 54 Stimmen ab. Ein anderes SVP-Postulat zur Bäckeranlage hatte das Parlament vor zwei Wochen diskussionslos überwiesen. Es fordert den Stadtrat auf, die Ausbreitung der Droge Crack «mit allen Mitteln durch Massnahmen in der Prävention, Sozialarbeit und Polizeiarbeit zu verhindern».
(https://www.tagesanzeiger.ch/drogenproblem-in-zuerich-drogenszene-der-baecki-verlagert-sich-in-quartier-592557918089)



nzz.ch 20.09.2023

«Wir müssen alles tun, um einen zweiten Platzspitz zu verhindern» – der Crack-Konsum in der Zürcher Bäckeranlage beschäftigt die Politik

Die SVP fordert eine Nulltoleranz gegenüber offenem Drogenkonsum. Den vereinigten Linken geht das zu weit. Im Stadtparlament sprechen sie von «Repressionsphantasien».

Francesca Prader, Daniel Fritzsche

Gut einen Monat ist es her, dass die NZZ und andere Medien breit über die offene Crack-Szene in der Zürcher Bäckeranlage berichtet haben. Der beliebte Park im Kreis 4 war über Jahre ein Ort, an dem eine Art Gleichgewicht herrschte. Denn zu den Besuchern gehören nicht nur Familien, Quartierbewohner und Kinder auf dem Weg in eine der umliegenden Schulen, sondern auch Randständige und Alkoholabhängige.

Doch seit die Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige auf dem Kasernenareal letzten Herbst geschlossen und in die Brunau verlegt wurde, ist die Balance gestört. Die Parkanlage wurde in den letzten Monaten zunehmend zum Freiluftfixerstübli. Mehr oder weniger offen wird Crack und Freebase – mit Backpulver oder Ammoniak vermengtes Kokain – geraucht. Von rund vierzig Süchtigen ist die Rede, die hier verkehren.

Entsprechend gross ist die Sorge im Quartier. «Entsteht hier ein neuer Platzspitz?», fragen sich manche. Schon früh warnte die städtische SVP vor der Situation. Im Stadtparlament thematisierte sie die Zustände in der Bäckeranlage bereits im März – damals ohne grossen Widerhall. Am Mittwochabend war die Aufmerksamkeit im Ratssaal grösser.

Michele Romagnolo und Samuel Balsiger nahmen in der Debatte die Sicherheitsvorsteherin Karin Rykart (Grüne) und den Sozialvorsteher Raphael Golta (SP) in die Pflicht. In einem neuen Postulat forderten die SVP-Männer, dass die Stadtpolizei alle Drogenkonsumenten vor Ort wegweisen und ihnen ein Rayonverbot erteilen solle. Zudem müsse die Betäubungsmittelfahndung der Polizei die Bäckeranlage zu einem Schwerpunkt machen; dort habe «Nulltoleranz» gegenüber Drogen zu gelten. Das Sozialdepartement solle auf die Süchtigen zugehen und sie «adäquat» betreuen.

Rykart: «Problem ist erkannt»

Die vereinigte Linke wollte nichts wissen von einem solchen Vorstoss – obwohl das Problem durchaus ernst zu nehmen sei. Da waren sich die Sprecher von der SP, den Grünen und der Alternativen Liste einig. Der SVP unterstellten sie, auf «blinde Repression» zu setzen oder gar «Repressionsphantasien» auszuleben. Das sei «brutal und unsolidarisch». Die SVP mache Politik auf Kosten von «suchtkranken Menschen» und wolle sich mit populistischen Parolen bei der Quartierbevölkerung beliebt machen.

Die Sicherheitsvorsteherin Rykart sagte es zwar nicht mit den gleichen Worten, aber auch sie wandte sich gegen die SVP-Forderung. Der Stadtrat beobachte die Lage in der Bäckeranlage mit Besorgnis; das Problem sei erkannt. Diverse Dienstabteilungen der Stadt seien aktiv geworden. Polizeikontrollen seien «massiv verstärkt» worden. Schon heute würden Personen verzeigt und weggewiesen. Das mobile Beratungsangebot «Mein Bus» des Sozialdepartements sei dreimal wöchentlich für mehrere Stunden vor Ort. Zudem kontrollierten private Sicherheitsdienste die umliegenden Schulen.

All das habe dazu geführt, dass sich die Situation jüngst stabilisiert habe, sagte Rykart. «Aber wir müssen weiter aufmerksam bleiben.» So brauche es auf absehbare Zeit erhöhte Polizeipräsenz und dringend eine neue Kontakt- und Anlaufstelle in der Nähe. Daran arbeite man unter Hochdruck. Von einer überstürzten Räumung des Areals hält Rykart aber nichts. «So verlagern wir das Problem lediglich.»

Der Platzspitz ist weit weg

Die Mitte und die EVP spielten die Rolle der Vermittlerinnen. Sie stellten einen Textänderungsantrag, der einige Passagen im SVP-Vorstoss tilgte und den Fokus stärker auf die Kontakt- und Anlaufstellen und andere Massnahmen legte. Die SVP zeigte sich bereit, diese Änderung zu akzeptieren. Auch FDP und GLP waren im Boot. Doch SP, Grüne und AL versenkten auch diese abgeschwächte Variante. Sie vertrauten dem Stadtrat, dass er das Problem mit der nötigen Ernsthaftigkeit angeht.

Der SVP-Postulant Michele Romagnolo zeigte sich verärgert über die Haltung der Linken. Er selber habe einen halben Tag in der Bäckeranlage verbracht, um sich ein Bild der prekären Lage zu verschaffen. Seine Erkenntnis: «Wir müssen alles tun, um hier einen zweiten Platzspitz zu verhindern.» Leider seien viele Parlamentarier auf der linken Seite zu jung, um die offene Drogenszene der 1980er und 1990er Jahre erlebt zu haben.

