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+++OBWALDEN
luzernerzeitung.ch 19.08.2023
Medizinische Grundversorgung im Asylzentrum Glaubenberg sichergestellt
Weil die Misanto AG den Betrieb gänzlich eingestellt hat, musste der Bund eine neue Lösung für das Bundesasylzentrum finden. Für die Betroffenen ändert sich nichts.
Philipp Unterschütz
Während der Zeit der Coronatests und Impfungen war die Misanto AG mit ihren Test- und Gesundheitszentren bestens im Geschäft. Das ist Geschichte. Ende Juli gab die Firma bekannt, dass sie ihren Betrieb per sofort einstellt. Das betrifft das telemedizinische Zentrum in Frauenfeld, die Test- und Impfzentren sowie den Betrieb der App. 10 Mitarbeitende müssen eine neue Stelle suchen.
Die Geschäftsleitung wollte die Test- und Impfzentren in Arztpraxen umwandeln, fand damit aber beim Aktionariat keine Unterstützung, die nötige Aktienkapitalerhöhung kam nicht zustande. CEO Thomas Krech bedauerte in einer Mitteilung die Entwicklung. Unter den Mitarbeitenden, deren Arbeitsverhältnisse aufgehoben wurden, waren auch solche aus der Ukraine, dank denen Misanto für viele ukrainische Flüchtlinge zu einer sozialen und medizinischen Anlaufstelle geworden war.
Misanto war zuständig für Bundesasylzentrum
Misanto war im Flüchtlings- und Asylbereich auch in Obwalden aktiv. Im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM) kümmerte sich die Firma um die Gesundheitsversorgung im Bundesasylzentrum (BAZ) Glaubenberg. Mitte August waren dort 250 Personen untergebracht. Das SEM schreibt auf Anfrage: «Misanto war die primäre Leistungserbringerin für die hausärztliche Grundversorgung der Bewohnerinnen und Bewohner des Bundesasylzentrums Glaubenberg und hat in dieser Funktion als Erstversorgerin auch die ärztliche Grundversorgung der Bewohnerinnen und Bewohner übernommen beziehungsweise gegebenenfalls die Rolle als Überweisungsinstanz an einen Spezialarzt oder ein Spital.»
Ein von Misanto beauftragter Hausarzt hielt zwei Mal pro Woche Sprechstunden im BAZ Glaubenberg. Misanto bot auch einen telemedizinischen Dienst an. Das Pflegepersonal im BAZ Glaubenberg war über den Dienstleister Betreuung AOZ – Zürich angestellt.
Grundversorgung weiterhin sichergestellt
Mit der Betriebseinstellung der Misanto musste der Bund nun Lösungen finden. «Das SEM kann den Zugang zur Grundversorgung für die Personen, die im BAZ Glaubenberg untergebracht sind, weiter sicherstellen. Die Zusammenarbeit mit einem Hausarzt ist bereits geregelt worden, und das SEM arbeitet so wie bisher auch mit den übrigen lokalen Leistungserbringern der Gesundheitsversorgung zusammen.» Mit anderen Worten, für die Betroffenen im BAZ Glaubenberg ändert sich nichts. Auch der Hausarzt, der die Sprechstunden halte, sei nach wie vor derselbe, schreibt das SEM weiter.
Die Zusammenarbeit zwischen Misanto und BAZ Glaubenberg war durch eine Vereinbarung zwischen Bund und Misanto geregelt. «Der Kanton Obwalden wurde über die Neuregelung nicht offiziell informiert. Der Bund ist dafür zuständig und er hat das selbstständig gelöst. Wir sind im BAZ Glaubenberg nur im Bereich der Grundschule und bei der Sicherheit involviert», erklärt der Obwaldner Sicherheits- und Sozialdirektor Christoph Amstad auf Anfrage.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/obwalden/obwalden-medizinische-grundversorgung-im-asylzentrum-glaubenberg-sichergestellt-ld.2499550)
+++ZÜRICH
Der Zugang zu Zürcher Unis ist für Geflüchtete sehr kompliziert
Für Asylsuchende und Geflüchtete gibt es viele verschiedene Regelungen. Besonders für ukrainische Geflüchtete wurden die Hürden gesenkt, während es für andere Asylsuchende schwierig bleibt.
https://www.zsonline.ch/2023/08/07/der-zugang-zu-zuercher-unis-ist-fuer-gefluechtete-sehr-kompliziert
+++ITALIEN
Auch Meloni bekommt das Flüchtlingsproblem nicht in den Griff – Echo der Zeit
Als die italienische Ministerpräsidentin von der rechtsaussen Partei Fratelli d’Italia noch in der Opposition war, warf sie der Regierung vor, nichts gegen die Ankunft der Flüchtlinge aus Afrika zu unternehmen. Jetzt ist sie selber Ministerpräsidentin und kämpft mit den gleichen Problemen wie ihre Vorgänger.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/auch-meloni-bekommt-das-fluechtlingsproblem-nicht-in-den-griff?partId=12440968
-> https://www.srf.ch/news/international/migration-uebers-mittelmeer-auch-meloni-bekommt-das-fluechtlingsproblem-nicht-in-den-griff
+++GASSE
suedostschweiz.ch 19.08.2023
Degiacomi: «Wir waren etwa während 30 bis 40 Jahren in einem Dornröschenschlaf»
Die Churer Drogenszene sorgt für immer mehr Probleme in der Stadt. Stadtrat Patrik Degiacomi erklärt, wie er die Situation verbessern will und welche Bedeutung ein Konsumraum hat.
Patrick Kuoni
Aggressiver, verwahrloster und krimineller. Das sind Stichworte, die man im Gespräch mit verschiedenen Churerinnen und Churern im Zusammenhang mit der Churer Drogenszene immer wieder hört und die sich auch in verschiedenen Statistiken zeigen. Die unbefriedigende Situation ist auch in der Politik erkannt und beschäftigt sowohl auf kantonaler als auch auf kommunaler Ebene. Der in der Kantonshauptstadt zuständige Stadtrat Patrik Degiacomi nimmt Stellung zu den aktuellen Herausforderungen und Lösungsansätzen und zeigt sich selbstkritisch.
Ladenbesitzer beklagen die Situation, Einwohnerinnen und Einwohner müssen mit Einbrüchen rechnen, und eine Geschäftsbesitzerin wurde gar mit einem Messer bedroht. Patrik Degiacomi, hat Chur rund um den Stadtpark ein Sicherheitsproblem?
Nicht nur um den Stadtpark, sondern in der ganzen Stadt. Und darüber hinaus haben wir das Problem, dass das Sicherheitsgefühl in den letzten Jahren massiv gelitten hat. Wir sehen das an den Meldungen, die an die Stadtpolizei Chur gemacht worden sind. Diese waren diesen Frühling vier Mal so hoch wie noch vor einem Jahr. Diese Meldungen betreffen zu einem kleineren Teil den Stadtpark und Umgebung, der Rest die übrige Stadt. Häufig gab es Beobachtungen von vermutetem Handel, von Konsum, aber auch von Aggressionen innerhalb der Drogenszene. Zum Glück bisher aber fast nie gegen Menschen ausserhalb dieser Szene. Das sind heute Einzelfälle, aber solche, die wir sehr ernst nehmen.
Und dann wäre da noch die Beschaffungskriminalität.
Genau, die Zunahme an Diebstählen und Einbrüchen zeigt sich auch in der Kriminalitätsstatistik. Da haben die Kantonspolizei und die Stadtpolizei nun auch eine gemeinsame Kampagne gestartet. Da geht es darum, die Menschen zu sensibilisieren. Vielfach lassen die Leute ihre Wohnungen und Autos unverschlossen. So steigt das Risiko von Diebstählen. Selbst wenn man zu Hause ist, sollte man abschliessen. Ich kenne Personen, die Einschleichdiebstähle erlebt haben, als sie zu Hause waren. Das ist sehr unangenehm.
Wie konnte es zu dieser Verschlechterung der Situation in den letzten Jahren kommen?
Was wir – auch aufgrund von Gesprächen mit Vertretern anderer Städte – vermuten, ist, dass die Coronapandemie dazu geführt hat. Die Erklärung ist, dass einige Partygänger, die Drogen konsumieren, und Menschen, die bisher im Versteckten konsumiert haben – sodass es teilweise nicht einmal die Familie weiss – die Kontrolle verloren haben. Denn während Corona war gerade die letztgenannte Gruppe teilweise plötzlich dauerhaft im Homeoffice und konnte darum nicht mehr vor der Familie versteckt konsumieren. Und dadurch gab es wohl Fälle, in denen Menschen dann Job, Wohnung und Familie verloren haben.
Ist also auch ein Anstieg an Personen im Stadtpark festzustellen?
Wir stellen einen Anstieg an «verelendeten» Personen fest. Der Anstieg ist nicht dramatisch. Die Szene ist also nicht stark gewachsen. Deshalb ist es auch so, dass die Polizei häufig sofort weiss, wer für die Diebstähle oder die Einbrüche verantwortlich ist. Es sind nämlich immer wieder die Gleichen, die sich kaum mehr an Regeln halten. Und das führt dann auch zu einer schwierigen Situation für die Bevölkerung.
Welche Möglichkeiten sehen Sie, um das Problem einzudämmen?
Ein einzelnes Element löst das Problem nicht. Das sagt die Bündner Regierung ebenso wie die Überlebenshilfe Graubünden, und das ist auch die Haltung des Stadtrats. Wir glauben, dass es einen Ort in der Stadt braucht, wo die Menschen hingehen und sich aufhalten können. Das wäre dann die geplante Kontakt- und Anlaufstelle. Es braucht aber auch einen Konsumraum. Hier will die Stadt etwas mehr als der Kanton. Dieser Konsumraum ist ein wichtiges zusätzliches Element. Er hätte drei Effekte. Erstens weniger Kleinhandel im öffentlichen Raum, zweitens würde der öffentliche Konsum zurückgehen. Und drittens wäre es auch für die Menschen selber eine Verbesserung. Für diese ist es schlimm, im Regen oder auf verdreckten WCs ihre Sucht auszuleben.
Kann auch eine Verschärfung des Polizeigesetzes ein Teil der Lösung sein? Beispielsweise im Bereich Videoüberwachung. Da ist heute im öffentlichen Raum relativ wenig möglich, wie ein Beispiel eines Churer Geschäfts zeigt (Ausgabe vom Mittwoch).
Der Stadtrat hat sich bisher nicht mit dieser Frage befasst. Man weiss jedoch, dass Videoüberwachung mit Personenidentifikation vor allem im überwachten Bereich eine gewisse Wirkung zeigt, jedoch immer wieder eine Verschiebung zum nicht-überwachten Bereich festgestellt werden konnte. Ich glaube nicht, dass die Churer Bevölkerung eine praktisch flächendeckende Überwachung mit Personenidentifikation befürworten würde. Falls es aber in einem genau definierten Bereich sinnvoll sein könnte, würde das der Stadtrat vielleicht in Betracht ziehen.
Sie haben im Juni einen Auftrag von SVP-Grossrätin Sandra Adank mitunterzeichnet. Darin geht es um verstärkte Repression. Weshalb unterstützen Sie diese Forderung?
Die Schweizer Drogenpolitik hat vier Säulen. Repression ist eine davon. Es stellt sich die Frage, ob wir in Chur oder allgemein in Graubünden bei allen Säulen – also auch bei der Therapie, bei der Prävention und der Überlebenshilfe – ein Problem haben. Ich bin der Meinung, dass wir in allen vier Bereichen Handlungsbedarf haben. Wenn es 40 bis 50 Delikte braucht, bis die Suchtmittelkranken für längere Zeit aus dem Verkehr gezogen werden, hilft das auch ihnen nicht. Es ist also so, dass man das Problem der Beschaffungskriminalität mit mehr Repression nicht eliminieren kann, aber wir können es reduzieren.
