Medienspiegel 17. September 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++LUZERN
Luzerner Song über Flüchtling
Schätzungsweise 100’000 Sans-Papiers leben in der Schweiz. Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung. Einer davon ist Bouba aus Guinea. Ende 2019 flüchtete er in die Schweiz, seit 2 Jahren lebt er ohne Aufenthaltsbewilligung. Seine Geschichte ist jetzt auch ein Lied. Der Appell der beiden Luzerner Rapper Mimiks und LCone.
https://www.tele1.ch/nachrichten/luzerner-song-ueber-fluechtling-153583431
-> Song: https://www.youtube.com/watch?v=nHKRSc7V6g4


+++SCHWEIZ
Gewalteskalation in der DiasporaAsylchefin will gefährliche Eritrea-Festivals verhindern
Erstmals nimmt die Staatssekretärin für Migration Stellung zur Massenschlägerei in Opfikon. Ihre Leute überprüfen bereits erste regimetreue Eritreer, die den Asylstatus verlieren könnten.
https://www.derbund.ch/gewalteskalation-in-der-diaspora-asylchefin-will-gefaehrliche-eritrea-festivals-verhindern-719930057124
-> https://www.srf.ch/news/international/treffen-in-stuttgart-63-eritreer-aus-der-schweiz-bei-ausschreitungen-beteiligt
-> https://www.blick.ch/ausland/schwere-ausschreitungen-in-stuttgart-d-24-polizisten-bei-eritreer-treffen-verletzt-id18949799.html


«Er findet mich» – sie sucht Schutz in der Schweiz und ist plötzlich weg
Aus Schweizer Asylzentren verschwinden regelmässig minderjährige Flüchtlinge. Ein besonders krasser Fall ereignete sich vor zwei Jahren, wie jetzt bekannt wurde.
https://www.20min.ch/story/bundesasylzentrum-er-findet-mich-sie-sucht-schutz-in-der-schweiz-und-ist-ploetzlich-weg-137971961070?version=1694936617142&utm_source=twitter&utm_medium=social


+++DEUTSCHLAND
Faeser und die Flüchtlingsverteilung: Aufnahmestopp bleibt bestehen
Deutschland will keine Geflüchteten aus Italien aufnehmen. Schließlich nehme Italien Geflüchtete aus Deutschland nicht im vereinbarten Ausmaß zurück.
https://taz.de/Faeser-und-die-Fluechtlingsverteilung/!5957957/


+++ITALIEN
«Wir entscheiden, wer in die EU kommt – nicht die Schmuggler»
Flüchtlingskrise auf Lampedusa: Die Situation auf der italienischen Insel ist weiter angespannt. 20 Minuten berichtet vor Ort.
https://www.20min.ch/story/lampedusa-ich-hoerte-leute-schreien-und-sehe-viel-leid-962006650610?version=1694942959380
-> https://www.blick.ch/video/aktuell/krise-in-lampedusa-von-der-leyen-und-meloni-besuchen-fluechtlingsankunft-id18950906.html
-> https://www.watson.ch/international/italien/169300899-reportage-migrantenansturm-bringt-lampedusa-an-den-rand-des-kollapses
-> https://www.zeit.de/politik/2023-09/eu-kommissionspraesidentin-ursula-von-der-leyen-giorgia-meloni-lampedusa
-> https://www.srf.ch/news/international/fluechtlingskrise-auf-lampedusa-von-der-leyen-will-ueberwachung-des-mittelmeers-verstaerken
-> https://www.20min.ch/story/lampedusa-ich-hoerte-leute-schreien-und-sehe-viel-leid-962006650610?version=1694958383528&
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/meloni-von-der-leyen-lampedusa-102.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/meloni-von-der-leyen-lampedusa-100.html
-> https://taz.de/EU-Kommissionspraesidentin-auf-Lampedusa/!5960672/
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/migration-von-der-leyen-und-meloni-besuchen-lampedusa?partId=12455913
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/von-der-leyen-besucht-mit-meloni-lampedusa?urn=urn:srf:video:791dcd2b-b0c6-410d-9825-1994e117fca2
-> https://www.20min.ch/video/italien-die-infrastruktur-hier-reicht-nicht-mal-fuer-uns-aus-476784158327
-> https://www.20min.ch/video/lampedusa-die-ueberfahrt-auf-dem-boot-war-die-hoelle-681527042851
-> https://www.20min.ch/story/lampedusa-italien-gibt-deutschland-die-schuld-an-der-fluechtlingskrise-537082908784
-> https://taz.de/Von-der-Leyen-auf-Lampedusa/!5957958/


+++EUROPA
Sonntagszeitung 17.09.2023

Flüchtlingskrise im Mittelmeer: Politischer Sprengstoff für die Europäische Union

Das Drama auf Lampedusa vertieft den Graben zwischen Italien und Deutschland. Und es gefährdet insgesamt die europäische Suche nach einem Konsens in der Asylpolitik.

