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+++AARGAU
Tag der offenen Türe bei der Asylunterkunft in Windisch
Am Montag ziehen die ersten jungen Asylsuchenden in die Unterkunft in Windisch. Das ist die Unterkunft, die Anfang Jahr schweizweit in den Schlagzeilen war, weil die Mieter die Kündigung bekamen. Heute durfte die Bevölkerung nun einen Blick in die neue Asylunterkunft werfen.
https://www.telem1.ch/aktuell/tag-der-offenen-tuere-bei-der-asylunterkunft-in-windisch-153443981
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/nach-asylstreit-in-windisch-ziehen-die-ersten-jungen-asylsuchenden-ein
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aargauerzeitung.ch 09.09.2023
«Moll, do cha mer läbe»: So sieht es in der Asylunterkunft für Minderjährige aus
Am Samstag zeigte der Kantonale Sozialdienst in Windisch der Bevölkerung die neue Unterkunft für unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Warum es kaum Umbauarbeiten brauchte – und warum Regierungsrat Jean-Pierre Gallati unangekündigt erschien.
Mario Fuchs
Vor der beigen Fassade steht eine Reihe Pflanzkästen. Darin wächst eine kleine Hecke. Hüfthöhe schwarze Stelen davor erinnern an Leitpfosten für Velofahrende, die auf engen Strassen das unkontrollierte Vermischen mit dem Autoverkehr verhindern, sind aber Auffangpfosten für Rauchende, die auf diesem breiten Vorplatz das unkontrollierte Wegwerfen von Zigaretten verhindern. Der Vorplatz gehört zu einer Liegenschaft an der Mülligerstrasse 11 in Windisch.
In einem «sehr guten Zustand» habe man die Häuser angetroffen, sagt Günter Marz, Leiter Fachbereich UMA (abgekürzt für unbegleitete minderjährige Asylsuchende). An diesem Samstagmorgen im September führen Marz und ein Team des Kantonalen Sozialdienstes Journalisten und Anwohner an der Hecke vorbei in eines der Häuser, die dieses Jahr landesweit für Schlagzeilen gesorgt haben.
Von Designermöbeln zu günstigem Wohnraum
Grund dafür war nicht eben deren Zustand, sondern deren künftige Verwendung: Hier ziehen am Montag die ersten von 50 UMA ein – wofür bisherige Mieter ausziehen mussten. Noch stehen einige ihrer Namen an den Türklingeln beim Eingang. Der Bezug erfolge gestaffelt, sagt Marz, Eigentümer und Kanton hätten sich dafür eingesetzt, dass alle bisherigen Mieter eine Anschlusslösung fanden.
Dass es dem Kanton ernst ist mit einem positiven Start der neuen UMA-Unterkunft, unterstreicht die Anwesenheit des zuständigen Regierungsrats Jean-Pierre Gallati. Angekündigt war seine Teilnahme nicht – gekommen ist er, um der Anwohnerschaft zuzuhören und seine neuesten Mitarbeitenden kennenzulernen, das Betreuungsteam mit insgesamt 1000 Stellenprozenten.
Bis Mitte der 1970er-Jahre befand sich in der Liegenschaft die Telle-Büromöbel AG, die heute kaum mehr jemand kennt, zu ihrer Zeit aber internationale Auszeichnungen für ihre Lampen- und Korpus-Entwürfe erhielt. Nach deren Schliessung wurden die Gebäude zu Wohnraum umfunktioniert, der ziemlich vielfältig genutzt wurde: als günstige Bleibe für Arbeiter, als willkommene Möglichkeit für die Gemeinde, um Menschen in der Sozialhilfe unterzubringen; zwischenzeitlich als Stundenhotel.
Türschlösser für die Sicherheit im Notfall ausgetauscht
In den Zimmern stehen zwei bis drei Betten, manche im Kajütenformat. Daneben blecherne Kleiderschränke, ein Abfalleimer, ein kleiner Kühlschrank. «Tiptop», sagt eine Nachbarin, und ihr Mann ergänzt: «Moll, do cha mer läbe.» Die Einrichtung erinnert in ihrer Wesentlichkeit an eine Kaserne der Schweizer Armee. Und prompt kommentiert ein anderer Anwohner: «Wüsse Sie, mir sind lang im Militär gsi. Und ned immer so guet gläge.»
Etwa die Hälfte des Mobiliars konnte der Kanton gleich von den Vormietern übernehmen. «Renovieren mussten wir nichts», sagt Marz auf der Treppe hinauf zum Obergeschoss, wo gemeinschaftlich genutzte Küchenzeilen, ein Aufenthaltsraum und ein Lernzimmer eingerichtet wurden. «Die grösste Arbeit war es, alle Türschlösser auszutauschen, damit unsere Betreuenden bei Not- oder Krisenfällen in die Zimmer können, auch wenn diese von innen verschlossen sein sollten.»
Keinerlei Trennung für den Frieden
Es sind solche potenziellen Gefahrensituationen, die bei den interessierten Anwohnern die meisten Fragezeichen auslösen. Wie viele Angestellte des Sicherheitsdienstes VüCH sind während der Nachtruhe zwischen 22 und 7 Uhr anwesend? (Einer.) Vertragen sich die UMA mit den einheimischen Jugendlichen? (Erfahrungsgemäss ja.)
Werden die afghanischen Geflüchteten aus Sicherheitsgründen nach Bevölkerungsgruppen getrennt untergebracht? Eine Antwort, die nicht in Klammern gehört: Nein – im Gegenteil. «Es gibt hier keinerlei Trennung», erklärt Günter Marz, «wir sagen den Jugendlichen immer: Ihr seid vor dem Krieg geflüchtet, jetzt könnt ihr in Frieden leben».