Ist die logische Folge daraus dann aber auch, dass es mehr Polizeikräfte brauchen würde? Eine Aussage in diese Richtung machte ja auch Andreas Werth, Chef Fahndung Chur der Kantonspolizei, kürzlich gegenüber dieser Redaktion.
Wir in der Stadt haben es so gemacht, dass wir die Prioritäten der Polizei verschoben haben. Es geht halt immer auf Kosten von etwas anderem – beispielsweise die Sichtbarkeit der Polizei in anderen Gebieten. Wir wollen die Personen, die viele Delikte begehen, enger kontrollieren und ausserdem auch alle Meldungen aus der Bevölkerung ernst nehmen können. Innerhalb weniger Minuten ist die Polizei vor Ort. Ich habe selber schon angerufen, weil vor unserem Haus gedealt wurde.
Wie konkret agiert die Stadtpolizei denn nun anders?
Es gibt nun eine Gruppe, die sich fast ausschliesslich mit der Thematik auseinandersetzt. Dies, weil sich zeitweise fast alles bei der Stadtpolizei um die Drogenszene drehte.
Und das zeigt Wirkung?
Ja. Dies kann ich vielleicht anhand konkreter Zahlen erläutern. Von März bis Mai im vergangenen Jahr gab es zwischen 0 und 3 Einsätze im Zusammenhang mit der Drogenszene. Ein Jahr später im gleichen Zeitraum lagen sie zwischen 8 und 19. Eine markante Steigerung also. Dann folgten die Reaktion der Stadtpolizei und die Umorganisation, was sich in den Zahlen vom Juni prompt manifestierte. Die Meldungen (Vorjahr: 0 bis 3) nahmen von zuerst 18 auf 14 und 7 bis zuletzt auf 5 kontinuierlich wöchentlich ab. Natürlich sind diese Zahlen nicht zuletzt auch davon abhängig, ob eben die Staatsanwaltschaft wieder einmal durchgreift. Wir haben aber Kenntnis davon, dass dies in diesem Zeitabschnitt teilweise auch geschah. Im Zusammenspiel mit den verstärkten Massnahmen der Stadtpolizei dürfen wir konstatieren, dass mindestens im Bereich Sicherheitsgefühl der Bevölkerung die Massnahmen eine gute Wirkung zeigten.
Hat sich der Fokus der Stadtpolizei erst in den letzten Jahren stark auf die Drogenszene verschoben?
Als ich 2017 als Stadtrat angefangen habe, war die Drogenszene kein Thema. Weder hatten wir das Gefühl, dass Handlungsbedarf besteht, noch ist von aussen jemand an uns herangetreten. Im Jahr 2018 kam dann die Polizei als Erstes auf den Stadtrat zu. Sie sagte, dass sich da etwas zu verändern beginnt. Sie ging auch auf das Sozialamt zu und fragte nach, ob man nicht etwas mit aufsuchender Gassenarbeit machen könne, weil die Polizei an den Anschlag komme.
Was war die Reaktion?
In einer ersten Reaktion haben alle – inklusive mir, das gebe ich zu – gedacht: Die Situation im Stadtpark ist jetzt seit 30 Jahren so. Nur bekommt man nun durch die Erneuerung des Stadtparks mehr mit. Aber die Polizei blieb hartnäckig. Gleichzeitig reichte im Grossen Rat Tobias Rettich den Auftrag für einen Konsumraum ein. Weil das Thema von verschiedenen Seiten angesprochen wurde, haben wir uns dann schliesslich im Stadtrat entschieden, eine Auslegeordnung zu machen, indem wir alle Fachleute befragen. Das Ergebnis war, dass sich die Szene tatsächlich verändert und sich das Problem ausweitet, sodass Massnahmen ergriffen werden müssen. Im Jahr 2019 war darum dann auch die Schliessung des Stadtparks ein Thema. Darauf haben wir dann aber verzichtet.
Und dann kam die Coronapandemie …
Genau. Mit dieser hat sich das Problem weiter akzentuiert und da haben wir entschieden, den Stadtpark in der Nacht zu schliessen. Ausserdem wurde ein Streetwork-Projekt aufgebaut und ein ausführlicheres Lagebild erstellt. Inzwischen ist die Drogenszene seit 2019 ein Dauerthema bei mir. Seit etwa zwei Jahren bekommt der gesamte Stadtrat etwa alle sechs Wochen ein Update der Lage von Fachpersonen. Das gibt es bei keinem anderen Thema. Wir nehmen das Thema also sehr ernst.
Muss man dennoch bilanzieren, dass das Thema zuerst auf kommunaler und danach auf kantonaler Ebene verschlafen wurde?
Wir waren etwa während 30 bis 40 Jahren in einem Dornröschenschlaf. In den 80er- und 90er-Jahren gab es ja ebenfalls grosse Probleme in Chur. Dann wurde ein Vorläufer der Notschlafstelle und der Überlebenshilfe eröffnet. Das war übrigens eine private Initiative, die zuerst die Stadt finanziert hat und erst später der Kanton. Dann kam das mit der Heroinabgabe und dem Methadonprogramm. Andere Regionen in der Schweiz haben dann noch Angebote wie Konsumräume aufgebaut, weiter wurden Therapien und die Unterstützung beim Wohnen besser ausgebaut als in Graubünden. Dies auch, weil im Kanton der grösste Druck weg war. Die Drogenszene war kanalisiert und im Stadtpark nicht mehr so sichtbar. Und so ist man eben in diesen kollektiven Dornröschenschlaf verfallen.
Ein Dornröschenschlaf mit Folgen …
Ja, wir sind in Graubünden auf halbem Weg stecken geblieben. Nicht nur im Vergleich mit Zürich, Basel und Bern, sondern etwa auch Solothurn, Luzern und Schaffhausen. Die haben seit Jahren Konsumräume und das funktioniert. Was also in Graubünden diskutiert wird, ist weit weg von Innovation.
Anfang Sommer hiess es, der Konsumraum soll bereits diesen Winter bereit sein. Wie realistisch ist das Stand heute noch?
Wir haben aufgrund räumlicher und anderer Kriterien rund 25 Liegenschaften in Chur geprüft. Mittlerweile kommen nur noch wenige infrage. Nur diese passen in unser Konzept und sind verfügbar. Aktuell laufen bei diesen Orten vertiefte Abklärungen. Das Ganze ist relativ komplex. Deshalb gehe ich aktuell davon aus, dass wir bis Ende September mehr sagen können. Das heisst für den Eröffnungsfahrplan – auch weil man bei allen infrage kommenden Liegenschaften baulich noch etwas machen muss – dass eine Eröffnung Anfang Winter illusorisch ist. Aber im Verlauf des Winters oder spätestens Ende Winter ist immer noch unsere Hoffnung.
Rechnen Sie noch mit Widerstand vonseiten Anwohnerinnen und Anwohnern in der Nähe des neuen Konsumraums?
Ja, das kann sein. Wir werden sicher sehr gut informieren. Die Leute im Umkreis des Raumes werden wir vorgängig einladen. Was man aber sagen muss – diese Erfahrung habe ich auch bei Besuchen verschiedener Konsumräumen in Zürich und Luzern gemacht – man merkt kaum, dass diese da sind. Es gehört zur Konzeption, dass man ausserhalb des Raumes Sicherheitspersonal hat, und die, die das Angebot nutzen, dürfen sich nicht vor dem Gebäude aufhalten oder im Quartier. Das will man nicht und da greift der Sicherheitsdienst oder die Polizei ein. Das Angebot funktioniert so, dass man eine strenge Einlasskontrolle hat und es Zulassungskriterien gibt. Bei Fehlverhalten gibt es eine Sperre für eine gewisse Zeit oder man darf sogar gar nicht mehr kommen. In Zürich funktioniert das, weil es auch für die Süchtigen eine grosse Erleichterung ist, wenn sie in sauberem Umfeld konsumieren können.
Ist die Unterstützung des Kantons für den Konsumraum nun da? Sie bemängelten immer wieder mal im Grossen Rat, dass der Kanton zu wenig unternehme, obwohl er zuständig wäre für die Drogenpolitik.
Die Zuständigkeiten sind klar und auch so im kantonalen Suchtmittelgesetz festgehalten. Mittlerweile funktioniert die Zusammenarbeit mit dem Kanton auch. Er akzeptiert, dass wir als Stadt mehr machen wollen, als es der Kanton vorsieht. Und es sind alle der Meinung, dass schnell etwas gehen muss. Der Kanton hat sich auch Unterstützung geholt – eine Projektleitung von der Fachhochschule. Seit Mai oder Juni merken wir nun, dass Bewegung in die Sache kommt. Aber vieles steht und fällt mit der Liegenschaft. Dann können konkrete Fragen geklärt werden wie die Kostenübernahme. Vom Kanton ist das Zeichen gekommen, dass wenn die Liegenschaft gefunden ist, man bereit ist, schnell zu arbeiten. Und das spüren wir auch.
Aber auch der Konsumraum wird nicht alle Probleme lösen.
Das ist so. In der Strategie, die wir auch im Churer Gemeinderat vorgestellt haben, war beispielsweise das Wohnen noch ein wichtiger Punkt. Denn die Kontakt- und Anlaufstelle und der Konsumraum sind ja dann nicht 24 Stunden und 365 Tage im Jahr offen. Das Thema Wohnen ist umso mehr ein wichtiger Punkt, weil sich das Problem in diesem Bereich in Chur noch verschärft hat. Wir gehen davon aus, dass es rund 35 Personen in der Szene gibt, die keine geregelte Wohnsituation haben. Im Frühling letzten Jahres waren wir da noch bei etwa 15 Personen. Das ist die angesprochene «Verelendung» des harten Kerns. Dazu kommt, dass es aktuell sowieso schwierig ist, eine Wohnung zu finden. Aber der Gemeinderat hat mit Stichentscheid beschlossen, dass in dieser Thematik etwas gemacht werden soll. Wir haben auch eine Bedarfserhebung erstellen lassen, deren Ergebnis bald bekannt sein wird. Darüber werden wir sicher auch den Kanton informieren.
Was braucht es weiter?
Im Bereich Therapien braucht es Verbesserungen. Wir sind da in Gesprächen mit den Hausärzten und den Psychiatrischen Diensten. Denn auch dort gibt es Probleme. Es herrscht ein Hausarztmangel. Aus der Drogenszene gibt es ganz wenige Personen, die enorm viele Ressourcen der Ärzte binden. Inzwischen ist es fast unmöglich für Leute aus der Szene, einen Hausarzt zu bekommen. Da klären wir mit den Hausärzten und der Überlebenshilfe ab, wie man ein Angebot schaffen kann. Und dann gibt es noch die Substitutionstherapie – also beispielsweise bei Opioidabhängigkeit wird Methadon abgegeben. Das wird vom Kanton gemacht und funktioniert sehr gut. Aber in anderen Kantonen ist dies teilweise niederschwelliger. Es müssen etwa weniger Kriterien erfüllt werden oder das Angebot besteht über längere Zeiträume des Tages. Da wäre ein Angebot toll, welches etwas offener gestaltet ist.
Und wie gehen diese Bemühungen voran?
Wir haben das Gespräch mit den Psychiatrischen Diensten Graubünden (PDGR) gesucht. Die Antwort war: Es wäre schon mehr möglich, das muss aber irgendwie auch finanziert werden. Und es sieht nun so aus, als könnten wir zusätzliche Angebote schaffen. Am Ende ist es wichtig, diesen Menschen in allen Bereichen etwas mehr Stabilität zu geben. Vielleicht hilft es in diesem Zusammenhang, wenn ich die Situation für die Suchterkrankten noch etwas bildlicher darstelle.
Nur zu.