Josef Kelnberger

Der Zustand der europäischen Migrationspolitik lässt sich in einem Satz zusammenfassen: Während auf der italienischen Insel Lampedusa der Notstand ausgerufen wird, weil so viele Flüchtlinge aus Nordafrika dort ankommen, weigert sich die deutsche Regierung, Flüchtlinge aus Italien zu übernehmen, weil Italien sich weigert, Flüchtlinge aus Deutschland zurückzunehmen. Was gaga klingt, ist die europäische Realität von dieser Woche.

Man kann es für unmenschlich, ungeschickt oder unzumutbar halten, wie hier mit Geflüchteten umgegangen wird. Politisch betrachtet bergen die Nachrichten Sprengstoff für die Europäische Union.

Das europäische Asylsystem funktioniert schon seit längerem nicht mehr. Staaten an den EU-Aussengrenzen wie Italien und Griechenland erfüllen ihre vertragliche Pflicht nicht mehr, irregulär ankommende Menschen zu erfassen, Asylanträge aufzunehmen und diese zu bearbeiten. Viele der Geflüchteten reisen weiter in ein europäisches Land ihrer Wahl. Ziel ist in den meisten Fällen Deutschland, aber auch Staaten wie Österreich, Belgien oder die Niederlande beklagen diese «Sekundärmigration».

Um wieder Vertrauen zwischen Staaten an den Aussengrenzen und Binnenstaaten herzustellen, erfand die EU im vergangenen Jahr den «freiwilligen Solidaritätsmechanismus». Aber auch der ist nun kaputt.

Im Wesentlichen waren es nur Deutschland und Frankreich, die sich zur Übernahme von Migranten aus besonders belasteten Staaten wie Italien bereit erklärten. Frankreich hat seine Zusage vor längerer Zeit gekündigt, weil Italien einem privaten Rettungsschiff den Zugang zu seinen Häfen verweigerte. Jetzt sagt auch Deutschland Nein.

Die Bundesregierung verweist auf «hohen Migrationsdruck» in Deutschland und darauf, dass Italien keine Menschen mehr zurücknehme, die dort bereits einen Asylantrag gestellt haben. Die Übernahme von 3500 Geflüchteten hatte Deutschland zugesagt, 1731 habe man bereits aufgenommen, davon 1043 aus Italien, teilt die Regierung mit. Damit werde man der humanitären Verantwortung Deutschlands gerecht.

Italienische Regierung zeigt sich bislang konstruktiv

Die schlechten Nachrichten kommen zu einer Zeit, da die Institutionen der EU an einer grossen Asylrechtsreform arbeiten. Sie soll noch vor den Europawahlen im Juni 2024 fertig werden, als Zeichen dafür, dass die EU die Probleme der irregulären Migration nun gemeinsam lösen will. Aber ohne gegenseitiges Vertrauen wird das nicht funktionieren.

Die italienische Regierung hat sich bislang konstruktiv gezeigt. Ministerpräsidentin Giorgia Meloni richte sich offenbar darauf ein, langfristig zu regieren, ist von den Verhandlungspartnern in Brüssel zu hören. Italien erklärte sich bereit, wieder Verantwortung für alle ankommenden Migranten zu übernehmen und in Grenznähe grosse Lager zu betreiben.

Dort sollen die Anträge von Asylbewerbern mit geringen Erfolgsaussichten im Schnellverfahren entschieden werden. Im Gegenzug müssten die anderen Staaten verpflichtend Flüchtlinge aus Italien übernehmen – oder, falls sie keine übernehmen wollen, zumindest Geld an Italien oder die anderen Grenzstaaten zahlen.

Die Krise auf Lampedusa könnte alles infrage stellen. Meloni stimmte der Asylreform im Juni wohl nur deshalb grundsätzlich zu, weil sich die EU bereit erklärte, in aller Eile ein Abkommen mit dem tunesischen Präsidenten Kais Saied zu schliessen. Insgesamt eine Milliarde Euro könnten nach Tunesien fliessen, falls die Zahl der Menschen sinkt, die von dort aus übers Mittelmeer nach Italien gelangen. Doch das Gegenteil ist nun der Fall, und über die Gründe wird jetzt viel spekuliert. In jedem Fall hat es den Anschein, als fühle sich Präsident Saied von der EU gekränkt.

Einreiseverbot für Delegation des Europaparlaments

Die tunesische Regierung untersagte einer Delegation des Europaparlaments am Mittwoch kurzfristig die Einreise. Die Abgeordneten wollten von Donnerstag bis Samstag in Tunesien Fragen von Demokratie und Menschenrechten erörtern und auch Vertreter der Zivilgesellschaft treffen. Im Europaparlament hatte es zuvor schon deutliche Kritik an dem Abkommen gegeben. Mit einem Autokraten wie Saied dürfe man keine Geschäfte auf dem Rücken flüchtender Menschen machen, hiess es. Die Nachricht drang auch bis nach Tunis.

Das Einreiseverbot wird nun allgemein als Affront gewertet. Quer durch alle Parteien forderten Abgeordnete am Donnerstag, das Abkommen mit Tunesien zu kündigen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte es tags zuvor als «Muster für die Zusammenarbeit mit anderen afrikanischen Staaten» bezeichnet.