Viele Zuweisungen: «Weiterhin in einer Notlage»
Die UMA, die ab nächster Woche an der Mülligerstrasse nach und nach und für maximal drei Jahre einziehen werden, sind zwischen 14 und 17 Jahren. Rund 80 Prozent von ihnen waren im Schnitt die letzten vier Jahre auf der Flucht. Aus Afghanistan kommen sie via Iran – wo sie arbeiten, um Geld für ihre Flucht zu sparen – und via Balkanroute in die Schweiz. Hier werden sie ihren Lebensunterhalt ebenfalls selbst bestreiten, mit 9 Franken pro Tag, dabei zur Schule gehen oder eine Lehre absolvieren.
270 vom Bund zugewiesene UMA erwartet der Kanton Aargau im laufenden Jahr. «Wir befinden uns weiterhin in einer Notlage», bekräftigt Loranne Mérillat, Leiterin des Kantonalen Sozialdienstes. Ihr ist es wichtig, an diesem Samstag den Anwesenden zeigen zu können, «was wir hier machen». Es seien Ängste da in der Bevölkerung – und die nehme man ernst. Gleichzeitig betont sie, dass man bislang in anderen UMA-Unterkünften gut bis sehr gute Erfahrungen gemacht habe: kaum Kriminalität, sehr wenig Interventionen der Polizei, selten Lärmbelästigungen.
Gemeindepräsidentin Heidi Ammon: «Gemeinsam gut managen»
Damit das Zusammenleben auch in Windisch gelingt, hat der Kanton gewissen Vorsichtsmassnahmen getroffen. So wurden die Türen zu einer Terrasse, die sich nah an Nachbarhäusern befindet, mit Schlössern versehen. Dafür steht ein Garten zur Verfügung.
Gemeindepräsidentin Heidi Ammon, die ebenfalls gekommen ist, um sich mit den Dorfbewohnern auszutauschen, steht gegen Ende des Anlasses auf dem Vorplatz und sagt: «Diese jungen Menschen sind ein Teil unserer Gesellschaft, und wir möchten das gemeinsam gut managen.»
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/windisch-moll-do-cha-mer-laebe-kanton-zeigt-die-neue-unterkunft-fuer-minderjaehrige-asylsuchende-ld.2512045)
+++ST. GALLEN
tagblatt.ch 09.09.2023
Volles Haus, ausgebuchte Termine: Das Solidaritätshaus St.Gallen spürt die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs – jetzt will der Stadtrat die Subvention erhöhen
Als Folge des Ukraine-Kriegs ist die Zahl der Flüchtlinge in der Stadt stark angestiegen. Der Stadtrat will den städtischen Subventionsbeitrag fürs Solidaritätshaus St.Gallen auf 30’000 Franken erhöhen. Damit könnte das Solidaritätshaus gerade die Mietkosten decken, welche es an die Stadt zahlt.
Christina Weder
Die Arbeit geht dem Solidaritätshaus St.Gallen nicht aus. Das stellt auch der St.Galler Stadtrat fest. In einer Vorlage schreibt er, die Flüchtlingszahlen hätten sich in den letzten zwei Jahren in der Stadt verdoppelt. Grund dafür seien der Ukraine-Krieg und die anhaltende Zuwanderung von jungen Flüchtlingen aus verschiedenen anderen Staaten.
Vor allem in der Anfangszeit seien Flüchtlinge auf Hilfe und Begleitung im Alltag sowie auf Kulturvermittlung angewiesen. Die zuständigen staatlichen Stellen könnten diese Begleitung nur in begrenztem Mass leisten, schreibt der Stadtrat. Das Solidaritätshaus im Quartier St.Fiden – kurz Solihaus – springe in die Bresche. Aktuell zahlt die Stadt St.Gallen dem Solihaus einen Subventionsbeitrag in Höhe von 15’000 Franken. Jetzt beantragt der Stadtrat dem Parlament, diesen für die nächsten zwei Jahre zu verdoppeln.
Ana Victoria Paredes, Geschäftsleiterin des Solihauses, sagt: «Das wäre für uns eine grosse Hilfe.» Sie ist überzeugt: Eine Erhöhung des Betrags sei mehr als gerechtfertigt. Das Solihaus leiste einen grossen integrativen Betrag für die Stadt. Es dient als Anlauf- und Beratungsstelle, als niederschwelliger Treffpunkt und Ort des Austausches. Es hilft Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten, in der fremden Umgebung Fuss zu fassen.
Alltagsberatungen stark nachgefragt
Die Angebote des Solihauses sind kostenlos und richten sich an Flüchtlinge in prekären Lebenssituationen. Sie erhalten im Solihaus eine Tagesstruktur, können im Garten mithelfen und Kurse in Hauswirtschaft oder IT besuchen. Paredes nennt die beiden Hauptangebote: den Mittagstisch, der von Montag bis Donnerstag von rund 40 Personen besucht wird, und die Beratung in Alltagsfragen. Die Nachfrage ist gross. Aktuell seien die Termine eine Woche im Voraus ausgebucht. Rund 40 Beratungen pro Woche nehmen Geschäftsleiterin Ana Victoria Paredes und freiwillige Mitarbeitende wahr. Oft geht es um Papierkram, das Ausfüllen von Dokumenten und Formularen.
80 Prozent der Anfragen betreffen die Jobsuche. Unterstützung gibt es auch bei der Wohnungssuche, in Versicherungs- und Krankenkassensachen, in Rechts- und Ehefragen. Oder bei der Kommunikation zwischen Eltern und Schule. 50 Freiwillige engagieren sich im Solihaus. Fest angestellt sind nur die Geschäftsleiterin mit einem 80-Prozent- und ein Hauswart mit einem 60-Prozent-Pensum.