Stellen Sie sich vor, dass man sich auf eine Wanderung begibt. Diese führt durch eine sumpfige Landschaft. Man weiss, hier darf ich nicht drauftreten und da kann ich auch nicht durchgehen. Ab und an gibt es im Boden einen Stein, der mir das Weiterlaufen ermöglicht, weil er mir Halt gibt. Das ist die Lebenssituation der Suchterkrankten. Je mehr Bereiche der Suchterkrankten Stabilität erhalten, desto eher stehen sie auf beiden Beinen und können selbstständig durchs Leben gehen. Und dann ihre Krankheit auch wirklich angehen und bekämpfen. Je weniger fixe Steine vorhanden sind, desto eher lande ich am Schluss aber im Sumpf.
Mehr Steine in diesen Sumpf zu legen, wird aber wohl nicht gratis zu haben sein.
Ja, der Kanton hat bereits im Dezember 2021 beschlossen, eine halbe Million Franken mehr auszugeben. Das ist schon einmal gut. Er hat dann die Kosten für die Streetwork von uns übernommen. Nur ist bisher von dem Geld halt noch nichts in ein neues und besseres Angebot geflossen. Aber wir sind in Chur ebenfalls bereit, mehr zu investieren, das sieht man auch im Budget 2024. Wenn man schaut, was in der Rechnung 2019 drin war – nämlich null Franken – und das vergleicht mit dem Budget fürs nächste Jahr – wo wir wahrscheinlich bei über 800 000 Franken sind – dann zeigt das schon, welches Ausmass das Ganze angenommen hat. Und der Fachkräftemangel macht es auch nicht einfacher. Wobei man sagen muss, dass es sehr interessierte Bündner Fachleute gibt, die aber teilweise ausserkantonal arbeiten aktuell – weil sie dazu gezwungen waren. Also ich glaube, in diesem Bereich finden wir schon Leute, wenn die Angebote geschaffen wurden.
Vielen Dank für das Gespräch. Haben Sie noch abschliessende Worte, die Ihnen wichtig sind?
Ja, es braucht noch etwas Geduld, eine einzelne Massnahme wird das Problem nicht lösen. Trotzdem ist es zum Wohle der ganzen Stadt nun wichtig, die Anlaufstelle und den Konsumraum schnell realisieren zu können. Da bitte ich jetzt schon alle um Verständnis, die vielleicht etwas in der Nähe wohnen. Wir garantieren auf der anderen Seite, sicherzustellen, dass nicht im Umfeld dieser Einrichtung verstärkt Drogenhandel und -konsum abläuft.
(https://www.suedostschweiz.ch/politik/drogensituation-in-chur-degiacomi-wir-waren-etwa-waehrend-30-bis-40-jahren-in-einem-dornroeschenschlaf)
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Suche nach Liegenschaft: Konsumraum für Drogensüchtige in Chur verzögert sich
Die Stadt Chur hat laut ihrem Stadtrat Patrik Degiacomi wegen der Drogenszene ein Sicherheitsproblem. Abhilfe soll ein Konsumraum schaffen. Doch die Eröffnung verzögert sich, wie der SP-Politiker im Interview mit der «Südostschweiz» sagte.
https://www.blick.ch/schweiz/graubuenden/suche-nach-liegenschaft-konsumraum-fuer-drogensuechtige-in-chur-verzoegert-sich-id18856227.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/tujetsch-gibt-gruenes-licht-fuer-zwei-alpine-solaranlagen?id=12440965 (ab 02:12)
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Immer mehr Drogen in Chur
Beitrag vom 15.08.2023
Die Drogenszene in Chur besorgt die Anwohner und Geschäftsleute. TV Südostschweiz spricht mit einem Geschäftsmann und fragt bei der Stadt nach, was unternommen wird.
https://www.suedostschweiz.ch/sendungen/immer-mehr-drogen-in-chur-15-08-23
+++SPORT
Gummischrotschüsse : Darum sind die Fussballfans in Luzern anders kaum zu stoppen
Die Luzerner Polizei teilt mit, dass sie «nicht nötige» Gummischrotschüsse abgegeben hat. Die Situation rund um die Fussballspiele des FC Luzern ist angespannt. Tätliche Auseinandersetzungen sind oftmals garantiert.
https://www.20min.ch/story/luzerner-polizei-mit-fussballfans-ueberfordert-508647675593
Hooligans und Ultras: «Egal, ob Gewinner oder Verlierer, gewaltbereit sind beide»
Fussballfans in Luzern machen der Polizei schwer zu schaffen. Psychiater Thomas Knecht erklärt, warum die Fans gewalttätig werden und wie sie Lokalpatriotismus bei ihren Aktionen bewegt.
https://www.20min.ch/story/fussballfans-machen-der-luzerner-polizei-zu-schaffen-658728022350
Kommentar «Chefsache»: Die Polizei-Panne ist heikel und der Pommes-Protest der FCL-Ultras entlarvend
Ohne Not mit Gummischrot gegen schottische Fans – so nervös darf die Luzerner Polizei nicht agieren. Der unnötige Zwangsmittel-Einsatz kommt zur Unzeit, auch weil die blau-weisse Fankurve Stimmung macht wegen angedrohter Massnahmen nach der Auswärtspartie gegen St. Gallen. Ein Kommentar.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/kommentar-chefsache-polizei-panne-und-absurder-pommes-protest-der-fcl-ultras-ld.2501452
+++POLICE BE
Hackerangriff auf die Kantonspolizei Bern
Die Kantonspolizei Bern wird Opfer eines Hackerangriffs. Dabei stehlen Unbekannte Kontaktdaten von allen 2800 Mitarbeitenden. Grund für den Angriff ist eine Sicherheitslücke in einer App, das zeigen Recherchen von SRF «10 vor 10».
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/hackerangriff-auf-die-kantonspolizei-bern-153060128
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/spitalneubau-stoesst-auf-grosses-interesse?id=12440962
+++RECHTSPOPULISMUS
Wahlkampfsong: «We are Family»-Komponist knöpft sich Zürcher SVP-Politiker vor
Nachdem der SVP-Wahlkampfsong «Das isch d’SVP» auf Youtube gesperrt wurde, meldet sich US-Musiker Nile Rodgers erneut zu Wort – und richtet sich direkt an einen Zürcher SVP-Politiker.
https://www.20min.ch/story/wahlkampfsong-we-are-family-komponist-knoepft-sich-zuercher-svp-politiker-vor-330523014787
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Bewegung um Nicolas A. Rimoldi: Mass-voll tritt in Basel-Stadt zu Nationalratswahlen an
Staatskritische Nationalratskandidaten am Rheinknie: Der Mass-voll-Gründer spricht von «Topleuten, die gegen alle Widerstände für die verfassungsmässige Ordnung eintreten».
https://www.tagesanzeiger.ch/buergerrechtsbewegung-um-nicolas-rimoldi-mass-voll-tritt-in-basel-stadt-zu-nationalratswahlen-an-691911268470
+++HISTORY
solothurnerzeitung 19.08.2023
Vor 400 Jahren wurde in Lostorf zum letzten Mal im Niederamt eine Frau als «Hexe» verbrannt: Die Geschichte von Anna Weyer
Kindsmörderin «auf feuerrotem Ross»: Heute vor 400 Jahren wurde Anna Weyer von einem Mob abgeurteilt, gelyncht und verbrannt – als die letzte Niederämter «Hexe». Davon erzählen zwei Einträge in den Jahrbüchern für Solothurner Geschichte.
Hannah Jauch
Schon im Jahre 1383 sollen die Belagerer von Olten eine «Hexe» für ein Unwetter verantwortlicht gemacht haben, welches sie zum Abzug zwang. Als Olten durch Berner und Solothurner Truppen belagert wurde, soll Graf Berchtold von Kyburg, unter dessen Herrschaft die Stadt damals stand, Metzina Wächter zu Hilfe gerufen haben: Er bot ihr im Gegenzug an, sie nicht als «Hexe» zu denunzieren.
Danach habe sie auf der Zinne der Ringmauer einige Worte gesprochen, worauf ein grosses Unwetter losbrach, das die Belagerer zum Abzug gezwungen habe. Heute erinnert ein Platz an Oltens Retterin Metzina Wächter.
Von dieser ersten Überlieferung an sollte es noch 300 Jahre dauern, bis im Kanton Solothurn die letzte als «Hexe» verurteilte Frau ihren Tod fand. Dies geht aus den Aufzeichnungen von Ambros Kocher und Alwin von Rohr hervor, die dieses dunkle Kapitel der regionalen Geschichte aufarbeiteten und 1984 in den «Jahrbüchern für Solothurner Geschichte» veröffentlichten.
Von Rohr schreibt, dass der Aberglaube des Mittelalters besagte, dass es «Hexen» gab, die «Freundschaft und Buhlschaft mit dem Teufel trieben». Durch hexische Verwünschungen erklärte man sich Viehsterben, Unwetter, Fehlgeburten und Krankheiten. Sämtliche Institutionen riefen dazu auf, «Hexen» auszurotten.
Es ist zu vermuten, dass verschmähte Liebe, Neid und Rache oft Grund für Anschuldigungen boten. Weltweit drei Millionen Menschen, in unseren Breitengraden rund 80 Prozent davon Frauen, soll der Prozess gemacht worden sein.
Feuertod sollte die Seele reinigen
Die erste Verurteilte im Niederamt soll Anna Schwebin in Lostorf im Jahre 1466 gewesen sein. Nach erhobener Anklage wurde die vermeintliche Denunziantin vom Landvogt auf Schloss Gösgen vernommen. Teil solcher Vernehmungen war körperliche Tortur. Gefangene wurden bis zur geistigen Verwirrung oder zur Ohmacht gefoltert.
Meist in der Hoffnung, ein Geständnis erzwingen zu können. Daraufhin fällte der Rat von Solothurn das Urteil. Gewöhnlich wurden die bezichtigten «Hexen» bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Damit werde ihre Seele vor Gott gereinigt, so glaubte man.
Die resolute Anna Schwebin legte jedoch laut Überlieferung auch nach härtester Folter kein Geständnis ab. Sie wurde dazu verurteilt, Urfehde zu schwören, was bedeutete, sich niemals an Solothurn oder dem Ankläger zu rächen. Nach ihrer Entlassung musste sie innert vierzehn Tagen das Land verlassen. Von Rohr schreibt, die Verurteilten seien meistens «Landesfremde oder Witwen» gewesen, für die niemand einstehen konnte.
Geständnisse führten in den sicheren Tod
1547 wurde der Trimbacherin Barbeli Kramer der Prozess gemacht. Laut Zeugenaussagen habe man sie auf einem «Haselstecken» nach Ifenthal reiten sehen. Sie starb den Feuertod. Eine weitere Trimbacherin wurde 1598 angeklagt. Obwohl Maria Schilling mit Steinen beschwert aufgehängt wurde, weigerte sie sich, zu gestehen. Sie überlebte. Auch in Stüsslingen wurden gemäss Überlieferung 1588 einige Frauen der Hexerei bezichtigt, später aber freigesprochen.
Anders erging es Katharina Löffler 1598 in Hauenstein. Nach intensiver Folter gestand sie, sexuellen Verkehr mit dem Teufel gehabt, ihren Schwiegersohn vergiftet und einen Hauensteiner entmannt zu haben. Von Rohr schreibt, dass viele solcher Geständnisse den Frauen von ihren Peinigern in den Mund gelegt wurden. Sie starb auf dem Scheiterhaufen.
Die letzte «Niederämter Hexe»
Die 60-jährige Anna Weyer aus Lostorf wurde heute vor 400 Jahren, im Jahr 1623, der Hexerei bezichtigt. Sie war die Witwe von Hans Fröudeler; Frauen in dieser Zeit behielten bei der Heirat ihren Familiennamen. Heinrich Lüscher klagte sie an, sie habe sein siebenwöchiges Kind verhext, welches kurz darauf verstarb. Als sie daraufhin vom Landvogt vernommen wurde, stritt Weyer alles ab. Jedoch, so der Bericht, sprach sie währenddessen «eine grosse Unzucht» aus. Ihr wurde der Prozess gemacht.