Giorgia Meloni bekommt nun von ihren Koalitionspartnern zu hören, ihr Weg der Diplomatie sei gescheitert. Sollte ihre Regierung zu härteren Massnahmen greifen, um Migranten abzuwehren oder ausser Landes zu bringen, wäre die Suche nach einem europäischen Konsens in Migrationsfragen endgültig gescheitert.
(https://www.derbund.ch/fluechtlingskrise-im-mittelmeer-politischer-sprengstoff-fuer-die-europaeische-union-583899594904)


+++GASSE
Experte zu Crack-Konsum in der Schweiz: «Solches Hochschaukeln lange nicht mehr gesehen»
Die Bilder von offenen Drogenszenen in der Schweiz mehren sich. Vor allem der zunehmende Konsum von Crack in aller Öffentlichkeit prägt die Debatte. watson hat sich mit dem renommierten Suchtmediziner Dr. Thilo Beck über die aktuelle Situation und den generellen Umgang mit Drogen in der Schweiz unterhalten.
https://www.watson.ch/schweiz/wissen/490970767-crack-konsum-in-der-schweiz-suchtmediziner-thilo-beck-ordnet-ein


+++SEXWORK
Die wichtigsten Fragen und Antworten zum Entscheid des EU-Parlaments: Wird Prostitution nun in ganz Europa verboten?
Das EU-Parlament will europaweit die Prostitution abschaffen oder wenigstens eindämmen. Es hat diese Woche trotz des Widerstands der Sexarbeiterinnen einen entsprechenden Antrag angenommen. Blick beantwortet die wichtigsten Fragen.
https://www.blick.ch/ausland/die-wichtigsten-fragen-und-antworten-zum-entscheid-des-eu-parlaments-wird-prostitution-nun-in-ganz-europa-verboten-id18946385.html


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
«Squat the City»-Demo in Bern: Am Schluss entgleiste die unbewilligte Technoparty
Wummernde Bässe und lautes Gegröle: Samstagnacht zogen gegen 1000, teils vermummte Leute mit einem Partywagen durch Bern. Eine Person wurde verletzt.
https://www.derbund.ch/squat-the-city-demo-in-bern-1000-menschen-feierten-technoparty-in-den-strassen-935931737754
-> https://www.20min.ch/story/squat-the-city-anarchistischer-partyumzug-zieht-durch-die-strassen-von-bern-712501102962
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/lauter-techno-in-der-nacht-1000-menschen-feierten-auf-der-strasse-153576694?autoplay=true&mainAssetId=Asset:153576903
-> https://www.nau.ch/ort/bern/bern-unbeteiligter-bei-unbewilligter-demonstration-verletzt-66603138
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/mario-batkovic-der-mann-mit-dem-akkordeon?id=12455949 (ab 01:10)
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/sonntag-17-september-2023-153370910
-> https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=b129cb2e-a594-43ab-ab0f-cccc34c7247b
-> https://twitter.com/ag_bern/status/1703176704074629393



Kollektiv «Konsumkamine» ist stinksauer auf Stadtpolizei
Ein umgebautes Velo vom Kollektiv «Konsumkamine» wurde von der Polizei konfisziert. Die Vorgehensweise der Polizei beschäftigt nun auch die Zürcher Politik.
https://www.20min.ch/story/zuerich-kollektiv-konsumkamine-ist-stinksauer-auf-stadtpolizei-854212594572


+++POLICE BS
Polizistin nach Pfefferspray – «Es ist total verschi****!»
Der Pfefferspray-Selbstversuch war früher noch obligatorisch für Polizeianwärter. Heute ist er freiwillig. Tosca Stucki, die iCop der Basler Kantonspolizei, stand für ein Video ein zweites Mal auf der anderen Seite der Sprühdose.
https://www.20min.ch/story/basel-polizistin-nach-pfefferspray-es-ist-total-verschi-700986998295?version=1694944529128


+++FRAUEN/QUEER
Sonntagszeitung 17.09.2023

Interview zu Transgender und Genderstern: «Die Geschlechtsidentität eines Kindes lässt sich nicht bestimmen»

Die profilierte Schweizer Kinder- und Jugendpsychiaterin Dagmar Pauli kritisiert den Umgang mit Trans-Menschen. In ihrem neuen Buch plädiert sie für weniger Angst und eine offenere Gesellschaft.

Felix Straumann

«Gendergaga» und «Woke-Wahnsinn» sind in der Schweiz etwas aus den Schlagzeilen verschwunden. Jetzt kommen Sie mit einem neuen Buch zu Transgender. Ist es Ihnen zu ruhig um das Thema geworden, Frau Pauli?

Ich hoffe sehr, dass das Buch nicht wieder einen Shitstorm von allen Seiten auslöst. Meine Absicht ist es, die immer wieder aufflackernden Diskussionen zu versachlichen. Anstatt mit bruchstückhaften Informationen über einzelne Aspekte zu streiten, will ich mit dem Buch eine Gesamtsicht anbieten und so Vorbehalte entkräften. Wenn beim nächsten Mal wieder von «Genderwahn» die Rede ist und behauptet wird, wir würden den Jugendlichen ungeprüft irgendwelche Hormone nachschmeissen, können alle nachlesen, wie es wirklich ist. Das ist jetzt natürlich etwas optimistisch, ich weiss.