«Für uns ist es eine Minussumme»
Das 2011 eröffnete Solihaus finanziert sich zu 90 Prozent mit Spendengeldern. Von der Stadt wird es seit 2014 finanziell unterstützt – zunächst mit jährlich 10’000 Franken, seit 2021 mit einem Subventionsbeitrag von 15’000 Franken. Dieser ist an einen Leistungsvertrag geknüpft, der Ende Jahr ausläuft und erneuert werden muss. Das Solihaus hat deshalb einen Antrag auf Subventionserhöhung gestellt.
Ana Victoria Paredes findet, der städtische Beitrag stehe nicht im Verhältnis zu den Leistungen, welche das Solihaus für die Stadt erbringe. Sie führt aus: Das Solihaus ist in einer städtischen Liegenschaft an der Fidesstrasse 1 eingemietet. Während es 15’000 Franken von der Stadt erhält, zahlt es jährlich Mietkosten von 26’500 Franken (inklusive Nebenkosten von 10’000 Franken) an die Stadt zurück. «Für uns ist es eine Minussumme», sagt sie. Hinzu komme: Das Fundraising werde immer schwieriger. Viele Stiftungen würden Beiträge nur noch projektbezogen vergeben. «Wir sind aber kein Projekt, sondern ein laufender Betrieb.»
Der Stadtrat schreibt in der Vorlage, eine Erhöhung des Subventionsbeitrags auf 30’000 Franken würde das Solihaus ungefähr im Umfang der Mietkosten entlasten. Er will dem Antrag nachkommen – insbesondere vor dem Hintergrund der aktuellen Fluchtbewegung aus der Ukraine. Die Situation habe sich verändert. Eine Ausweitung und Anpassung der Hilfsangebote sei notwendig. Das Solihaus – der Stadtrat nennt es ein «Vorzeigeprojekt für zivilgesellschaftliches Engagement» – entlaste die städtischen Stellen und könne rasch und unbürokratisch auf veränderte Bedürfnisse der Geflüchteten reagieren.
Geflüchtete und ihre Bedürfnisse
Geschäftsleiterin Paredes bestätigt: Man spüre die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs. Das Solihaus sei voll, die Nachfrage nach Angeboten und Beratung gestiegen. Viele Geflüchtete, die derzeit im Solihaus ein und aus gehen, kommen aus der Ukraine. Darunter sind oft Mütter mit Kindern. Sie besuchen den Mittagstisch oder die Kleiderbörse und finden im Solihaus einen Treffpunkt, um sich austauschen zu können. Viele hätten damit gerechnet, bald ins Heimatland zurückkehren zu können. Doch mittlerweile hätten sie einsehen müssen, dass das nicht so schnell möglich sei. «Jetzt wollen sie sich integrieren und Deutsch lernen.»
Weiterhin werden die Angebote des Solihauses auch von Personen aus Fluchtländern wie Eritrea, Äthiopien und Afghanistan aufgesucht. Sie seien froh um Unterstützung und Hilfe im Alltag. Nun muss das Stadtparlament über die Vorlage entscheiden. Sie ist an der Stadtparlamentssitzung vom kommenden Dienstag traktandiert.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/s-ld.2508422)
+++GASSE
Leitartikel zur Schweizer Drogenpolitik: Der Kampf gegen Crack wird hart
Die Drogenszene gerät schweizweit ausser Kontrolle, weil der Markt mit Crack überschwemmt wird. Es gibt Lösungen, aber diese sind komplexer als Methadonprogramme gegen die Heroinsucht.
https://www.derbund.ch/leitartikel-zur-schweizer-drogenpolitik-der-kampf-gegen-crack-wird-hart-979997547460
Diebstahl-Fälle am Bahnhof Bern explodieren
Der Bahnhof Bern erlebt einen Kriminalitäts-Boom – ein Experte vermutet Banden und Drogensüchtige als Ursache. Aktuelle Zahlen sprechen für diese These.
https://www.nau.ch/news/schweiz/diebstahl-falle-am-bahnhof-bern-explodieren-66586553
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Bullen, Bonzen, Banken… Alle müssen wanken!
Am 18. September sind zwei Genossen am Bezirksgericht Zürich angeklagt. Ihnen wird vorgeworfen, am 1.Mai 2020 einen Farbanschlag auf die mittlerweile geschlossene Credit Suisse-Filiale bei der Seilbahn Rigiblick verübt haben.
https://barrikade.info/article/6098
+++KNAST
Häftlinge im Thorberg handeln mit Medikamenten
Medikamentenmissbrauch ist in der Berner Justizvollzuganstalt Thorberg ein grösseres Problem als heimlich gebrauter Alkohol. Insassen würden abgegebene Medikamente horten und damit Handel treiben, sagt Thorberg-Direktorin Regine Schneeberger in einem Interview.
https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/haeftlinge-im-thorberg-handeln-mit-medikamenten-153431912
-> https://www.nau.ch/ort/bern/haftlinge-im-thorberg-be-handeln-mit-medikamenten-66596185
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/tabletten-werden-auch-geraucht-thorberg-haeftlinge-handeln-mit-medikamenten-id18925370.html
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limmattalerzeitung.ch 09.09.2023
«Soll ich meinem Kind sagen, dass der Vater im Gefängnis ist?» Sie berät Angehörige von Inhaftierten
Im April haben die reformierte und katholische Landeskirche eine Anlaufstelle für Angehörige Inhaftierter lanciert. Im Gespräch erzählt Leiterin Ivana Mehr aus dem Alltag ihrer Arbeit.