Gleich mehrere Zeugen belasteten die Frau. So etwa Jakob Müller, der sagte, er und andere hätten sie auf einem feuerroten Ross reiten sehen. Hans Jakob Widmer sagte, sie sei vor seinen Augen plötzlich verschwunden. Überliefert ist ausserdem die Aussage von Anna Ott, die selber der Kindstötung schuldig gesprochen worden war. Sie sagte aus, dass Weyer in ihrem Haus Zuflucht gesucht habe, als ihr Mann sie schlug. Dort habe sie Otts Kind gelähmt und ein anderes erblinden lassen.
Nach etlichen Vernehmungen und Folterungen gab Weyer alle Anschuldigungen zu. Am 19. August 1623 wurde sie bei lebendigem Leibe auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Unglücklicherweise habe sie laut den Überlieferungen während eines Verhörs auch ihre Tochter, Anna Fröudeler belastet. Diese stritt alle Anklagen ab, und gestand stattdessen uneheliche Kinder auf die Welt gebracht zu haben, was Nachforschungen zufolge nicht der Wahrheit entsprach. Sie wurde des Landes verwiesen.
Das Ende des europäischen Hexenwahns
Kurz auf die letzte Niederämter Hexenverbrennung folgte vermehrt Widerstand gegen das Prozedere. Der Geistliche Friedrich Spee von Langenfeld brachte 1631 mit einer Publikation gegen Hexenprozesse sein Leben in Gefahr. Darin schrieb er, dass er über 800 Frauen auf ihrem letzten Gang zum Scheiterhaufen begleitet habe und überzeugt sei, dass jede Einzelne von ihnen unschuldig war.
Trotzdem ging die Hexenjagd weiter. Im Jahre 1707 wurde die vermutlich psychisch kranke Magdalena Marti aus Pfaffnau als letzte Hexe von Solothurn hingerichtet. Die 1711 angeklagte Elisabeth Grob aus Trimbach wurde freigesprochen, starb jedoch später an den Folgen ihrer Marterung. 1783 war die berühmte Anna Göldi schliesslich die letzte Frau der Schweiz und ganz Westeuropa, die als «Hexe» starb.
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/niederamt/auf-dem-scheiterhaufen-vor-400-jahren-wurde-in-lostorf-zum-letzten-mal-im-niederamt-eine-frau-als-hexe-verbrannt-die-geschichte-von-anna-weyer-ld.2481682)
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derbund.ch 19.08.2023
Hitlers Besuch in der Schweiz: «Hitler äusserst sympathisch!»
Das sagt Clara Wille, die Frau des Weltkrieg-Generals, als Hitler im August 1923 die Schweiz besucht. Eine Rekonstruktion der Reise und Einblick in die Schweizer Akte des Naziführers.
Andreas Tobler, Sandro Benini, Sebastian Broschinski
«Die Lage in Deutschland treibt unwiderstehlich der Katastrophe entgegen.»
Mit diesem Satz beginnt Adolf Hitler seine Rede in Zürich, vor erlesenem Publikum, in einem gediegenen grossbürgerlichen Ambiente. Am 30. August 1923 hat sich in der Villa Schönberg in Zürich-Enge eine Gruppe einflussreicher Schweizer versammelt, um dem rechtsextremen Politiker aus München zuzuhören.
Die Villa Schönberg befindet sich damals im Besitz eines der einflussreichsten Schweizer Familienclans, der dank Heiraten zwischen Mitgliedern der Familien Wille, Schwarzenbach und Rieter entstanden ist. Der im Stil eines englischen Landsitzes errichtete rote Backsteinbau liegt in einem Park mit altem Baumbestand, seine Zimmer haben Holzdecken mit Intarsien, Kronleuchter, Seidentapeten. «Verwunschen» nennt Niklaus Meienberg das Gebäude in seinem Buch über die Familie Wille.
Sein exklusives Schweizer Publikum – wer genau anwesend ist, weiss man allerdings bis heute nicht – versucht Hitler mit eindringlichen Beschreibungen der deutschen Wirtschaftsmisere zu beeindrucken, die zwangsläufig in eine bolschewistische Revolution münden werde. In Bayern müsse deshalb eine rechte Diktatur die Macht übernehmen, um Berlin «zurückzuerobern» und «den preussischen Bolschewismus zu zertrümmern». Ausserdem, so beteuert Hitler, sei eine wirtschaftliche Gesundung Deutschlands «nur möglich, wenn rücksichtslos dreingefahren» werde, konkret: wenn die Regierung alle «überflüssigen Arbeiter und Beamten» entlasse, wenn man die Arbeitszeit erhöhe und die Löhne senke. Nur eine rechte Diktatur sei zu einem solch unpopulären Schockprogramm fähig. Und: «Ein Mittelding zwischen der Diktatur des Proletariats oder der Diktatur von rechts gibt es nicht.»
Geldnöte wegen Inflation
Im August vor hundert Jahren ist der grösste Verbrecher der Menschheitsgeschichte erstmals – und letztmals – in die Schweiz gereist. Jahrzehnte danach wird eine rätselhafte Mitschrift seines in der Villa Schönberg gehaltenen Vortrags auftauchen – aber davon später mehr.
Das Ziel von Hitlers Reise ist klar: Der damals 34-Jährige will Geld für die NSDAP sammeln, die sich in finanziellen Nöten befindet, nicht zuletzt wegen der in Deutschland galoppierenden Inflation. Wenige Wochen nach seinem Aufenthalt in der Schweiz wird Hitler vergeblich versuchen, sich an die Macht zu putschen.
Die Rekonstruktion des Hitler-Besuchs zeigt auch, dass die Schweizer Behörden schon zuvor auf den braunen Agitator aufmerksam geworden sind. Das geht aus Hitlers Schweizer Akte hervor, die wir im Bundesarchiv in Bern konsultiert haben und hier veröffentlichen.
Schweizer Informanten vom «Volksredner» beeindruckt
Den Schweizer Behörden ist Hitler demnach seit zwei Jahren als «Vertreter der nationalsozialistischen deutschen Arbeiterpartei» bekannt. Auf dem Deckblatt des Hitler-Dossiers kleben zwei Fotos des Politikers sowie eine Zeichnung aus einer Publikation der italienischen Sozialisten, die Hitler als «Kopf der deutschen Faschisten im Dienst der deutschen Industrie» karikiert.
Wenn Hitler in München als Redner auftritt, sind oft Informanten der Schweizer Behörden dabei. Einiges verstehen sie offensichtlich falsch, etwa, wenn sie erwähnen, Hitler «liebäugelt mit den Kommunisten». Oder er sei nur eine «Marionette» und ein «Werkzeug anderer». Sie halten aber auch fest, der Agitator sei ein radikaler Antisemit und wolle eine Diktatur errichten. Er sei «ein wirklicher Volksredner», der es verstehe, «seine Zuhörer zu begeistern & zu tätigen Mitgliedern zu entflammen».
Hitler kann zufrieden sein
Mit dem, was er erreicht hat, kann Hitler im Sommer 1923 tatsächlich zufrieden sein. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und seiner Entlassung aus der Reichswehr ist es ihm gelungen, sich in München zum alleinigen Parteiführer der NSDAP aufzuschwingen. In der rechtsextremen, völkisch-nationalistischen Szene der bayerischen Metropole ist Hitler zur markantesten Figur geworden. Tausende strömen zu seinen Brandreden im Bürgerbräukeller, im Hofbräuhaus, im Kindlkeller oder im Circus Krone, wo er gegen den Versailler Vertrag, die Weimarer Republik und die «jüdischen Wucherer, Schieber und Banditen» hetzt.
Wie der renommierte NS-Forscher Peter Longerich in seiner Hitler-Biografie festhält, wird die «schnell expandierende NSDAP 1923 zu einer Massenbewegung», treten doch allein zwischen Januar und November 47’000 neue Mitglieder ein. Dennoch leidet die Partei unter akuter Geldnot, unter anderem, weil sie ihr Parteiorgan «Völkischer Beobachter», das früher wöchentlich erschienen ist, neu als Tageszeitung herausgibt. Während sich Hitler zuvor als «Trommler» für einen rechten Diktator bezeichnet hat, der Deutschland wieder zu alter Grösse führen werde, beginnt er um 1923, sich zusehends selbst als künftigen Retter des Vaterlandes zu inszenieren.
Hitler versprach, auf «jegliche politische Tätigkeit» zu verzichten
Am 25. August 1923 beantragt Hitler auf dem Schweizer Generalkonsulat in München eine Einreiseerlaubnis, die er sofort erhält. Der Konsul Gustav Hegi teilt dem Eidgenössischen Politischen Departement – also dem Aussenministerium – nachträglich mit, der «bekannte Führer der Nationalsozialistischen Partei, Schriftsteller Adolf Hitler», werde zu «Studienzwecken» in die Schweiz reisen. Hitler habe versprochen, auf «jegliche politische Tätigkeit» zu verzichten. Später wird Hegi vom Chef der Fremdenpolizei Heinrich Rothmund getadelt: Sollte Hitler irgendwann erneut um ein Visum bitten, dürfe das Konsulat dies erst erteilen, nachdem eine «Ermächtigung» aus Bern eingetroffen sei.
Treffen mit Hitler aus «rein journalistischem Interesse»?
Vermutlich reist Hitler in einem alten, von einem Chauffeur gesteuerten Mercedes von München nach Zürich. Er steigt im Hotel St. Gotthard an der Bahnhofstrasse ab, das damals mit seinen «mässigen Preisen» wirbt.
Hier trifft er zunächst sechs bis acht Gönner, von denen er sich Geld für seine Partei erhofft. Die potenziellen Sponsoren stammen aus nationalistischen Kreisen und aus dem Kader der Kreuzwehr, einer paramilitärischen, völkisch-nationalen Gruppierung, die kurz zuvor gegründet wurde. Im Hotel St. Gotthard erscheint auch Hans Oehler, Mitbegründer und Redaktor der «Schweizerischen Monatshefte», des damaligen Organs des rechtsradikalen Volksbundes für die Unabhängigkeit der Schweiz. Später steht in einem Bericht der Deutschen Gesandtschaft in Bern, Oehler habe aus «rein journalistischem Interesse» am Treffen mit Hitler teilgenommen.
In der Schweiz haben sich in der ersten Hälfte der 1920er-Jahre die Aktivitäten nationalistischer, völkischer und antisemitischer Kräfte verstärkt. Beflügelt werden sie nicht zuletzt durch den italienischen Diktator Benito Mussolini, dessen faschistische Partei im Oktober 1922 in Rom die Macht ergreift. Laut dem Historiker Hans Ulrich Jost – einer der renommiertesten Experten für linken und rechten Extremismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz – entsteht hierzulande ein Geflecht aus paramilitärischen Heimwehren, rechten Studentenverbindungen, patriotischen Vereinigungen gegen Ausländer und Kommunisten. «Dem Frontenfrühling, der in der Schweiz in den 1930er-Jahren ausbrechen wird, geht zehn Jahre zuvor ein rechtsextremer Vorfrühling voraus», sagt Jost im Gespräch mit dieser Redaktion. Dem Historiker zufolge sind es Dutzende von Gruppierungen, die zwar keine eigentliche Massenbewegung bilden, aber viele Anhänger haben – «gerade in den traditionell deutschlandfreundlichen Kreisen von Unternehmern, Grossbürgern, Akademikern und Militärs».
In einem Bericht der Deutschen Gesandtschaft an das Auswärtige Amt in Berlin heisst es, die Kreuzwehr habe ausser den öffentlich bekannten Satzungen «noch besondere Geheimbestimmungen, die stark antisemitischen Charakter» tragen würden. «Der Münchner Antisemitenführer Adolf Hitler ist denn auch Ende August in Zürich (später auch in Bern) gewesen und hat mit den Organisatoren der Kreuzwehr sowie mit alldeutschen Kreisen Fühlung aufgenommen.»