Einig war man sich im Saal, dass man das Problem mit Blick auf die Entwicklung in anderen Städten nicht verharmlosen darf. Crack gilt als Billigdroge. Es macht schnell abhängig, das High ist nach maximal fünfzehn Minuten vorbei. Auf eine Crack-Pfeife muss deshalb rasch die nächste folgen, oft sind Crack-Süchtige mehrere Tage am Stück wach und fallen durch aggressives Verhalten negativ auf. So auch in der Bäckeranlage, wo Anwohner von unhaltbaren Zuständen berichten. Vor allem in der Nacht steigt der Lärmpegel.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-crack-in-baeckeranlage-beschaeftigt-svp-ld.1756865)



Reizthema Betteln in Basel – Schweiz Aktuell
Seit die Regierung die Regeln verschärft hat, betteln weniger Personen ohne Schweizer Pass in Basel. Wer einreist und bettelt ohne Aufenthaltsbewilligung wird ausgewiesen. Doch kritische Stimmen fordern nun eine juristische Abklärung
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/reizthema-betteln-in-basel?urn=urn:srf:video:c17f5738-653b-40d9-a0a6-4b00f4fa90d1



Videoüberwachung Dreirosenanlage: Leicht weniger Gewalt – aber gedealt wird weiterhin
Die Basler Polizei zieht eine erste Bilanz zu den installierten Kameras beim Kleinbasler Brennpunkt. Trotz der Massnahme gab es überdurchschnittlich viele Meldungen wegen Delikten.
https://www.bazonline.ch/videoueberwachung-dreirosenanlage-weniger-gewalt-aber-gleich-viele-delikte-verzeichnet-446861828891
-> https://www.bs.ch/nm/2023-videoueberwachung-dreirosenareal-weniger-schwere-gewaltstraftaten-jsd.html
-> https://www.20min.ch/story/basel-drogendealer-lassen-sich-bereitwillig-filmen-197758429844
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/dreirosenanlage-zwischenbilanz-der-videoueberwachung-weniger-gewalttaten-weiterhin-drogenhandel-und-kleinkriminalitaet-ld.2517698
-> https://www.baseljetzt.ch/trotz-kameras-dreirosenanlage-bleibt-crime-hotspot/120477
-> https://www.onlinereports.ch/News.117+M5b002b4858d.0.html
-> https://primenews.ch/articles/2023/09/dreirosen-weniger-schwere-gewalt-gleich-viele-einsaetze
-> https://www.nau.ch/ort/basel/basel-weniger-gewalt-an-der-dreirosenanlage-dank-videouberwachung-66605449
-> https://www.blick.ch/schweiz/basel/dank-videoueberwachung-weniger-schwere-gewaltdelikte-in-basler-dreirosenanlage-id18959859.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/kriminalitaet-auf-dreirosenareal-politik-will-mehr-als-kameras?id=12457608
-> https://telebasel.ch/sendungen/punkt6/210980
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/dreirosenareal-achtung-videoueberwachte-zone-kleinbasel-hat-weiterhin-ein-drogenproblem-ld.2517979
-> https://www.baseljetzt.ch/trotz-kameras-auf-der-dreirosenanlage-situation-ist-besorgniserregend/120981


Sonntagszimmer in der Kirche: «Bei uns sind alle willkommen»
Am Sonntag ist die Matthäuskirche im Kleinbasel jeweils bis spät abends geöffnet. Die Kirche möchte ein Begegnungsort sein in einem Quartier, das derzeit stark unter dem zugenommenen Drogenkonsum leidet.
https://bajour.ch/a/clmg4al4o3497842sgav6cbn3f3/menschen-herkunft-religionszugehoerigkeit-matthaeuskirche



bzbasel.ch 20.09.2023

Ausweitung der Dealer-Zone: Laut Petition sind die Zustände unhaltbar, doch nicht alle sehen das so

Drogenhandel und Kriminalität haben im Unteren Kleinbasel gemäss einer Petition stark zugenommen. Ein Augenschein im Quartier zeigt: Einige Betroffene fühlen sich tatsächlich unsicherer als früher – andere hingegen sagen, es habe sich kaum was geändert.

Benjamin Wieland und Maria-Elisa Schrade

Die Videoüberwachung auf dem Dreirosenareal im Kleinbasel sollte die Sicherheitslage im Quartier entspannen. Schenkt man einer neuen Petition Glauben, ist dies allerdings nicht der Fall. Im Gegenteil. «Unser Quartier dealerfrei!» lautet der Titel des Begehrens, das eine gleichnamige Gruppierung an den Grossen Rat und den Regierungsrat richtet. Aufgeschaltet wurde die Petition am Montag auf der Plattform Campax. Stand Dienstagabend, zählt sie bereits über 1600 Unterschriften.

«Der Drogenhandel im Kleinbasel – namentlich im Dreieck zwischen Claraplatz und Dreirosenbrücke und Matthäusplatz – breitet sich aus», heisst es im Petitionstext. Es werde offen gedealt. Die Aggressivität habe «massiv zugenommen». Ältere Menschen fühlten sich nicht mehr sicher, Frauen würden belästigt, Kinder auf dem Schulweg bestohlen. Eine mögliche Lösung: eine Duldungszone für Drogenhandel.

Verlagerung an den Rand des Parks

Auch die Politik ist aufgeschreckt. Neun neue Vorstösse sind im Grossen Rat zum Thema Drogen und Sicherheit im Kleinbasel eingegangen (siehe Kasten). Eine Duldungszone wird darin nicht gefordert. Aber die Politikerinnen und Politiker verlangen weitere Massnahmen.

Erst Anfang August liess die Kantonspolizei Basel-Stadt 16 Kameras auf dem Dreirosenareal anbringen. Sie filmen 24 Stunden, was auf der Grünfläche und in angrenzenden Strassen läuft. Allerdings nur dort. Das hat nun offenbar einen Verlagerungseffekt zur Folge. Die Dealerei und die Beschaffungskriminalität finden dem Empfinden einiger Anwohnenden zufolge stattdessen in den toten Winkeln der Kameras statt. Auch an den Rändern der Dreirosenanlage.

«Wir wissen nie, was uns erwartet», sagt Saveria Schmidt, die zusammen mit ihrem Mann im zweiten Jahr die Dreirosen-Buvette betreibt. «Wir wurden schon angepöbelt, eine weibliche Angestellte wurde verbal belästigt.»

Dealer-Zone hat sich ausgeweitet

Schmidt beobachtet eine Aufweichung der Dealer-Zonen. Zwar suche sie den Dialog mit den Dealern. Das funktioniere aber nicht mehr so gut. «Früher waren die Gebiete klar abgesteckt. Jetzt halten sie sich vermehrt hinter unsere Buvette auf, weil sie dort von den Kameras nicht gefilmt werden.» Eine kurzfristige Lösung aus Sicht von Schmidt: Bei der Buvette einen mobilen Polizeiposten aufstellen.

Seit Montag sind im Matthäusquartier an etlichen Orten Sprayereien aufgetaucht, welche die in der Petition geforderte Duldungszone vorwegnehmen. Rote Linien und die Wörter «Dylr Zone». Eine Anspielung an die zwei Rotlicht-Toleranzzonen in Basel, in denen Prostitution erlaubt ist. Wer die roten Markierungen angebracht hat, ist nicht bekannt.