Sven Hoti
Wenn Personen eine Straftat begehen, dann ist das auch für die Angehörigen eine schwierige Situation. Sie stehen mit ihren Sorgen und Nöten oftmals alleine da, ein Beratungsangebot hat es lange nicht gegeben – bis jetzt. Im April haben die reformierte und die katholische Landeskirche mit «Extramural» (von lateinisch für: ausserhalb der Mauern) nun eine eigene Anlaufstelle für die Angehörigen Inhaftierter geschaffen.
Die Idee dafür sei aus der Gefängnisseelsorge entstanden, erklärt Leiterin Ivana Mehr bei einem Gespräch am Sitz im Zürcher Niederdorf. Die Anlaufstelle arbeitet eng mit «Team 72», einer vergleichbaren Beratungsstelle, zusammen.
Woher kam der Anstoss für das Projekt?
Ivana Mehr: Die Kirchen kümmern sich im Rahmen der Gefängnisseelsorge schon seit langer Zeit um die Belange der Inhaftierten. In diesen Seelsorgegesprächen kommen die Inhaftierten immer wieder auf ihre Angehörigen zu sprechen, die draussen keine Stelle haben, an die sie sich mit ihren Fragen und Sorgen wenden können. So hat sich herauskristallisiert, dass es so etwas wie die Gefängnisseelsorge auch für die Angehörigen bräuchte.
Wieso ist das so wichtig?
Eine Haftstrafe erschüttert nicht nur die Betroffenen selbst, sondern ist auch ein Schicksalsschlag für ihre Angehörigen. Sie bringt zudem viele Angehörige in eine existenzielle Notlage. Sie brauchen eine Anlauf- und Beratungsstelle, die sich ausschliesslich und umfassend um alle unterschiedlichen Fragestellungen und Probleme kümmert, ihnen Unterstützung anbietet und sie nicht verurteilt. Diese Lücke möchten die Kirchen schliessen.
Könnten diese Aufgabe denn nicht auch andere Stellen, etwa psychiatrische Dienste, erfüllen?
Sicher, andere Stellen sind auch sehr wichtig. Angehörigenarbeit ist eine Verbundsaufgabe. Das Einzigartige an unserer Beratungsstelle und auch derjenigen von «Team 72» ist, dass wir uns als Stimme für die Angehörigen einsetzen.
Weshalb springen da die Kirchen in die Bresche und nicht etwa der Kanton?
Das kantonale Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung (Juwe) ist in erster Linie für den Straf- und Massnahmenvollzug verantwortlich. Der Kanton Zürich arbeitet daran, die Kontaktbedingungen für Angehörige zu verbessern, das hat auch Schub gegeben für die Schaffung von externen Anlaufstellen. In der Angehörigenarbeit braucht es den Justizvollzug, der den Kontakt ermöglicht, und es braucht die externen Anlaufstellen, die die Familien unterstützen – auch unabhängig von der inhaftierten Person. Das zeigen auch die Beispiele aus andern Ländern beziehungsweise aus der Romandie. Viele Angehörige haben Vorbehalte gegenüber den Behörden und würden dort auch keine Hilfe suchen. Deshalb braucht es eine unabhängige Stelle.
Aber der Auftrag dazu kam vom Kanton?
Wir sind seit längerem im Austausch mit dem Kanton betreffend die Schaffung einer Beratungsstelle für Angehörige. Der Auftrag kam jedoch nicht vom Kanton. Die Kirchen haben die Dringlichkeit gesehen und mit eigenen Mitteln – also Kirchengeldern – diese Stelle geschaffen.
In der Romandie gibt es solche Ansprechstellen bereits seit gut 20 Jahren. Hat der Kanton Zürich diese Entwicklung verschlafen?
Das Thema ist in der ganzen Deutschschweiz noch jung. Juwe hat seinen Fokus aber schon stark auf die Angehörigen gerichtet und erste Massnahmen umgesetzt, um die Kontakte zwischen Inhaftierten und Angehörigen zu erleichtern. So wurden zum Beispiel Besucherräume kinderfreundlich gestaltet oder Vater-Kind-Events durchgeführt.
Was sind Ihre Aufgaben?
Wir bieten Beratung und Begleitung für Angehörige an, geben Orientierung und gleisen Unterstützung auf. Dabei geht es etwa um die Fragen: Was bedeutet Untersuchungshaft? Wie sieht der Alltag meines Angehörigen hinter Gittern aus? Wie organisiere ich nun den Alltag? Wie zahle ich die Rechnungen? Soll ich meinem Kind sagen, dass der Vater im Gefängnis ist? Ferner betreiben wir Öffentlichkeits- und Sensibilisierungsarbeit, um auf die Situation von Angehörigen aufmerksam zu machen.
Und, soll ein Kind von der Inhaftierung seines Elternteils erfahren?
Wir gehen mit den Leuten eher ins Gespräch, anstatt sie von etwas zu überzeugen, und versuchen, die Vor- und Nachteile verschiedener Möglichkeiten herauszuarbeiten. Natürlich finden wir es sinnvoll, wenn Kinder die Wahrheit erfahren. Letztlich müssen die Eltern aber selbst entscheiden, was am besten zu ihrer Situation passt.
Was sind das für Leute, die Ihre Hilfe brauchen?
Da das Projekt noch jung ist, kann ich nicht sagen, ob die Fälle repräsentativ sind. Stand heute melden sich aber etwa zur Hälfte Partnerinnen und Mütter von Inhaftierten.
