Medienspiegel 18. August 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++AARGAU
Gemeinden sollen für Ukraine-Flüchtlinge zuständig bleiben – Regierung will Gesetz entsprechend anpassen
Bereits heute sorgen die Gemeinden für Unterbringung, Unterstützung und Betreuung von schutzbedürftigen Personen. Allerdings läuft die dazu vom Regierungsrat im April 2022 erlassene Sonderverordnung nach zwei Jahren aus.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/kanton-aargau-gemeinden-sollen-fuer-ukraine-fluechtlinge-zustaendig-bleiben-regierung-will-gesetz-entsprechend-anpassen-ld.2501225


Wettingen könnte Standort werden für Bundesasylzentrum
Der Bund hat die Kantone aufgefordert mögliche Standorte zu melden für ein Reserve-Asylzentrum des Bundes. Diesem Aufruf ist der Kanton Aargau nachgekommen; er meldet eine unterirdische Anlage bei einem Schulhaus in Wettingen als potenziellen Standort. Die Gemeindebehörde reagiert ablehnend.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/wettingen-koennte-standort-werden-fuer-bundesasylzentrum?id=12440614



aargauerzeitung.ch 18.08.2023

Bund will in Wettingen ein neues Asylzentrum eröffnen – Gemeinderat ist dagegen und Kanton will nicht zahlen

Bisher betreibt der Bund im Aargau ein Asylzentrum in Brugg – nun soll ein weiteres in Wettingen dazukommen. Geplant ist eine Unterkunft mit 200 Plätzen, die für sechs Monate belegt werden. Der Gemeinderat Wettingen lehnt die Asylpläne ab und der Kanton findet, der Bund müsse den Umbau der Anlage bezahlen.

Fabian Hägler

Erst am Donnerstag hat der Kanton mitgeteilt, dass die Geschützte Operationsstelle (Gops) beim Kantonsspital Aarau im Oktober als Asylunterkunft in Betrieb genommen wird. Grund für die Nutzung des unterirdischen Notspitals für Geflüchtete: Die bestehenden kantonalen Anlagen sind fast voll belegt.

Doch auch der Bund kämpft mit Platzmangel, wenn es um die Unterbringung von Asylsuchenden geht. Verschärft hat sich die Situation nach dem Nein des Parlaments zu Containerdörfern in Militäranlagen – dies plante Bundesrätin Baume-Schneider. Deshalb hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) die Kantone aufgefordert, dem Bund geeignete Zivilschutzanlagen zu melden.

Gallati: «Kantone brauchen Zivilschutzanlagen selber»

Der Aargauer Sozialvorsteher und Landammann Jean-Pierre Gallati kritisierte den Entscheid des Bundesparlaments im Juni. Die Nutzung von Zivilschutzanlagen durch den Bund – wie sie der Ständerat vorgeschlagen hat – sei keine Lösung. Die Kantone benötigten diese gemäss gemeinsam vereinbartem Notfallkonzept selbst, hielt Gallati fest.

Dies zeigt sich auch in der Mitteilung seines Departements vom Donnerstag: «Wenn die Prognosen eintreffen und die hohen Zuweisungszahlen anhalten, ist absehbar, dass auch die geschützte Sanitätsstelle Lenzburg mit 150 Plätzen in Bälde eröffnet werden muss.» Zudem würden weitere Zivilschutzanlagen als Notunterkünfte vorbereitet, falls noch mehr Geflüchtete einquartiert werden müssten.

Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 hat die Zahl der Geflüchteten im Aargau massiv zugenommen. Nach einem leichten Rückgang im April und Mai setzt sich der Trend nun fort: Ende Juli wurde mit 8826 Geflüchteten ein neuer Höchststand erreicht, wie die Asylstatistik des Staatssekretariats für Migration (SEM) zeigt, die am Freitag publiziert wurde.

Bundesasylzentrum in Zivilschutzanlage Wettingen geplant

Bisher gibt es in der Fahrzeughalle der Armee in Brugg ein Bundesasylzentrum mit 440 Plätzen. Ende April wurde die Nutzung der Anlage im Einvernehmen mit dem Kanton und der Stadt bis Ende Juni 2026 verlängert. Dennoch soll nun auch eine Zivilschutzanlage in Wettingen zur Bundesasylunterkunft umfunktioniert werden, wie der Kanton am Freitag mitteilt. Vorgesehener Termin für die Eröffnung ist der 1. September.

Der Regierungsrat schlage dem Bund nach Prüfung verschiedener Zivilschutzanlagen die geschützte Sanitätsstelle Wettingen unter der Schulanlage Margeläcker vor, heisst es in der Mitteilung. Doch dagegen gibt es Widerstand: «Der Gemeinderat Wettingen lehnt die temporäre Umnutzung der Anlage ab.» Der Regierungsrat hält jedoch an der Meldung fest, weil es sich um die einzige im Kanton Aargau verfügbare Anlage handelt, welche die SEM-Kriterien erfüllt – und weil sonst die vorzeitige Zuweisung von Asylsuchenden in die Kantone droht.

Gemeinderat aus mehreren Gründen gegen Asylzentrum

Der Gemeinderat Wettingen ist mit der Nutzung der Anlage als temporäre Reserveunterkunft des Bundes nicht einverstanden. Das Asylzentrum befände sich mitten im Wohngebiet, unter einer stark belegten und grossen Schulanlage, was zu Konflikten führen könnte, argumentiert die Behörde. Die Anlage stünde erst nach umfangreichen lnstandstellungsarbeiten zur Verfügung. Der gewünschte Zeitpunkt der Inbetriebnahme – der 1. September – sei deshalb nicht realistisch.

Für eine allfällige Inbetriebnahme durch das SEM seien vorgängig diverse bauliche und technische Massnahmen erforderlich, schreibt der Kanton. Dazu gehören Malerarbeiten, die Installation einer Brandmeldeanlage, das Aufstellen von Containern für den Aussenaufenthalt und die Einrichtung zusätzlicher Nasszellen, Schränken und von Mobiliar sowie die Anpassung der Küche. Ein Teil der baulichen Anpassungen müsste nach dem Ende der Nutzung rückgängig gemacht werden, damit die Anlage wieder den Richtlinien des Bundesamts für Bevölkerungsschutz entspricht.

Bauliche Anpassungen: Kosten bis zu 500’000 Franken

Das Departement Gesundheit und Soziales rechnet wegen der erforderlichen Massnahmen mit einer Vorbereitungszeit von acht bis zwölf Wochen, bis die Unterkunft durch das SEM eröffnet werden könnte. Der Regierungsrat geht von Investitionskosten zwischen 300’000 und 500’000 Franken aus, wie er dem SEM schreibt.