Die Dealer-Zone sei nicht eingeschränkt, sondern habe sich lediglich verschoben, glaubt auch ein Sozialarbeiter, der für die aufsuchende Jugendarbeit tätig ist. Sein Eindruck: «Seit die Kameras an der Dreirosenanlage sind, wird wieder mehr am Matthäuskirchplatz gedealt.»

«Noch nie unsicher gefühlt»

In der Breisacherstrasse sitzt an einem Tisch ein Pensionär. Er sei jeden Mittag hier, sagt er. «Mich kennen die Schulkinder. Ich passe auf.» Die Lage habe sich in den vergangenen Jahren immer weiter zugespitzt, ist der ältere Herr überzeugt. «Vor allem, seit Lampedusa so überfüllt ist.»

Eine Frau, die ihre Kinder von der Schule abholt, sagt, sie empfinde die Situation nicht als gefährlich, aber unangenehm. «Wir sehen fast täglich auf dem Schulweg einen Polizeieinsatz.» Dass jedoch auch Kinder bestohlen werden, wie in der Petition behauptet wird, könne sie sich nicht vorstellen.

Beim Café Frühling an der Ecke Klybeck-/Oetlingerstrasse ist die Aussenterrasse fast bis auf den letzten Platz gefüllt. «Ich habe mich hier im Quartier noch nie unsicher gefühlt», sagt Aline Strobel, Leiterin des Lokals. «Ich habe höchstens Angst, dass mein Velo gestohlen wird.»

Die «Eintracht» kämpft gegen Zechprellerei

Vis-à-vis des Cafés warten die grössten Cordon bleus der Stadt auf hungrige Mägen. Der Service-Angestellte im Restaurant Eintracht Guido Torzi sagt, die Dealer seien kein grösseres Problem als früher. Aber die Zechpreller hätten zugenommen. «So einen Fall hatten wir erst wieder am Sonntag.» Die Konsequenz sei, dass er keine Nordafrikaner mehr bediene.

Am Eingang des Veloladens Good Feelings an der Breisacherstrasse wird die Kundschaft vor einem Hund gewarnt. Er nehme seit einiger Zeit seinen belgischen Schäfer mit in den Laden, sagt der Inhaber. Das sei aber keine Reaktion auf eine vermeintliche Verlagerung der Drogendelikte durch die Videoüberwachung. Sondern auf aggressive Kundschaft.
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/kleinbasel-ausweitung-der-dealer-zone-laut-petition-sind-die-zustaende-unhaltbar-doch-nicht-alle-sehen-das-so-ld.2516487)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Bis 1000 Franken Busse für Verstösse gegen Verhüllungsverbot
Das Parlament will Bussen von bis zu tausend Franken für Verstösse gegen das nationale Verhüllungsverbot. Als Zweitrat hat am Mittwoch der Nationalrat dem Bundesgesetz zur Umsetzung der sogenannten Burka-Initiative zugestimmt. Die Regelung sieht Ausnahmen vor.
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2023/20230920092245485194158159038_bsd047.aspx
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/213800/
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/burkaverbot-1000-franken-busse-bei-verstoss-gegen-verhuellungs-verbot-153639457
-> https://www.telem1.ch/aktuell/1000-franken-busse-fuer-verhuellung-so-sieht-das-burkaverbot-aus-153639250
-> https://www.tvo-online.ch/aktuell/bussen-bis-zu-1000-franken-nationalrat-lueftet-schleier-um-burkainitiative-153640482


+++KNAST
«Enge Beziehung ist wichtig» – Gefängnisaufseher erzählt von der Jugendabteilung
Marco arbeitet als Aufseher auf der Jugendabteilung im Gefängnis Limmattal. Er bereitet die Jugendlichen auf ihren nächsten Lebensabschnitt vor. Marco nimmt uns mit in seinen Arbeitsalltag im Gefängnis.
https://www.baerntoday.ch/schweiz/enge-beziehung-ist-wichtig-gefaengnisaufseher-erzaehlt-von-der-jugendabteilung-153498682?autoplay=true&mainAssetId=Asset:153498627


+++POLICE FR
Freiburg: Die Polizei hätte ihm keine Haarsträhne entnehmen dürfen
Ein Mann reichte Anzeige wegen einer Haarprobe ein, der er sich polizeilich hatte unterziehen müssen. Das Kantonsgericht gibt ihm nun recht – und rügt die Staatsanwaltschaft.
https://www.20min.ch/story/freiburg-die-polizei-haette-ihm-keine-haarstraehne-entnehmen-duerfen-622321121548


+++POLIZEI CH
Kollektivstrafe: «Gehts noch?!» – Bundeshaus-Polizisten dürfen nicht mehr sitzen
Die Bundespolizisten, welche die Eingänge zum National- und Ständerat bewachen, dürfen neuerdings nicht mehr sitzen. Zwei Beamte haben sich bereits krankschreiben lassen. «Gehts noch?!», ärgert sich SP-Nationalrätin Badran.
https://www.20min.ch/story/kollektivstrafe-gehts-noch-bundeshaus-polizisten-duerfen-nicht-mehr-sitzen-171394603689?version=1695184320296


Steh-Strafe: Happy End – Bundes-Polizisten dürfen dank 20 Minuten wieder sitzen
Die Bewacher des Bundeshauses durften nicht mehr sitzen. Das hat für viel Empörung gesorgt – bei Politikern, aber auch in der 20-Minuten-Community. Nun gibt es ein Happy End.
https://www.20min.ch/story/steh-strafe-happy-end-bundes-polizisten-duerfen-dank-20-minuten-wieder-sitzen-137379373376


+++FRAUEN/QUEER
Statistik: Schweiz immer noch hinter den westeuropäischen Ländern bei LGBTIQ-Rechten
Obwohl die Schweiz im Jahr 2021 die gleichgeschlechtliche Ehe legalisiert hat, hinkt sie beim Schutz der Rechte von LGBTIQ-Personen dem Gros der westlichen Länder immer noch hinterher. Eine Bilanz.
https://www.swissinfo.ch/ger/die-schweiz-ist-bei-den-lgbtiq-rechten-nach-wie-vor-im-hintertreffen/48769254


“Die Schweiz ist bei den LGBTIQ-Rechten das Schlusslicht in Westeuropa”
Die Rechte von LGBTIQ-Personen in der Schweiz haben sich in den letzten Jahren deutlich verbessert. Noch immer gebe es aber viele Lücken, sagt Nadja Herz, Co-Präsidentin der Lesbenorganisation Schweiz. Auch bereitet ihr die zunehmende Hetze gegen LGBTIQ-Menschen Sorgen.
https://www.swissinfo.ch/ger/-die-schweiz-ist-bei-den-lgbtiq-rechten-das-schlusslicht-in-westeuropa-/48785082