Mit welchen Anliegen kommen sie zu Ihnen?
Die Anliegen sind unterschiedlich. Eine Mutter machte sich beispielsweise Sorgen wegen der bevorstehenden Inhaftierung ihres Sohnes, verbunden mit wahrscheinlichem Jobverlust und Schulden wegen des Verfahrens. Eine Frau, die fast kein Deutsch sprach, bat um Unterstützung im Einholen der Besuchsbewilligung. Dazu kommen oft finanzielle Probleme, wenn etwa mit der Inhaftierung des Mannes auf einmal ein Einkommen wegfällt und die Miete oder laufende Rechnungen nicht bezahlt werden können.
In welcher Verfassung befinden sich die Leute, die Sie beraten?
Sie fühlen sich ohnmächtig und hilflos. Gerade die Zeit der Untersuchungshaft ist für alle Parteien schwierig, denn man weiss nicht, wie lange sie dauert und wie es weitergehen wird. In der Schweiz gibt es keine zeitliche Beschränkung der U-Haft. In der U-Haft sind die Besuche zudem streng reglementiert und finden hinter einer Glasscheibe statt. So kann keine Intimität entstehen.
Wie kommen diese Leute zu Ihnen?
Meistens finden sie uns im Internet. Der Erstkontakt ist aber meistens telefonisch. Über Mund-Propaganda klappt die Vermittlung hingegen nicht, denn die Betroffenen bewegen sich im Versteckten.
Das Pilotprojekt soll drei Jahre dauern. Was passiert danach?
Es besteht die Hoffnung, dass man eine grössere Variante mit anderen, bereits bestehenden Organisationen entwickeln kann. Kleinere Initiativen gibt es bereits. Wie es genau weitergehen soll, ist aber noch unklar.
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Zur Person
Ivana Mehr ist Leiterin von Extramural. Zuvor war sie sechs Jahre lang Migrationsbeauftragte der reformierten Kirche des Kantons Zürich. Die 40-Jährige hat unter anderem Vergleichende Religionswissenschaften an der Universität Freiburg studiert und danach im Migrations- und Fluchtbereich gearbeitet. (sho)
(https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/interview-interview-extramural-ld.2498774)
+++RASSISMUS
Seit seine Kandidatur bekannt ist, trifft er auf Exkremente
Alfred Ngoyi Wa Mwanza kandidiert für den Nationalrat. Seit bekannt ist, dass der gebürtige Kongolese ins Schweizer Parlament will, findet er vor seinem Auto stinkende Hinterlassenschaften.
https://www.20min.ch/story/nationalratskandidat-seit-seine-kandidatur-bekannt-ist-trifft-er-auf-exkremente-511591511945
+++RECHTSPOPULISMUS
Die Schweiz hat nicht zu viele Ausländer. Sondern zu wenige
Die SVP dominiert mit ihrer Zuwanderungs¬kritik seit Jahren die politische und mediale Debatte der Schweiz. Doch die Partei gibt falsche Antworten – auf die falschen Fragen.
https://www.republik.ch/2023/09/09/die-schweiz-hat-nicht-zu-viele-auslaender-sondern-zu-wenige
«Expedition in unbekanntes Gelände»: Roger Köppel geht auf Billig-Expansion nach Deutschland
Der «Weltwoche»-Chef will das deutsche Publikum mit einer E-Paper-Version des Wochenblatts erobern. Branchenkenner stehen den Expansionsplänen kritisch gegenüber.
https://www.derbund.ch/expedition-in-unbekanntes-gelaende-roger-koeppel-geht-auf-billig-expansion-nach-deutschland-335261500845
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Teilweise braucht es Polizeischutz: Wie Staatsfeinde gegen Schweizer Behörden kämpfen
Sie glauben, dass der Schweizer Staat nicht existiert und stattdessen eine Firma sei. In Andelfingen ZH machen sie nun dem Gemeindepräsidenten das Leben schwer. Teils verrichten Beamte ihre Arbeit unter Polizeischutz.
https://www.blick.ch/politik/teilweise-braucht-es-polizeischutz-wie-staatsfeinde-gegen-schweizer-behoerden-kaempfen-id18922664.html
+++SATANIC PANIIC
Jan Böhmermann nimmt sich «Satanic Panic» vor – und zerlegt die Verschwörungstheorie
Der Leibhaftige flimmert am Freitagabend über den Fernseher. Jan Böhmermann nimmt die Republik mit in die Welt der satanistischen Weltverschwörungserzählungen. «Rituelle Gewalt», nennt die Hauptperson der Sendung, eine deutsche Psychotherapeutin mit Sitz in Portugal, das Phänomen, von dem sie behauptet, es sei sexualisierte Gewalt riesigen Ausmasses. Böhmermann spricht von «Bullshit», und unterstreicht das Gefahrenpotential. Die Konfrontierte streitet abstrakt ab, lässt ihren Anwalt antworten und erhebt Gegenvorwürfe.
https://www.watson.ch/schweiz/deutschland/381917992-satanic-panic-jan-boehmermann-zerlegt-die-verschwoerungstheorie
+++HISTORY
bzbasel.ch 09.09.2023
Eine Politikerin fordert die öffentliche Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Basels
Grossrätin Barbara Heer (SP) und die Juso verlangen, dass der Kanton Basel-Stadt Mittel spricht und entsprechende Projekte lanciert.
Nora Bader
Basel-Stadt soll sich mit der eigenen Rolle in der Kolonialzeit auseinandersetzen. Das forderten die SP-Grossrätin Barbara Heer und die Juso Basel-Stadt unlängst in einem bis ins bürgerliche Lager unterstützten Vorstoss.