Die Zivilschutzanlage Wettingen bietet bei Vollbelegung Schlafstellen für 354 Personen sowie Aufenthaltsräume und verfügt über rudimentäre sanitäre Anlagen und Küchen. Die Anlage ist gut an den öffentlichen Verkehr angebunden und bietet genügend Platz in der Umgebung für allenfalls erforderliche zusätzliche Bauten. Die technischen Anlagen wie Lüftung und Heizung stammen weitgehend aus den 1960er-Jahren, sind funktionsfähig und genügen den Anforderungen einer Notunterkunft.

Wer soll Kosten für Instandstellung tragen?

Die Kosten dafür soll gemäss Bund die Eigentümerin der Anlage, also die Gemeinde Wettingen, oder der Kanton übernehmen. Der Regierungsrat ist hingegen der Ansicht, dass die Kosten für die Instandstellung vollständig durch den Bund zu tragen sind und ersucht das Staatssekretariat für Migration, die vollen Kosten zu übernehmen. Dennoch wird der finanzpolitische Prozess gestartet, um den erforderlichen Kreditbeschluss nach aargauischen Finanzhaushaltsrecht zu erwirken.

«Dieser Prozess wird einige Zeit in Anspruch nehmen», heisst es in der Mitteilung des Kantons weiter. Ob das Staatssekretariat für Migration die die Anlage Wettingen überhaupt in Betrieb nehmen wird, sei unklar. Dies hänge davon, ob der Bund die Anlage in Wettingen als geeignet für einen Betrieb erachtet und wie sich die Situation bezüglich Asylgesuche und den verfügbaren Anlagen in den anderen Kantonen präsentiert. Vorgesehen wäre eine Belegung mit 200 Personen für sechs Monate.

«Das Staatssekretariat für Migration würde mit der Gemeinde Wettingen als Eigentümerin der Zivilschutzanlage einen Mietvertrag abschliessen und die ortsüblichen Tarife des Zivilschutzes vergüten», schreibt der Kanton weiter. Das SEM würde die Anlage nach dem Betriebskonzept der Bundesasylzentren in eigener Verantwortung betreiben und den Betreuungs- und Sicherheitsdienst sicherstellen.

SVP kritisiert: «Bund gängelt in seiner Not die Kantone»

Die SVP Aargau, die Partei von Sozialdirektor Jean-Pierre Gallati, schreibt in einer Mitteilung: «Der Bund weiss selber nicht mehr wohin mit der Masse an Migranten und gängelt in seiner (Unterbringungs-)Not die Kantone.» Wohl oder übel müsse der Aargau zur Kenntnis nehmen, dass in Wettingen eine weitere Bundesunterkunft eröffnen werden solle. Selbst die Exekutiven in urbanen und häufig «zuwanderungsfreundlichen» Regionen kommen gemäss SVP an ihre Grenzen und wehren sich.

«So spricht sich der Gemeinderat Wettingen dezidiert gegen die Einrichtung der neuen Asylunterkunft unter dem Schulhausgebäude aus.» Aber um nicht die kantonseigenen Strukturen und noch viel mehr Gemeinden mit der Migrationswelle zu belasten, bleibe dem Kanton nichts anderes übrig, als dem Bund die Anlage in Wettingen anzubieten. Die SVP erwartet von der Regierung, dass die Bedenken der Bevölkerung in Bezug auf die Sicherheit, insbesondere der Schule, der Eltern und der Kinder, ernst genommen und diesen in geeigneter Form begegnet wird.

SP fordert, dass der Kanton selber Asylcontainer kauft

Die SP übt in einer Mitteilung scharfe Kritik am Aargauer Regierungsrat und insbesondere an SVP-Landammann Jean-Pierre Gallati. Der Kanton betreibe eine «just-in-time» Politik, aus Spargründen würden bei den Asylplätzen keine Reserven eingebaut und eingerechnet. «Wenn Bern anruft, startet die Suche nach Betten», kritisiert die SP und fragt: «Warum wurden keine Container angeschafft? Gibt es keine kantonseigenen Flächen, um diese aufzustellen?»

Grossrätin Luzia Capanni schreibt: «Nun muss der Aargau selber handeln und eigene Container kaufen». Nur so sei der Kanton bereit für Veränderungen und weniger abhängig vom Bund. Container könnten für Asylunterkünfte, Zwischennutzungen bei Schulhausbauten oder Wohnungssanierungen genutzt werden. Der Kanton könne diese für eigene Projekte verwenden oder den Gemeinden zur Verfügung stellen. Die SP will im Grossen Rat einen Vorstoss einreichen, der den Kauf von Containern durch den Kanton verlangt.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/asylwesen-zahlen-steigen-wieder-im-juli-zaehlte-der-aargau-so-viele-gefluechtete-wie-noch-nie-im-laufenden-jahr-ld.2501342)



aargauerzeitung.ch 18.08.2023

Trojanisches Pferd im Fall Windisch? Anwaltsbüro für betroffene Mieter beliefert Kanton mit Informationen

Weil der Kanton händeringend Platz für Geflüchtete sucht, müssen 49 Mieterinnen und Mieter ihre Wohnungen verlassen. Nun nimmt der Fall Windisch eine neue Wendung. Die Rolle der Anlaufstelle für die Betroffenen scheint fragwürdig.

David Grob

Wenn ein Dorf plötzlich zum Fall wird, dann ist einiges passiert. So geschehen in Windisch: Am 27. Februar wurde publik, dass die Bewohnenden dreier Häuser ihre Wohnungen an der Zelglistrasse verlassen müssen, um Platz für Geflüchtete zu schaffen. Der Aufschrei war gross, das Vorhaben beherrschte die Schlagzeilen, Windisch wurde zum «Fall Windisch».

Nun hat die «Wochenzeitung» (WOZ) den Fall neu aufgerollt. Gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz hat die Zeitung Zugang zu Akten des Kantons erhalten. Diese bestätigen nochmals, worüber die AZ bereits berichtet hat: Die Asylunterkunft ist seit langem geplant. Bereits 2021 hat das Departement Gesundheit und Soziales (DGS) von Regierungsrat Jean-Pierre Gallati gemäss WOZ mit dem damaligen Besitzer der Liegenschaft Verhandlungen geführt.

Diese seien aber an den überrissenen Forderungen des Mannes, eines Zürcher Gastronomen, gescheitert. Im Herbst 2022, die Asylgesuche nahmen rasant zu, der Bund schob Asylsuchende vorzeitig an die Kantone ab, suchte das Departement Gallati erneut das Gespräch mit dem damaligen Besitzer. Er lehnte ab: Er habe bereits einen Käufer gefunden.

Pikant: Die Gemeinde wusste nichts von den Plänen des Kantons – obschon der Gemeinderat gemäss Ablaufschema für Asylunterkünfte bereits bei der Prüfung eines Angebots vorgesehen wäre. Die Gemeinde erfuhr jedoch erst im Januar von den Plänen.

So weit, so bekannt.

Wollte der Eigentümer die Kündigungen wieder zurücknehmen?

