Medienspiegel 28. August 2023

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+++BERN
„Die miserablen Bedingungen in den Berner «Asylunterkünften» führte in Steffisburg zu einem Selbstmordversuch. Özgür befeindet sich in kritischem Zustand im Spital! Die aus politischen Motiven absichtlich verursachten Missstände in den Asylzentren sind ein Skandal!“
Mehr: https://twitter.com/SolinetzBE/status/1696092993780858901



derbund.ch 28.08.2023

Kanton verfehlt Integrationsziele: Flüchtlinge lernen zu langsam Deutsch

Nur die Hälfte aller Geflüchteten können nach drei Jahren rudimentär Deutsch. Nun fordern auch Bürgerliche mehr Mittel für die Sprachförderung.

Andres Marti

Ist die Integration von Geflüchteten im Kanton Bern auf Kurs? Rund drei Jahre nach der grossen Asylreform fällt eine erste Zwischenbilanz durchzogen aus: Ausgerechnet beim Spracherwerb verfehlt der Kanton das vorgegebene Ziel deutlich.

Nach drei Jahren Aufenthalt können demnach nur 50 Prozent der über 16-Jährigen rudimentär Deutsch oder Französisch. Das durch die Integrationsagenda vorgegebene Sprachziel von 100 Prozent wird also nur zur Hälfte erreicht. So steht es in einem Bericht der zuständigen Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion zur Kostenstrategie im Asyl- und Flüchtlingsbereich.

Laut dem Bericht entspricht diese Quote «nicht den Vorstellungen und Zielsetzungen» des Kantons. Die mangelhaften Sprachkenntnisse sind auch im Hinblick auf die steigenden Flüchtlingszahlen und vollen Unterkünfte ernüchternd. Was läuft da schief?

Integration im Lockdown

Schuld sind laut Behörden und Asylorganisationen vor allem Corona und der Ukraine-Krieg:

– Durch die Pandemie habe sich der Arbeitsmarkt stark verändert, Sprach- und Integrationskurse hätten zeitweise nur eingeschränkt durchgeführt werden können.

– Nach dem Überfall auf die Ukraine musste der Kanton bis zu 9300 Ukraine-Flüchtlinge unterbringen und versorgen. Das Nachsehen hatten dabei die «regulären» Geflüchteten aus anderen Kriegs- und Krisengebieten, die weniger eng betreut werden konnten. Zudem wurden dem Kanton viele Flüchtlinge überwiesen, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen war.

«Statistische Messprobleme»

Neben dem Spracherwerb verfehlt der Kanton Bern derzeit auch die Zielvorgaben punkto Ausbildungen und Jobs. Hier seien allerdings «statistische Messprobleme» ausschlaggebend: So seien viele Geflüchtete beispielsweise noch im alten System gefördert worden. Erschwert wurde die statistische Erfassung durch die verspätete Einführung der neuen Fallführungs-Software.

Für Claudia Hänzi, Leiterin des Sozialamts, ist die aktuelle Auswertung unter anderem auch deshalb «nicht aussagekräftig». Man habe aber unabhängig von der statistischen Auswertung den Eindruck, dass die geflohenen Personen «grundsätzlich sehr engagiert sind, die hiesige Sprache zu erlernen und dabei gute Fortschritte erzielen».

Gleichwohl räumt Hänzi ein, dass beim Spracherwerb der Zielwert von 100 Prozent «nicht erreichbar» sei. Zwar sei das Niveau A1, das innerhalb von 3 Jahren erreicht werden soll, «sehr tief» angesetzt. Doch befänden sich unter den Geflüchteten auch Alte, Kranke oder solche, die noch nie eine Schule besucht hätten. «Hier bestehen erfahrungsgemäss geringe Chancen, das definierte tiefe Sprachziel zu erreichen.»

Trauma erschwert Lernen

Der kurdischstämmige Politiker Hasim Sancar (Grüne) flüchtete einst selbst in die Schweiz. Sancar arbeitete während 15 Jahren im SRK-Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer. Er sagt: «Bei vielen Geflüchteten erschweren die traumatischen Erfahrungen das Deutschlernen.» Es brauche deshalb mehr Geld für psychosoziale Betreuung. «Mit dem heute vorgesehenen Personal in den Zentren ist eine enge und qualitativ angemessene Betreuung nicht möglich.»

Bei der zuständigen Integrationsdirektion von Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) hält man hingegen eine «grundsätzliche Strategieänderung» für «nicht angezeigt», so Sprecher Gundekar Giebel. Alle Beteiligten arbeiteten aber ständig an Verbesserungsmöglichkeiten.

Vor allem die Asylorganisationen haben daran auch ein finanzielles Interesse: Erreichen sie die verbindlichen Integrationsziele nicht, bekommen sie nur einen Teil der Integrationspauschale ausbezahlt. Das Stadtberner Sozialamt, das in der Stadt und den umliegenden Gemeinden für die Betreuung der Geflüchteten zuständig ist, hat deswegen eine umstrittene Defizitgarantie eingeholt.

Sprachkurs-Lücke schliessen

Dennoch fordern im Kantonsparlament inzwischen selbst Bürgerliche mehr Mittel für die Sprachförderung. Konkret sollen Asylsuchende im Kanton Bern künftig nun noch vor dem Asylentscheid professionelle Sprachförderung erhalten. Eine Mehrheit der zuständigen Kommission verlangt, den Asylorganisationen dafür die Mittel zur Verfügung zu stellen.

Mit Blick auf die steigenden Asylzahlen, «in der Schweiz ebenso wie in Westeuropa», sei das Thema auch bei uns «hochaktuell», sagt FDP-Grossrat Christoph Zimmerli. Gerade deswegen plädiere er für pragmatische Lösungen: Die schwierige Situation gelte es zur Kenntnis zu nehmen, «ohne zu polemisieren».



Um Flüchtlinge und die sogenannten vorläufig Aufgenommenen rascher zu integrieren, haben sich Bund und Kantone 2019 auf eine gemeinsame Integrationsagenda geeinigt. Sie definiert folgende verbindlichen Wirkungsziele:

– 100 Prozent der Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen, die älter als 16 Jahre sind, erreichen innerhalb von drei Jahren nach Einreise nachweislich das Sprachniveau A1.

– 50 Prozent der Geflüchteten, die älter als 16 Jahre sind, treten innerhalb von sieben Jahren eine Ausbildung oder einen Erwerb an.

– 25 Prozent werden spätestens nach sieben Jahren finanziell selbstständig.

Im Kanton Bern sind fünf regionale Asylorganisationen für die Betreuung und Integration von rund 3600 Geflüchteten zuständig: Asylsozialdienst der Stadt Bern, das Schweizerische Rote Kreuz Kanton Bern, die ORS AG und der Verein Asyl Berner Oberland. (ama)
(https://www.derbund.ch/kanton-verfehlt-integrationsziele-fluechtlinge-lernen-zu-langsam-deutsch-488120327641)


+++ZÜRICH
Neue Unterkünfte in Horgen: Flüchtlinge kommen in Häuser mit Sicht auf Zürichsee
Die Gemeinde Horgen mietet zwei Liegenschaften am idyllischen Seeufer – um darin Asylsuchende unterzubringen. Die Kosten für Umbauarbeiten belaufen sich insgesamt auf rund 230’000 Franken. Weiter sind Holzbauelemente als Unterbringungsmöglichkeit angedacht.
https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/neue-unterkuenfte-in-horgen-fluechtlinge-kommen-in-haeuser-mit-sicht-auf-zuerichsee-id18885442.html


++++SCHWEIZ
Unterbringungsplätze: Bund rechnet mit Engpässen im Herbst
Das Staatssekretariat für Migration (SEM) geht davon aus, dass es im Herbst zu Engpässen bei der Unterbringung von Geflüchteten kommen wird. Das SEM rechnet für dieses Jahr mit rund 28’000 Asylgesuchen, mit einer tieferen Wahrscheinlichkeit seien auch 35’000 Gesuche möglich, teilte das SEM mit. Hinzu kommen rund 20’000 Gesuche von Geflüchteten aus der Ukraine mit Schutzstatus S. Für die Erstaufnahme für Personen aus der Ukraine ist ebenfalls der Bund zuständig.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/unterbringungsplaetze-bund-rechnet-mit-engpaessen



luzernerzeitung.ch 28.08.2023

Spione aus Eritrea versuchen Geld von Flüchtlingen zu erpressen – Betroffene haben Angst vor den Behörden

Als Flüchtlinge getarnt, gelangen Spione aus Eritrea in die Schweiz. Ihr Ziel: Die Menschen, die sich hier in Sicherheit glauben, zu bespitzeln, zu bedrohen und Steuern für den Diktator in der Heimat einzutreiben. Die Schweizer Behörden wissen von den Gefahren, handeln aber nicht.

Raphael Rohner

Sie blickt immer wieder nervös um sich. Ihr Telefon ist im Flugmodus und dennoch schaut die 32-jährige Kidane* regelmässig drauf, entsperrt das Display und legt das Gerät, auf dem kurz ein Bild von ihr und ihrer Tochter erscheint, wieder auf den Tisch.