In Baselland hat der Landrat im Januar dieses Jahres einen Kredit für einen Forschungsbericht gesprochen, der die koloniale Vergangenheit im Baselbiet aufarbeiten soll. Zürich, Genf, Bern und Neuenburg haben ähnliche Projekte lanciert.
Basel als zentraler Dreh- und Angelpunkt
«Es ist höchste Zeit, dass auch der Kanton Basel-Stadt ein Projekt zur öffentlichen Aufarbeitung des Kolonialismus lanciert», sagt Grossrätin Heer. Basel sei schon immer ein zentraler Dreh- und Angelpunkt für Wirtschaft, Handel, Kultur, Religion und Wissenschaften im nationalen und internationalen Kontext gewesen.
Anzugstellerin Barbara Heer arbeitet selbst bei Mission 21, einem evangelischen, internationalen Missionswerk mit Sitz in Basel. Mission 21 steht bei der Aufarbeitung von Basels Kolonialgeschichte selbst in der Verantwortung.
Heer hat lange im afrikanischen Kontext geforscht
Beim Bewerbungsgespräch vor zwei Jahren habe sie ihre Arbeitgeberin darauf angesprochen, dass sie an einem entsprechenden Vorstoss zur Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Basels arbeite, sagt Heer, darauf angesprochen. Dass sie den Vorstoss erst jetzt einreichte, lag daran, dass die Vorarbeit und Recherche Zeit brauchten.
Vorher hatte Heer lange im afrikanischen Kontext geforscht. «Die Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Kolonialismus ist in vielen Ländern Afrikas allgegenwärtig», sagt sie. «Was macht es mit uns als Gesellschaft, wenn wir uns diesen Fragen nicht stellen?» Auch der Kanton habe eine wichtige Rolle und müsse seine Vergangenheit aufarbeiten.
Der Anzug wurde im Austausch mit diversen Wissenschaftlerinnen ausgearbeitet; unter anderem dabei waren Studentin Freija Geniale (Juso), Historikerinnen Tanja Hammel und Barbara Lüthi, Geografin Claske Dijkema und Psychologin Lalitha Chamakalayil.
(https://www.bzbasel.ch/kultur/basel/grosser-rat-eine-politikerin-fordert-die-oeffentliche-aufarbeitung-der-kolonialgeschichte-basels-ld.2511587)
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bzbasel.ch 09.09.2023
Dialog ist Programm: Studierende untersuchen in einer Ausstellung die kolonialen Vergangenheiten Basler Institutionen
Studierende der Uni Basel haben sich kritisch mit den afrikanischen Sammlungen von Basler Institutionen auseinandergesetzt. Entstanden ist vielmehr ein Dialog als eine objektzentrierte Ausstellung.
Elodie Kolb
Dialog ist das Stichwort der von der Provenienzforschung geprägten Stunde. Und zwar auf Augenhöhe. Die Diskussion um koloniale Sammlungen und die Provenienzen von Sammlungsobjekten ist in Basel längst angekommen. Eine Ausstellung in der Unibibliothek setzt sich jetzt mit den afrikanischen Sammlungen von fünf Basler Institutionen auseinander. «Als Schweizer Gesellschaft müssen wir lernen, es uns bequem zu machen in unbequemen Situationen», sagt Elisa da Costa, eine Beteiligte des Projekts. «Deal with it» – der Ausstellungstitel ist Programm.
Sie wollten «das Machtgefüge der Museen dekonstruieren», sagt da Costa. Institutionen hätten häufig die Kontrolle über das Narrativ. Die Ausstellung hingegen stellt die Perspektive von fünf Studierenden der Uni Basel ins Zentrum und lässt diese in einen Dialog mit den Institutionen treten.
Alle sollen Kommentare hinterlassen können
Die Studierenden verorten die Institutionen historisch und im zeitgenössischen Kontext und konfrontierten diese damit. Das klingt dann auch mal sehr direkt: «ein kritischer Umgang mit der eigenen Geschichte fehlt», schreibt eine Studentin über eine 2018 erschienene Publikation des Museum der Kulturen Basel, das habe sich erst in den letzten Jahren zu ändern begonnen.
Das Museum der Kulturen widerspricht. Mit in kleinster Schrift gedruckten Texten auf blauen Post-it-Zetteln konnten auch die Universität Basel, die Mission 21, die Basler Afrika Bibliographien und das Schweizer Tropen- und Public Health-Institut zu den Aussagen Stellung beziehen. Die Basler Afrika Bibliographien zeigen sich etwa an den Fragen der Studentin erfreut («Wer entscheidet, was gezeigt werden darf?»).
Es soll ein unabgeschlossener Dialog sein. Der Aufruf «deal with it» richtet sich an «alle Basler», sagt Ko-Projektleiterin Alice Spinnler: Auf gelben Post-it-Zetteln kann man Kommentare hinterlassen. Veranstaltungen erweitern die akademisch-institutionell geprägte Perspektive der Ausstellung. Dialog ist Programm, aber einer, «der nicht auf einen gemeinsamen Nenner abzielt, sondern auf die Diskussion und diese direkt ausstellt», erläutert Kurator Benedikt Wyss.
Ein Metakatalog der (Basler) Sammlungen
Entstanden ist die Ausstellung im Entstehungsprozess eines Metakatalogs: In der neuen Datenbank Parc (Portal for African Research Collections) sind Medienerzeugnisse, Archivalien und ethnografische Objekte der fünf Institutionen verzeichnet. Dies soll nur der Anfang sein: Künftig möchte man auch andere Institutionen zur Beteiligung animieren – vor allem afrikanische.