Neu ist, dass der neue Eigentümer, die 1Drittel Aleph AG mit Sitz in Wollerau, gemäss WOZ die Kündigungen wieder rückgängig machen wollte. Heidi Ammon (SVP), Gemeindepräsidentin von Windisch, habe dem Kantonalen Sozialdienst (KSD) gemeldet, sie habe den Eigentümer dazu bewogen, die Kündigungen zurückzuziehen, heisst es im Artikel. KSD-Leiterin Pia Maria Brugger-Kalfidis habe sich daraufhin umgehend gemeldet: «Wir werden uns mit dem Eigentümer sofort kurzschliessen.»

Was sagen die Beteiligten dazu? Heidi Ammon findet die Darstellung der WOZ nicht falsch, aber auch nicht ganz korrekt. Es sei richtig, dass ihr der Eigentümer der Liegenschaft mündlich gesagt habe, eine Rücknahme der Massenkündigung könne überprüft werden. «Doch versprochen wurde mir nichts, schon gar nicht schriftlich», sagt Ammon. «Ein Versprechen oder eine Zusicherung für eine Rücknahme der Kündigungen hat es nie gegeben», sagt auch der Eigentümer auf Anfrage. Im Anschluss informierte Ammon den Kanton über das Gespräch.

Bekanntlich wurden die Kündigungen ausgesprochen. Hat der Kantonale Sozialdienst Druck auf den Eigentümer ausgeübt? «Nein», schreibt die Medienstelle des Kantons auf Anfrage. «Eine Anfrage bei der Eigentümerin ergab, dass die Kündigungen nicht zurückgezogen wurden.»

Das trojanische Pferd des Kantons

Die Kündigungen sind nicht der einzige strittige Punkt im Fall Windisch. Auch die Anlaufstelle für die gekündigten Mieterinnen und Mieter wird kritisiert: Im WOZ-Artikel erscheint sie als trojanisches Pferd des Kantons und soll die Behörden mit Informationen beliefert haben.

Nach dem medialen Aufschrei verspricht der Kanton Anfang März, eine Anlaufstelle für die Mieterinnen und Mieter zu schaffen. Er beauftragt ein Anwaltsbüro aus Baden, welches auf Mietrecht spezialisiert ist, mit dem Mandat, welches Fragen und Anliegen der Betroffenen aufnehmen soll. «Die Anlaufstelle ist neutral und vertritt weder die Mieterschaft noch die Vermieterschaft und auch nicht den Kantonalen Sozialdienst», heisst es in einer Antwort der Regierung auf eine Interpellation.

Für Michael Adams ist dies eine Lüge. Adams war einer der betroffenen Mieter in Windisch und hat sich bereits mehrfach öffentlich zum Fall Windisch geäussert. In der Zwischenzeit leben er und seine Familie nicht mehr in der Liegenschaft an der Zelglistrasse.

Er sei von Anfang an skeptisch gegenüber der Anlaufstelle gewesen, sagt Adams. Um dies zu erklären, holt er etwas aus. Bereits im Mai 2022 haben Vertreter des Kantons die Liegenschaft angeschaut, wie ein Mailverkehr belegt. So auch die Wohnung der Familie. «Die Begehung fand mit unserer Erlaubnis statt, doch die Gründe wurden auch auf Nachfrage verschwiegen.» Als dann die Kündigung kam und Windisch zum Fall Windisch wurde, war der Grund für Adams klar.

Die Anlaufstelle belieferte den Kanton

Also fragte Adams bei der Badener Anwaltskanzlei nach, ob sie der Schweigepflicht unterstehe. «Der Auftraggeber der Anlaufstelle ist der Kanton», antwortet die Anwaltskanzlei in einem Mail. «Ganz grundsätzlich ist damit der Kanton unser Klient und wir unterstehen dem Anwaltsgeheimnis.» Gemäss WOZ soll die Anlaufstelle den Kanton mit Berichten und Handlungsempfehlungen beliefert haben: Die Mieterschaft der Zelglistrasse 9 sei schwierig, auf die «jenseitige Vorstellung» bezüglich Entschädigungen soll nicht eingegangen werden, empfiehlt die Anwaltskanzlei.

Auch fremdsprachigen Familien sei nicht weitergeholfen worden, sagt Adams. Also hat er zur Tastatur gegriffen und Gesuche an die Schlichtungsstelle für seine italienischen, kosovarischen oder tamilischen Nachbarn geschrieben. «Eigentlich wäre es die Aufgabe der Anlaufstelle, ihnen dabei zu helfen», sagt Adams. Er vermutet Kalkül hinter dem Vorgehen. «Der Kanton geht davon aus, dass sich die vielen Familien aus eher einfachen Verhältnissen ohnehin nicht wehren können.»

Was sagt der Kanton zu den Vorwürfen?

Nach aussen ist die Anwaltskanzlei neutral, nach innen werden aber Informationen an den Kanton geliefert – die Medienstelle des Kantons sieht darin kein Problem. Die externe Anlaufstelle sei für die Anliegen der Mieter geschaffen worden und habe eine vermittelnde und koordinierende Rolle. «Nicht vorgesehen war, dass die Anlaufstelle jemanden rechtlich vertritt (auch nicht den KSD). Diesen Ausführungen entsprechend erkennt der KSD keinen Widerspruch», schreibt Michel Hassler, Mediensprecher des Departements Gesundheit und Soziales.

Hätten die betroffenen Mieterinnen und Mieter nicht über den Informationsfluss zwischen Anlaufstelle und Kanton informiert werden müssen? Diese seien per Brief vom 8. März über die neue Anlaufstelle informiert worden, die ihre Anliegen und Auskünfte mit der Vermieterin und dem Kantonalen Sozialdienst koordiniere, schreibt Hassler.

Knapp 1,4 Millionen Franken kostet das Vorhaben, welches bis Ende Juni 2026 läuft. Bei einer Verzögerungs des Bauprojekts des Eigentümers kann das Mietverhältnis um jeweils ein halbes Jahr verlängert werden. Im September wird im Fall Windisch ein weiteres Kapitel geschrieben: 50 UMA, sogenannte unbegleitete minderjährige Asylsuchende, ziehen in die Wohnungen an der Zelglistrasse ein.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/asylstreit-trojanisches-pferd-im-fall-windisch-anwaltsbuero-fuer-betroffene-mieter-beliefert-kanton-mit-informationen-ld.2500816)
-> https://www.blick.ch/politik/wende-im-fall-windisch-fragwuerdige-rolle-der-anlaufstelle-fuer-betroffene-mieter-id18853851.html
-> https://www.woz.ch/2333/der-fall-windisch/selber-feuer-gelegt/!27EQXX1FDZEK


+++SCHWEIZ
Asylstatistik Juli 2023
Im Juli 2023 wurden in der Schweiz 2169 Asylgesuche registriert, 226 weniger als im Vormonat (-9,4 %). Gegenüber Juli 2022 ist die Zahl der Asylgesuche um 385 gestiegen. Wichtigste Herkunftsländer waren die Türkei und Afghanistan. Im Juli wurde zudem 1446 aus der Ukraine geflüchteten Personen der Schutzstatus S erteilt, in 840 Fällen wurde er beendet.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-97378.html