Die Frau sitzt in einem Café am Bahnhof St.Gallen und ist nervös. Kidane ist vor einigen Jahren aus ihrer Heimat Eritrea geflüchtet und lebt nun im Oberthurgau. Sie sagt, sie komme aus der Region Mendefera, nur einige Kilometer von der heutigen Grenze zu Äthiopien. Dort musste Kidane fliehen, weil sie eine Tygrina ist und somit einer ethnisch verfolgten Volksgruppe angehört.

Als junge Frau hätte Kidane nach dem zwölften Schuljahr auch in die Armee eintreten müssen. Allein die dort herrschenden Bedingungen seien Grund genug gewesen, das Land zu verlassen: «Frauen werden von den Kommandanten und Offizieren missbraucht und benutzt. Wer nicht tut, was man verlangt, wird eingesperrt, gefoltert oder auf dem Markt verkauft. Man hat keine Rechte.»

Die Aussagen Kidanes decken sich mit den Informationen aus dem offiziellen Bericht des europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO). Demnach würden sich Kommandanten die bestaussehenden Frauen aussuchen. Sexuelle Ausbeutung und Übergriffe seien nichts Aussergewöhnliches. Davon seien auch Kinder betroffen.

Bei den Frauen geht es, so ist dem Bericht zu entnehmen, sogar so weit, dass einige von ihnen sexuelle Dienste von sich aus anbieten, um sich vor gewissen unschönen Aufgaben zu schützen. Für Kidane war der Militärdienst keine Option: «Ich musste mein Land einfach verlassen.»
Geflüchtete Menschen berichten von Spionage und Erpressungen.
Geflüchtete Menschen berichten von Spionage und Erpressungen.
Bild: Raphael Rohner

Spione schicken Geflüchteten Erpressungsbilder

Kidane floh schliesslich über den Sudan und bekam vor einigen Jahren eine Tochter. Die beiden wähnten sich in Sicherheit im Oberthurgau: «Ich konnte mich hier frei bewegen, Arbeit suchen und meine Tochter ging in die Schule. Dann hat mich meine Vergangnenheit jedoch wieder eingeholt.» Kidane hat Tränen in den Augen, ihre Stimme bricht. Seit einigen Wochen bekomme sie immer wieder Anrufe von unterdrückten Telefonnummern, meist mit Männerstimmen am anderen Ende, die ihr in ihrer Muttersprache sagen: «Wir wissen, wo du bist.»

Erst denkt Kidane, es handelt sich um einen schlechten Scherz, doch dann schickt ihr jemand ein Foto von ihrer Tochter auf dem Schulweg. Der Unbekannte schreibt ihr mit einer Prepaid-Telefonnummer: «Wir wissen alles. Du hast Schulden in deinem Land!» Kidane ist schockiert, bleibt mit ihrer Tochter einige Tage bei Bekannten und geht nicht aus dem Haus. «Menschen aus meiner Heimat wollen, dass ich meine Flucht bereue und dafür bezahle, dass ich Eritrea den Rücken gekehrt habe.»

Kidane vertraut niemandem mehr. Sie erzählt ihre Geschichte einigen wenigen Freunden, die sie in der Schweiz hat: «Sie sagten mir, dass auch sie schon Kontakte mit der Eritreischen Regierung hatten und sogar schon von gewissen „Vertretern“ besucht wurden. Einige berichteten mir, dass sie immer das Gefühl hätten, jemand sei hinter ihnen her.» In der Heimat seien Steuern fällig, habe es geheissen. Kidane traut sich nicht, die Behörden einzuschalten – zu gross ist ihre Angst, dadurch erst recht in Schwierigkeiten zu geraten. Zur Polizei gehen will sie auch nicht: «Die Dolmetscher könnten mich verraten. Das gibt es noch grössere Probleme.»

Nach der Arbeit wartete der «vergessene Onkel» aus der Heimat

Kidane ist mit ihrer Situation nicht allein: im Gegenteil. Luam*, ein junger Eritreer, der in St.Gallen derzeit eine Berufslehre macht, hatte auch schon ähnliche Begegnungen. Er selber ist 2015 aus Eritrea geflohen und fand in der Schweiz eine neue Heimat. Auch ihn haben schon einmal Landsleute abgepasst nach der Arbeit; sie wollten mit Luam in einem Lokal etwas trinken gehen und über Politik reden. «Der Mann sagte erst, er sei ein entfernter Onkel, und wollte wissen, ob ich ihn denn nicht mehr kenne. Irgendwann sprach er davon, dass ich doch kein Verräter sei und immerhin mein Land finanziell unterstützen müsse. Er sagte auch, dass er meinen Vater kannte aus seiner Jugend, was ich nicht glauben konnte.»

Luam blieb skeptisch und wollte los, doch der Mann war hartnäckig und sprach auf den Lehrling ein. «Ich wollte eigentlich zum Fussballtraining und bekam irgendwann ein komisches Gefühl. Erst als mein Mitspieler – ein Schweizer – mit dem Auto vorgefahren ist, um mich abzuholen, liess mich der Unbekannte gehen. Es war unheimlich!» Danach habe er den Mann nie mehr gesehen. Dennoch ist Luam vorsichtiger geworden: «Ich gehe nur noch mit Arbeitskollegen aus der Firma.»

Auch Luam hat schon mehrfach Anrufe oder Nachrichten bekommen, in denen er als Landesverräter bezeichnet wurde, sollte er sich nicht bei der Botschaft melden und eine Reue-Erklärung unterzeichnen und Steuern bezahlen. «Das werde ich garantiert nicht machen», sagt der Lehrling. Er habe mit dem Land abgeschlossen und würde – wenn er könnte – nicht nur seine Herkunft ändern, sondern auch seine Hautfarbe.

Schweiz finanziert Terrorregime über Steuern

Für Kidane und Luam ist klar: Hinter den Aktionen steckt die Regierung Eritreas, die seit 1993 von Isayas Afewerki eisern geführt wird. Wer aus Eritrea geflohen ist, muss gemäss dem Regime zwei Prozent seiner Einnahmen als Steuern direkt an den Staat abtreten. Gemäss EASO-Bericht und Recherchen diverser Hilfsorganisationen kontrolliert Eritrea bei einer allfälligen Rückkehr, ob die Person ihre «Steuern» bezahlt hat. «Wer die Steuern nicht bezahlt, landet direkt im Gefängnis. Diese Angst macht sich das Regime zum Vorteil und zwingt die Menschen faktisch dazu, Geld aus der Schweiz direkt ins Terrorregime Afewerkis fliessen zu lassen – die Schweiz merkt das nicht einmal», sagt Luam.

Dass Mitglieder der Regierung in der Schweiz Gelder eintreiben, ist nachgewiesen: Eine entsprechende Strafanzeige durch die Bundeskriminalpolizei führte 2015 jedoch nicht zu einer Strafuntersuchung. Laut der Strafanzeige wurden von eritreischen Staatsbürgern in der Schweiz Steuern eingezogen oder verlangt. Als möglichen Tatbestand hatte die Justizbehörde eine verbotene Handlung für einen fremden Staat geltend gemacht, was jedoch von der Bundesanwaltschaft wegen mangelnder Beweise und fehlender Zeugenaussagen abgelehnt wurde.

Dies sei nicht verwunderlich, sagt der Mediensprecher des eritreischen Medienbunds, Okbaab Tesfamariam: «Die Menschen misstrauen den Behörden. Sie kennen es aus ihrer Heimat nicht anders.»

Dass eritreische Regierungsleute bis in den Oberthurgau kommen, um eine Mutter und ihr Kind zu erpressen oder gar einen St.Galler Lehrling zu bedrohen, ist keine Seltenheit, sagt Tesfamariam. «Es werden jeden Tag Flüchtlinge ausspioniert und erpresst! Das sind nur zwei Fälle von einer Vielzahl, von denen ich weiss.» Die Spione seien grösstenteils rekrutierte Flüchtlinge, die schon vor ihrer Reise eine Absicht hatten: auf die Diaspora aufzupassen. Mehrere Quellen belegen aufgrund eigener Erfahrungen und Beweise, dass Eritrea grossen Einfluss auf die eritreische Diaspora in der Schweiz hat. So wurden unter anderem in der Vergangenheit diverse Festivals durchgeführt, die dazu dienten, Gelder einzutreiben für den Staat.

Dass der eritreische Staat in der Schweiz Steuern eintreibe und dafür sogar Menschen ausspioniert und erpresst, macht Tesfamariam – der seit einigen Jahren die Schweizer Staatsbürgerschaft hat – wütend: «Unsere Steuergelder gehen direkt nach Eritrea, und niemand hindert die Menschen daran!»