Alice Spinnler und Reto Ulrich haben PARC initiiert. Als das Thema in der breiten Gesellschaft ankam und «und weil die Institutionen eigentlich eine koloniale Vergangenheit haben», sei die Idee für die Ausstellung entstanden, sagt Spinnler. Der Vergleich von historischer und zeitgenössischer Perspektive verdeutlicht den Mentalitätswandel der zum Thema Sammeln von afrikanischem Kulturgut vonstatten gegangen ist. Einzelne Objekte repräsentieren die Sammlungen.
Darunter eine Bierflasche mit Körperöl aus dem Museum der Kulturen, die gemäss Spinnler die damalige Sammelwut repräsentiere. Aber auch Bücher, Videos, Lieder mit kurzen Beschreibungstexten – und mitunter einem Ausrufezeichen auf orangenem Hintergrund: Triggerwarnungen zu Inhalten die verletzend sein können, eine alte Fasnachtslaterne ist nur abgedeckt ausgestellt. Das Signal ist klar: Am Gesprächstisch sind alle willkommen.
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/sammlungen-dialog-ist-programm-studierende-untersuchen-in-einer-ausstellung-die-kolonialen-vergangenheiten-basler-institutionen-ld.2504387)
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bzbasel.ch 09.09.2023
Historiker über die koloniale Vergangenheit Basels: «Wir stehen mit der Aufarbeitung erst am Anfang»
Im Interview spricht der Basler Historiker Patrick Kury über das koloniale Basel und dessen Bestandteil in der neuen Stadtgeschichte.
Nora Bader
Ein politischer Vorstoss im Grossen Rat fordert die öffentliche Aufarbeitung der Kolonialgeschichte Basels. Ist das nötig, da nächstes Jahr die neue Stadtgeschichte, von der Sie Projektleiter sind, erscheint?
Patrick Kury: Wir vom Projekt Stadt.Geschichte.Basel begrüssen diesen Vorstoss sehr. Alles, was die Verflechtung Basels mit der Welt und den Menschen anderenorts einer breiten Bevölkerung stärker bewusst macht, ist wichtig. Wir sollten vom nationalen «Containerblick» wegkommen: aus gesellschaftspolitischen und wissenschaftlichen Gründen.
Das heisst?
Wissenschaftlich stehen wir bei der Aufarbeitung der kolonialen Verflechtungen erst am Anfang. Daran ändert die neue Stadtgeschichte wenig. Wir haben zwar ein bescheidenes Wissen in verschiedenen Bereichen: Unternehmensgeschichte, Plantagenbesitz, militärische Beteiligung in Form von Söldnerdiensten, Verstrickung in den Sklavenhandel, Missionstätigkeiten und die Rolle des Staates, um einige zu nennen, doch das gibt bei weitem noch kein umfassendes Bild ab. Deshalb ist es wichtig, dass man sich auf der Grundlage einer Auslegeordnung überlegt, welche Akzente man setzen möchte und wie sich hier auch die öffentliche Hand beteiligen könnte.
Und gesellschaftspolitisch?
Gesellschaftspolitisch geht es darum, dass wir uns bemühen, den eurozentristischen Blick zumindest in Teilen zu überwinden. Wir müssen lernen, die Welt auch aus anderen Perspektiven zu deuten und erkennen, dass der Weg, den der Westen gegangen ist, nicht der einzig gangbare Weg ist. Es gab im Verlauf der Geschichte Alternativen, die jedoch überdeckt wurden. Und wir müssen erkennen, dass ein Teil unseres Wohlstands heute auf Ungerechtigkeiten aus früheren Zeiten basiert. Wir haben davon profitiert und profitieren noch immer von diesem ungleichmässigen Verhältnis, das im Zeitalter des Kolonialismus markant verstärkt wurde. Wir sollten begreifen, dass unser Denken und Handeln über lange Zeit von Rassismus, Antisemitismus und der Hegemonie des Christentums bestimmt gewesen ist. Dies hat Einfluss auf den Umgang mit anderen Kulturen und Menschen.
Wie könnte das Projekt zur Aufarbeitung konkret aussehen?
Es ist noch zu früh zu sagen, wir benötigen dieses oder jenes Paket. Es braucht jetzt einen längeren Prozess, in dem man sich genau überlegt, welche Mittel man wo und wie einsetzt. In der Bildung, in der Vermittlung, in der Forschung. Das ist eine gesellschaftspolitische und eine wissenschaftspolitische Frage.
Inwiefern ist das koloniale Basel in der neuen Stadtgeschichte ein Thema?
Selbstverständlich ist das koloniale Basel Thema. Wir haben die Frage der Darstellung immer wieder diskutiert und uns gegen eine gesonderte Behandlung der kolonialgeschichtlichen Aspekte ausgesprochen. Es ist uns wichtig zu zeigen, dass Kolonialismus und Postkolonialismus integrale Bestandteile der Geschichte Basels sind. Wir bringen ab dem kommenden Jahr acht chronologische und einen thematischen Band (Stadtraum) zur Geschichte Basels heraus. Dabei greifen wir in den entsprechenden Bänden unterschiedliche Aspekte auf: die wirtschaftliche Verflechtung, die militärische Beteiligung am Kolonialismus, die Verstrickungen in den Sklavenhandel, die Missionstätigkeit bis hin zur Gründung des Tropeninstituts.
Gibt es neue Erkenntnisse?