Sie haben vor 13 Jahren in Zürich die schweizweit erste Trans-Sprechstunde für Kinder und Jugendliche gestartet. In Ihrem Buch richten Sie den Fokus eher auf die gesamte Gesellschaft. Wieso?

Ich finde es wichtig, psychische Gesundheit immer im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten. Das habe ich schon bei meinem letzten Buch zum Thema Essstörungen «Size Zero» gemacht. Trans-Menschen sind heute vor allem durch die allgegenwärtige Trans-Feindlichkeit stark gesundheitlich beeinträchtigt. Das sehen wir fast täglich in unseren Sprechstunden.

Inwiefern?

Wir behandeln hier ständig Menschen, die wegen ihres uneindeutigen Geschlechts suizidal sind, und dies nicht zuletzt wegen Ablehnung durch das Umfeld. Da muss ich mich doch auch mal zur Rolle der Mehrheitsgesellschaft äussern. Ich finde es nicht in Ordnung, wenn diese Menschen nicht integriert werden. Sehr viel von der immer wieder geäusserten Kritik an den Trans-Behandlungen beruht eigentlich auf der Ablehnung des Phänomens an sich, davon bin ich überzeugt.

Viele machen sich einfach Sorgen.

Die sind berechtigt. Ich verstehe insbesondere Eltern, die sich Sorgen um ihre Kinder machen. Sie sollen auch sagen, wenn sie denken, dass es zu schnell vorwärtsgeht mit der Behandlung ihrer Kinder. Sie haben nämlich manchmal auch Recht. Aber die grundsätzliche Ablehnung von Transgender, das Fordern von Therapieverboten oder die Diskreditierung des Phänomens als Hype finde ich falsch. Die Geschlechtsidentität eines Kindes lässt sich nicht bestimmen, das können weder die Gesellschaft noch die Eltern.

Sie sprechen oft von Ängsten, die das Thema Transgender in der Bevölkerung auslöse. Geht es nicht eher um Unbehagen oder Unverständnis?

Ich glaube schon, dass Angst eine Rolle spielt. Man befürchtet, die bestehende Ordnung, an die wir uns gewöhnt haben, könnte ins Wanken geraten. Das Konzept von Mann und Frau ist sehr dominant in unserer Gesellschaft. Es geht meines Erachtens aber auch um den grundsätzlichen Reflex, Fremdes auszugrenzen, um sich selbst zu erhöhen.

Inzwischen gibt es in jeder zweiten Klasse ein Kind, bei dem ein Wechsel des Geschlechts zumindest ein Thema ist. Warum hat das so zugenommen?

Tatsächlich stellen sich Jugendliche heute öfter Fragen: Bin ich wirklich ein Mann beziehungsweise eine Frau? Oder etwas dazwischen? Das bedeutet aber nicht, dass alle diese Jugendlichen tatsächlich und dauerhaft trans sind. Sie machen sich einfach Gedanken. Das gehört inzwischen ein bisschen zur Adoleszenz dazu. Früher hat man sich diese Fragen einfach nicht gestellt.

Bei Umfragen geben zwischen ein und drei Prozent der Bevölkerung an, dass sie sich solche Gedanken machen.

Ja, etwa so viele Menschen können sich nicht ganz glasklar mit einer der Kategorien identifizieren. Wir wissen nicht, ob diese Zahl zugenommen hat oder ob sich diese Personen früher einfach nicht geoutet haben. Es handelt sich aber immer noch um eine deutliche Minderheit. Und davon sind die wenigsten trans und wollen eine Behandlung. Leider gibt es in der Schweiz keine gute Statistik zur Häufigkeit. Für eine geschlechtsangleichende Genitaloperation, die ja nur bei Erwachsenen durchgeführt wird, entscheiden sich circa hundert Personen pro Jahr in der Schweiz. Das sind nach meiner Erfahrung diejenigen, die stark leiden.

Bei den Jugendlichen sind das auch diejenigen, die in Ihre Sprechstunde kommen. Was tun Sie dort?

Wir wägen jeweils ab, welche Art von Unterstützung die beste ist. Im Vordergrund steht, wie hoch der Leidensdruck ist und was passieren könnte, wenn wir nichts machen. Ohne Behandlung oder Unterstützung – sei es sozial, psychotherapeutisch oder medizinisch – kann es gewaltig schiefgehen. Bei unbehandelten Trans-Jugendlichen haben 70 Prozent suizidale Gedanken. Das ist enorm hoch. Mit wirksamer Therapie, sei es psychotherapeutisch oder medizinisch, bewegt sich der Wert im Durchschnitt der Gesamtbevölkerung.

In den letzten Jahren sorgten Medikamente, die das Einsetzen der Pubertät verhindern, für Kontroversen. Wie riskant sind diese sogenannten Pubertätsblocker?