Kinder gehören nicht in unterirdische Zivilschutzanlagen
Unterirdische Zivilschutzanlagen sind für die Unterbringung von Geflüchteten aus Sicht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) nicht geeignet. Auf keinen Fall unterirdisch untergebracht werden sollten jedoch Kinder.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/kinder-gehoeren-nicht-in-unterirdische-zivilschutzanlagen
-> https://www.blick.ch/politik/fluechtlingshilfe-besorgt-wegen-kindern-asylsuchende-familien-muessen-im-aargau-in-den-zivilschutzkeller-id18854034.html


Schutzstatus S: Keine Bewilligung mehr der Arbeitsverhältnisse
Die Kommission hat sich vom Bundesrat und dem Leiter der Evaluationsgruppe Status S über deren Schlussbericht informieren lassen. Es ist vorgesehen, dass die Evaluationsgruppe ihre Arbeit fortsetzen wird. Die Evaluationsgruppe wurde unter anderem beauftragt, eine Gesamtevaluation des Status S und der vorläufigen Aufnahme zu machen, im Hinblick auf allfällige Gesetzesänderungen. Sie soll Handlungsoptionen aufzeigen für gesetzliche Anpassungen.
https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-spk-n-2023-08-18.aspx



tagesanzeiger.ch 18.08.2023

Geflüchteter im Hungerstreik: Er fürchtet Putins Killer, doch der Bund will ihn nach Russland ausschaffen

Ali Bataew flüchtete aus der Ukraine in die Schweiz. Doch weil er einen russischen Pass hat, sitzt er nun in Ausschaffungshaft in Zürich. Mit einem Hungerstreik versucht er sich zu retten.

Bernhard Odehnal

Es gehe ihm besser, sagt Ali Bataew am Telefon. An feste Nahrung müsse sich sein Magen aber erst wieder gewöhnen: «Ich bekomme Vitamine und Babynahrung.» 57 Tage lang war der 40-Jährige im Hungerstreik im Ausschaffungsgefängnis beim Zürcher Flughafen. Er habe keine andere Möglichkeit als diesen radikalen Protest gesehen, sagt Bataew. Denn die Ausschaffung würde für ihn Folter oder Tod bedeuten.

Ali Bataew ist ein grosser, hagerer Mann mit einem langen Bart, wie er für die muslimischen Tschetschenen typisch ist. Bataew ist religiös, aber kein Fanatiker. Er flüchtete nach Kriegsbeginn im Februar 2022 aus der Ukraine und stellte Antrag auf den Schutzstatus S, so wie das Zehntausende Flüchtlinge in der Schweiz getan haben. Doch es gab ein Problem. Bataew kam zwar aus der Hafenstadt Odessa und besass eine ukrainische Aufenthaltserlaubnis. Geboren und aufgewachsen ist er aber in der russischen autonomen Republik Tschetschenien. Er hat also nur einen russischen Pass.

Zehn Monate in Haft

Für das Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) gilt Bataew deshalb als Russe und als nicht schutzwürdig. Sein Antrag auf Status S wurde abgelehnt, auch mit einem Einspruch kam er nicht durch. Weil er nicht sofort ausreiste, wurde er im Oktober 2022 im Aargau verhaftet und in das Zürcher Flughafengefängnis gebracht. Nach der Verhaftung stellte er einen Asylantrag. Auch der wurde abgelehnt.

Seit fast zehn Monaten sitzt Ali Bataew nun in Ausschaffungshaft. Seine Furcht vor Gefängnis, Folter oder Ermordung in Russland hält das SEM für unbegründet. Bataew könne «in Sicherheit und dauerhaft in sein Heimatland zurückkehren», wird das SEM in einem Urteil des Bundes­verwaltungs­gerichts zitiert.

In Tschetschenien herrscht Wladimir Putins Verbündeter Ramsan Kadyrow. Kritikerinnen und Kritiker seines Regimes werden auf offener Strasse verprügelt, ermordet oder verschwinden spurlos. Seine Anhänger, die «Kadyrowzy», operieren in ganz Russland. «Ich wäre nirgends vor ihnen sicher», sagt Bataew. Dass Putins Killer auch im Ausland zuschlagen, bewies der sogenannte Tiergartenmord: 2019 wurde mitten in Berlin ein ehemaliger Separatistenführer der Tschetschenen erschossen. Der Täter soll vom russischen Geheimdienst FSB angeheuert worden sein, wie die Investigativ­plattform «Bellingcat» berichtete. Ein deutsches Gericht beurteilte den Fall als «Staatsterrorismus».

In seiner Jugend wollte sich Bataew weder Kadyrow unterordnen noch gegen ihn kämpfen. 2005 verliess er Tschetschenien, lebte als LKW-Fahrer in der Türkei und Schweden, bis er sich 2019 in der Ukraine niederliess. Seine Lebensgeschichte ist in den Urteilen des Bundes­verwaltungs­gerichts und des Bundesgerichts dokumentiert. Sie liegen dieser Redaktion vor.

In Odessa heiratete er die Ukrainerin Olga und eröffnete ein Café, in dem er selbst zubereitetes Baklava anbot. Olga ist wie Ali muslimisch, die Hochzeit war eine religiöse, die staatliche wollte das Paar später nachholen. Bataew benötigte deshalb weiterhin eine Aufenthaltsbewilligung.

Die Flucht aus Odessa

Als im Februar 2022 die russische Armee gleichzeitig auf Kiew und im Süden auf Odessa marschierte, wollte sich Bataew nach eigenen Angaben zur Territorialverteidigung melden, wurde aber abgelehnt. Sein Café musste er schliessen. Als immer mehr Meldungen von Gräueltaten der «Kadyrowzy» in den besetzten Gebieten eintrafen, verliess er das Land Richtung Westen. Wieso ausgerechnet in die Schweiz? «Ein reiches, sicheres Land mit vielen Möglichkeiten», antwortet Bataew: «Ich hatte gehofft, ich könnte hier Lastwagen fahren, Geld verdienen und meinen Leuten in der Ukraine helfen.»

Diese Hoffnung hat er längst aufgegeben. Er sagt, die Schweiz erscheine ihm heute als «Diktatur», ohne Respekt für Menschenrechte. Sein Wunsch: Raus aus dem Schweizer Gefängnis, zurück in die Ukraine. Darum bemüht sich in Odessa auch seine Frau Olga. Aber sie stösst auf kaum überwindbare Barrieren.

Bataews ukrainische Aufenthaltsbewilligung lief im Oktober 2022 ab. Das ukrainische Kriegsrecht erlaubt Ausländern mit abgelaufener Bewilligung, bis zum Kriegsende im Land zu bleiben. Aber diese Regel gilt nicht für die Bürger Russlands und Belarus’. Bataew braucht ein neues Visum oder zumindest eine staatliche Garantie. Doch einem gebürtigen Tschetschenen mit traditionellem langem Bart die Einreise zu ermöglichen, betrachten die ukrainischen Behörden nicht gerade als Priorität.