Tesfamariam versucht darum, gemeinsam mit anderen geflüchteten Menschen seine Landsleute zu informieren und aufzuklären: «Die Menschen werden nicht richtig informiert, was ihre Rechte in der Schweiz sind. Wir versuchen auch immer wieder Menschen zu animieren, sich bei der Polizei zu melden.» Doch seien die meisten geflüchteten Menschen traumatisiert, was den Umgang mit den Behörden angehe: «Sobald sie eine Uniform sehen, bekommen sie Angst. Zudem vertrauen viele Menschen den Dolmetschern nicht, was die Sache erschwert.»

Auch andere amtliche Handlungen seien nicht ungefährlich für Geflüchtete. Wer beispielsweise heiraten möchte, werde genötigt, seine Identität bei der eritreischen Botschaft bestätigen zu lassen. Dort werde dann wieder kontrolliert, ob man die zwei Prozent Steuern immer bezahlt habe. Ebenso gebe die Schweiz persönliche Informationen von Flüchtlingen an die eritreische Botschaft weiter, wenn das Asylgesuch abgelehnt wurde. Tesfamariam ist noch wütender: «Damit werden die Menschen direkt zu potenziellen Zielscheiben des Regimes! Die liefern der Botschaft sogar die Adresse der Menschen.»

Das fehlende Verständnis für die Einflüsse aus der ehemaligen Heimat sei in der Schweiz grösstenteils ein politisches Problem. «Viele Menschen denken, der Krieg sei vorbei und die Eritreer könnten einfach zurückreisen in ihre Heimat. Wer würde so etwas tun? Nur wer für den Staat arbeitet, würde sich getrauen, dahin zurück zu reisen, wo Angst und Schrecken herrschen.»

* Die Namen aller Protagonisten wurden geändert.
(https://www.luzernerzeitung.ch/schweiz/fluechtlingspolitik-spione-aus-eritrea-versuchen-geld-von-fluechtlingen-zu-erpressen-betroffene-haben-angst-vor-den-behoerden-ld.2503983)


+++MITTELMEER
Fluchtroute Mittelmeer: Fünf Menschen bei Bootsunglücken gestorben
Zwei Boote mit Migranten sind im Mittelmeer vor der türkischen Küste in Seenot geraten. Dabei starben fünf Menschen, darunter ein elfmonatiges Baby. Die griechische Küstenwache brachte die Geretteten an Land.
https://www.spiegel.de/ausland/fluechtlinge-im-mittelmeer-fuenf-menschen-darunter-ein-baby-sterben-nach-bootsungluecken-a-fa3728b3-2e84-4577-b6bf-16b093cf9e74


(FB Seebrücke – Schafft sichere Häfen)
Mit 55 weiteren Organisationen haben wir heute angesichts der Festsetzung der zivilen Rettungsschiffe Aurora, Open Arms und Sea-Eye 4 ein Statement veröffentlicht. Wir fordern: Free The Ships!
Insgesamt wurden durch Italien bereits gegen 6 Rettungsschiffe Geldstrafen von bis zu 10.000 € und 20-tägige Festsetzungen verhängt. Letztlich droht sogar die endgültige Beschlagnahmung der Schiffe. Die Schikanen beruhen auf einem recht neuen Gesetz Italiens, das die Anforderungen an zivile Rettungsschiffe erhöht und Sanktionen für angebliche Verstöße einführt. Auf dieser Grundlage ordnen die Behörden Rettungsschiffe an, unmittelbar nach einer Rettung einen zugewiesenen Hafen anzulaufen – selbst dann, wenn es in der Nähe des Schiffs weitere lebensgefährliche Seenotfälle gibt. Zudem verlangt die italienische Regierung von zivilen Rettungsschiffen, gerettete Menschen in bis zu 1.600 km und 5 Tage Fahrt entfernten Häfen an Land zu bringen. Nach internationalem Recht aber soll die Ausschiffung von aus Seenot Geretteten an einem sicheren Ort „so schnell wie möglich“ und „mit minimaler Abweichung von der vorgesehenen Reise des Schiffes“ erfolgen. So erschwert oder verunmöglichen die italienischen Behörden zunehmend Rettungsmaßnahmen!
Diese Politik führt nicht zu weniger Versuchen der Grenzüberquerung, sondern zu mehr Leid und Tod. Während Italien – unterstützt von der schweigenden Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten – diese Maßnahmen ergriff, stieg die Zahl der tödlichen Schiffsunglücke dramatisch an. Das Jahr 2023 zählt schon jetzt einem der tödlichsten des letzten Jahrzehnts.
Wir fordern daher die EU und ihre Mitgliedstaaten auf, dringend zu handeln! Alle zivilen Rettungsschiffe müssen sofort freigelassen und die Geldstrafen fallen gelassen werden. Das italienische Gesetz zur Einschränkung der Such- und Rettungsaktivitäten im zentralen Mittelmeer muss sofort aufgehoben werden. Geltendes internationales See- und Menschenrecht muss der Rahmen für ausnahmslos alle Akteur*innen auf See sein! Die Schaffung legaler und sicherer Korridore muss Politik der EU-Staaten werden, anstatt Menschen weiter durch Abschottungsmaßnahmen auf lebensgefährliche Routen zu zwingen!
(https://www.facebook.com/SeebrueckeSchafftsichereHaefen/posts/pfbid02Xpm5uGByQ6zJPDJEwLHHGtodGqmJQkjy4UfS2Nv6YoNtbb9yUoCafvzEUeS1j5pMl)


Segelboot aus dem Wendland unterstützt Seenotrettung
Eine weitere Initiative will dabei helfen, Schiffbrüchige zu entdecken und Hilfe zu organisieren
Das Wendland ist bekannt für seinen Widerstand gegen die Atomenergie. Nun gibt es auffällig viele Initiativen aus der Region für Bootsflüchtlinge. Die neueste startete am Wochenende mit ihrer Arbeit.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175860.mittelmeer-segelboot-aus-dem-wendland-unterstuetzt-seenotrettung.html


+++FREIRÄUME
„Neue Platzbesetzung in Basel. Ab heute neuer Wagenplatz Lücke an der Kleinhüningerstrasse auf dem ehemaligen Parkplatz der BASF Kommt vorbei! #lücke #wagenplatz #klybeck“
(https://twitter.com/BaselBlock/status/1696102152958074882)


+++GASSE
Wohncontainer in Biberist: Gemeinde möchte Versuch verlängern
Seit Dezember stehen in Biberist zwei Wohncontainer in denen Menschen mit Alkohol- oder Drogenproblemen wohnen können. Eigentlich ist das Ganze als Versuch für zwei Jahre ausgelegt. Doch bei der Gemeinde hätte man nichts dagegen, wenn dieser Versuch verlängert werden sollte.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/wohncontainer-in-biberist-gemeinde-moechte-versuch-verlaengern?id=12444655
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/hallwilersee-ranger-sollen-fehlbare-autos-buessen-duerfen?id=12444838 (ab 02:48)


Weniger Repression in der Drogenpolitik
Der Zürcher Stadtrat und Sozialvorsteher, Raphael Golta, glaubt nicht, dass mehr Polizei die offene Drogenszene auf der Bäckeranlage verhindert. Es brauche die Polizei, aber sie sei nur ein Teil der Drogenpolitik.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/weniger-repression-in-der-drogenpolitik?id=12444682



bzbasel.ch 28.08.2023

Die neue Praxis in Basel zeigt Wirkung: Die Bettelnden sind weg

Seit Anfang Juli gilt in Basel-Stadt eine verschärfte Regelung: Ausländerinnen und Ausländern, die betteln, müssen das Land verlassen. Bei den Gruppen aus Rumänien ist die Botschaft angekommen: Sie sind mittlerweile grösstenteils ausgereist.

Benjamin Wieland

Man hatte sich schon ein wenig an sie gewöhnt. Doch jetzt sind sie nicht mehr da. Der Mann mit Hut, der bei der Heiliggeistkirche mit seinen paar Brocken Italienisch die Passanten ansprach. Die jüngere Frau, die vor dem Coop Bachletten auf einem Mäuerchen sass, mit gesenktem Kopf, innerhalb eines Kreidehalbkreises, den wer auch immer gezogen hatte. Der Bettler beim Bahnhofausgang Gundeldingen, der mit leiser, freundlicher Stimme die Vorbeigehenden ansprach: «Hallo? Hallo?»

Seit zweieinhalb Monaten gilt die neue Regelung in Basel-Stadt, wonach Ausländerinnen und Ausländern betteln auf öffentlichem Grund untersagt ist. Die Gruppen, wohl zu einem grossen Teil Roma aus Rumänien, die im Frühjahr 2020 an etlichen Orten in der Stadt auftauchten, sind offensichtlich weitergezogen. Ihre Zahl hat seit Juli markant abgenommen. Das bestätigt auch die Kantonspolizei Basel-Stadt.

«Wir können feststellen: Es sind kaum noch Bettelnde auf den Strassen und Plätzen der Stadt anzutreffen», sagt Mediensprecher Stefan Schmitt zur bz. «Sie sind offenbar ausgereist. Bereits nach einem Monat mit der neuen Regelung hat die Zahl der Bettelnden bereits stark abgenommen, von ursprünglich 60 bis 70 auf noch 15.»