Wir verwenden diese immer nur mit dem Einverständnis der Eltern. Wirkung und Nebenwirkung der Medikamente kennen wir dabei schon seit vielen Jahren. Früher setzte man sie ausschliesslich bei Jugendlichen ein, die zu früh, mit acht oder neun Jahren, in die Pubertät kommen. Bei einem intensiven, anhaltenden Unbehagen mit dem bei Geburt zugeordneten Geschlecht gewinnen die Jugendlichen durch die Behandlung Zeit, sich eine Geschlechtsangleichung zu überlegen, ohne dass sich in der Zwischenzeit die Geschlechtsmerkmale ausbilden, die sie eigentlich ablehnen. Die Wirkungen der Pubertätsblockade sind reversibel, das ist der Vorteil.

Wie häufig geben Sie diese Blocker?

Bei rund der Hälfte der Jugendlichen, die bei uns in Behandlung sind, kommen die Medikamente zum Einsatz. Die Pubertät setzt nach dem Absetzen der Medikamente ein und läuft dann normal ab. Als unerwünschte Wirkung kann es im Alter Probleme mit der Knochendichte geben. Darum sollte die Blockade möglichst nicht länger als zwei Jahre dauern.

Hat es nicht auch soziale Folgen, wenn die Gleichaltrigen gleichzeitig voll in der Pubertät sind?

Das ist tatsächlich so, und die Jugendlichen finden das oft nicht gut. Aber die meisten nehmen es in Kauf, um nicht die aus ihrer Sicht falsche Pubertät durchzumachen. Viele drängen dann aber schon bald auf eine Hormonbehandlung, um ihr Geschlecht anzugleichen. Wenn sie noch zu jung sind, versuchen wir, das Tempo zu verlangsamen, um ihnen mehr Zeit zum Nachdenken zu ermöglichen.

Andere Länder verschreiben Pubertätsblocker restriktiver als früher. Sind diese Medikamente wirklich so unproblematisch?

Es gibt verschiedene Einrichtungen in Schweden, Frankreich und Grossbritannien, die ihre Praxis aufgrund von fraglichen Vorfällen angepasst haben. Die Pubertätsblocker wurden aber nirgends aus dem Verkehr gezogen. Wir haben sie immer sehr vorsichtig angewendet. Wie dies in den betroffenen Kliniken im Ausland gehandhabt wurde, weiss ich nicht.

Zurück zu Ihrem Buch: Sie plädieren darin für eine nicht-binäre Gesellschaft, in der Trans-Menschen akzeptiert sind. Ein frommer Wunsch?

Das stimmt so nicht. Ich finde nicht, dass die Gesellschaft nicht-binär werden soll. Ich will nicht die Geschlechter abschaffen. Wir sollen weiterhin Frauen oder Männer sein dürfen, wenn wir das möchten, und uns mit «sie» und «er» ansprechen können. Das ist alles wunderbar. Aber ich finde, wir sollten die beiden Kategorien erweitern und rigide Vorstellungen hinterfragen. In der Gesellschaft sollte es auch für Menschen Platz haben, die sich nicht in so einer Kategorie sehen, also für nicht-binäre Menschen. Das ist etwas anderes.

Würden Trans-Menschen dann weniger Hormonbehandlungen und Operationen wollen?

Vielleicht, denn es gäbe dann auch Frauen mit Penis und Männer mit Vulva. Das wäre dann akzeptiert. Es gibt heute Trans-Menschen, die sich sehr für eine solche Ausweitung einsetzen. Andere wollen sich hingegen abgrenzen. In Deutschland wurde zum Beispiel darüber gestritten, ob eine Trans-Frau als Bundestagsabgeordnete auf der grünen Frauenliste kandidieren darf, wenn sie den Penis nicht wegoperiert hat. Das finde ich irritierend.

Viele Trans-Menschen orientieren sich an klischierten Geschlechterrollen und geben sich nach einer Geschlechtsanpassung betont männlich beziehungsweise weiblich. Zementieren sie damit aber nicht gerade die Binarität, die Sie gerne aufweichen möchten?

Das stimmt. Trans-Menschen sind in der gleichen Kultur aufgewachsen wie wir alle und dadurch oft genauso binär. Ich finde das aber in Ordnung. Cis-Männer, also Männer, die ihr biologisches Geschlecht nicht infrage stellen, dürfen sich schliesslich beispielsweise auch sehr männlich geben und Motorrad fahren, wenn das ihr Streben ist. Aber das betrifft auch nur einen Teil der Trans-Menschen. Selbstverständlich sind Trans-Menschen so verschieden wie Cis-Menschen. Es gibt auch solche, die sich in keinem der beiden Geschlechter wohlfühlen.

Wie äussert sich das?

In meinem Buch kommen ja auch viele Betroffene zu Wort. So schildert beispielsweise der 16-jährige Manu seine eigene Geschichte. Er stellte mit der Zeit fest, dass er weder ins Mädchen- noch ins Jungs-Schema passt. Er hat sich dafür entschieden, als Junge mit vielen weiblichen Seiten zu leben. Weil er sich gerne weiblich bewegt und auch einige weibliche Accessoires hat, läuft er aber leider Gefahr, ausgegrenzt und beleidigt zu werden.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen einer Geschlechtsanpassung und einer Schönheitsoperation? In beiden Fällen sind die Betroffenen letztlich mit ihrem Körper nicht zufrieden.