Für Hitlers Aufenthalt in Bern gibt es ausser dem Bericht der Deutschen Gesandtschaft keine Belege. Immerhin ist dieses Dokument aber so wichtig, dass es die Amerikaner nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs abfotografieren. Das Original des Berichts gilt heute als verschollen: Als das Politische Archiv des Auswärtigen Amts im Jahr 2000 von Bonn nach Berlin umzog, verschwand es unter ungeklärten Umständen zusammen mit anderen Dokumenten, die bereits auf einer Palette mit einer Stretchfolie umwickelt für den Umzug vorbereitet waren.
Hitler ist nicht der erste Nationalsozialist, der zu Beginn der 1920er-Jahre in der Schweiz reiche Gönner sucht. Mehrere Vertreter der NSDAP sind schon im Frühjahr 1923 in die Schweiz gereist. Das Terrain ist vorbereitet, weil seit Winter 1922 Rudolf Hess in Zürich lebt. Der spätere Stellvertreter Hitlers, der bei seiner Tante wohnt, will angeblich an der heutigen ETH studieren. Immatrikuliert ist er am Polytechnikum aber nie. Hess’ Aufgabe ist offensichtlich eine andere: Er soll Kontakte zu völkisch-nationalistischen Kreisen in der Schweiz knüpfen, und er tut dies erfolgreich. Wöchentlich isst Hess in der Villa Schönberg zu Mittag, als Gast von Ulrich Wille junior, genannt Ully – dem Sohn des deutschfreundlichen Generals Ulrich Wille, der während des Ersten Weltkriegs Oberbefehlshaber der Schweizer Armee war. Offensichtlich ist es Hess gelungen, den Sohn des Generals für Hitler zu interessieren. Noch vor dessen Zürich-Reise hat der junge Wille Veranstaltungen der NSDAP in München besucht und Hitler persönlich kennen gelernt.
«Wertvolle Anhaltspunkte und Anregungen»
Über Hess kam wohl auch Hitlers Privatsekretär Emil Gansser in die Schweiz, der zu jener Zeit als aktivster und erfolgreichster Geldsammler der Partei gilt. Aber Ganssers Vorstösse in der Schweiz schlagen fehl. Es sei ihm nicht möglich gewesen, bei General Wille Geld «in der gewünschten Höhe flüssig zu machen», heisst es in einem Telefonprotokoll vom Frühjahr 1923. Besuche von NSDAP-Mitgliedern hätten sich ungünstig ausgewirkt, da einer der Parteigenossen viel zu forsch aufgetreten sei. Ein anderer sei negativ aufgefallen, weil er seine Hotelrechnung nicht beglichen habe. «Der Schweizer Boden» erfordere «weltgewandte Typen, wenn die Sachen überhaupt reüssieren sollen», schärft Gansser seinen Parteikollegen ein.
Am 28. August 1923 besucht Hitler zusammen mit seinem Privatsekretär in Schaffhausen den Industriellen Ernst Homberger, Generaldirektor des Industrieunternehmens Georg Fischer und seit dem Tod seines Schwiegervaters Familiendelegierter in der Luxusuhrenfabrik, die heute IWC heisst.
Homberger zeigt sich angetan von Hitler, wie ein Brief belegt, den der Schweizer Industrielle noch gleichentags an Fritz Funk, den Vizepräsidenten der Brown, Boveri & Co. schickt: «Die Ausführungen, die ich soeben vom bekannten Volksredner gehört habe, waren ausserordentlich interessant, und ich habe die Überzeugung, dass Sie aus einer Aussprache mit ihm wertvolle Anhaltspunkte und Anregungen für sich selbst und eventuell auch für unsere Verbandsbestrebungen gewinnen könnten.» Homberger habe sich deshalb erlaubt, Hitlers Privatsekretär die Adresse von Funk zu geben. «Herr Dr. Gansser [wird] Sie von Zürich aus anfragen, ob Sie ihn empfangen können und wollen.»
«Ein gefährlicher Demagog»
Aber Funk von Brown, Boveri & Co. will nicht. Hitler werde «in Deutschland als ein gefährlicher Demagog betrachtet». Wenn es nur darum ginge, die Ansichten von Hitler und Gansser zu hören, «so wäre dies vielleicht ganz interessant; aber man kann nicht voraussehen, welchen Gebrauch dann später solche Herren von Unterredungen hier in der Schweiz machen werden, und darin liegt ganz sicher eine nicht zu unterschätzende Gefahr» – nicht zuletzt, weil Gansser und Hitler ja auf Spenden für die NSDAP aus seien, woraus später der Vorwurf erhoben werden könnte, «dass eine revolutionäre Bewegung von Seiten einer schweizerischen Firma oder eines schweizerischen Verbandes Unterstüzung erhalten habe».
Von anderen wird der Nationalsozialist hingegen empfangen: Drei Tage nach dem Besuch bei Homberger in Schaffhausen ist Hitler – zusammen mit dem früheren Berufsmilitär Fritz Gertsch – zu Gast bei General Ulrich Wille auf dessen Landgut in Feldmeilen. «Hitler äusserst sympathisch! Der ganze Mensch bebt, wenn er spricht; er spricht wundervoll», notiert Clara Wille-von Bismarck, die Gattin des Generals, nach dem Besuch in ihrem Tagebuch. Der General scheint jedoch weniger begeistert zu sein – zumindest, wenn wir seiner Enkelin Annemarie Schwarzenbach glauben, die einmal einer Freundin vom Hitler-Besuch bei ihren Grosseltern erzählt haben soll: «Um Gottes willen, warum muss der Mann die ganze Zeit so schreien?», soll der General nach dem Mittagessen mit Hitler gesagt haben. Auch Annemaries Bruder Hans Schwarzenbach glaubt sich später daran zu erinnern, dass General Wille Hitler als «reinen Phantasten» abgetan und sich gefragt habe, wie er ihn möglichst schnell wieder loswerde.
Hitler passt Rhetorik den Zürcher Grossbürgern an
Wer Hitlers zu Beginn erwähnte Rede in der Villa Schönberg mit dem Titel «Zur Lage in Deutschland» mitstenografiert hat und warum, wer ihn später in die Maschine getippt hat – das weiss man nicht. Nachdem der Historiker Alexis Schwarzenbach die Mitschrift im Nachlass seines Urgrossvaters Alfred Schwarzenbach gefunden hat, publiziert und kommentiert er sie im Jahre 2006 vollständig als Faksimile in einer historischen Fachzeitschrift.
Im Wohnzimmer, in dem Hitler laut dem Historiker Alexis Schwarzenbach seine Rede wahrscheinlich gehalten hat, haben auf Stühlen sitzend «höchstens 15 bis 20 Leute» Platz.
Hitlers Biografen betonen einhellig, wie geschickt sich der Naziführer jeweils den Wünschen und Erwartungen seines Publikums anpasst, wie geschmeidig er jeweils die Rolle spielt, von der er sich den grössten politischen und persönlichen Gewinn verspricht. Der Kommunismus als drohende Weltkatastrophe, die Unausweichlichkeit – um eines von Hitlers Lieblingswörtern zu verwenden – «rücksichtsloser» Sparmassnahmen: «In Zürich passte Hitler seine Rhetorik einem grossbürgerlichen Publikum an», schreibt Alexis Schwarzenbach. Der Redner verzichtet auf grossdeutsch-nationalistisches Nüsternblähen, es kommt ihm kein einziger antisemitischer Satz über die Lippen. Und höchstwahrscheinlich hat er in der Villa Schönberg auch nicht gebrüllt oder die Fäuste geballt.
Schweizer Einkünfte waren bedeutend für die NSDAP
Mit seinen Verwandlungskünsten ist Hitler auch finanziell erfolgreich, obwohl die Schätzungen über die Spenden, die er auf seiner Schweizer Reise erhält, stark auseinandergehen: Insgesamt 123’000 Franken hätten die Nazis 1923 in der Schweiz eingenommen, heisst es in der damaligen Presse. Hans Oehler und sein Sekretär Hektor Ammann geben später jedoch an, Hitlers Besuch habe diesem nur 11’000 Franken eingebracht, 8000 Franken von Deutschen, die in Zürich lebten, und 3000 von Schweizer Bürgern, grösstenteils Antisemiten.
Der Historiker Raffael Scheck hat ausgerechnet, dass Hitler zu jener Zeit selbst mit 11’000 Franken 18 seiner höchsten NSDAP-Führer oder 43 Angehörige seiner SA zwischen dem Besuch in der Schweiz und dem Putschversuch, den Hitler am 8. November 1923 in München macht, hätte finanzieren können. Für die Nazis, die sich damals keine Zugtickets leisten konnten und Löhne oftmals in Form von Naturalien beglichen, sind die Schweizer Spenden ein bedeutender Beitrag – zumal 1923, dem Jahr, in dem eine beispiellose Hyperinflation die Weimarer Republik heimsucht. Laut Raffael Scheck sind die Spenden aus der Schweiz in jenen Monaten gar die wichtigsten Einkünfte der Partei.
Zurückgekehrt in die Schweiz ist Hitler nicht mehr. Publizistisch jedoch hatte er später im «Tages-Anzeiger» einen Auftritt. Am 17. Dezember 1931 publiziert die Zeitung auf ihrer Frontseite unter dem Titel «Was wollen wir Nationalsozialisten?» einen Gastbeitrag Hitlers. Darin wiederholt er zentrale Aussagen, die er 1923 bei seinem Auftritt in Zürich im kleinen Kreis vorgetragen hat.
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Wir danken dem Schweizerischen Bundesarchiv, dem Museum Rietberg, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Berlin, dem Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich, dem Zürcher Stadtarchiv, dem Baugeschichtlichen Archiv der Stadt Zürich und dem Staatsarchiv des Kantons Zürich für Hilfe bei der Recherche zu diesem Artikel.
Hier können Sie durch Hitlers Schweizer Akte blättern: https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2023/hitlersakte/hitlers_akte.pdf
(https://www.derbund.ch/hitlers-besuch-in-der-schweiz-hitler-aeusserst-sympathisch-792300934923)
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nzz.ch 19.08.2023
Hitler und die Schweiz: «Der ganze Mensch bebt, wenn er spricht; er spricht wundervoll»
Vor hundert Jahren reiste Adolf Hitler in die Schweiz, um Geld für seinen Putsch zu sammeln. Es war der Anfang einer unheilvollen Beziehung mit dem späteren Diktator. Eine Geschichte in fünf Episoden.
Marc Tribelhorn
Zürich, August 1923 – Fundraising bei der Elite
Vielleicht hätte der Welt viel Leid erspart werden können, wenn das Schweizer Generalkonsulat in München vor hundert Jahren anders gehandelt hätte. «Der bekannte Führer der national-sozialistischen Partei, Schriftsteller Adolf Hitler, hat bei uns am 25. August um die Einreiseerlaubnis auf acht Tage zu Studienzwecken nachgesucht. Wir haben ihm das Visum erteilt, nachdem uns versichert wurde, dass von jeglicher politischer Tätigkeit Abstand genommen werde», schreibt die Vertretung ans Aussendepartement in Bern. Allerdings zu spät, erst Anfang September 1923, als der Mann mit dem quadratischen Schnauz bereits wieder abgereist ist.
In Bern reagiert man verärgert, nicht nur wegen der unglaubwürdigen Begründung «Studienzwecke», sondern auch, weil man es verpasst hat, Hitler hierzulande überwachen zu lassen. Bis heute ist der Besuch des späteren Diktators in der Schweiz ein Mysterium – und zugleich ein Mahnmal dafür, wie einige Eidgenossen schon früh mit dem Nationalsozialismus sympathisierten.