Migrationsamt stellt neun Verfügungen aus

Als die neue verschärfte Praxis per Anfang Juli in Kraft gesetzt wurde, kündigte das Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement eine Umsetzung mit Augenmass an: Zuerst werde informiert – erst dann verfügt.

Das geht in der Praxis so: Die Personen, von denen die Polizei davon ausgeht, dass sie sich zum Betteln in der Schweiz aufhalten, werden zuerst darauf aufmerksam gemacht, dass sie das Land zu verlassen haben. Werden sie erneut beim Ersuchen um Almosen angetroffen, stellt das Migrationsamt eine Ausweisungsverfügung aus, in deren letzter Konsequenz eine Ausschaffung droht.

Soweit kommt es aber kaum. Verfügungen hat das Migrationsamt lediglich neun ausgesprochen, wie das JSD mitteilt. Die Polizei spricht von rund 40 Personen, die man seit Anfang Juli über die neue Vorgehensweise aufgeklärt habe.

Polizisten spielen Audio-File ab

Damit die Botschaft auch ankommt, hatte die Polizei vorgesorgt, erklärt Schmitt: «Die Betroffenen sprechen in der Regel kein oder nur wenig Deutsch. Die Patrouillen können deshalb ein mehrsprachiges Merkblatt abgeben, ebenso steht ein Audiofile zum Abspielen bereit.» Die Informationen sind jeweils auch auf Französisch, Englisch, Italienisch, Rumänisch und Bulgarisch – in kyrillischer Schrift – aufgeführt. «So können wir sicherstellen, dass die Regeln auch tatsächlich verstanden werden.»

Die Verschärfung des Umgangs mit Bettelnden aus Osteuropa war ein Paradigmenwechsel für Basel-Stadt. Bislang ging man davon aus, dass das Personenfreizügigkeitsabkommen es erlaubt, sich drei Monate hier aufzuhalten – wie grundsätzlich jede Touristin, jeder Tourist. So war es auch, nachdem der Grosse Rat 2019 das Bettelverbot aus dem Übertretungsstrafgesetz gestrichen hatte. Im Frühjahr 2020 trafen erste Gruppen von Bettelnden in Basel ein.

Die Verschärfung des Umgangs mit Bettelnden aus Osteuropa war ein Paradigmenwechsel für Basel-Stadt. Bislang ging man davon aus, dass das Personenfreizügigkeitsabkommen es grundsätzlich allen EU-Bürgerinnen und -Bürgern erlaubt, sich drei Monate hier aufzuhalten. So war es auch, nachdem der Grosse Rat 2019 das Bettelverbot aus dem Übertretungsstrafgesetz gestrichen hatte. Im Frühjahr 2020 trafen erste Gruppen von Bettelnden in Basel ein.

Präzedenzfall lässt auf sich warten

Dass es überhaupt zur erneuten Verschärfung kam, geht auf die Basler Sektion der Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz (DJS) zurück. Schon 2020 war das Betteln vom Basler Kantonsparlament wieder eingeschränkt worden. So galten neu Sperrzonen, etwa vor Bankomaten oder in Aussenbereichen von Restaurants. Die DJS-Sektion Basel legte Beschwerde ein. Mit für sie unverhofftem Resultat.

Im März dieses Jahres entschied das Bundesgericht, dass das neue Gesetz kompatibel mit den Grundrechten ist. Es kam aber auch zum Schluss, das jemand, der nur zum Zweck, um Geld zu bitten, in die Schweiz komme, die Einreisevoraussetzungen nicht erfülle.

Die DJS Sektion Basel will nicht klein beigeben. Sie kündigte schon im Juli an, gegen eine Verfügung Beschwerde einzulegen. Laut Christian von Wartburg, SP-Grossrat, Anwalt und Vorstandsmitglied des Vereins, konnte man bislang aber keinen Fall vor Gericht bringen: «Es ist uns bislang schlicht keine Person an uns herangetreten, die bereit wäre, eine Ausweisungsverfügung anzufechten.» Das Problem sei wohl, dass die Betroffenen häufig gar nichts vom Angebot wüssten.

Musizieren als legaler Ausweg

Nach wie vor zweifeln die DJS an der Rechtsmässigkeit der Basler Praxis. «Es geht auch um Gleichberechtigung», sagt von Wartburg. «Warum darf jemand mit Geld sich drei Monate lang bewilligungsfrei in der Schweiz aufhalten, jemand ohne Geld, der aber dem Staat gar nicht zur Last fällt und sich unauffällig verhält, aber nicht? Reich oder arm – vor dem Gesetz sollten alle gleich sein.»

Es gibt wohl auch Ex-Bettelnde, die einen Weg gefunden haben, legal hier zu bleiben. Sie gehen einer neuen Beschäftigung nach. Das bestätigt Polizeisprecher Schmitt: «Einige wenige, die früher bettelten, praktizieren jetzt Strassenmusik. Solange sie sich an die Regeln halten, ist das auch erlaubt.»
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/wegweisung-die-neue-praxis-in-basel-zeigt-wirkung-die-bettelnden-sind-weg-ld.2503673)



bzbasel.ch 28.08.2023

Lex Bettler in Basel: Ein Gericht sollte die rigide Praxis überprüfen

Seit Anfang Juli ist Ausländerinnen und Ausländern in Basel-Stadt Betteln de facto untersagt. Zwar stützt sich die neue strenge Praxis auf ein Bundesgerichtsurteil. Trotzdem wirft das Vorgehen Fragen auf.

Benjamin Wieland

Für die einen waren sie ein einziges Ärgernis. Andere haben sich für die Menschen interessiert, die Anfang 2020 zu Dutzenden den Weg nach Basel fanden, haben mit ihnen das Gespräch gesucht. Doch ganz egal, wie man zu den Gruppen von Bettlerinnen und Bettlern, die zumeist aus Rumänien stammten, steht: Die rigide Durchsetzung eines Bundesgerichtsurteils durch die Basler Behörden wirft Fragen auf.

Seit kurzem gibt es bei Ausländerinnen und Ausländern, die sich in Basel aufhalten, zwei Klassen. Eine Gruppe, «normale» Touristen, Gäste und Durchreisende, kann von den maximal drei Monaten Aufenthalt Gebrauch machen, wie es die Personenfreizügigkeit vorsieht. Die andere Gruppe sind die Bettlerinnen und Bettler. Sie haben qua ihre Tätigkeit ihr Aufenthaltsrecht verwirkt, müssen die Schweiz verlassen. Egal, wie unauffällig sie sich verhalten – eine offensichtliche Ungleichbehandlung.

Spannend wäre zu sehen, wie ein Gericht diese Praxis beurteilt. Die lokale Sektion der Demokratischen Juristinnen und Juristen der Schweiz beabsichtigte, eine Wegweisung anzufechten. Um zu sehen, ob die Verfügung vor Gericht standhält. Dazu ist es noch nicht gekommen. Die Bettelnden sind weitergezogen. Haben wohl wenig Lust auf eine gerichtliche Auseinandersetzung.

Paradoxerweise könnte also ausgerechnet die mobile Lebensweise dieser Menschen ihrer juristischen Emanzipation im Wege stehen.
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/kommentar-lex-bettler-in-basel-ein-gericht-sollte-die-rigide-praxis-ueberpruefen-ld.2505153)



Kakerlaken ziehen sich zurück
Bei der Heiliggeistkirche in Bern scheint sich das Kakerlaken-Problem langsam aber sicher zu beruhigen. Die Kirche am Bahnhofplatz wurde im Sommer von tausenden Kakerlaken überrannt. Dies hat die Kammerjäger auf den Plan gerufen. Aber nicht nur die sorgen dafür, dass sich die Schaben nicht mehr wohl fühlen in der Kirche.
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/kakerlaken-ziehen-sich-zurueck-153217688


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Beitrag zur Solidaritätswoche mit anarchistischen Gefangenen
Banner zur Internationalen Woche der Solidarität mit Anarchistischen Gefangenen in Biel
https://barrikade.info/article/6089



derbund.ch 28.08.2023

Protest im Schneckentempo: Die Klimakleber setzen jetzt auf eine neue Strategie

Renovate Switzerland will sich nicht nur auf den Boden kleben – sondern auf den Strassen langsam gehen. Über die Herkunft und die Rechtslage der Protestform des Slow Walking.

Philippe Zweifel

Die sogenannten Klimakleber, also Aktivistinnen und Aktivisten, die sich auf öffentlichem Grund festkleben, um gegen die Klimapolitik zu protestieren, haben eine neue Proteststrategie: langsame Märsche auf Schweizer Strassen. Rund fünfzehn solcher Märsche seien in der ganzen Schweiz geplant, heisst es auf der Website von Renovate Switzerland.