Ich finde das schwierig zu sagen, weil es für Schönheitsoperationen ein breites Spektrum von Gründen gibt, die man nicht alle in den gleichen Topf werfen kann. Aber letztlich ist dies nicht vergleichbar mit Trans-Menschen, die sich operieren lassen. Diese tun das nicht, um schön zu sein, sondern weil bei ihnen etwas grundsätzlich falsch ist. Es geht nicht darum, dass der Penis grösser, die Brust kleiner oder die Nase gerade sein soll. Es hat viel mehr mit Identität zu tun als mit Schönheitsidealen. Bei der Geschlechtsangleichung ist es ja oft auch so, dass man dadurch im Sinne von gesellschaftlich bestimmter Ästhetik nicht schöner wird. Daran leiden viele Trans-Menschen. Doch das Bedürfnis, die Angleichung trotzdem vorzunehmen, ist sehr tief. Die Allermeisten bereuen den Eingriff deshalb nicht, weil sie sich nachher viel mehr im Einklang mit sich selbst fühlen. In Studien sind es unter 0,5 Prozent.

Sie betonen oft, dass sich die ganzen Diskussionen eigentlich nur um ganz wenige Menschen drehen. Ist es wirklich nötig, dass die ganze Gesellschaft zum Beispiel beim Sprechen und Schreiben mit Stern und Sprechpause konstant festhält, dass es noch andere Möglichkeiten als Mann und Frau gibt?

Ich glaube, eine Gesellschaft profitiert davon, wenn sie mit überschaubarem Aufwand kleine Minderheiten integriert. Natürlich wird niemand gravierende gesellschaftliche Nachteile für die Mehrheit in Kauf nehmen. Aber zum Beispiel die Behindertentoiletten werden auch nicht oft benutzt, und trotzdem baut man sie. Das finde ich toll. Die Sprache verändert sich sowieso. Im Mittelalter hat man komplett anders gesprochen als heute.

Sprachlich kommen aber schon viele an ihre Grenze, wenn sie das weibliche Geschlecht berücksichtigen sollen.

Es ist tatsächlich kompliziert, wenn ich immer Ärztinnen und Ärzte oder Patientinnen und Patienten sagen muss. Mit dem sprachlichen Gender-Gap lässt sich das aber gut lösen. Das ist gar nicht so schlimm, wie manche behaupten. Patient*innen ist viel einfacher zu schreiben und zu sagen als Patientinnen und Patienten. Und es werden auch nicht-binäre Menschen einbezogen. Abgesehen davon: Der Gap gehört zur deutschen Sprache.

Inwiefern?

Wir haben eine solche kurze Pause zum Beispiel beim Wort Spiegelei. Da ist ein Gap drin. Jeder kann das sagen. Wir sagen nicht Spiegelei ohne Pause zwischen Spiegel und Ei. Ich verstehe die ganze Aufregung deshalb nicht. Es passiert ja nichts Schlimmes.

Aber ist das denn wirklich so wichtig?

Es hilft den Trans-Menschen. Das tut es übrigens auch, wenn sie zum Beispiel auf Dokumenten ein drittes Geschlecht ankreuzen können. In Deutschland und Österreich ist das jetzt möglich, nicht in der Schweiz. In der Sprache bin ich nicht so leidenschaftlich. Wenn die Leute um mich herum Patientinnen und Patienten sagen, dann können sie das ja machen. Aber warum soll ich mir nicht Mühe geben und Menschen so bezeichnen, wie sie es möchten? Nicht-binäre Menschen fühlen sich mehr einbezogen, wenn man Patient*innen sagt. Das ist doch schön, nicht?



Gründerin der ersten Sprechstunde für Geschlechterinkongruenz bei Jugendlichen

Wer sich in der Schweiz mit dem Thema Transgender auseinandersetzt, kommt nicht an der Medizinerin vorbei: Dagmar Pauli, seit 2010 Chefärztin und stellvertretende Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Sie hat 2010 die erste Sprechstunde für Geschlechtsinkongruenz bei Jugendlichen in der Schweiz gegründet und zusammen mit einem Team rund 350 junge Menschen behandelt. Dabei wird auch abgeklärt, ob bei einer Person ein anderes psychisches Problem vorliegt, das eine Transidentität verursacht. Neben sozialer Beratung und gegebenenfalls Psychotherapie kommen auch Medikamente und Hormone zum Einsatz. Ihr Buch «Die anderen Geschlechter. Nicht-Binarität und ganztrans* normale Sachen» (Verlag C.H. Beck) erscheint am 21. September. (fes)

Dagmar Pauli: Die anderen Geschlechter. Nicht-Binarität und (ganz)trans*normale Sachen. C.H. Beck
(https://www.derbund.ch/interview-zu-transgender-und-genderstern-warum-soll-ich-mir-nicht-muehe-geben-und-menschen-so-bezeichnen-wie-sie-es-moechten-980254468673)


+++HISTORY
NZZ am Sonntag 17.09.2023

«Indianer» in der Manege – als der Zirkus Knie Menschen ausstellte

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es keine «Völkerschauen» mehr. Nur der Zirkus Knie führte bis 1964 solche durch. Er sieht keinen Grund, das Thema aufzuarbeiten.