Sicher ist, dass Hitler damals keine Bildungsreise unternimmt, sondern eine Fundraising-Tour, um seine Partei, die NSDAP, aus der akuten Finanznot zu retten. In Deutschland herrscht Hyperinflation, da helfen harte Devisen – besonders Schweizerfranken. Sein Privatsekretär Emil Gansser, ein Pharmazeut, gilt damals als der aktivste und erfolgreichste Spendensammler der Nazis in den Nachbarländern. Schon im Vorjahr ist er in der Schweiz bei Auslanddeutschen und Deutschlandfreunden vorstellig geworden, nun wird er es erneut.
Den «braven Schweizern» wird in «Werbebriefen (. . .) Angst gemacht vor dem an die Tür klopfenden Bolschewismus», heisst es in einem bayrischen Untersuchungsbericht über Ganssers Strategie. Aber dieser ist unzufrieden mit einigen seiner Nazi-Mitstreiter in der Schweiz: «Diese Leute schütten alle das Kind mit dem Bade aus», meldet er nach München. «Der Schweizer Boden erfordert weltgewandtere Typen, wenn die Sachen überhaupt reüssieren sollen.»
Und so reist der Vorsitzende der Partei gleich selbst an – Adolf Hitler.
Dokumentiert ist ein erster Halt in Schaffhausen, wo er mit Gansser am 28. August 1923 den Industriellen Ernst Homberger trifft, den Generaldirektor der Firma Georg Fischer. Homberger schreibt danach einem befreundeten Wirtschaftsführer begeistert: «Die beiden Herren bezwecken mit ihrem Besuch eine Aufklärung und Orientierung von solchen Schweizer Persönlichkeiten, die sich für die kommenden politischen und wirtschaftlichen Ereignisse in Deutschland interessieren.» Ob Geld fliesst, ist bis heute unbekannt. Unklar bleibt auch, wo Hitler während seiner Tour de Suisse nächtigt.
Am 30. August bespricht sich Hitler im Hotel St. Gotthard an der Zürcher Bahnhofstrasse mit Hans Oehler, dem Herausgeber der germanophilen «Schweizerischen Monatshefte», sowie «ungefähr sechs bis zehn Herren» – wie es in Akten der deutschen Polizei heisst, die den «Antisemitenführer» im Gegensatz zur schweizerischen Bundesanwaltschaft im Visier hat. Und noch gleichentags begibt sich Hitler in die Villa Schönberg, im idyllischen Rieterpark in Zürich Enge gelegen. Es ist der Wohnsitz von Ulrich Wille junior, dem Sohn des gleichnamigen Generals im Ersten Weltkrieg.
Wille junior hat mit Hitler schon 1922 in Deutschland Bekanntschaft gemacht und konstatiert, dass «seine Person und Arbeit für die Zukunft von grosser Bedeutung ist». Ganz kritiklos ist er indes nicht und findet zumindest, «die Elimination der Juden durch Maschinengewehre» sei «ein Fehler». Nun lädt Wille junior den Besuch aus München zu einer «Unterredung» in grösserer Runde. Eine Gästeliste ist nicht überliefert, auch kein Foto, vielleicht zum Selbstschutz der Anwesenden. Eine Nähe zu Hitler, den die NZZ als «gefährlichen» Volksverhetzer bezeichnet, ist ein Wagnis. Dafür wissen wir, was gesprochen wurde.
Der Historiker Alexis Schwarzenbach hat vor einigen Jahren eine Mitschrift des Auftritts zutage gefördert, der Titel: «Zur Lage in Deutschland». Namentlich genannt ist Hitler nicht, vielmehr verweist das Dokument geheimniskrämerisch auf «einen bayrischen Politiker, der in der nächsten Zeit eine grössere Rolle zu spielen berufen sein kann». Laut Protokoll malt Hitler das Schreckgespenst einer kommunistischen Revolution in Deutschland an die Wand: «Eine Gesundung Deutschlands ist nur möglich, wenn rücksichtslos dreingefahren wird. (. . .) Eine solche Umwälzung kann nie von einer parlamentarischen Regierung durchgeführt werden, sondern nur von einem Diktator.»
Und so lautet Hitlers Fazit: «Ein Mittelding zwischen der Diktatur des Proletariats oder der Diktatur von rechts gibt es nicht.» In Teilen des Schweizer Grossbürgertums ist man für solche Voten durchaus empfänglich, die Niederschlagung des Landesstreiks liegt erst wenige Jahre zurück, die Angst vor dem Bolschewismus ist gross. Und Hitler hat sich offenbar seinem Publikum angepasst, der fanatische Judenhass, sonst Kern seiner Auftritte in den Bierkellern Bayerns, fehlt in Zürich.
Tags darauf geht es für den deutschen Gast weiter nach Meilen, auf das Landgut Mariafeld am Zürichsee, wo Ulrich Wille senior residiert. Dessen Gattin Clara, eine geborene Bismarck, notiert in ihr Tagebuch: «Hittler äusserst sympathisch! Der ganze Mensch bebt, wenn er spricht; er spricht wundervoll.» Der frühere General indes ist weniger begeistert: «Um Gottes willen, warum muss der Mann die ganze Zeit so schreien?», soll er geklagt haben.
Auch in Bocken, dem Anwesen der Seidenfabrikantenfamilie Schwarzenbach in Horgen, ist Hitler zu Besuch. In den nicht immer präzisen deutschen Polizeiakten werden zudem Reisen nach Basel und Winterthur erwähnt, wofür jedoch weitere Belege fehlen. Auch die Summe, die Hitler in jenen Augusttagen in der Schweiz von Privaten und Unternehmen akquiriert haben soll, variiert: Wahrscheinlich ist die Summe von 33 000 Schweizerfranken. Was nach wenig tönt, entspräche nach heutiger Kaufkraft rund einer halben Million Franken, also viel Geld, um Parteikader und Schlägertrupps zu bezahlen. Und so bilanziert der Historiker Raffael Scheck: «Die Schweizer Gelder müssen beträchtlich gewesen sein und waren möglicherweise ausschlaggebend für die intensiven Aktivitäten der Nazis im Herbst 1923.»
In der Nacht auf den 9. November versucht sich Hitler in München an die Macht zu putschen. Er ruft die «nationale Revolution» aus – und scheitert. Sein erster Griff nach der Macht endet im Kugelhagel der Polizei. Doch nun kennt ihn ganz Deutschland und halb Europa. Nach seiner Verurteilung wegen Hochverrats sitzt er als berühmtester Gefangener in der Festung Landsberg, wo er «Mein Kampf» verfasst, seinen Propagandaband und Bestseller. Ein Exemplar lässt er auch Ulrich Wille, dem Generalssohn, zukommen, als Zeichen der Wertschätzung – und wohl auch als Dank für die Unterstützung aus Zürich. Über «Schweizer Hitlergelder» und «Hitlers Fränkli» haben deutsche Zeitungen nach dem fehlgeschlagenen Coup berichtet. Oder gar dramatisch getitelt: «Der Hitlerputsch von der Schweiz bezahlt.»
Ein knappes Jahrzehnt vergeht, bis Hitler 1933 die «Machtergreifung» in Deutschland doch noch gelingt. Wille junior, inzwischen Waffenchef der Infanterie, schreibt an Rudolf Hess, einen Nazi der ersten Stunde und früheren Gast in der Villa Schönberg: «Zweck dieses Briefes ist, Sie zu bitten, bei Gelegenheit dem Herrn Reichskanzler meine herzlichen Grüsse zu übermitteln und meine herzlichen Wünsche für das deutsche Land und Volk. Heil einem neuen, freien, grossen Deutschland!»
Berlin, Februar 1937 – Privataudienz beim «Führer»
Ulrich Willes Begeisterung mag aussergewöhnlich sein. Aber Hitlers Aufstieg zum Reichskanzler wird auch in den bürgerlichen Blättern der Schweiz «nicht ohne Wohlwollen und Zuversicht» zur Kenntnis genommen, wie der Historiker Eric Dreifuss einmal verwundert festgestellt hat. Tatsächlich ist recht nüchtern von einem «Staatsmann» die Rede, und niemand antizipiert, was nun für Deutschland und die Welt drohen könnte. Das katholisch-konservative «Vaterland» etwa lobt Hitlers «gesunde Stosskraft». Erinnert sei auch an den «Tages-Anzeiger», auf dessen Titelseite Hitler im Dezember 1931 einen Meinungsartikel publizieren konnte: «Was wollen wir Nationalsozialisten?». Der Putsch, der Faschismus, der Antisemitismus – grosszügig ausgeblendet.
Es ist jedoch nur eine Frage von Monaten, ehe sich die Beurteilung Hitlers bei vielen Bürgerlichen grundlegend ändert. Nicht nur wegen dessen rasanten Umbaus Deutschlands zur Diktatur. Auch wegen der Gefahr für die Schweiz. In seiner Reichstagsrede vom 30. Januar 1934 spricht Hitler von den Deutschschweizern als «Millionen Bürger deutscher Nationalität». Und hat er nicht schon in «Mein Kampf» das Ziel formuliert, alle Menschen deutschen Blutes in einem Reich zu vereinen? Spätestens nach Hitlers Reichstagsrede von 1937, als ein neuer Krieg bereits in der Luft liegt, ist die Ungewissheit in Bundesbern zermürbend: Der «Führer» erwähnt Staaten, mit denen Deutschland freundschaftliche Beziehungen unterhalte und deren Neutralität und Unabhängigkeit er garantiere – Belgien und die Niederlande. Nicht aber die Schweiz. Was nun?
Hilfe kommt von unerwarteter Seite. Edmund Schulthess, 68-jähriger Aargauer und ehemaliger freisinniger Langzeitbundesrat (1912–1935), meldet sich bei Bundespräsident Giuseppe Motta. Besorgt darüber, dass die Beziehungen zu Deutschland gelitten hätten, schlägt er vor, «eine private Reise nach Berlin zu machen». Schulthess ist zwar seit zwei Jahren nicht mehr in der Regierung, aber als Verwaltungsrat von grossen Unternehmen und als Präsident der Bankenkommission noch immer gut vernetzt. Ohne Vermittlung der Schweizer Gesandtschaft in Berlin erreicht er auf seiner Geheimmission, was keinem Bundesrat vor oder nach ihm vergönnt ist: eine Audienz bei Hitler.
Am 23. Februar 1937 um 12 Uhr 45 wird er in der Reichskanzlei an der Wilhelmstrasse von Hitler empfangen, «in einem grossen Saal, der ihm zugleich als Arbeitszimmer dient». Eine Stunde dauert die «überaus interessante und herzliche Unterhaltung», wie Schulthess danach vertraulich nach Bern berichtet. «Im Gegensatz zu Behauptungen, die man vielfach hört, darf ich konstatieren, dass der Reichskanzler mich in weitgehender Weise zum Wort kommen liess und sich nicht, wie man oft behauptete, darauf beschränkte, seinem Besucher einen Vortrag zu halten.»
Das Gespräch handelt vom Bolschewismus, vom Spanischen Bürgerkrieg und von der freien Presse in der Schweiz, über deren Kritik an Hitlers Politik sich die Deutschen ärgern. «Von dieser täglichen Speise verderbe ich nicht nur mir selbst den Appetit. Sie wirkt auf die vier Millionen Schweizer und darüber hinaus ins Ausland», ätzt etwa Ernst von Weizsäcker, der deutsche Gesandte in Bern. Schulthess kommt bei Hitler auf den Vorwurf der «verjudeten» Presse zu sprechen. Er versichert dem Reichskanzler, «dass jüdische Einflüsse in unserer Presse gar keine Rolle spielen und dass auch Juden in unserer Presse nicht beteiligt sind».