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Mehr Platz für Jenische, Roma und SintiHier will der Kanton Luzern Stellplätze für Fahrende bauen
In Luzern gibt es nur zwei Stellplätze für Fahrende. Einer davon ist befristet. Nun will die Regierung nachlegen.
https://www.zentralplus.ch/politik/hier-will-der-kanton-luzern-stellplaetze-fuer-fahrende-bauen-2580640/


+++RASSISMUS 2
nzz.ch 20.09.2023

«Ich habe in Davos eine sehr starke antijüdische Stimmung erlebt»

Simon Bollag kennt das orthodoxe Milieu von innen. Er findet, in der gehässigen Debatte über jüdische Feriengäste in Davos würden sich berechtigte Kritik und antisemitische Klischees vermischen.

Simon Hehli

Davos und seine jüdisch-orthodoxen Feriengäste, das ist schon länger eine komplizierte Beziehung. Kürzlich kam es zum Eklat: Der Tourismusdirektor Reto Branschi beklagte sich in den lokalen Medien über die frommen Touristen. Geht es in dieser Geschichte um kulturelle Missverständnisse? Oder um Antisemitismus? Der Zürcher Grosshändler für koschere Schokolade und Käse Simon (Uschi) Bollag kennt den Ferienort Davos – und weiss, wie das orthodoxe Milieu funktioniert, da er selbst dazugehört. Der 82-Jährige lädt zum Gespräch in seinem Büro in einem Neubau an der Manessestrasse. Bollag sagt: «Stellen Sie alle Fragen, auch die ganz heissen! Wenn man das nicht macht, bleiben Vorurteile bestehen.»

Herr Bollag, sind die Probleme in Davos, die nun Schlagzeilen produzieren, neu?

Ach wo! Wir hatten schon vor vierzig, fünfzig Jahren eine Ferienwohnung in Davos mit allem Drum und Dran, koscherem Geschirr und so weiter. Wir gingen dort immer in den Ferien und an den Festtagen hin. Es waren genau die gleichen gehässigen Debatten. Ich habe schon damals in einer jüdischen sowie in einer Bündner Zeitung geschrieben, worauf man als jüdischer Feriengast achtgeben sollte. Ein Beispiel ist der Herd in der Ferienwohnung.

Was ist damit?

Bevor wir kochen können, müssen wir zuerst den Herd koscher machen. Dafür muss man die Platten voll aufdrehen, bis sie glühen. Da kam der Vorwurf auf, «die Juden» würden den Herd kaputt machen, es gab so viel böses Blut! Ich habe geraten, dass man nicht alle Platten gleichzeitig aufdrehen soll, sondern nacheinander. Das ist schonender.

Gab es auch in den siebziger- und achtziger Jahren viele orthodoxe Gäste?

Ja. Teilweise waren gleichzeitig 5000 in Davos, es kamen extra jüdische Händler hoch, um Sabbatzöpfe, Fische und Fleisch zu verkaufen.

Konfliktträchtig sind heute vor allem die Beziehungen zu den Orthodoxen aus dem Ausland. War das damals schon so?

Eindeutig, ja. Es ging vor allem um Gäste aus einer gewissen Gegend. Wir hatten auch in der Synagoge Probleme mit diesen Leuten. Sie meinten, ihnen gehöre die ganze Welt, alle müssten nach ihrer Pfeife tanzen. Die Gebetbücher liessen sie einfach liegen, statt sie zu versorgen. Im Laden drängelten sie sich vor und «töpelten» alles Gemüse an. Es gibt überall schwarze Schafe.

Inwiefern unterscheidet sich die Mentalität dieser Leute von jener der Schweizer Orthodoxen?

An gewissen Orten in Israel, den USA oder Belgien leben unsere Glaubensbrüder und -schwestern in grossen Gemeinden, sie bleiben unter sich und kommen weder im Beruflichen noch im Privaten gross mit der Aussenwelt in Kontakt. Sie sind den Umgang mit einer nichtjüdischen Umgebung nicht gewohnt. In der Schweiz gibt es solche Parallelgesellschaften nicht oder nur in viel kleinerem Ausmass, wir leben mitten unter Andersgläubigen und Säkularen. Jeder noch so religiös gekleidete Schweizer Jude kennt die Gepflogenheiten des Landes genau. Und er will nicht negativ auffallen.

Dann können Sie nachvollziehen, wenn der Davoser Tourismusdirektor heute sagt: «Das Verhalten von einem Teil der orthodoxen jüdischen Gäste ist leider sehr rücksichtslos und respektlos»?

Gewisse Vorbehalte verstehe ich schon. Aber mich stört es, wenn jemand pauschale und abstrakte Vorwürfe erhebt.

Gut, werden wir konkret. Ein Vorwurf lautet, manche orthodoxe Gäste liessen beim Wandern den Abfall liegen.

Gibt es keine Nichtjuden, die das machen? Wenn ich am Üetliberg spazieren gehe, sehe ich auch Abfall, der einfach irgendwohin geschmissen wurde. Es gibt ein Foto aus Davos, da sieht man leere Plastikflaschen, in denen vorher koschere Milch war, neben dem PET-Kübel liegen. Aber dieser war bis oben voll. Hätten die Juden die Flaschen in den normalen Abfall geworfen, hätte man ihnen sicher daraus einen Strick gedreht.

Es gibt die These, dass den Orthodoxen so profane Dinge wie Abfallentsorgung nicht wichtig seien, weil sie all ihre Ressourcen ins Geistliche, in die Thorastudien investierten.

Das glaube ich nicht. Die Bibel verpflichtet uns dazu, Rücksicht auf die Mitmenschen und die Natur nehmen. Wer sich also um den Umweltschutz schert, ist sicher kein guter Thora-Gelehrter.

Zweiter Vorwurf: Die Strenggläubigen schummelten bei den Bergbahnen.

Es gibt schon Schlaumeier. Ich habe es erlebt, wie ein Jude bei der Parsenn-Bahn Billette kaufen wollte. Der Mann an der Kasse fragte, wie alt der Sohn sei. Der Jude sagte: «Er ist acht.» Der Mann an der Kasse: «Dann muss er zahlen, macht 8 Franken 50.» Der Jude: «Nein, nein, er ist fünf!» Ui, habe ich den Mann zusammengestaucht. Meinst du wirklich, dass er dir jetzt glaubt, dein Sohn sei erst fünf?! Du verunglimpfst dein ganzes Volk, jetzt wird es wieder heissen: Die Juden betrügen.