Urs Hafner

Der Zirkus Knie zeigt in seinen Vorstellungen keine wilden Tiere mehr. Das Publikum will keine Tiger mehr sehen, die zum Knall der Peitsche traurig im Kreis trotten und zur Belohnung ein Stück Frischfleisch verzehren. Auch Elefanten sind aus der Manege verschwunden. 2015 traten sie letztmals auf. Knie kam zum Schluss, dass ihre tiergerechte Haltung im Reisebetrieb nicht möglich und ihr Verkleiden unethisch sei. Lange hatten die Tiere nämlich ihre Kunststücke exotisch drapiert vollführt. Anlässlich seines Hundert-Jahr-Jubiläums hat der Zirkus 2020 den Umgang mit den grauen Riesen mustergültig in einem Buch aufgearbeitet.

Anders sieht es mit den Menschen aus. Zwar führt der Zirkus keine «Wilden» mehr vor. Die letzte «Völkerschau» konnte das Publikum 1964 in einem Seitenzelt besichtigen, wo zwölf verkleidete Marokkaner geduldig ihrem «traditionellen Handwerk» nachgingen, das sie wahrscheinlich gar nie ausgeübt hatten, und noch 1974 veranstaltete der Knie-Kinderzoo in Rapperswil, wo heute die Elefanten in einem grosszügigen Gehege leben, einen «marokkanischen Markt» mit Verkäufern, Schaustellern und Musikern.

Das war sehr spät: In der Regel war nach dem Zweiten Weltkrieg Schluss mit den kolonialistisch geprägten Shows, also der Zurschaustellung von Männern, Frauen und Kindern aus Afrika, Asien, Amerika, Australien und Ozeanien, die gegen Eintrittsgeld zu besichtigen und wohl auch zu berühren waren. Nur der Zirkus Knie machte weiter. Heute interessiert ihn das nicht mehr.

Seine erste Völkerschau führte Knie erst 1927 durch: eine «Indien-Schau» als «Annex an unsere Tierschau», wie er im Gesuch an die Fremdenpolizei schrieb. Nun waren in den Nebenzelten nicht mehr nur Löwen, Eisbären, Elefanten und Pferde zu bestaunen, sondern auch fünfzehn Personen aus Ceylon und Indien. Spärlich bekleidet demonstrierten sie tagsüber vor dem Publikum ihre exotischen Sitten und Gebräuche, abends boten «Bambusakrobaten, Schlangenbeschwörer und Fakire» das «Fest am Hof des Maharadjas von Seidpour» dar.

Die Idee, fremdartige Menschen auszustellen, hatte Knie nicht selber entwickelt. Er kupferte sie sowohl vom amerikanischen Zirkus Barnum & Bailey ab, der in seinen Seitenzelten «Freakshows» mit Kleinwüchsigen zeigte, als auch vom deutschen Zirkus Hagenbeck, der schon im 19. Jahrhundert mit dunkelhäutigen Menschen und wilden Tieren durch Europa gezogen und auch Handel getrieben hatte. Sie wurden auf Jahrmärkten, in den aufkommenden zoologischen Gärten und in den Zirkussen vorgeführt, meist unter Zwang.

Marokkaner, Inder, «Eismenschen» als Publikumsmagnet

Knie kaufte seine ceylonesisch-indische Gruppe kurzerhand bei Hagenbeck ein. Sie erwies sich als Publikumsmagnet. Darum legte Knie die kommenden Jahre stetig nach. 1928 zeigte er Marokkaner, denen die zweifelhafte Ehre zuteilwurde, vom Rassentheoretiker Otto Schlaginhaufen von der Universität Zürich untersucht zu werden. 1931 präsentierte der Zirkus erstmals «Indianer», eine kleine Gruppe von Irokesen mit ihrem «siebzigjährigen Stammeshäuptling Samohaba und seiner Tochter Tsh-Koo-Dah», 1939 acht «Eismenschen im Eskimodorf», die in Tat und Wahrheit Albinos waren. Eine junge Frau im Badekostüm wurde in Eis eingemauert, der «Chef» führte den «isländischen Entfesselungstrick» vor.

1950 waren «Sudanesen» zu sehen, die ein paar Jahre später «Originaltänze von der Goldküste» aufführten, 1958 traten wieder «Indianer» auf, die in den USA in Reservaten lebten. Der «Comanchen-Häuptling Eisernes Pferd» und sein Begleiter «Verrückter Fuchs» ernannten den Zürcher Stadtpräsidenten Landolt zum «Ehrenindianer», wie die Presse berichtete. Doch kurz darauf stellte Knie die Völkerschauen ein, das Publikumsinteresse hatte mehr und mehr nachgelassen. Nicht nur wurde das Fliegen erschwinglich, nun brachte der Fernseher Bilder von der weiten Welt ins traute Heim.