Schliesslich erörtern sie die Frage der Neutralität und Unabhängigkeit der Schweiz. Es wäre ein «Wahnsinn», wenn Deutschland die Schweiz angreifen oder durch sie durchmarschieren wollte», sagt Hitler gemäss Schulthess’ Bericht an den Bundesrat. Die Schweiz decke die Flanke Deutschlands und erspare dem Land Befestigungen, Geld und Truppen. Im Communiqué zuhanden der Presse wird der «Führer» folgendermassen zitiert: «Der Bestand der Schweiz ist eine europäische Notwendigkeit. (. . .) Zu jeder Zeit, komme, was da wolle, werden wir die Unverletzlichkeit und Neutralität der Schweiz respektieren. Das sage ich Ihnen mit aller Bestimmtheit.»
Dank dieser Erklärung ist der Besuch in Berlin für alt Bundesrat Schulthess ein voller Erfolg. Geradezu euphorisch schildert er den Diktator, der «klar, deutlich und logisch» spreche und dessen Äusserungen alle «massvoll und vernünftig» seien. «Ich glaube, sagen zu dürfen, dass Hitler aufrichtig den Frieden will und alles vermeiden wird, was ihn stören könnte.»
In der Schweiz ist man skeptischer. Gross sind die Schlagzeilen in den Zeitungen, als Schulthess’ Reise nachträglich publik wird. Im Parlament muss sich Bundespräsident Motta erklären – und tut dies realistisch: «Die Worte bleiben Worte, und die Tatsachen bleiben Tatsachen.»
Was damals kaum beachtet wird: Die privilegierte Behandlung von Schulthess durch die Deutschen ist gleichsam eine Desavouierung des Schweizer Gesandten in Berlin, Paul Dinichert, eines standfesten Demokraten. 1938 wird er durch Hans Frölicher ersetzt, einen Diplomaten, der fortan alles tut, um bei Hitlers Regime nicht anzuecken – und der zum Inbegriff des deutschfreundlichen Anpassers wird. Von Berlin aus betreibt er zum Beispiel (erfolglos) die Absetzung des legendären, bei den Nazis verhassten NZZ-Chefredaktors Willy Bretscher. Und hätte er sich als Gesandter so ins Zeug gelegt wie 1939, als er den Bundesrat dazu bringen will, dem «Führer» zum 50. Geburtstag offizielle Glückwünsche zu senden, dann hätte eine andere Geschichte vielleicht ein besseres Ende genommen: jene des Schweizer Theologiestudenten Maurice Bavaud.
Berchtesgaden, November 1938 – Schiessübungen im Wald
Bis heute gehen die Meinungen der Historiker auseinander, was genau die Beweggründe des jungen Maurice Bavaud gewesen seien, der zu Hause «le pacifique» genannt wurde – der Friedfertige. War er ein geistig Verwirrter oder ein Widerstandskämpfer, ein moderner Tell? Vielleicht auch ein bisschen beides? Fakt ist, dass der 22-jährige Mann im Jahr 1938 vom Priesterseminar in Frankreich zu seiner Familie in Neuenburg zurückkehrt, von dort im Oktober ohne Abschied, aber mit 600 Franken der mütterlichen Ersparnisse nach Deutschland aufbricht – um Adolf Hitler umzubringen.
Die Bundesanwaltschaft hat damals viel zu tun. Gerüchte, Verdächtigungen und vermeintliche Verschwörungen, allen Hinweisen muss nachgegangen werden, denn ein Attentat auf Hitler soll auf keinen Fall in der neutralen Schweiz geplant werden. Drei Beispiele aus den Akten, die heute im Bundesarchiv lagern:
– Das Polizeikorps des Kantons Zürich meldet der Bundesanwaltschaft am 9. September 1936: «In deutschen Emigrantenkreisen wurde in letzter Zeit die Vorbereitung eines Anschlags auf Adolf Hitler ernsthaft besprochen. Es handelt sich um folgenden Plan: Beschaffung von Kapital zwecks Ankaufs eines grossen, äusserst modernen Flugzeuges, mit welchem ein Flug nach Ober-Salzberg ausgeführt werden sollte, wo im gegebenen Moment, d. h. wenn Hitler dort weilen würde, dessen Haus zu bombardieren wäre.»
– Meldung der Bundesanwaltschaft vom 6. September 1937: «Wie vertraulich mitgeteilt wurde, soll der Tessiner Anarchist R. (. . .) sich dahin gehend geäussert haben, dass eine Zusammenkunft zwischen Hitler und Mussolini die günstigste Gelegenheit sei, ein Attentat auf beide Persönlichkeiten auszuführen.»
– Auftrag der Bundesanwaltschaft vom 28. September 1938 an die Kantonspolizei Zürich, folgende Meldung zu überprüfen: «Ein Jude Strauss, der sich in Zürich im Hotel St. Gotthard aufgehalten hat, soll sich mit einem andern Juden über eine beabsichtigte Erschiessung des ‹Führers› unterhalten haben.»
Den Neuenburger Maurice Bavaud hingegen hat die Bundesanwaltschaft nicht im Blick. Er kauft in Basel eine Pistole und zehn Patronen. Dann fährt er mit dem Zug nach Berlin, besorgt sich mehr Munition und eine französische Zeitung, in der er liest, Hitler befinde sich auf dem Obersalzberg. Er reist nach Berchtesgaden und erfährt, dass der Berghof, Hitlers berühmter Landsitz, Sperrzone sei – ohne Bewilligung kein Durchlass. Und so unternimmt Bavaud, der bis dahin noch nie eine Schusswaffe in der Hand hatte, während einiger Tage Zielübungen im Wald. In seinem Hotel vernimmt er, dass Hitler wohl in München zu treffen sei, am 9. November: beim Marsch zur Erinnerung an den gescheiterten Putsch von 1923.
Es gelingt dem kaum Deutsch sprechenden Schweizer, eine Sitzplatzkarte für eine der Tribünen zu ergattern, als vermeintlicher Sympathisant. Früh begibt er sich vor Ort, die geladene Waffe in der Manteltasche. Doch als der «Führer» endlich im Anmarsch ist, ist dieser erstens viel zu weit weg, und zweitens schnellen um Bavaud herum die Arme in die Höhe – «Heil Hitler!»
Noch zweimal versucht Bavaud, sich Hitler zu nähern. Zunächst wieder in Berchtesgaden, diesmal mit einem fingierten Empfehlungsschreiben eines französischen Politikers. Aber am Fusse des Obersalzbergs wird er abgewiesen. Er kehrt nochmals nach München zurück, wird sogar ins «Braune Haus», die Parteizentrale der NSDAP, vorgelassen, jedoch nur zu einem Sachbearbeiter.
Unverrichteter Dinge und praktisch mittellos setzt sich Bavaud in einen Zug, will sich nach Frankreich absetzen – und wird ohne gültiges Billett bei einer Kontrolle aufgegriffen und verhaftet. Die Waffe, das Empfehlungsschreiben, die Karte von Berchtesgaden – alles trägt er noch auf sich – machen den Schweizer verdächtig. In Verhören gibt er Anfang 1939 seine Attentatspläne zu. Am Prozess nennt er als Motiv: Hitler sei eine Gefahr für die Menschheit, für die Unabhängigkeit der Schweiz und für die christlichen Kirchen in Deutschland. Im Dezember 1939 wird er vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt.
Die Schweizer Gesandtschaft in Berlin um Hans Frölicher verhält sich in der «Strafsache Bavaud» erschreckend passiv. Es sei «ausserordentlich heikel», schreibt sie im Januar 1940 nach Bern, «sich für eine Begnadigung zu verwenden». Das Aussenministerium antwortet, der Gesandte Frölicher solle das Mögliche tun, «um unseren Landsmann vor dem Tod zu retten». Doch dieser tut nicht einmal das Nötigste: Die Gesandtschaft müsse sich «mit Rücksicht auf die verabscheuungswürdigen Absichten des Verurteilten begreiflicherweise eine gewisse Zurückhaltung bei der Vorbringung ihrer Begehren auferlegen. Ich halte es deshalb nicht für angebracht, um einen Besuch bei dem Verurteilten nachzusuchen.» Die Idee des Aussenministeriums, Bavaud gegen einen in der Schweiz inhaftierten deutschen Spion auszutauschen, scheitert schon im Bundeshaus – am Veto des Militärdepartements.
Am 14. Mai 1941 wird Maurice Bavaud im Zuchthaus Berlin-Plötzensee unters Fallbeil gelegt und geköpft.
In seinen Tischgesprächen, diesen oft stundenlangen, mitstenografierten Monologen, erwähnt Hitler den «Schweizer Heckenschützen» gleich mehrmals. Mit knapper Not sei er ihm entkommen. Und nur wenige Wochen nach Bavauds Hinrichtung ordnet er an, dass Schillers Freiheitsdrama «Wilhelm Tell» im «Dritten Reich» nicht mehr aufgeführt und aus der Schule verbannt wird.
Zu diesem Zeitpunkt dauert der vom deutschen Diktator entfesselte Krieg schon über eineinhalb Jahre. Der Zweite Weltkrieg wird rund 55 Millionen Opfer fordern, unter ihnen sechs Millionen Juden. Was, wenn der Schweizer Attentäter erfolgreich gewesen wäre?
Berlin, Juni 1940 – Angriffspläne gegen die Schweiz
Wie wenig auf Hitlers Wort zu zählen ist – und wie wertlos seine Zusicherung, die Neutralität und Unabhängigkeit eines Staates zu respektieren, zeigt sich spätestens im Frühling 1940. Die Wehrmacht greift Dänemark und Norwegen an. Kurz darauf überrollen Hitlers Panzer auf dem Westfeldzug die Benelux-Staaten und bald Frankreich. Die Angst geht auch in der Schweiz um. Und sie ist nicht unbegründet.
Joseph Goebbels, der Reichspropagandaminister, notiert am 13. April in seinem Tagebuch: «Der Führer wettert gegen die Neutralen. Je kleiner, desto frecher. Sie dürfen diesen Krieg nicht überleben.» Anfang Mai muss der Gesandte Frölicher bei Aussenminister Joachim von Ribbentrop antraben, weil die Schweizer Presse «Deutschland jeden Tag beschimpfe», worüber sich auch Hitler «sehr aufgebracht» gezeigt habe.
Die kritischen Berichte eidgenössischer Zeitungen sind das eine, die Fliegerzwischenfälle an der Grenze das andere: Die Schweizer Luftwaffe schiesst über dem Jura mehrere deutsche Messerschmitts ab, was nicht nur diplomatische Verstimmungen zur Folge hat. Hitler persönlich veranlasst eine Racheaktion, worauf ein zehnköpfiges Kommando in die Schweiz geschickt wird, um Militärflugzeuge zu sabotieren, dabei aber auffliegt.
Der Historiker Klaus Urner schreibt von einem regelrechten «Aggressionsstau» des «Führers». In seinem Standardwerk «Die Schweiz muss noch geschluckt werden» dokumentiert er, dass die deutschen Angriffspläne mehr waren als Schubladenentwürfe unterbeschäftigter Offiziere.
Der Sommer 1940 ist die bedrohlichste Phase der jüngeren Schweizer Geschichte. Frankreich kann dem deutschen Angriff nichts entgegensetzen und bittet um einen Waffenstillstand, der am 25. Juni in Kraft tritt. Die Schweiz ist nun fast vollständig von den faschistischen Mächten Deutschland und Italien umzingelt. «Wie ein Ei in einer gepanzerten Faust», schreibt die Zeitung «Bund» einmal. Damit nicht genug: Am 24. Juni hat die Heeresgruppe C – auf Drängen Hitlers – die Weisung erhalten, sich für die «Sonderaufgabe Schweiz» vorzubereiten.
Otto Wilhelm von Menges, ein 32-jähriger Hauptmann im Generalstab des Heeres, übernimmt die Aufgabe, arbeitet die Nacht durch und legt am Morgen seine Kurzstudie vor: «1. Vortragsnotiz über Angriff auf die Schweiz.» Sie ist der Anfang von mehreren Entwürfen, die nach dem Krieg unter dem Namen «Operation Tannenbaum» bekannt werden. Und sie kommt gut an, wie Menges in seinem Tagebuch stolz festhält: «Arbeit an meiner Studie, die zur vollen Zufriedenheit des Abteilungschefs ausfällt.»