Es wird verallgemeinert.

So unfair das auch ist, wir dürfen uns weniger erlauben als andere. Nur ja keinen Anlass geben, damit sie wieder sagen können: «Typisch Juden!» Macht Hans Meier etwas Blödes, dann waren es nicht «die Christen», sondern Hans Meier. Macht Simon Bollag etwas Blödes, dann waren es bestimmt «die Juden». Wir müssen anständiger sein als der Rest, wir haben keine Wahl. Das ist auch einer der Gründe, warum meine Frau unsere Ferienwohnung immer besonders gründlich putzt, obwohl sie für die Schlussreinigung dann nochmals viel Geld bezahlt.

Dritter Vorwurf: Die Orthodoxen konsumierten nichts in den Beizen.

Wer so etwas sagt, ist entweder Antisemit oder ignorant. Weil wir koscher essen, können wir nun mal nichts in einem «normalen» Restaurant konsumieren, nicht einmal eine Kartoffel. Wir sind dafür die besten Kunden in den Supermärkten.

Etwas zu trinken im Restaurant, wäre aber nicht verboten.

Das stimmt. Ich habe es schon früher aufs Schärfste verurteilt, wenn gewisse orthodoxe Feriengäste im Bergrestaurant aufs WC gehen und nichts konsumieren. Wir bestellen jeweils in den Bergen eine grosse Flasche Apfelsaft, Problem gelöst.

Ein viertes Beispiel: Die Orthodoxen grüssten nicht.

Ich schrieb dazu einst, dass wir Juden doch so gerne günstige Dinge haben – und ein Gruss ist sogar gratis! Man bereitet damit eine Freude. Im Talmud steht ausdrücklich, man solle alle grüssen. Dass das manche Gruppen nicht tun, stört mich auch. Es hat wieder damit zu tun, dass sie in geschlossenen Kreisen leben und im Alltag praktisch nichts mit Nichtjuden zu tun haben. Es ist keine böse Absicht, sondern sie nehmen die Umwelt fast nicht wahr.

Das wäre dann wohl auch gleich eine Erklärung für einen weiteren Umstand, der für Unmut sorgt: Die Orthodoxen träten in grossen Gruppen auf und machten auf den Trottoirs und den Wanderwegen keinen Platz für jene, die ihnen entgegenkämen.

Ja, genau. Das ist nicht Arroganz, das ist eine Folge der Abkapselung. Und wenn eine Gruppe gemeinsam unterwegs ist – seien es Juden, Japaner oder Fussballfans – sind sie meist stark aufeinander bezogen.

Es gibt allerdings auch Juden, die überzeugt sind, die besonders Strenggläubigen fühlten sich der dekadenten Aussenwelt überlegen.

Da muss ich etwas ausholen. Wir haben 613 Gebote und Verbote. Das ist einschneidend, bringt viele Entbehrungen mit sich. Ich muss gleich nach dem Aufwachen ein Gebet sprechen und Gott danken, dass er mir nach diesem «halben Tod», als den wir den Schlaf wahrnehmen, die Seele wieder zurückgegeben hat. Bevor wir aufstehen, müssen wir uns in einem Ritual die Hände waschen. Und so geht es den ganzen Tag weiter. Darauf sind wir stolz. Und bei gewissen Glaubensbrüdern ist dann vielleicht der Sprung vom Stolz zur Überheblichkeit nicht so gross.

Der Davoser Tourismusdirektor sagte, die orthodoxen Gäste nähmen die Vermittler des SIG nicht ernst. Kann ein Grund dafür sein, dass die besonders frommen Juden auf etwas weniger religiöse Juden herabschauen?

Es gibt Orthodoxe, die böse sind auf Mitjuden, welche die Gesetze nicht einhalten. Ich habe eher Mitleid mit ihnen. Denn die Religion bringt uns so viel Schönes. Der Sabbat, das ist jede Woche ein grossartiges Familienfest. Man hat Zeit füreinander, isst gut, singt, diskutiert. Die Kinder freuen sich jedes Mal wie verrückt auf den Sabbat, auch wenn sie dann auf vieles verzichten müssen, etwa auf das Velofahren.

Vor einigen Jahren gab es einen Riesenwirbel um ein Hotel, das die jüdischen Gäste aufforderte, vor dem Baden im Swimmingpool zu duschen. Das israelische Aussenministerium sprach von einem «antisemitischen Akt übelster Art». Erfolgte der Aufschrei zu Recht?

Wenn Leute baden gehen, ohne zu duschen vorher, dann ist das ein Affront. Ich habe immer alle zusammengestaucht, die das gemacht haben. Aber es ist der Ton, der die Musik macht. Wie hat das Hotel es genau formuliert?

«An unsere jüdischen Gäste. Bitte nehmen Sie vor dem Schwimmen eine Dusche.»

Eben, genau da liegt das Problem, das darf man nicht schreiben, niemals! Es stand nicht: An unsere Gäste, bitte duschen vor dem Baden. Nein, es sind die Juden, die nicht duschen. Man macht einen Unterschied zwischen «uns» und «den Juden». Der Vorwurf, Juden seien unreinlich, ist eines der ältesten antisemitischen Klischees. Und es ist völlig lächerlich.

Wieso?

Es mag unter uns Juden, wie in allen Bevölkerungsgruppen, Menschen geben, die wenig Wert auf Körperhygiene legen, aber ich garantiere Ihnen: Es sind weniger als zehn Prozent. Wir gehen ja auch regelmässig in die Mikwe, das rituelle Tauchbad. Natürlich duscht man da vorher. In Israel gibt es Tauchbäder, die pro Tag von tausend Leuten benutzt werden. Man will sich gar nicht vorstellen, wie das Wasser aussähe, würden die Leute sich nicht waschen.

Wo hört die legitime Kritik am Verhalten eines Menschen oder einer Gruppe auf – und wo beginnt der Antisemitismus?

Kritik ist immer erlaubt, solange sie nicht jemanden in die Ecke stellt, nicht generalisiert und stigmatisiert. Solange man nicht sagt: Du machst das, weil du Jude bist, weil du schwarz bist, weil du eine andere Sprache sprichst – was auch immer. Vor dreissig Jahren wurde ich eingeladen, zusammen mit meinem Sohn vor einer Klasse von etwa 13-Jährigen über das Judentum zu sprechen. Am Schluss gab es eine Fragerunde, und ich sagte: Kinder, nur keine Hemmungen. Da fragte mich tatsächlich ein Bub: «Stimmt es, dass Juden stinken?»