Dass der Zirkus Knie neben wilden Tieren auch Völkerschauen gezeigt hat, ist spätestens seit 2013 bekannt, als die Journalistin und Germanistin Rea Brändle die erweiterte Neuauflage ihres Buchs «Wildfremd, hautnah» vorlegte. Als Erste hatte sie die aus heutiger Sicht rassistischen Spektakel untersucht. Nach den eigens für die «Exoten» eingerichteten Ausstellungen, die auf Jahrmärkten zu sehen waren, stiess Brändle auf die Zirkusse und besonders den «Schweizer National-Circus». So nannte Knie sich seit 1919, das patriotische Label war nicht geschützt. Mit dem Marketingtrick verschaffte sich die aus Österreich-Ungarn stammende Artistenfamilie, die kurz zuvor eingebürgert worden war, gegenüber der ausländischen Konkurrenz entscheidende Wettbewerbsvorteile.

Rea Brändles Passagen zu Knies Völkerschauen wurden von den Medien wiederholt aufgegriffen. 2019 stellte die «Berner Zeitung» Rolf Knie sogar die Frage, ob er in seinem Jubiläumsmusical zur Geschichte des Zirkus das «dunkle Kapitel» thematisiere, worauf dieser forsch entgegnete: «Wie kommen Sie darauf, dies ein dunkles Kapitel zu nennen?» Er könne sich gut an die Marokkaner erinnern, die Nachkommen dieser liebenswürdigen Menschen arbeiteten heute im Zirkus.

Dennoch sind Knies Völkerschauen im öffentlichen Bewusstsein nicht präsent. Es ist, als ob der Zirkus sie nie durchgeführt hätte. Nicht einmal dem Zorn postkolonialer und antirassistischer Aktivisten musste er sich stellen. Seiner Vergangenheit hat er sich auch nicht gestellt. Die Jubiläumsbücher von 2018 und 2019 präsentieren zwar die marokkanischen Zirkusarbeiter – eher gönnerhaft und paternalistisch –, erwähnen die einstigen Völkerschauen jedoch nur am Rand und beschönigend. Die Rede ist stattdessen von den «afrikanischen Freunden» und einem allgemeinen Interesse, das der Zirkus damals befriedigt habe. Eine Auseinandersetzung mit dem Thema oder gar seine Aufarbeitung sucht man vergeblich. Rea Brändle durfte zwar das Knie-Archiv in Rapperswil aufsuchen, aber sie hat ihre kursorischen Quellensichtungen nicht mehr vertiefen können, 2019 starb sie.

Kein Zugang zum Archiv

2022 wollte ihr Lebensgefährte Andreas Bürgi, der ihr letztes Buch «Wilde, die sich hier sehen lassen» (2023) postum herausgegeben hat, das Knie-Archiv konsultieren, um die Angaben zu den Völkerschauen zu überprüfen. Der Wunsch des Germanisten wurde abgelehnt. «Dabei wäre mein Besuch in Knies Interesse gewesen», sagt er. Dem Autor dieses Artikels erging es nicht besser: Erst antwortete die Medienstelle nicht auf seine Frage nach der Aufarbeitung und auf die Bitte um Archivzugang, dann verwies sie ihn auf die private Website «Kniepedia». Auf seine erneute Nachfrage hiess es, das Archiv werde Dritten nicht zur Verfügung gestellt.

Die Vermeidungsstrategie geht auf. Oder profitiert Knie ganz einfach von seinem Status als «Nationalzirkus»? Er hat es geschafft, als eidgenössisches Kulturerbe wahrgenommen zu werden, das gegen die Widrigkeiten des Zeitenlaufs und die Konkurrenz durch Kino und Internet zu schützen ist. Man besucht den Knie immer auch, um zu dessen Erhaltung beizutragen. Der deutsche Zirkus Hagenbeck dagegen ist wiederholt mit Vorwürfen und gar Beschimpfungen eingedeckt worden, obschon er sich in Sachen Aufarbeitung fair verhalten hat. «Hagenbeck hat seine Archive zwar nicht allgemein zugänglich gemacht, aber in den letzten vierzig Jahren immer wieder Forschenden aus der ganzen Welt geöffnet, unter anderem auch mir», sagt die Ethnologin Hilke Thode-Arora vom Museum Fünf Kontinente in München.

Knie thront auf einem Podest. Aber wie sicher ist der Boden, auf dem es steht? Zum Vergleich: Als die Jugendhilfsorganisation Pro Juventute ihr 2012 erschienenes Buch zum Hundert-Jahr-Jubiläum plante, wollte sie die unrühmliche Geschichte ihrer Aktion «Kinder der Landstrasse», die jenische Familien auseinandergerissen hatte, ganz einfach verschweigen. Das ging gründlich schief. Dank dem Protest von Betroffenen musste die Pro Juventute das Thema aufgreifen. Heute ist die rassisch motivierte Aktion umfassend erforscht.

Nicht so Knies Menschenshows. Sie mögen für die Betroffenen weniger drastisch gewesen sein – wobei auch das zu untersuchen wäre: Woher kamen die im Nebenzelt präsentierten Menschen, wie waren die Anstellungsbedingungen, wie erlebten sie ihre Vorführungen, was ist mit ihnen passiert? Solange diese Geschichten nicht geschrieben sind, bleibt auch die Geschichte des Zirkus Knie ungeschrieben.
(https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/voelkerschau-als-der-zirkus-knie-menschen-ausstellte-ld.1755886)