Aufenthalt in Syrien, Einreiseverbot in Schweden

Das SEM nimmt zum konkreten Fall aus Gründen des Datenschutzes nicht Stellung. Aus der Ablehnung seines Asylgesuchs, das dieser Redaktion vorliegt, wird aber deutlich, dass Bataews Vergangenheit die Schweizer Behörden nicht gerade positiv stimmte: Bataew war in Schweden schon einmal verheiratet und hat dort sechs Kinder. Kurz nach seiner Scheidung wurde er 2019 von den schwedischen Behörden nach Moskau ausgeschafft und bekam Einreiseverbot bis 2024. Der Grund: ein einmonatiger Aufenthalt des Tschetschenen in Syrien.

Bataew erklärte den Schweizer Behörden, er habe damals humanitäre Arbeit geleistet im Widerstand gegen das Assad-Regime. Allerdings habe der russische Geheimdienst FSB von der Reise erfahren und suche ihn. Bataew fürchtet, dass ihn der FSB nach seiner Ausschaffung an Kadyrow übergeben werde. Und der würde ihn töten lassen. Das Aargauer Migrationsamt wirft Bataew vor, dass er seinen russischen Pass nicht aushändige. Von kriminellen Handlungen des Tschetschenen ist keine Rede. Das Bundes­verwaltungs­gericht stellt explizit fest, dass «aus den Asylverfahrensakten keine Informationen zu einem Terrorismusverdacht hervorgehen».

Die Medienstelle des SEM antwortet dieser Redaktion, dass «in Russland derzeit kein Zustand allgemeiner Gewalt herrscht». Die allgemeine Menschenrechts­situation in der Russischen Föderation lasse durchaus Rückführungen von abgelehnten Asylsuchern zu, selbst «unter Berücksichtigung des Krieges gegen die Ukraine». Allerdings werde nach jeder Ablehnung eines Asylgesuchs sorgfältig geprüft, ob die Rückführung in den Herkunftsstaat «zulässig, zumutbar und möglich» sei, versichert das SEM.

In der tschetschenischen Exilgemeinde in der Schweiz sorgt der Fall Bataew für Unruhe und Protest. Ihr Sprecher Latschin Mamischow schickte während Bataews Hungerstreik im Namen des Vereins Europäisches Friedenshaus am 1. August einen Brief an Bundespräsident Alain Berset. Darin warnt er vor einer massiven Verletzung der Menschenrechte: «Ich erkenne meine geliebte Schweiz nicht wieder.» Aus Bern kam keine Antwort.

Bürokratie und Missverständnisse

In den ersten Augustwochen organisierte die tschetschenische Exilgemeinde Demonstrationen vor der Zentrale des SEM und vor dem Flughafengefängnis Zürich: «Stoppt die Deportation von Tschetschenen». Der Schweizer Öffentlichkeit und den Medien blieb dieser Protest verborgen. Vielleicht auch deshalb, weil die Aufrufe in den sozialen Medien ausschliesslich auf Russisch formuliert waren. Auch die bekannte russische Oppositionszeitung «Nowaja Gaseta Europa» widmet sich jetzt dem Fall: Unter dem Titel «Ali Bataew und die 40 Beamten» schreibt sie «eine Geschichte über Bürokratie und Missverständnisse» in der Schweiz.

In der Schweiz wird Bataew heute von der Rechtshilfe­organisation Asylex vertreten. Deren Rechtsvertreterin kritisiert die besonders strenge Auslegung der Rechtslage durch die Behörden. Es gebe keinen Grund für die Haft: «Je länger die Ausschaffungshaft dauert, desto schwerer ist die Verhältnismässigkeit zu rechtfertigen.»

Könnte Ali Bataew überhaupt nach Russland ausgeschafft werden? Direkte Flüge nach Moskau gibt es seit Kriegsbeginn nicht mehr. Rückbringungen wären nur mit Zwischenlandungen in Serbien oder der Türkei möglich. 2022 wurde das in zwei Fällen so gemacht.

Laut Asylstatistik warten derzeit 36 Personen in der Schweiz auf ihre Ausschaffung nach Russland. Bataews ukrainische Frau Olga sagt jedoch, dass die russischen Behörden bereits im Februar 2023 die Aufnahme ihres Mannes abgelehnt haben: «Ich hätte mir in den schlimmsten Träumen nicht vorstellen können, dass ich Russland dafür einmal dankbar sein werde.» Im April 2023 stellte das SEM abermals einen Antrag an Russland, Ali Bataew zu übernehmen. Die russische Antwort steht noch aus.
(https://www.tagesanzeiger.ch/gefluechteter-im-hungerstreik-er-fuerchtet-putins-killer-doch-der-bund-will-ihn-nach-russland-ausschaffen-679219129397)


+++MITTELMEER
90 Menschen in Seenot in der Ägäis gerettet
Rund zehn Seemeilen südöstlich der griechischen Insel Amorgos geriet eine Segeljacht mit rund 90 Geflüchteten in Seenot – und konnten gerettet werden.
https://www.nau.ch/news/europa/90-menschen-in-seenot-in-der-agais-gerettet-66577047


+++FREIRÄUME
Räumt der Staat, zahlt auch der Staat
Ein Fall von finanzieller Repression durch die ungerechte Überwälzung der Räumungskosten der Rümlangerwald und Aufruf zu Solidarität
Im April 2023 einen Wald in Rümlang besetzt wegen der Erweiterung einer Bauschuttdeponie. Sie wurden zur Zahlung von 23800 Franken für die Räumungkosten verurteilt, was als ein Angriff auf relvolutionären Protest zu verstehen ist. Der Kanton raumte den Besetzteung, und einen Monat später wurden die Menschen von allen angeblichen Vergehen freigesprochen. Die finanzieller Repression ist ein Angriff auf aller Widerstandsbewegung und somit darf der Präsidenzfall nicht unwidersprochen bleiben.
https://barrikade.info/article/6078