Der von Menges skizzierte Plan vom 25. Juni 1940 ist simpel. Durch einen «überraschenden, schnellen Einmarsch aus mehreren Richtungen» soll das «feindliche Heer» so zerschlagen werden, dass weiterer Widerstand verunmöglicht wird. Das «Gewinnen von Zürich, Luzern und Bern muss spätestens im Laufe des zweiten Tages möglich sein», heisst es weiter. Auch soll eine intakte Übernahme der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte erreicht werden. Der helvetische Widerstandswille wird als gering eingeschätzt: «Bei der augenblicklichen politischen Lage in der Schweiz ist es möglich, dass diese auf friedlichem Wege auf ultimative Forderungen eingeht.»
Und als wollte er die Einschätzung von Menges bestätigen, wendet sich Aussenminister Marcel Pilet-Golaz gleichentags am Radio ans Schweizervolk. Im Namen der Regierung will er Mut machen, schafft aber vor allem Unsicherheit. Mit der Niederlage Frankreichs sei «ein gewaltiges Ereignis eingetreten», sagt er. Seine Ansprache gilt als die umstrittenste Rede, die ein Bundesrat je gehalten hat. Von einer «Anpassung an die neuen Verhältnisse» spricht Pilet-Golaz. Der «Zeitpunkt der inneren Wiedergeburt» sei gekommen. «Jeder von uns muss den alten Menschen ablegen.» In der Bevölkerung empören sich viele über den Defaitismus des Bundesrats angesichts der Gefahr durch Hitler.
Widerstandsrhetorik gibt es erst einen Monat später, als Henri Guisan, der Oberbefehlshaber der Schweizer Armee, seine höchsten Offiziere zum Rapport aufs Rütli lädt. Auf der mythischen Wiese bekräftigt er den Willen, gegen jeden Aggressor zu kämpfen, und verkündet den Rückzug ins Alpen-Reduit (das aber erst noch fertig gebaut werden muss). Doch nicht nur die Politik sendet ambivalente Signale aus, auch die Armee. Während an der Grenze ein deutscher Kampfverband mit beträchtlichem Offensivpotenzial bereitsteht, wird in der Schweiz demobilisiert, zwei Drittel der 450 000 Mann kehren ins Zivilleben zurück.
Die Invasion bleibt aus. Hauptmann von Menges und andere Offiziere passen ihre Angriffspläne noch mehrmals an, bis Anfang November 1940 das Oberkommando des Heeres erklärt, die «Operation Tannenbaum» sei nicht mehr aktuell.
Es braucht dazu nicht einmal den Altbundesrat Edmund Schulthess, der sich in dieser heissen Phase anerbietet, noch einmal zu Hitler nach Berlin zu reisen, «um die Situation zu klären». Der Bundesrat verhindert eine zweite Reise, unter dem Vorwand, Schulthess habe ein schlechtes Gehör und so könnten Missverständnisse entstehen.
Weshalb die Schweiz von einem Angriff verschont bleibt, lässt sich nicht so einfach erklären. Die fehlende strategische Bedeutung und die deutschen Vorbereitungen der prioritären «Unternehmen Seelöwe» (gegen England) und «Unternehmen Barbarossa» (gegen Russland) sprechen dagegen. Ein Einmarsch wäre möglicherweise verlustreich und hätte unabsehbare Folgen für die Transitverbindung zum Achsenpartner Italien. Und eine unbesetzte Schweiz ist wirtschaftlich von grossem Nutzen.
Aber Hitlers Irrationalität ist weiterhin eine Gefahr, ein Angriff aus einer Laune heraus durchaus möglich.
Die überlieferten Äusserungen des Diktators zur Schweiz sind wenig schmeichelhaft, etwa jene aus dem Jahr 1942: Sie sei «nichts als ein missratener Zweig des deutschen Volkes», monologisiert er einmal bei Tisch im Führerhauptquartier. Ein anderes Mal ist sie eine «Eiterbeule an Europa». Und seine Fundraising-Tour scheint auch nicht nur in guter Erinnerung zu sein: «Ich bin 1923 einmal in die Schweiz gekommen, habe in Zürich gegessen und war vollständig perplex über die Fülle der Gerichte. Was hat so ein kleiner Staat für eine Ideologie des Lebens?»
Wie es nach dem «Endsieg» weitergegangen wäre, hat Hitler im engen Kreis schon im Oktober 1939 erklärt. Wenn er Frankreich und England «in die Knie gezwungen» und im Osten «klare Verhältnisse» geschaffen habe, so werde er sich daranmachen, ein Deutschland zu schaffen, wie es früher bestanden habe – und «Belgien und die Schweiz einverleiben».
Dazu kommt es nicht.
Dübendorf, April 1945 – Hitler-Sichtung im Mittelland
Der deutsche Publizist Sebastian Haffner prophezeit schon 1940: «Hitler ist der potenzielle Selbstmörder par excellence.» Doch zur Tat schreitet der Diktator erst am 30. April 1945, als russische Truppen unaufhaltsam zur Reichskanzlei in Berlin vorrücken – und der Krieg verloren ist. Hitler richtet sich mit einem Schuss in die rechte Schläfe, Eva Braun, seine tags zuvor im «Führerbunker» noch geehelichte Gefährtin, schluckt Zyankali. Die Leichen werden verbrannt und vergraben.
Die Sowjets finden zwar die sterblichen Überreste und sind sich – nach Analyse des Gebisses – ziemlich sicher, dass es sich um Hitler handelt. Nur: Stalin will öffentlich nichts von den Beweisen wissen. Wohl auf seine Anweisung behauptet Marschall Schukow im Juni 1945, es sei keine Leiche als Hitler identifiziert worden: «Er mag im letzten Moment noch mit einem Flugzeug entkommen sein.» Stalin selbst äussert an der Potsdamer Konferenz von Ende Juli die Vermutung, Hitler halte sich in Spanien oder Südamerika auf. Etwas später mutmasst er, der deutsche Diktator könnte sich mit einem U-Boot nach Japan abgesetzt haben. Und auch die Amerikaner zweifeln. General Eisenhower erklärt Anfang Oktober, es gebe Gründe zur Annahme, dass Hitler nicht tot sei. Die Zeitungen vermelden Gerüchte über angebliche Fluchtrouten und vermeintliche Verstecke. Das Kriegsende ist eine Zeit der Ungewissheit. Der Dämon lebt als Phantom weiter – auch in der Schweiz.
Schon einige Stunden vor Hitlers Suizid im «Führerbunker» ruft die Schweizerische Depeschenagentur bei der Bundesanwaltschaft an. Sie meldet am 29. April 1945 um 19 Uhr, dass «in Sitten hartnäckig das Gerücht zirkuliere, Hitler sei in Dübendorf gelandet. Es handle sich um ein ganz allgemein verbreitetes Gerücht.» Ob in der Folge Abklärungen auf dem Flugplatz vorgenommen werden, ist aus den Akten im Bundesarchiv nicht ersichtlich. Sicher ist, dass die Behörden auf solche Hinweise nervös reagieren und in der Regel sogleich Ermittlungen aufnehmen. Wohl nicht zuletzt aus Imagegründen. Die Eidgenossenschaft hat bei den Alliierten keinen guten Ruf: Sie habe zu wenig gegen die Nazis unternommen – und zu viele Geschäfte mit ihnen gemacht.
Anfang März 1946 meldet sich eine Frau W. aus St. Gallen per Brief bei der Bundespolizei. «Sehr geehrte Herren!», heisst es dort. «Hiermit möchte ich Ihnen mitteilen, dass ich glaube, die Spur Hitlers in der Schweiz gefunden zu haben.» Sie lässt den Behörden auch Listen von Aufenthaltsorten zukommen, wo sich Hitler und Eva Braun aufgehalten haben sollen – von Arosa bis Zürich.
Die Bundesanwaltschaft erachtet die Angelegenheit offenbar als derart heikel, dass sie Justizminister Eduard von Steiger informiert, der wiederum den Bundespräsidenten Karl Kobelt einweiht und zurückmeldet: «Herr Bundespräsident Kobelt hält dafür, es sollte doch eigentlich mit Fräulein W. an Ort und Stelle der Tatbestand abgeklärt werden.» Und das wird auch getan. Die Kantonspolizei St. Gallen erstellt einen Bericht über die Frau. «Sie war während vieler Jahre als Zeichnungslehrerin tätig. In moralischer Hinsicht ist über sie nichts Nachteiliges bekannt.» Mit der Kraft eines Pendels sei sie auf Hitlers Spur gestossen. Auch in Baden im Kanton Aargau wird ermittelt, wo Hitler gemäss einem Stadtplan von Frau W. gleich in mehreren Häusern untergekommen sei. Fazit: «Es konnte keine verdächtige Person festgestellt werden, die mit Adolf Hitler identisch ist.»
Im Oktober 1946 meldet sich ein Herr G. aus Renens, er habe Hitler im Bahnhof Aarau aus einem Zug steigen sehen. Und im April 1947 schreibt eine Frau G. – direkt an General Guisan –, dass sie in Winterthur «einen Herrn sah wie Hitler, und zwar als 1.-Klasse-Passagier gegen Zürich fahrend». Die Bundesanwaltschaft antwortet ihr: «Wir können Ihnen mitteilen, dass Adolf Hitler sich nicht in der Schweiz befindet. Es ist kein Grund vorhanden, sich durch ähnlich aussehende Gestalten beunruhigen zu lassen.» Im Oktober 1947 berichtet eine Frau M. aus Gerlafingen, sie sei Hitler in Bern begegnet: «Der Mann sprach nicht Schriftdeutsch, aber ein eigenartiges Schweizerdeutsch.» Auch in diesem Fall führen die Ermittlungen ins Nichts.
Alles nur Spinner?
Der «Führer» bleibt noch eine Weile auf der internationalen Fahndungsliste. Amerikanische Nachrichtendienste etwa starten unmittelbar nach Kriegsende eine Suchaktion. Und im Februar 1948 verlangt ein Deputy Director of Intelligence der amerikanischen Armee von Bundespolizei-Chef Werner Balsiger Abklärungen in einer geheimen Angelegenheit. Gemäss einem Informanten habe sich Hitler in die Schweiz abgesetzt und besitze mehrere Pässe, unter anderem einen Schweizer Pass auf den Namen Kurt Reichl und einen dänischen Pass auf den Namen Uwe Jensen. Die Bundesanwaltschaft kontrolliert in der Folge nicht nur die Register der Fremdenpolizei, sondern auch die Gästebücher aller Hotels in Zürich. «The result of our investigation is negative», schreibt Bundespolizei-Chef Balsiger schliesslich dem «Dear Colonel».
In der Akte «Adolf Hitler», die das Kriminalkommissariat III in Zürich angelegt hat und die heute im Stadtarchiv lagert, findet sich von diesen Ermittlungen keine Spur. Und auch nichts über Hitlers Besuch in Zürich im Jahr 1923. Dafür dokumentiert sie die Unsicherheit über den Verbleib des deutschen Diktators nach Kriegsende. Die Beamten haben Zeitungsartikel abgelegt, mit Titeln wie: «Neue Version vom Tode Hitlers» / «Hitlers Fluchtflugzeug gefunden» / «Hitler nicht in Spanien» / «Die Leiche Hitlers gefunden?» / «Es war nicht Hitlers Leiche» / «Hitlers Leiche doch gefunden?».
Auf der letzten Seite des Dossiers hat jemand einen Schlussstrich gezogen – oder genauer: ein Kreuz gesetzt neben «Hitler, Adolf». Nun hält ihn auch die Schweiz definitiv für tot. Im Mai 1963.
(https://www.nzz.ch/schweiz/hitler-in-der-schweiz-eine-geschichte-von-geld-angst-und-einem-mordversuch-ld.1751648)