Wie haben Sie reagiert?

Ich bin ein Bollag, wir sind Humoristen. Ich sagte dem Buben, er solle an uns riechen kommen. Und er durfte feststellen: «Nein, sie stinken nicht.» Riesige Heiterkeit in der Klasse.

Machen es sich manche Gruppen zu leicht, indem sie alle Kritik als judenfeindlich abtun?

Es gibt Leute, die können nicht zugeben, dass sie Fehler gemacht haben. Ich habe früher Fussball gespielt beim FC Hakoah. Ein Mitspieler sagte jedes Mal, wenn der Schiedsrichter gegen ihn gepfiffen hatte: «Antisemitismus!» Ja, manche verstecken sich dahinter.

Eine Davoserin schrieb kürzlich in einem Leserbrief, sie fühle sich angesichts der «Masse» der jüdischen Gäste unwohl. Und: «Was zu viel ist, ist zu viel.» Was lösen diese Zeilen bei Ihnen aus?

Der erste Teil stört mich nicht. Wenn ich in den Ferien bin und in eine grosse geschlossene Gruppe gerate, fühle ich mich auch unwohl beziehungsweise fehl am Platz. Aber der zweite Teil ist eine Aufforderung, dass alle Juden abhauen sollen, das geht nicht. Das ist purer Antisemitismus.

Die Situation in Davos scheint verfahren.

Es ist schwierig. Ich habe in Davos eine sehr starke antijüdische Stimmung erlebt. Die einzige Lösung ist wohl Aufklärung, der Versuch, das gegenseitige Verständnis zu fördern. So wie ich es vor vierzig Jahren schon versucht habe. Wenn man den Leuten erklärt, dass wir am Sabbat keinen Lichtschalter betätigen dürfen, dann verstehen sie vielleicht, warum einmal pro Woche die ganze Nacht Licht brennt in einer Ferienwohnung.

Ergibt es noch einen Sinn, wenn Orthodoxe dort Ferien machen?

Es gefällt ihnen dort halt, trotz allem. Es gibt ein Stadtleben, und man ist doch in den Bergen, die Supermärkte haben ein grosses koscheres Angebot. Was die Einheimischen betrifft: Wenn sie den Profit nicht mehr wollen, dann sollen die Davoser ihre Wohnungen und Zimmer halt nicht mehr an diese Gäste vermieten.

«Wir vermieten nicht an Juden»: Das gäbe die nächsten bösen Schlagzeilen.

Es hat jeder Wohnungseigentümer ein Recht, zu sagen: Mit einer gewissen Gruppe habe ich schlechte Erfahrungen gemacht, an die vermiete ich nicht mehr. Natürlich dürfen diese Vermieter nicht deklarieren: «Wir wollen keine Juden.» Man könnte das auch subtiler machen, diplomatischer. Nur wollen die Davoser das offensichtlich gar nicht, da ist ihnen das gute Geschäft dann doch wichtiger.

Gehen Orthodoxe aus der Schweiz mittlerweile weniger gern nach Davos oder Arosa?

So wie ich gehört habe, ist das der Fall.

Und Sie selbst?

Ich vertrage die Höhe nicht mehr so gut, deshalb machen wir seit einigen Jahren in Engelberg Ferien, jeweils 20, 30 jüdische Familien. Wir sind dort hochglücklich! Wir haben die ehemaligen Räumlichkeiten der Post beim Bahnhof gemietet, dort ist jetzt unsere temporäre Synagoge. Vorher durften wir ein Klassenzimmer in der Stiftsschule als Betlokal nutzen. Die Mönche waren begeistert, dass wir uns selbst in den Ferien zweimal am Tag zum Beten versammeln.
(https://www.nzz.ch/schweiz/ein-bub-fragte-mich-ob-es-stimmt-dass-juden-stinken-da-habe-ich-ihm-gesagt-er-solle-an-mir-riechen-ld.1756717)


+++RECHTSEXTREMISMUS
Rechts-Rock als Propagandamittel
Rechtsradikale Gruppierungen wie die nun verbotenen “Hammerskins” verbreiten ihre Hetze auch durch Musik. Der Rechts-Rock-Experte Thorsten Hindrichs erklärt, welche Bedeutung die Musik für die Szene spielt und wie sie Jugendliche radikalisiert.
https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr5/wdr5-scala-aktuelle-kultur/audio-rechts-rock-als-propagandamittel-100.html


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Jetzt tritt in Kreuzlingen TG auch Skeptiker-Arzt auf
Nach dem umstrittenen Auftritt von Daniele Ganser im Februar gibt es in Kreuzlingen die nächste Kontroverse. Corona-Skeptiker Wolfgang Wodarg redet diese Woche.
https://www.nau.ch/news/schweiz/jetzt-tritt-in-kreuzlingen-tg-auch-skeptiker-arzt-auf-66605483



tagblatt.ch 20.09.2023

«Wir laden niemanden ein, der dubiose oder kuriose Meinungen verbreitet» – nach Daniele Ganser tritt nun auch Coronaskeptiker Wolfgang Wodarg in Kreuzlingen auf

Im Februar trat der umstrittene Historiker Daniele Ganser im Dreispitzsaal auf. Der Verein Neutrale Sicht organisierte den Vortrag, der zum Kassenschlager wurde. Am Donnerstag tritt der deutsche Arzt und Politiker Wolfgang Wodarg in Kreuzlingen auf. Auch dieser Redner ist hochkarätig – und nicht minder umstritten.

Tobias Hug

Der Wirbel um den Auftritt des umstrittenen Historikers Daniele Ganser in Kreuzlingen war gross. Der Vortrag des selbsternannten Friedensforschers im Februar war innert Minuten ausverkauft. 640 Personen wollten sich von Ganser die Welt erklären lassen.

Organisiert wurde der Anlass vom Kreuzlinger Verein Neutrale Sicht. Nun hat der junge Verein, der erst Anfang Jahr gegründet wurde und rund 40 Mitglieder hat, bereits den nächsten Coup gelandet: Am Donnerstag tritt der deutsche Arzt und Politiker Wolfgang Wodarg in Kreuzlingen auf, abermals im Dreispitzsaal.

Selbst informieren, anstatt vorgefertigte Meinungen

«Pandemie statt Demokratie? Eine Erfindung der WHO und ihrer Sponsoren» – so lautet das Motto des Abends. Der Verein Neutrale Sicht wolle «Neutrale Informationen zu aktuellen Themen» vermitteln, heisst es auf dessen Website. Vereinspräsident Mario Andrighetto sagt: «Wir führen Informationsanlässe durch, da die Medien aus unserer Sicht zu wenig über manche Themen informieren.»