«Ab dem 13. September werden wir zurück sein auf den Strassen der Schweiz. Aber es wird weder Blockaden noch Klebereien geben, sondern langsame Märsche», schreibt Renovate Switzerland. Die Organisation ist der Schweizer Ableger einer Bewegung des zivilen Widerstands, die auch in anderen Ländern existiert. Etwa als «Letzte Generation» in Deutschland. (Lesen Sie unser Porträt über Max Voegtli: «Lieber ein Heuchler als untätig»)

Am 14. April 2022 klebten sich in der Schweiz erstmals Menschen auf eine Strasse, um gegen die offizielle Klimapolitik zu protestieren, auf der Mont-Blanc-Brücke in Genf. Seither prägen die Klimakleber die Schlagzeilen und scheiden die Gemüter. Gemäss des SRG-Wahlbarometers ärgert sich allerdings eine deutliche Mehrheit der Stimmberechtigten über die Aktivisten; nur die Misswirtschaft und die Boni-Exzesse bei der CS nerven noch mehr. Einige Politologen vermuten, dass die Klebeaktionen kontraproduktiv sind und insbesondere den Anliegen der Grünen schaden.

Keine Gesuche eingegangen

Vielleicht auch deshalb setzt Renovate Switzerland nun auf die neue Strategie, die weniger radikal anmutet. Slow Walking, wie die Protestform ursprünglich heisst, soll die Öffentlichkeit dazu anregen, innezuhalten und über ein Anliegen nachzudenken. Auf Anfrage sagt Renovate Switzerland, dass man sich von den langsamen Märschen auch «mehr Zugänglichkeit» erhoffe, also mehr Teilnehmerinnen und Teilnehmer als beim Kleben. Die Geschwindigkeit eines Slow Walk gibt die Organisation mit einem Stundenkilometer an (gewöhnliches Schritttempo beträgt 4–5 km/h). Die Kleberei wolle man in Zukunft aber weiter praktizieren.

Während der Demokratieproteste in Hongkong 2019 wurden immer wieder Slow-Walking-Aktionen abgehalten. Ebenso bei den Black-Lives-Matter-Protesten in den USA und bei den Klimaprotesten der Gruppe Extinction Rebellion. Aktivisten sehen Slow Walking, wie das Festkleben am Boden, als eine Form des zivilen Ungehorsams und gewaltfreien Protests, wie ihn auch Persönlichkeiten wie Gandhi oder Martin Luther King angewandt hätten.

Slow Walking mag weniger brachial sein, als sich auf die Strasse zu kleben. Rechtlich gesehen gibt es aber keinen Unterschied zwischen den beiden Protestformen.

Wie die Stadtpolizei Zürich ausrichtet, braucht es für politische Kundgebungen auf öffentlichem Grund eine Bewilligung. Ein Gesuch für eine solche sei von Renovate Switzerland bisher nie eingegangen, auch noch nicht für die angekündigten langsamen Märsche. Ob es gegebenenfalls zu einer Auflösung komme, werde situativ durch einen Einsatzleiter entschieden. Zudem muss das polizeiliche Handeln jeweils «zweck- und verhältnismässig» sein.

In Grossbritannien hingegen ist seit Juli eine Gesetzesverschärfung in Kraft, welche unter anderem die Protestmethode langsames Gehen unter Androhung von Gefängnisstrafen verbietet: Auf Behinderung wichtiger Verkehrsanlagen stehen bis zu sechs Monate Haft.
(https://www.derbund.ch/protest-im-schneckentempo-die-klimakleber-setzen-jetzt-auf-eine-neue-strategie-845157217901)


+++REPRESSION DE
Indymedia: Razzia bei Radio Dreyeckland war rechtswidrig
Die Hausdurchsuchungen gegen den Freiburger Radiosender wegen Setzen eines Links auf das Archiv der verbotenen Plattform linksunten.indymedia.org waren rechtswidrig. Der Sender spricht von einer „juristischen Ohrfeige“ für die Staatsanwaltschaft Karlsruhe.
https://netzpolitik.org/2023/indymedia-razzia-bei-radio-dreyeckland-war-rechtswidrig
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175846.freiburg-radio-dreyeckland-razzien-waren-rechtswidrig.html
-> https://www.jungewelt.de/artikel/457894.razzia-bei-radiosender-war-rechtswidrig.html
-> https://www.badische-zeitung.de/freiburg/gericht-hausdurchsuchungen-bei-radio-dreyeckland-in-freiburg-waren-rechtswidrig?utm_source=latest-red-newsletter-daily&utm_medium=email&utm_campaign=79312&utm_content=Freiburg&utm_region=Freiburg&utm_position=8
-> https://rdl.de/Hausdurchsuchungen
-> https://www.heise.de/news/Radio-Dreyeckland-Hausdurchsuchungen-waren-rechtwidrig-9287538.html


+++SPORT
derbund.ch 28.08.2023

Heisser Fussballabend in Bern: Nause über Maccabi-Fans: «Sie waren nicht überall die Liebsten»

Auf Bern wartet am Dienstag ein Risikospiel. Grund sind die heissblütigen Fans von YB-Gegner Maccabi Haifa, die zuletzt negativ auffielen.

Christoph Albrecht

So wenig berauschend das Gebotene auf dem Rasen war, so elektrisierend war im Hinspiel zwischen Maccabi Haifa und den Berner Young Boys die Stimmung auf den Rängen. Was die über 30’000 israelischen Fans im Samy-Ofer-Stadion von Haifa während 90 Minuten von sich gaben, beeindruckte selbst manche YB-Spieler.

Doch die Haifa-Supporter sind offenbar mehr als nur laut. «Sie mögen Pyrotechnika und bereiten dem Verein damit immer wieder Probleme», sagt Michael Yokhin. Der freischaffende israelische Sportjournalist kennt den Traditionsclub bestens.

Zwar gälten die Fans von Maccabi Haifa grundsätzlich als tolerant, weil sie nebst jüdischen auch vergleichsweise viele arabische Fans zählten, erzählt Yokhin. Die Ultras, die sich selber als die «grünen Affen» bezeichnen, seien aber berüchtigt. «Sie fallen regelmässig mit schlechtem Benehmen auf und sind darauf auch noch stolz.»

Petarden gegen gegnerische Fans

Das jüngste Beispiel des unrühmlichen Fanverhaltens datiert von Mitte Juli. Beim Aufeinandertreffen mit dem maltesischen Team Hamrun Spartans in der ersten Champions-League-Qualifikationsrunde warfen Haifa-Anhänger brennende Fackeln auf das Spielfeld sowie gegen gegnerische Fans und sorgten damit für einen längeren Spielunterbruch. Maltesische Fans sollen die israelischen Anhänger zuvor mit «Palestina»-Rufen provoziert haben.

Auf die wüsten Szenen folgten Sanktionen. Die Uefa büsste den israelischen Verein und verbot den Anhängern von Haifa, ans darauffolgende Champions-League-Auswärtsspiel gegen Tiraspol in Moldau zu reisen.

Nun gastiert Haifa am Dienstagabend also in Bern. Bis Montagnachmittag wurden rund 28’000 Tickets verkauft. Der BSC YB hofft auf ein ausverkauftes Wankdorf und erwartet rund 1400 Anhänger aus Israel. Nebst den Fans im Stadion dürften auch solche ohne Ticket anreisen.

Berns Polizei rüstet für Spiel auf

Berns Sicherheitsbehörden haben die Maccabi-Fans nach den jüngsten Vorkommnissen auf dem Radar. «Sie waren in der Vergangenheit nicht überall die Liebsten», sagt Reto Nause. Der Sicherheitsdirektor spricht denn auch von einem «als risikobehaftet eingestuften Fussballspiel». Matches mit israelischer Beteiligung erforderten aber «allein wegen der geopolitischen Situation Israels» erhöhte Sicherheitsmassnahmen.

Nause dürfte auf einen Vorfall anspielen, der sich 2014 in Österreich zugetragen hatte. Bei einem Testspiel zwischen Maccabi Haifa und OSC Lille stürmten kurz vor Schluss anti-israelische Aktivisten mit Palästina-Fahnen das Spielfeld und griffen mehrere Haifa-Spieler tätlich an.