(FB 3 Rosen gegen Grenzen)
Das ist die Dreirosenmatte.
Sie ist ein sozialer Treffpunkt im Kleinbasel (und Namensgeberin dieses Accounts). Die Matte wird täglich von Hunderten von Menschen zum Spielen, Ausruhen, Treffen und Trainieren genutzt.
Derzeit werden auf dem Areal 16 Videokameras installiert.
Sie sollen für einige Monate die gesamte Matte, umliegende Straßen und Haltestellen überwachen.
Schon jetzt ist die Polizei massiv vor Ort. Auch ein Teil der Polizeigewalt, die wir im Frühjahr gemeinsam mit dem NoMore-Comittee publiziert haben, fand vor Ort statt.
Die Präsenz der Polizei macht den Ort nicht sicherer, im Gegenteil. Wer nicht weiss ist, muss damit rechnen, kontrolliert, auf den Posten gezerrt und im schlimmsten Fall verprügelt oder ausgeschafft zu werden.
Auf der Dreirosenmatte wird mit kleinen Mengen Drogen gehandelt.
Es ist geradezu lächerlich, wenn Regierungsrat Beat Jans im Fernsehen davon spricht, dass in diesem Quartier “ein grosser Teil der Schweiz mit Drogen versorgt wird”.
Doch: Die Dreirosenmatte hat ein Gewaltproblem. Mit mehr Staatsgewalt wird dieses Problem nicht gelöst, sondern höchstens verlagert.
Denn: Die Ursachen der sozialen Probleme liegen tiefer.
Wir leben in einer Gesellschaft, die nach unten tritt, die Menschen ausgrenzt, ohne Aussicht auf Einkommen oder auf Regularisierung.
Jetzt werden wir beim Spaziergang, beim Sport, auf dem Nachhauseweg gefilmt.
Keine angenehme Vorstellung.
(https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=pfbid02iCW8VuTroKLzsbtBLpPeVywn8X5EZSp7V84YyaaNPqLwHVB38NgnCQveF9upfkm5l&id=100063625713191)
-> https://twitter.com/3rosen/status/1692640177225695517


+++GASSE
Die CONTACT Anlaufstelle Bern öffnet ihre Türen
Teil 2 – Was steckt hinter dem “Fixerstübli”?
https://www.neo1.ch/artikel/die-contact-anlaufstelle-oeffnet-ihre-tueren


+++SÜPRT
Polizei übt sich in Selbstkritik – FCL-Spiel: Gummischrot-Schüsse waren laut Polizei unnötig
Erneut hat die Polizei Wasserwerfer und Gummischrot rund um ein Fussballspiel des FCL eingesetzt. Noch in der Nacht schreibt sie, das Geschoss wäre «nicht nötig» gewesen.
https://www.zentralplus.ch/sport/fc-luzern/fcl-spiel-gummischrot-schuss-war-laut-polizei-unnoetig-2571404/
-> https://www.20min.ch/story/luzern-gummischrot-einsatz-waere-laut-der-polizei-nicht-noetig-gewesen-269347020002?version=1692336516126
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/vor-fussballspiel-in-luzern-polizei-setzt-gummischrot-ein-vorfall-wird-untersucht
-> https://news.lu.ch/html_mail.jsp?params=OPfkMZbcJv13eYAN2rw7dGXQ%2B838AKRldDSNMyKFQ0viflKfhffduoWg8o8bW5at1OzTcFomW6DzkKVb6pK3WHufGbr5%2FnNKIO9gcuuuv6A%3D
-> https://www.watson.ch/schweiz/polizeirapport/621397148-nicht-noetig-luzerner-polizei-setzt-vor-fussballspiel-gummischrot-ein



luzernerzeitung.ch 18.08.2023

Warum feuerte die Polizei Gummischrot auf friedliche Fans ab? Jetzt nimmt die Polizei ausführlich Stellung

Der Gummischrot-Einsatz der Luzerner Polizei vor dem Conference-League-Heimspiel des FC Luzern gegen Hibernian Edinburgh steht in der Kritik. Haben die Polizisten überreagiert? Christian Bertschi, Chef Kommunikation und Prävention, erklärt den Ablauf und Handlungen der Einsatzkräfte.

David von Moos, René Meier

Auch am Tag nach dem Gummischrot-Einsatz der Luzerner Polizei sind viele Fragen offen. Die zentrale Frage lautet: Warum feuerte die Polizei Gummischrot auf offenbar friedliche schottische Fans ab? Fakt ist die Vorgeschichte: Schottische Fans haben sich beim Theaterplatz besammelt und sind auf der Moosmattstrasse in Richtung Stadion marschiert. Wie beim Fanmarsch von Gästefans üblich, werden die Fans nicht auf direktem Weg zum Stadion geleitet. Sie müssen den Umweg via Breitenlachenstrasse und Zihlmattweg nehmen, um den Gästesektor zu erreichen. Gemäss Aussagen einer Augenzeugin sei eine Handvoll Fans gegen 19.40 Uhr korrekt abgebogen und einem Polizeiauto gefolgt. Das zeigt auch ein Video auf Social Media. Die grosse Fanschar lief aber auf der Moosmattstrasse weiter – direkt in die Hände der Polizei, weil sie den Weg zum Stadion scheinbar nicht kannten. Die Polizei rückte daraufhin vor und errichtete eine Barrikade. Sie setzte den Wasserwerfer ein und nach einer mündlichen Abmahnung gab der zuständige Leiter den Befehl «Feuer». Daraufhin fielen drei Schüsse.

«Diese Schussabgabe auf Distanz wäre jedoch nach ersten Erkenntnissen nicht nötig gewesen», analysiert die Polizei nur wenige Stunden nach dem Einsatz in einer ersten Stellungnahme – von Gummischrot war darin noch keine Rede. «Es wurden drei Schüsse mit Gummischrot abgegeben. Weil die Schussabgabe aus grosser Distanz erfolgte, gehen wir davon aus, dass niemand getroffen wurde. Vor der Schussabgabe wurden die betroffenen Personen wie in solchen Situationen üblich lautstark mit einer Abmahnung über das Megafon gewarnt», sagt Christian Bertschi, Chef Kommunikation der Luzerner Polizei, auf Anfrage.

Es stünden immer verschiedene Einsatzmittel zur Wahl. «Im Nachhinein wäre aus Sicht der Einsatzleitung ein Einsatz von Gummischrot nicht zwingend nötig gewesen.» Der Polizei hätten auch andere Mittel zur Verfügung gestanden, um die Durchmischung der beiden Fangruppierungen auf ihrem Weg zum Stadion zu verhindern. «Man hätte beispielsweise auch eine Kette von Einsatzkräften bilden oder nur den Wasserwerfer einsetzen können.» Nach der Schussabgabe durch die Polizei drehen sich die Gästefans ab. Die Schotten liessen sich offensichtlich von der Polizei nicht provozieren.
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Warum trotzdem geschossen wurde, werde derzeit intern analysiert. Auch die Frage, ob die Einsatzkräfte überreagiert haben, wie sich sich korrekt hätten verhalten sollen und ob die Schussabgabe Konsequenzen habe, lässt Bertschi unter Verweis auf die laufende Untersuchung offen. «Das wäre Kaffeesatzlesen.» Zuerst müsse man die Nachbesprechung des Einsatzes abwarten. «Wir müssen von Gesetzes wegen immer das mildeste wirksame Mittel einsetzen. Wir analysieren generell jeden Einsatz und beleuchten die gewählten Mittel und Methoden kritisch.» Bertschi sagt, man wolle aus dem Einsatz lernen. «Wenn wir Fehler machen, dann stehen wir dazu. Und natürlich korrigieren wir unsere Handlungsweise, damit diese Fehler künftig nicht mehr passieren.»