Die Artikel basieren weitgehend auf bestehender Literatur und Forschung. Darüber hinaus haben wir verschiedentlich tiefere Bohrungen angestellt, etwa bei den wirtschaftlichen Verflechtungen mit und im osmanischen Reich. Wir haben von Parlament und Regierung das Mandat, die Geschichte Basel aus der Perspektive des frühen 21. Jahrhunderts vom Anfang der Besiedlung bis in die Gegenwart darzustellen. Für eine breite Grundlagenforschung der Kolonialgeschichte fehlen uns die Ressourcen. Dies trifft aber auch auf andere Themen zu, wie etwa den Umgang mit administrativ versorgten Menschen. Hierzu gab es vor einiger Zeit einen Vorstoss im Grossen Rat und auch dieses Thema sollte und wird systematischer erforscht werden.
Welche Aufarbeitungen gibt es in Basel bisher?
Es gibt Forschung im Rahmen der bestehenden Institutionen, unabhängige Forschungen und die Impulse durch die Zivilgesellschaft. In Basel verfügen wir über die African Studies an der Uni. Dabei handelt es sich um das erste Institut dieser Art in der deutschsprachigen Schweiz. Es nimmt sich seit über zwei Jahrzehnten Fragen der Verflechtungen mit Afrika an. Ebenso die Basler Afrikabibliothek. Wir haben daneben ein sehr gutes Missionsarchiv, das der Mission 21. Es hat neben Afrika auch Teile Asiens und Amerikas im Blick. Dieses Archiv hat neue Leitbilder zur Missionsgeschichte erarbeitet. Im Umfeld dieser Institutionen sind bedeutende Arbeiten entstanden. Von Bedeutung sind auch die Anstrengungen der Museen in Sachen Provenienzforschung. Dies deshalb, weil verschiedene Sammlungen im Zeitalter des Kolonialismus gegründet worden sind. Bei der freien Forschung möchte ich auf Arbeiten von Robert Labhardt, Peter Hänger, Niklaus Stettler verweisen.
Sie haben die Handelsunternehmen von Christoph Burckhardt und Söhnen aus dem 18. Jahrhundert untersucht.
Ja, richtig und auf Verstrickungen in den Sklavenhandel. Sehr lesenswert ist auch die Arbeit von Bernard Schär über die Vetter Sarasins, die ihre Expeditionen aus eigenem Vermögen finanzierten, aber im Schatten des Kolonialsystems tätig waren. Dadurch haben sie die weitere Expansion der Niederlande in Fernostasien begünstigt. Durch ihre Sammlertätigkeiten haben sie zugleich das Bild von fernen Kontinenten, von «Wildnis und Exotik», nach Basel gebracht. Es gibt auch ältere Untersuchungen zu den «Völkerschauen» im zoologischen Garten, die noch stärker unter einem rassistischen denn einem kolonialen Aspekt analysiert wurden. Das sind nur wenige Beispiele. Unlängst erschien der verdienstvolle Forschungsbericht zur kolonialen Schweiz von Georg Kreis. Auf populärwissenschaftliche Ebene gab es diesen Frühling die viel beachtete Reihe «schwarz-weiss» von Radio X. Eine kleinere Ausstellung zeigte Erkenntnisse von Bernhard C. Schär im Stadttheater. Zurzeit ist der «Frauenstadtrundgang» dabei eine thematische Führung zur Kolonialgeschichte zu erarbeiten. Es ist einiges in Bewegung, doch es muss noch deutlich mehr getan werden.
Dann gibt es noch immer viel aufzuarbeiten?
Ja, sicher. Es ist eine Illusion, zu glauben, wir haben die Geschichte Basels final erforscht, inklusive den kolonialen Aspekten, und nun ist die Sache erledigt. So funktioniert Wissenschaft nicht. Mit jeder neuen Forschungsarbeit, die in Angriff genommen wird, kommen weitere Fragen hinzu. Und eine nächste Generation hat wieder neue, andere Fragen.
Andere Kantone, etwa Zürich, haben bisher mehr in die Aufarbeitung investiert.
Man kann das auch anders lesen. In Zürich war der Handlungsdruck, jetzt etwas machen zu müssen, einfach deutlich höher. Dies insbesondere vor dem Hintergrund der Debatten um Erinnerungskultur. Angefangen vom angemessenen Umgang mit Alfred Escher bis hin zu dem von der Stadt und dem Kanton produzierten Desaster über die Aufnahme der Sammlung Bührle ins Kunstmuseum. In Basel hingegen sind schon früher vereinzelte Arbeiten entstanden.
Was muss in Basel nun konkret geschehen?
Man sollte den parlamentarischen Vorschlag umsetzen und möglichst bald mit konkreten Inhalten und Vorschlägen füllen. Ein breit angelegtes Forschungsprojekt zur Kolonialgeschichte zu entwickeln, benötigt möglicherweise mehr Zeit, als Lehrmittel auf der Grundlage der aktuellen Forschung zu erarbeiten. Auch eine grössere Ausstellung zum Thema braucht einen gewissen Vorlauf. Ebenso wichtig ist aber, dass das Bewusstsein gestärkt wird, dass unsere Bilder der Welt von kolonialem Denken geprägt sind: von rassistischen Vorstellungen, von einer vermeintlichen Überlegenheit der christlichen abendländischen Kultur oder der «einzigen selig machenden Religion» des Christentums. Dies hat uns über Generationen hinweg geprägt.
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Patrick Kury
Er hat in Basel und Wien studiert. Kury ist Historiker und Professor für neuere, allgemeine und Schweizer Geschichte an der Uni Luzern. Seit 2017 ist er zugleich Projektleiter von «Stadt.Geschichte.Basel.»
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/interview-historiker-ueber-die-koloniale-vergangenheit-basels-wir-stehen-mit-der-aufarbeitung-erst-am-anfang-ld.2511493)