Die Kantonspolizei Bern hat für das Risikospiel jedenfalls aufgerüstet: Letzte Woche kündigte sie an, mit einem sichtbaren Dispositiv im Einsatz zu stehen – und dafür gar den Grossteil der Wachen im Kanton Bern vorübergehend zu schliessen. «Diese Massnahme hat zum Ziel, genügend Personal für den Einsatz stellen zu können», so die Begründung. Die polizeiliche Grundversorgung sei jedoch sichergestellt.
(https://www.derbund.ch/heisser-fussballabend-in-bern-nause-ueber-maccabi-fans-sie-waren-nicht-ueberall-die-liebsten-346281542765)


+++KNAST
Der erste Schweizer Knast-Influencer: Wie sich Brian Keller selber inszeniert
Der berühmte Häftling versucht aus seiner Zelle, die öffentliche Meinung für sich zu gewinnen. Doch das ist schwieriger als gedacht.
https://www.watson.ch/schweiz/justiz/131933963-der-erste-schweizer-knast-influencer-wie-sich-brian-keller-inszeniert


++++POLICE BE
Bern: Öffentlichkeitstag der Kantonspolizei Bern
Am kommenden Samstag findet in Bern der Öffentlichkeitstag der Kantonspolizei Bern statt. Diverse Programmpunkte bieten der Bevölkerung die Möglichkeit, einen Einblick in die Arbeit der Kantonspolizei Bern zu erhalten. Ob klein oder gross: Es ist für jeden etwas dabei.
https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=c747d2d0-f6e1-44b0-8ce0-116acd7d2555


+++POLIZEI CH
Thème du Mois #3 : Body cam – Cheval de troie de la surveillance ?
Pour le troisième article de ce thème du mois sur les violences policières voici une grosse analyse de la Body Cam et des problèmes qu’elle soulève.
 https://renverse.co/analyses/article/theme-du-mois-3-body-cam-cheval-de-troie-de-la-surveillance-4119


+++RASSISMUS
ANTIRA-WOCHENSCHAU: Tödliche Brände, Schweizer Millionen, kleine Boote
https://antira.org/2023/08/28/toedliche-braende-schweizer-millionen-kleine-boote/


+++RECHTSPOPULISMUS
Gemeinderatsantwort auf Motion Fraktion SVP (Alexander Feuz/Thomas Fuchs/Thomas Glauser): Zentralweg: Die Stadt muss Strafanzeige einreichen! (PDF, 15.1 KB)
https://www.bern.ch/politik-und-verwaltung/gemeinderat/aktuelle-antworten-auf-vorstosse/publizierte-antworten-am-28-august-2023/motion-fraktion-svp-zentralweg.pdf/download


Claudio Schmid: Ex-SVP-Chefstratege wechselt zu Mass-Voll
Nach 30 Jahren wechselt Claudio Schmid von der SVP Bülach zum umstrittenen Mass-Voll-Verein.
https://www.nau.ch/ort/bulach/claudio-schmid-ex-svp-chefstratege-wechselt-zu-mass-voll-66585579



nzz.ch 28.08.2023

Das letzte Sichaufbäumen der Corona-Skeptiker: Weshalb der Wahlkampf von Mass-Voll und Co. nicht in Schwung kommt

Während Corona wurde die massnahmenkritische Bewegung zur politischen Kraft. Inzwischen kultivieren die bekanntesten Exponenten vor allem sich selbst.

Daniel Gerny, Erich Aschwanden

Ist es pure Verzweiflung, dass nicht weniger als fünf andere Gruppierungen mit den beiden massnahmenkritischen Bewegungen Mass-Voll und Aufrecht Schweiz in Bern eine Listenverbindung eingegangen sind? Selbst skurrile Formationen wie die Gruppe Los Normalos («Endlich normale Politik») werden eingebunden. Und dennoch sind die Chancen auf einen Sitzgewinn gleich null. Profitieren wird – wenn überhaupt – die evangelikale Kleinpartei EDU, die in Bern ihren einzigen Nationalratssitz verteidigen will.

Während der Corona-Pandemie schaffte es die massnahmenkritische Bewegung erstaunlich gut, Leute auf die Strasse zu bringen, Geld für Kampagnen und Initiativprojekte zu sammeln und so beim Widerstand gegen die offizielle Gesundheitspolitik den Takt vorzugeben. So lancierten Mass-Voll und Co. drei Referenden gegen das bundesrätliche Covid-19-Gesetz. Dieses wurde zwar drei Mal klar angenommen, aber vor allem in den beiden ersten Abstimmungskämpfen stellte die Bewegung eine Kraft mit unberechenbarem Potenzial dar. Politische Pläne für die Zeit nach Corona schienen nicht unrealistisch.

Leben von Rimoldi und Co.

Obwohl die Massnahmenkritiker zu mehreren kantonalen Wahlen antraten, schafften sie nirgendwo den Sprung in die Parlamente. Die Ergebnisse waren meist enttäuschend. Auf kommunaler Ebene wurde im vergangenen Jahr immerhin Patrick Jetzer von Aufrecht Schweiz ins Dübendorfer Stadtparlament gewählt. Der Impfgegner kandidierte dieses Jahr auch für Regierung und Parlament des Kantons Zürich, ohne Chancen.

Aufrecht holte in Zürich im Verbund mit der Freien Liste jedoch über zwei Prozent, was einen der wenigen Achtungserfolge im Land darstellt. Nun tritt die Gruppierung mit Urs Hans zu den Nationalratswahlen an. Der frühere Kantonsrat der Grünen wurde 2020 wegen seiner kruden Thesen zum Thema Impfen aus der Partei ausgeschlossen.

Diese wenigen Prozente machen die ehemaligen Massnahmenkritiker im Nationalratswahlkampf zu begehrten Partnern. Doch es gelingt der Bewegung nicht, politische Positionen zu formulieren. Sie lebt bis heute von den Figuren, die die Pandemie hervorgebracht hat. Das prominenteste Beispiel dafür ist der Mass-Voll-Gründer Nicolas Rimoldi, der seine Attitüde als Widerstandskämpfer kultiviert, gerne mit Che-Guevara-Zigarre im Mund. Nun soll Mass-Voll dem ehemaligen Jungfreisinnigen im Kanton Zürich zur Wahl in den Nationalrat verhelfen.

Je weiter Corona zurückliegt, desto stärker driftet Rimoldi allerdings ab. Er fällt mit russlandfreundlichen Parolen auf oder tritt mit Identitären und anderen rechtsextremen Gruppierungen auf. Damit stösst er selbst im Lager der Massnahmenkritiker auf Kritik. Aktiv ist er auf allen möglichen Stadtplätzen im Land, vor allem aber auf Social Media. So ist Rimoldi zur tragischen Gestalt geworden, für die der eidgenössische Wahlkampf die letzte Chance auf eine Portion Aufmerksamkeit geworden ist.

National weniger bekannt als Rimoldi ist Josef Ender, der während der Pandemie als Sprecher des Aktionsbündnisses Urkantone fungierte. In seinem Heimatkanton Schwyz hat der Unternehmer für Aufsehen gesorgt, gelang es ihm doch, mehrere grössere Demonstrationen zu organisieren. Im Hinblick auf die Nationalratswahlen will Ender seine Bekanntheit weiter steigern. Eine Listenverbindung mit der Schwyzer SVP hilft dabei.

Ausserdem führt er nach dem Vorbild von Roger Köppel in allen Gemeinden des Kantons einen Wahlkampfanlass durch. Unterstützt wird er dabei von Prominenten, die sich ebenfalls gegen die Corona-Massnahmen gewehrt haben. So von dem Künstler und Satiriker Andreas Thiel. Doch trotz allen Mühen sind die Wahlchancen von Ender nahe null. Auch ihm fehlt es an politischer Durchschlagskraft.

Während Thiel von der institutionellen Politik nichts wissen will und sich auf seine Tätigkeit als Wahlhelfer beschränkt, hat mit Marco Rima ein anderer Künstler Blut geleckt. Der Kabarettist will den Kanton Zug im Ständerat vertreten. Als Kandidat vertritt er keine der einschlägigen Gruppierungen, sondern er will den Sprung in die kleine Kammer als Parteiloser schaffen. Die Corona-Pandemie, während deren er sich politisierte, erwähnt Rima in der Ankündigung seiner Kandidatur nicht.

Er erklärt stattdessen, «die politische Kunst, sich mit den unterschiedlichsten Meinungsträgern kontrovers, aber respektvoll auszutauschen», sei «in den letzten drei Jahren vom Bundesrat, dem Parlament und den Medien sträflich torpediert» worden. Auch Rimas Wahlchancen sind minim.

Abgebrochene Liebelei

Viele Negativschlagzeilen, unübersichtliches Programm und überschaubares Wählerpotenzial: Das schreckt inzwischen auch die SVP ab, die den Forderungen der Corona-Gruppierungen am meisten abgewinnen konnte – und sich vor der Bewegung am ehesten fürchten muss: Vor einigen Monaten sah es deshalb nach einer ganzen Reihe von Listenverbindungen zwischen Mass-Voll und SVP aus. Inzwischen kommt es nur in den Kantonen Solothurn, Luzern und Schwyz dazu.

Für die SVP sind die rechnerischen Chancen kleiner als die Risiken für Image und Glaubwürdigkeit. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Partei in verschiedenen Kantonen mit der FDP an den Start geht: Die Skepsis gegenüber diesen Listenverbindungen ist in der FDP erheblich, zu grosse Nähe zu den Massnahmenkritikern wurde zur Last. So muss Mass-Voll in Zürich mit der EDU, den Schweizer Demokraten und Aufrecht vorliebnehmen.