Die laufende Untersuchung sei eine interne. Eine strafrechtliche Untersuchung würde allenfalls von der Staatsanwaltschaft eingeleitet.

Suchten Fans die Konfrontation?

Bereits Minuten vor den Gummischrot-Schüssen sind die beiden Fanlager beim Freigleis praktisch aufeinander getroffen. Der Polizei gelang es, die beiden Fanlager zu trennen, sodass diese nicht aufeinandertrafen.

Es gab gemäss Aussagen eines Augenzeugen Provokationen. Wäre es nicht möglich gewesen, die beiden Fanlager zeitlich besser zu trennen? Bertschi sagt dazu: «Die Luzerner Polizei begleitete sowohl die Gäste- wie auch die Heimfans auf ihren Marschrouten.» Beim Hinweg habe man die schottischen Fans kurz zurückgehalten, damit die FCL-Anhänger zuerst ungestört ins Stadion gelangen konnten. Nach dem Spiel seien die Schotten kurz im Stadion zurückbehalten worden, damit sich die beiden Gruppierungen nicht begegnen. «Die Marschrouten waren den Fanverantwortlichen im Vorfeld bekannt. Wenn sich einzelne Fans nicht an die Anordnungen der Polizei halten und diese sich in konfrontativer Absicht gezielt suchen, ist dies für die Polizei kaum zu verhindern.»

Haben die ortsunkundigen, schottischen Fans die vorgegebene Route via Breitenlachenstrasse für zu lang und daher falsch gehalten und sich deswegen für den kürzeren Weg via Moosmattstrasse entschieden? «Über die Intentionen der schottischen Fans könnten wir nur spekulieren», so Bertschi. «Die Polizei war während des ganzen Fanmarschs in ständigem Austausch mit den Fanverantwortlichen. Zudem fuhr ein Polizeifahrzeug voraus, um den Schotten den Weg zu zeigen.»

Offenbar gab es Verständigungsprobleme

Ausserdem soll es auch sprachliche Missverständnisse gegeben haben. Laut PilatusToday redeten die Polizisten Deutsch mit den englischsprechenden Schotten. So hätten sich Augenzeugen gemeldet, die gehört hätten, wie ein Polizist einem Gästefan «Bleiben Sie stehen!» zurief. «Kein Wunder also, verstanden diese nicht, was zu tun ist», so die Augenzeugen. Dazu sagt Bertschi «Unsere Amtssprache ist Deutsch.» Es seien jedoch auch schottische Polizisten – sogenannte Spotter – vor Ort gewesen. Mit ihnen habe man alles geplant und koordiniert. Demnach sei es die Aufgabe der Spotter gewesen, ihre Fans über den richtigen Weg und das korrekte Verhalten zu informieren.

Polizei mit Einsatz zufrieden

Auch ein weiterer Zwischenfall wurde am Freitag bekannt. Eine Person soll von einem Kastenwagen der Polizei angefahren worden sein. «Von diesem Vorfall haben wir Kenntnis», so Bertschi und präzisiert: «Eine Person beschädigte den Seitenspiegel eines Polizeifahrzeugs und liess sich dann zu Boden fallen, um eine Kollision zu fingieren. Es ist aber zu keiner Kollision gekommen. Das Polizeifahrzeug war im Schritttempo unterwegs.»

Laut Bertschi zieht die Polizei für die beiden Tage ein positives Fazit. Von Verletzungen habe man keine Kenntnisse, auch von Sachbeschädigungen nicht. «Wir hatten viel Arbeit, aber es ist friedlich geblieben. Aus polizeilicher Sicht war es ein guter Einsatz.» Am Mittwochabend führte die Polizei in Luzern mehrere Personenkontrollen durch, rund ein halbes Dutzend Personen wurden aus der Altstadt weggewiesen. Insgesamt waren rund 850 Gäste aus Schottland anwesend.

Nicht zum ersten Mal steht die Polizei wegen einem Gummischrot-Einsatz in der Kritik: Schon bei einer Partie gegen den schwedischen Verein Djurgardens IF am 3. August schoss die Luzerner Polizei laut einem Medienbericht mit Gummischrot auf Fans. Dabei verletzte sie einen Anhänger des FC Luzern am Auge.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/stadt-luzern-warum-feuerte-die-polizei-gummischrot-auf-friedliche-fans-ab-jetzt-nimmt-die-polizei-ausfuehrlich-stellung-ld.2501198)


+++BIG BROTHER
Tierliebend und staatshassend
Der Schweizer Geheimdienst nimmt den „Tierrecht-Extremismus“ ins Visier. Obwohl er selbst schreibt, dass kaum Gefahr von der Bewegung ausgeht. Unser Kolumnist sucht in den Sicherheitsberichten des Bundes nach dem Sinn dahinter.
https://daslamm.ch/tierliebend-und-staatshassend/


+++POLICE BE
IT-Sicherheitslücke – Kontaktdaten der gesamten Kantonspolizei Bern entwendet
Unbekannte haben eine Schwachstelle gefunden und sind an Namen und Mobilnummern der Polizisten gelangt – auch weitere Institutionen sind betroffen.
https://www.srf.ch/news/international/it-sicherheitsluecke-kontaktdaten-der-gesamten-kantonspolizei-bern-entwendet
-> https://www.derbund.ch/2800-mitarbeitenden-betroffen-hacker-stehlen-mitarbeiterdaten-der-berner-kantonspolizei-508166610926
-> https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/sensible-daten-von-2800-berner-kapo-mitarbeitenden-geklaut-153046842
-> 10vor10: https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/berner-kantonspolizei-app-mobileiron-hat-sicherheitsluecke?urn=urn:srf:video:7fe86bb6-2093-4fab-8133-94a1874d65ec


+++RECHTSPOPULISMUS
Mit dem Falschen angelegt? – SVP krebst im Streit um Wahlkampf-Song zurück
Weniger als einen Tag war der SVP-Wahlkampfsong auf Youtube verfügbar. Nun hat die SVP vorerst klein beigegeben und ihn auch von anderen Plattformen gelöscht. Denn man hat sich mit einem sehr Mächtigen in der Musikbranche angelegt.
https://www.blick.ch/politik/mit-dem-falschen-angelegt-svp-krebst-im-streit-um-wahlkampf-song-zurueck-id18855394.html


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
tagesanzeiger.ch 18.08.2023

Freedom-Festival in Volketswil: Knatsch um Querdenker-Festival

Die Juso demonstrierten vor einem Club in Volketswil, weil demokratiefeindliche Exponenten an einem geplanten Festival teilnehmen. Der Gemeindepräsident sieht in der Veranstaltung kein Problem.

David Sarasin

Die massnahmenkritische Szene trifft sich am Samstag am zweitägigen Freedom-Festival in Volketswil. Zusammen mit zahlreichen ebenso einflussreichen wie umstrittenen deutschen rechtslibertären Denkern. Die Veranstalter erwarten rund 900 Teilnehmende, zudem treten auf zahlreichen Podien rund 30 Redner auf.