Aufgabe der Medien sei es, die Leute so zu informieren, dass sich alle anhand dieser Informationen eine eigene Meinung bilden können. «Doch anstatt neutral zu informieren, vermitteln Medien oft eine bereits gebildete Meinung.» Denkanstösse geben, Fragen stellen, vieles freilich ohne finale Gewähr oder Beweise. Man soll letztlich für sich selbst entscheiden. Das rhetorische Muster ist aus Gansers Vorträgen bekannt.

Vortrag wird kleiner, dafür spezifischer als bei Ganser

Pünktlich zum Herbst sind neue Varianten des Coronavirus in den Medien präsent. Das Thema an sich sei zwar etwas abgedroschen, sagt Andrighetto, doch die Hintergründe böten noch genug Zündstoff. Zu reden geben zum Beispiel Korruption bei der WHO, ein europaweites Medien-Monitoring oder die aktuelle Neuverhandlung des Pandemie-Abkommens mit der WHO.

An der letzten Veranstaltung mit Ganser demonstrierten vor dem Dreispitzsaal rund 40 Menschen mit Transparenten und ukrainischen Flaggen. Sie warfen Ganser vor, mit seinen Ansichten den russischen Präsidenten als Kriegstreiber zu unterstützen. Für die Veranstaltung mit Wodarg hat sich bisher noch kein Gegenwind angekündigt, zumal der Vortrag gemäss Andrighetto im kleineren Rahmen als bei Ganser stattfinden soll.

Politisch neutral, nicht dubios

Wie beim letzten Mal vermietet die Stadt Kreuzlingen dem Verein den Veranstaltungsort. Andrighetto sagt: «Das zeigt, dass Kreuzlingen Meinungsbildung zulässt und für unsere Werte einsteht.» Ein Vermieter könne eine Anfrage jederzeit ablehnen. «Wir laden niemanden ein, der dubiose oder kuriose Meinungen verbreitet.»

Solange eine Veranstaltung nicht widerrechtlich sei, dürften auch umstrittene Persönlichkeiten wie Daniele Ganser oder Wolfgang Wodarg eingeladen werden und ihren Vortrag halten. Wie der Name «Neutrale Sicht» sagt, sei auch die politische Haltung des Vereins neutral. Andrighetto erklärt: «Uns geht es um den Mensch, nicht um eine Partei.»

Mit Meinungsfreiheit den Dialog fördern

Der Kreuzlinger Stadtrat Daniel Moos ist für die Vermietung des Dreispitzsaals zuständig. Er sagt: «Wir sehen keinen Grund, die Veranstaltung zu verbieten.» Solange die gesetzlichen Rahmenbedingungen eingehalten würden und die Sicherheit gewährleistet ist, wolle der Stadtrat die Meinungsfreiheit gewährleisten. «Natürlich entsprechen die Meinungen der Referenten nicht zwingend der Meinung des Stadtrats.»

Nur weil die Stadt unter diesen Gesichtspunkten Vorträge von kontroversen Personen bewillige, werde man nicht automatisch zum Hotspot für vermeintliche Verschwörungstheoretiker. Moos sagt: «Wir wollen bei solchen Entscheidungen weder zensieren, noch uns in einen ideologischen Ecken drängen lassen.»

Meinungsfreiheit bedeute aus seiner Sicht, dass gegenteilige Meinungen zugelassen und diskutiert werden. «Am schönsten wäre es, wenn bei solchen Gelegenheiten ein Dialog entstände, ohne, dass sich die Meinungsfronten noch weiter verhärten.»



Masken, Impfung und Verschwörungen

Eine Auswahl der Thesen von Wolfgang Wodarg zur Corona-Pandemie

– Wodarg vermutet hinter der Corona-Politik eine Verschwörung von Gesundheitswesen und Pharmaindustrie.
– Die Pandemie sei ein Putsch von oben, gesteuert von der «Impfmafia» und «Techno-Elite».
– Wodarg behauptet, die massiven Nebenwirkungen der Covid-19-Impfungen würden von Ärzten und Medien weitestgehend verdrängt oder geleugnet.
– Bei Körperkontakt können als schädlich zu betrachtende Impfstoffpartikel («Spike-Proteine») via sogenanntes «Shedding» auf ungeimpfte Personen übertragen werden.
– Masken schützen Kinder nicht vor Viren, sondern fügen ihnen Schaden zu.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/weinfelden-kreuzlingen/kreuzlingen-wir-laden-niemanden-ein-der-dubiose-oder-kuriose-meinungen-verbreitet-nach-daniele-ganser-tritt-nun-auch-coronaskeptiker-wolfgang-wodarg-in-kreuzlingen-auf-ld.2513898)



nzz.ch 20.09.2023

Die ehemaligen Massnahmenkritiker jagen sich gegenseitig Stimmen ab, weil in Zürich ein Nationalratssitz greifbar ist. Davon könnte eine dritte Kleinpartei profitieren

Die entscheidende Frage ist: Wem nützen die vielen Schlagzeilen um den Mass-voll-Chefprovokateur Nicolas Rimoldi?

Marius Huber

36 Nationalratssitze sind in Zürich am 22. Oktober zu vergeben, und um einen davon wird zurzeit besonders hartnäckig gekämpft.

Um ihn zu erringen, sind die Bewegungen Aufrecht und Mass-voll – gross geworden mit ihrer Kritik an der Pandemiepolitik – eine Zweckallianz mit den Kleinparteien EDU und Schweizer Demokraten eingegangen. Ihre Listenverbindung macht diese vier auf dem Papier zu Verbündeten, macht sie aber zugleich zu erbitterten Rivalen. Denn falls es für einen Sitz reicht, was möglich scheint, geht dieser an die Gruppierung mit dem grössten Wähleranteil.

Nimmt man die Kadenz der Schlagzeilen zum Massstab, ist der Fall klar: Nicolas Rimoldi macht Foto in Hitlers Geburtsort Braunau – Nicolas Rimoldi trifft sich am Freedom-Festival in Volketswil mit der rechtsradikalen «Jungen Tat» – Nicolas Rimoldi wird in Luzern wegen Nötigung verurteilt. Der Provokateur mit dem Che-Guevara-Look, Aushängeschild von Mass-voll und in Zürich auf Listenplatz eins, ist auf allen Kanälen. Eine irritierende One-Man-Show.