Ein Musterbeispiel für eine gescheiterte Liebelei ist der Kanton Aargau. Dort wäre der SVP-Kantonalpräsident Andreas Glarner, der verbalem Krawall selbst nicht abgeneigt ist, nur zu gerne eine Listenverbindung mit Mass-Voll eingegangen. Doch der Nationalrat wurde zurückgepfiffen. Umgehend machte FDP-Präsidentin Sabina Freiermuth klar, dass der Freisinn die bereits beschlossene Listenverbindung kündigen würde, wenn die SVP mit Mass-Voll kooperieren würde. Und auch an der eigenen Basis rumorte es gewaltig: Glarner musste seinem Freund Rimoldi widerwillig einen Korb geben. So bleibt Rimoldi weiterhin nur die Hoffnung, als Besucher ins Bundeshaus zu gelangen – so wie am Tag der Selenski-Rede im Nationalrat auf Einladung von Glarner.
(https://www.nzz.ch/schweiz/das-letzte-sichaufbaeumen-der-corona-skeptiker-weshalb-der-wahlkampf-von-mass-voll-und-co-nicht-in-schwung-kommt-ld.1753559)


+++RECHTSEXTREMISMUS
Berliner Bibliotheken: Rechter Kulturkampf im Lesesaal
Immer mehr Bibliotheken werden zur Zielscheibe rechtsextremer Angriffe. Eine neue Broschüre soll im Umgang damit helfen
Menschenfeindliche Publikationen, Kampagnen gegen queere Veranstaltungen: Berliner Bibliotheken werden zunehmend Zielscheibe von rechten Angriffen. Eine neue Broschüre soll Kampf gegen rechts stärken.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1175843.rechte-hetze-berliner-bibliotheken-rechter-kulturkampf-im-lesesaal.html


+++HISTORY
spiegel.de 28.08.2023

Nicht-binäre Geschlechter in der Geschichte: Aus den Lenden brach ein Penis hervor

Die Debatte über das Selbstbestimmungsgesetz hat Vorläufer: Seit der Antike wird über Menschen diskutiert, die nicht eindeutig Mann oder Frau sind. In der Frühen Neuzeit störte man sich wenig an »Hermaphroditen« – solange sie heirateten.

Von Frederik Seeler

1601 droht Marin le Marcis die Todesstrafe – wegen seines Körpers. Der 21-Jährige wurde als Kind auf den Namen Marie getauft und als Mädchen großgezogen. Bei der Arbeit als Dienstmädchen in der nordfranzösischen Normandie kam es zu einer Liebschaft mit einer anderen Bediensteten. Marie wollte sie heiraten, nannte sich fortan Marin und trug Männerkleidung. Doch statt in einer Kapelle landeten die beiden vor Gericht in der nächstgrößeren Stadt Rouen.

Der Vorwurf: Sodomie, der damalige Straftatbestand für gleichgeschlechtlichen Sex. Marin sollte gehängt, die Verlobte ausgepeitscht werden. Marin aber bestand darauf, keine Frau, sondern ein Mann zu sein. Das Gericht rief den Chirurgen und Professor Jacques Duval als Gutachter herbei. Er tastete den Körper des Angeklagten ab, notierte seine Beobachtungen: stämmiger Körper, kräftige Waden, dicke Brüste, Haare auf der Oberlippe, zwischen den Beinen eine Vagina mit Klitoris und Harnausgang, aus dem aber kein Urin kam.

Daneben allerdings fühlte Duval etwas Hartes, einen kleinen Penis, nur wenige Zentimeter lang. Während Duval ihn untersuchte, erigierte er sich und ejakulierte. Der Chirurg hatte wohl genug gesehen. Er teilte dem Gericht mit, dass Marin le Marcis über »ein männliches Glied« verfüge, geeignet für die Fortpflanzung, und damit ein Mann sei.

Das Gericht ließ den Angeklagten und seine Verlobte frei – unter der Auflage, dass Marin noch vier Jahre lang als Frau weiterleben müsse. Erst mit 25 Jahren, dem Alter, in dem man in Frankreich ohne Zustimmung der Eltern heiraten durfte, konnte er sich für ein Geschlecht entscheiden.

»Freude an der Variation«

Der Chirurg Duval kommentierte den Fall einige Jahre später in einem Buch. Marin le Marcis sei weder Mann noch Frau gewesen, schrieb er, sondern ein »Hermaphrodit«, ein intergeschlechtlicher Mensch. Für Duval keine Anomalie, sondern ein Beispiel dafür, dass die Natur »Freude an der Variation« habe.

Wenn heute von verschiedenen Geschlechtern und sexuellen Orientierungen die Rede ist, von Begriffen wie »inter«, »trans« oder »nicht-binär«, mag das neuartig klingen. Doch schon vor Hunderten von Jahren wurde manchmal weniger binär gedacht, als man erwarten würde.
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Lange vor Marin le Marcis machten sich Menschen in der Antike und im Mittelalter Gedanken darüber, wie mit uneindeutigen Körpern umzugehen sei, ob es zwischen Mann und Frau Zwischenstufen gebe oder doch nur ein einziges biologisches Geschlecht. Doch um Akzeptanz mussten Menschen, die anders waren, schon immer kämpfen.

Kurz nach der Zeugung sehen fast alle Körper gleich aus. Erst in der sechsten Schwangerschaftswoche bilden sich beim Embryo Geschlechtsorgane aus. Doch in dem komplexen Prozess kommt es hin und wieder zu Variationen. Nach vorsichtigen Schätzungen wird eines von 4500 Kindern intergeschlechtlich geboren: Der Körper lässt sich nicht als eindeutig männlich oder weiblich zuordnen. In sehr seltenen Fällen kommt ein Kind mit männlichen und weiblichen Genitalien zur Welt.

Hermaphroditen als Symbol für Vollkommenheit

Dass Körper mehr sein können als nur Mann oder Frau, war spätestens seit der Antike bekannt. Wo das Wissen um Chromosomenpaare fehlte, blieb nur der Mythos: In Griechenland erzählte man sich von Hermaphroditos, dem Sohn der Götter Hermes und Aphrodite. Eine Nymphe soll ihn so fest umarmt haben, dass die beiden Körper miteinander verschmolzen. Die Römer griffen die Faszination auf, Fresken und Statuen im antiken Pompeji zeigten Hermaphroditos mit Brüsten und Penis, in der Kunst ein Symbol für Vollkommenheit.

Auch die antike Wissenschaft beschäftigte sich mit der Vielfalt der Geschlechter. Im 4. Jahrhundert v. Chr. schrieb Platon in seinem Werk »Symposion« über ein drittes Geschlecht, das mannweibliche. Sein Zeitgenosse, der Arzt Hippokrates, betrachtete »Hermaphroditen« als Zwischenstufe in einer Art Spektrum der Geschlechter. Auch der Theologe Augustinus sah im 4. Jahrhundert nach Christus in verschiedenen Körperformen etwas Normales. »Gott ist nämlich der Schöpfer aller«, so Augustinus.

Im Alltag war der Umgang manchmal weniger tolerant. Bei den abergläubischen Römern kündigte die Geburt von intergeschlechtlichen Kindern Unheil an. Aus dem Jahr 171 v. Chr. ist ein Fall überliefert, bei dem ein intergeschlechtliches Kind auf eine einsame Insel verbannt wurde. In Rom und Athen landeten einzelne erwachsene »Hermaproditen« auf dem Scheiterhaufen.

»Ein Mensch mit Ehefrau ist ein Mann«

Im Mittelalter scheinen die Menschen unaufgeregter mit andersartigen Körpern umgegangen zu sein. Die Stadtchronik von Konstanz berichtete 1388 von einer Bürgerin namens Katharina, die behauptete, ein Mann zu sein und eine Frau heiraten wollte. Der Bischof untersuchte persönlich und stellte fest, dass Katharina sowohl »zagel« als auch »fud«, also männliche und weibliche Geschlechtsteile hatte.

Katharina durfte heiraten und sich von nun an Hans nennen. Die Chronik von 1388 wandte sich danach den gestiegenen Bier- und Zwiebelpreisen zu – die Transformation von Katharina zu Hans war wohl kein großes Ereignis. »Ein Mensch mit Ehefrau ist ein Mann«, schreibt Professor Christof Rolker von der Universität Bamberg über die zeitgenössische Auffassung. Nicht körperliche Merkmale, sondern die Ehe bestimmte vielerorts, wer was war. Und sorgte so für Eindeutigkeit in den Köpfen der Menschen.

Mit der Renaissance und der Wiederentdeckung antiker Schriften wuchs das wissenschaftliche Interesse an »Hermaphroditen«, vor allem an ihrer Anatomie. Die an Universitäten ausgebildeten Ärzte untersuchten Hoden, Vagina und Harnröhre, überlegten, wie und woran sich Körper unterscheiden ließen. Lange Zeit gingen nicht nur viele Mediziner, sondern auch etliche Philosophen und Theologen davon aus, dass es nicht zwei, sondern nur ein Geschlecht gebe. Frauen waren nach dieser einst von Hippokrates begründeten Vorstellung unvollkommene Männer, deren Penisse nach innen gekehrt waren und so einen Hohlraum bildeten – die Vagina.