Besonders gross ist die Irritation bei der Protestbewegung Aufrecht, die sich eigentlich in der Pole-Position wähnte. In den Zürcher Kantonsratswahlen vom Februar hat sie aus dem Stand einen Wähleranteil von 2,2 Prozent erreicht und die etablierte EDU hinter sich gelassen. Ein Achtungserfolg. Aber einen Monat vor den nationalen Wahlen sind ihre Topkandidaten kein Thema. Fürs Protokoll: Sie heissen Urs Hans, Remko Leimbach und John Appenzeller.

Mass-voll bekomme in den Medien «unerhört viel Aufmerksamkeit», sagt Patrick Jetzer, Mitbegründer von Aufrecht, der in Dübendorf den Sprung ins Stadtparlament geschafft hat. Sein Verdacht: Das sei ein Versuch, die ganze Bewegung der ehemaligen Massnahmenkritiker in die fremdenfeindliche Ecke zu drängen, in die sich Rimoldi ohne Not begeben habe.

Aufrecht geht deshalb auf Distanz zu Mass-voll und betont, dass man gegen die eigene Überzeugung in die Allianz mit Rimoldis Bewegung gezwungen worden sei. Von der EDU, die das Bündnis geschmiedet hat, um sicherzustellen, dass es für die 2,7 Prozent Wähleranteil reicht, die für einen Sitz nötig sind.

«Wir wollen nicht in Sippenhaft genommen werden», sagt Jetzer. Wenn man die Migration eindämmen wolle, dürfe man nicht jene bestrafen, die schon hier seien, indem man ihnen feindselig begegne. Die Rimoldi-Show nervt ihn. «Wir wollen Aufmerksamkeit für unsere Inhalte und für unsere Kandidaten, die viel weniger polarisierend sind.»

Bloss: Wenn man den Stil ausser acht lässt, unterscheiden sich die zentralen Botschaften von Aufrecht nur marginal von dem, was Rimoldi propagiert. Die Souveränität der Schweizer Bürger müsse verteidigt werden, sie sei bedroht durch immer mehr Verbote, Steuern und Regulierungen. Besonders durch solche aus dem Ausland. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die EU. Dass Aufrecht die Freihandelseuphorie von Mass-voll aus Sorge um die KMU nicht teilt, ist eine der wenigen Differenzen.

Die EDU könnte am Ende vom Zweikampf profitieren

Rimoldi nimmt die erste Geige für seine Bewegung in Anspruch und verweist auf ihre tragende Rolle bei den Referenden gegen das Covid-Gesetz: «Von der Schlagkraft her taxiere ich Mass-voll in dieser Listenverbindung klar als stärksten Partner.» Im Wahlkampf misst er sich nicht an Aufrecht, sondern an den etablierten Parteien. Die Videos von Mass-voll erzielten in den sozialen Netzwerken eine grössere Reichweite. Ziel seien drei Nationalratssitze, einer davon in Zürich. Das wäre dann seiner.

«Ich finde es schade, dass immer meine Person in Fokus ist – aber da kann ich nichts dafür», sagt Rimoldi. Er räumt aber schon im nächsten Atemzug ein: «Provokation ist ein Stilmittel, um Inhalte zu transportieren.»

Ist der demonstrative Kuschelkurs gegenüber der extremen Rechten also ein Mittel, um Aufrecht in Zürich die entscheidenden Stimmen abzujagen? Die Online-Wahlhilfe Smartvote zeigt, dass sich die Anhängerschaft der beiden massnahmenkritischen Bewegungen genau in diesem Segment überlagern könnte: Während die Kandidatinnen und Kandidaten von Aufrecht von der Mitte bis rechts breit gestreut sind, ballen sich jene von Mass-voll am rechten Rand.

Rimoldi weiss, wie unwahrscheinlich in der heissen Phase des Wahlkampfs Züge ohne taktische Hintergedanken sind. Und doch beharrt er genau darauf: Ihm sei es bloss darum gegangen, für gemeinsame migrationskritische Überzeugungen einzustehen. Und die Männer von der «Jungen Tat» hätten ihm glaubhaft versichert, dass sie sich zwar rechts aussen bewegten, aber nicht gewalttätig seien – und daher keine Extremisten. Mass-voll fahre keine wahltaktischen Manöver, wie dies alle anderen Parteien täten.

Ob man Rimoldi beim Wort nehmen kann? Einer, der daran zweifelt, ist Daniel Suter, Geschäftsführer der Zürcher EDU und Architekt der Listenverbindung. Er suchte nach dem Fotogruss aus Braunau das Gespräch mit dem Topkandidaten von Mass-voll. Dieser habe ihm dasselbe gesagt wie allen anderen: Er habe keine Ahnung gehabt, dass es sich um Hitlers Geburtsort handle. «Das habe ich ihm nicht abgenommen», sagt Suter. «Ein ehemaliger Geschichtsstudent, der das nicht weiss – schwer zu glauben.»

Damit war das Thema für Suter erledigt. Das gemeinsame Ziel, der Nationalratssitz, ist wichtiger. Und dabei könnte es für die EDU ein taktischer Vorteil sein, wenn sich Aufrecht und Mass-voll gegenseitig Stimmen abjagen. Suter dementiert, dass dies von Anfang an das Kalkül war. Er sagt aber auch: «Wir versuchen, die Nase vorn zu haben.» Dass die Massnahmengegner zum Teil im gleichen Teich fischten, sei für die EDU sicher ein Vorteil.
(https://www.nzz.ch/zuerich/nationalratswahl-rimoldi-mit-mass-voll-und-aufrecht-jagen-einander-stimmen-ab-ld.1756892)


+++HISTORY
Opfer erhalten je 25’000 Franken: Zürcher Stadtrat entschuldigt sich für Zwangsmassnahmen
Die Stadt Zürich lässt das «düstere Kapitel» der Fremdplatzierung von Kindern bis zum Jahr 1981 in einer Forschungsarbeit aufarbeiten. Und sie zahlt seit September Opfern eine Entschädigung aus.
-> https://www.stadt-zuerich.ch/sd/de/index/ueber_das_departement/medien/medienmitteilungen_aktuell/2023/september/230919a.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/stadt-zuerich-entschuldigt-sich-bei-opfern-von-zwangsmassnahmen?id=12457584


Von Zürich bis Guatemala: Eine Schweizer Kolonialgeschichte
Das Beispiel Guatemala zeigt: Bei der (neo-)kolonialen Expansion im 19. Jahrhundert waren auch Schweizer aktiv beteiligt. Doch daran erinnert man sich hierzulande noch immer ungern.
https://daslamm.ch/von-zuerich-bis-guatemala-eine-schweizer-kolonialgeschichte/