Kälte und Wärme im Körper der jeweiligen Person entscheiden darüber, was herauskam und was innenliegend blieb, so beschrieb es, antike Vorstellungen aufgreifend, ein englischer Anatomie-Atlas aus dem Jahr 1599. Damit ließen sich auch »Hermaphroditen« erklären: In Nordfrankreich erzählte man sich um 1570 etwa die Geschichte von Marie Garnier. Als das 17-jährige Kind ein Schwein über den Acker verfolgte und über einen Graben sprang, brach angeblich ein Penis aus den Lenden hervor. Danach wurde Marie zu Germain umgetauft und lebte als Mann weiter. Der Arzt Ambroise Paré erklärte sich die Transformation mit der Hitze der Verfolgungsjagd, bei der sich der Penis entfaltet hätte. Mädchen in der Region warnten sich fortan in Liedern vor zu großen Sprüngen, bei denen man sich aus Versehen in einen Mann verwandeln könne.

Erst ab dem 17. und 18. Jahrhundert setzte sich in großen Teilen Europas eine binäre Sichtweise auf das Geschlecht durch. Männer und Frauen galten als unterschiedliche biologische Wesen – so ließ sich unter anderem rechtfertigen, warum sie andere Rechte und Aufgaben hatten. Für Zwischenformen war in dieser Ansicht kaum noch Platz.

Der berühmte Pariser Arzt Jean Riolan etwa schrieb 1629, dass sich jeder Mensch zu den zwei Geschlechtern zuordnen ließe, auch bei uneindeutigen Genitalien. Wenn eine Person einen kleinen Penis hatte, aber den Urin durch die Vulva ausschied, sollte man das weibliche Geschlecht zuschreiben, so Riolan. Hatte jemand ein gut geformtes Glied mit einem Loch an der Peniswurzel, sollte er zum Mann erklärt werden, auch wenn er keinen Bart hatte.

»Alles, was man braucht, um eine Frau zu befriedigen«

Indem sie versuchten, die Deutungshoheit über das Geschlecht an sich zu ziehen, wollten Ärzte sich stärker von Theologen und anderen Heilberufen wie Hebammen abgrenzen, sagt Ulrike Klöppel von der Universität Heidelberg, die zur Geschichte der Intergeschlechtlichkeit promoviert hat.

Auf den ersten Blick ging auch der Chirurg François Duval so vor, als er 1601 den intergeschlechtlichen Marin le Marcis untersuchte und ihm einen funktionsfähigen Penis bescheinigte. Damit habe er ihn eindeutig als Mann klassifiziert, wohl vor allem, um ihn vor der Todesstrafe zu bewahren, schreibt die Professorin Kathleen Perry Long von der Universität Cornell über den Fall. Später aber sprach Duval von der »Variation der Natur«, die auch Zwischenstufen ermöglichte.

Für ein Buch recherchierte Duval weitere Fälle von »Hermaphroditismus«. Ihm fiel auf, dass Eltern bei ihren Kindern Intergeschlechtlichkeit oft früh entdeckten, sie aber aus Scham verheimlichten und den Kindern ein Geschlecht aufzwangen. Zehn Jahre nach dem Prozess erkundigte sich Duval auch nach dem Verbleib von Marin le Marcis. Sein ehemaliger Patient arbeitete als Schneider, trug einen Bart und hatte »alles, was man braucht, um eine Frau zu befriedigen«, so Duval.

Dass jemand wie Marin le Marcis im 17. Jahrhundert selbst über sein Geschlecht entscheiden konnte, sei aber wohl ein Einzelfall gewesen, sagt Ulrike Klöppel. Für Deutschland sei ihr so etwas nicht bekannt.

Bis 1900 galt in Preußen der »Zwitterparagraf«

Dabei war die rechtliche Situation gerade in Deutschland vergleichsweise liberal. Das Preußische Landrecht von 1794 enthielt einen »Zwitterparagrafen«: Volljährige Intergeschlechtliche konnten sich für das männliche oder weibliche Geschlecht entscheiden. Trotzdem legten Eltern oder Hebammen bei der Geburt oft das Geschlecht fest, sagt Klöppel, der Weg vor Gericht für Betroffene war mit einem großen Stigma verbunden.

Im 19. und 20. Jahrhundert wuchs das Wissen über Genetik und Hormone, und Wissenschaftler begannen, nach den biologischen Ursachen des »Hermaphroditismus« zu suchen. Intergeschlechtlichkeit galt bald als Störung der Geschlechtsentwicklung. Es war kein Phänomen mehr, sondern eine Krankheit. Auch die Moralvorstellungen verschärften sich, intergeschlechtliche Menschen hatten keinen Platz in der bürgerlichen Ehe. Man warf ihnen vor, ein verwerfliches Leben zu führen, der Prostitution nachzugehen. Der preußische »Zwitterparagraf« wurde 1900 abgeschafft.

Liberale Mediziner wie Rudolf Virchow in Berlin forderten zwar schon im Kaiserreich, dass es auf dem Standesamt eine dritte Option geben sollte, für alle, die weder männlich noch weiblich seien. Doch Gehör fand er damit nicht. Stattdessen gab es Stimmen, die in Intergeschlechtlichkeit genau wie in Homosexualität eine biologische »Degeneration der nordischen Rasse« sahen, so Medizinhistorikerin Klöppel. Als Ursache machten sie die Vermischung der Deutschen mit anderen »Rassen« aus. So verwundert es kaum, dass Intergeschlechtliche im Nationalsozialismus als Gefahr für den Volkskörper galten. Unter den Bezeichnungen »Homosexuelle« konnten sie in Konzentrationslagern landen.

Das Geschlecht mit dem Skalpell zugeordnet

Auch nach dem Zweiten Weltkrieg ging das Leid weiter. In einem Krankenhaus in Baltimore, USA, erdachten Ärzte in den Fünfzigerjahren einen Ansatz, der später als »Optimal Gender Policy« bekannt wurde. Uneindeutige Geschlechtsteile sollten noch vor dem zweiten Lebensjahr chirurgisch vereinheitlicht werden. Sonst, so nahm man an, drohten den Betroffenen als Erwachsene psychische Probleme. Ärzte entfernten die Klitoris, wenn sie als zu groß empfunden wurde, streckten Penisse oder dehnten Gewebe, um Vaginen anzulegen.

Ab den Sechzigerjahren setzte sich diese Praxis auch in Deutschland durch. Wie viele Säuglinge und Kleinkinder Opfer solcher Operationen wurden, ist nicht bekannt. Die Betroffenen erfuhren oft erst Jahrzehnte später von den Eingriffen. Einige fühlten sich verstümmelt, auch weil sie sich häufig nicht dem Geschlecht zugehörig fühlten, das die Ärzte ihnen zugewiesen hatten.

Erst in den Achtzigerjahren kam Widerstand auf. Intergeschlechtliche Menschen organisierten sich in Selbsthilfegruppen und Vereinen und machten auf die Übergriffe aufmerksam. Seitdem hat sich viel getan.

Im Oktober 2017 entschied das Bundesverfassungsgericht nach der Klage einer intergeschlechtlichen Person, dass es bei der Wahl des Geschlechts eine dritte Option geben muss: divers. »Zwitter« und »Hermaphrodit« gelten heute als diskriminierende Begriffe, bevorzugt werden Eigenbezeichnungen wie Inter-, Zwischengeschlechtlichkeit oder Intersexualität. 2021 beschloss der Bundestag, geschlechtsangleichende Operationen bei Kleinkindern zu verbieten. Stattdessen sollen sie später selbst entscheiden, wie sie ihr Geschlecht definieren.

Medizinhistorikerin Klöppel kritisiert, dass Ärzten in vielen Fällen noch immer die Offenheit gegenüber Geschlechtervielfalt fehle. Die Mediziner sehen in Intergeschlechtlichkeit eine Störung und geben Eltern das Gefühl, ihr Kind sei krank, auch wenn keine tatsächlichen körperlichen Einschränkungen auftreten. Der Kampf um die Akzeptanz uneindeutiger Körper mag vor langer Zeit begonnen haben, zu Ende ist er noch nicht.
(https://www.spiegel.de/geschichte/intersexualitaet-in-der-geschichte-aus-den-lenden-brach-ein-penis-hervor-a-6edc2cec-ce8e-45a2-9daa-be2fb5bffb60)



Ex-Linksextremist: Chantal Galladé – «ich war aufgeregt vor dem Treffen mit ihm»
GLP-Kantonsrätin Chantal Galladé trifft den ehemaligen Linksextremisten Adrian Oertli, der sagt: «Wir haben Galladé gehasst.» Heute schämt er sich dafür.
https://www.20min.ch/story/extremismus-warum-traf-es-gerade-mich-so-krass-gallade-trifft-ehemaligen-linksextremen-971406617752?version=1693216998490