Das Freedom-Festival gab weit im Voraus schon zu reden. Eigentlich hätte es im bernischen Münsingen stattfinden sollen. Doch der Bauer, auf dessen Grundstück das Festival über die Bühne gehen sollte, zog seine Bewilligung zurück. Er und lokale Politiker gaben als Grund für die Absage Sicherheitsbedenken und die inhaltliche Ausrichtung des Festivals an.

Den Ausschlag für die Absage dürfte der konservative deutsche Ökonom Markus Krall gegeben haben, dem eine Nähe zur umstürzlerischen deutschen Reichsbürgerszene nachgesagt wird. Oder aber der selbsternannte Bürgerrechtler und Nationalratskandidat Nicolas Rimoldi (Mass-voll), der vor wenigen Wochen in Wien mit Neonazis demonstrierte und dem österreichischen Braunau, dem Geburtsort Adolf Hitlers, einen medienwirksamen Besuch abstattete.

«Zutiefst demokratiefeindliche Organisationen»

Der Ausrichter des Freedom-Festivals ist der in der Szene bekannte, ebenfalls umstrittene Blogger und einstmalige Nationalratskandidat Daniel Stricker. Er ist neuerdings Veranstalter im Club Pasadena in Volketswil, den er in «Strickers Freiheit» umbenannt hat. In einem Interview mit dem «Zürcher Oberländer» sagte er, dass er am Freedom-Festival bewusst «gecancelte» Leute auftreten lassen wolle, weil sie Meinungen vertreten würden, «die in der Gesellschaft unbeliebt sind».

Die Juso Zürcher Oberland veröffentlichten diese Woche einen offenen Brief an den Besitzer des Lokals sowie an die Gemeinde Volketswil. Darin drängte die Jungpartei auf die Absage des Festivals. «An diesem Festival werden zutiefst demokratiefeindliche Organisationen und Personen anwesend sein», schreibt der Co-Präsident der Juso Zürcher Oberland, Dario Vareni.

Demo vor leerem Club

Am Donnerstag demonstrierten Vertreter der Juso zudem vor dem leeren Lokal in Volketswil, besprayten Böden und brachten ein Transparent an. Der Besitzer des Pasadena war ebenfalls vor Ort und soll laut einem Bericht des «Glattalers» den Demonstranten das Transparent entrissen haben.

Die Juso hätten bewusst auf eine erneute Demonstration am Tag der Veranstaltung verzichtet, schreibt Vareni in einer Medienmitteilung vom Donnerstag. Er gab dafür Sicherheitsbedenken an. Nach der Veröffentlichung des offenen Briefs seien er und die Partei bereits mit hasserfüllten Kommentaren eingedeckt worden. «Zudem müssten wir mit rechtsextremen Teilnehmern rechnen, die nicht vor Gewalt zurückschrecken», sagt Vareni.

Der Volketswiler Gemeindepräsident, Jean-Philippe Pinto (Die Mitte), sieht keinen Grund, die Durchführung des Festivals zu verbieten. «Es ist kein Anlass, der die öffentliche Sicherheit gefährdet. Die Abteilung Sicherheit sowie die Kantonspolizei stufen den Anlass als friedlich und störungsfrei ein – nur darum geht es», sagte er dem «Zürcher Oberländer».

Auch der Clubbetreiter Daniel Stricker sieht keinen Grund für Sicherheitsbedenken. Es seien alle eingeladen, die an der Veranstaltung interessiert seien, gab er in einem Antwortvideo auf den Brief der Juso bekannt. Das Freedom-Festival soll laut Stricker nur der Auftakt solcher Veranstaltungen im ehemaligen Pasadena sein. Weitere Events seien schon angekündigt und terminiert, sagt Stricker.
(https://www.tagesanzeiger.ch/freedom-festival-in-volketswil-knatsch-um-querdenker-festival-997884443095)


+++HISTORY
Credit Suisse unter Druck von US-Ausschuss wegen Nazi-Vermögen
Weiterer Ärger für die Credit Suisse: Ein US-Ausschuss wirft der Bank vor, in einer Untersuchung Details zu Nazi-Konten verschleiert zu haben.
https://www.nau.ch/news/wirtschaft/credit-suisse-unter-druck-von-us-ausschuss-wegen-nazi-vermogen-66576997



tagesanzeiger.ch 18.08.2023

Eine Recherche von Zürich bis Lagos: Wem gehören die Bronzen von Benin?

Europäische Museen haben mit der Rückgabe von Kunstwerken begonnen, die zur Kolonialzeit aus dem heutigen Nigeria geraubt wurden. Doch nun behauptet ein Lokalfürst, die kostbaren Objekte seien sein Privateigentum.

Benedikt Herber (Das Magazin)

Der Prinz von Benin war geladen, um Raubkunst zu identifizieren, und so reiste er diesen Januar mit Bus und Bahn durch die Schweiz, nach Basel, Zürich und St. Gallen. Nie zuvor hatte der Kunsthistoriker das Land besucht, ein Visum ist unter normalen Umständen fast unerreichbar. Die Schweiz machte Eindruck auf den Prinzen: Es gefiel ihm, durch den Schnee zu stapfen, vom Zugfenster aus die Berge zu sehen und dass es zu jeder Mahlzeit einen Korb mit Brot gab.

In Zürich in der Badenerstrasse entdeckte er ein Restaurant, benannt nach seiner Urahnin, Königsmutter Idia, westafrikanische Küche. Er ass Erdnusssuppe mit Fisch, und nachdem er die Inhaber darüber aufgeklärt hatte, dass er ein Prinz von Benin ist, ein Nachfahre der Idia also, da erzählte er bei nigerianischem Bier bis spätnachts aus seinem Leben.

Der Höhepunkt für den Prinzen aber war der Besuch im Zürcher Museum Rietberg. (Ein Interview mit der Kuratorin Michaela Oberhofer lesen Sie hier.) Als er erstmals die Kunst seiner Vorfahren in den Händen hielt. Es war jene Kunst, welche die Kolonialisten vor 126 Jahren aus dem Palast seines Urgrossvaters geraubt hatten, dem Oba Ovonramwen, König von Benin: aus Messing gegossene Köpfe seiner Ahnen, Skulpturen wilder Tiere oder Relieftafeln, auf denen historische Ereignisse abgebildet sind. In diesem Moment, sagt der Prinz, habe er sich alt gefühlt. Sehr alt. Dann schweigt er.

Der Prinz heisst Patrick Oronsaye, er ist Mitte sechzig und sitzt mir gegenüber am Rande von Benin City, Nigeria, im Büro des Waisenhauses, das seine Mutter einst gegründet hat. Auf dem Laptop klickt er durch die Fotos seiner Schweizreise, Betriebssystem Windows 7. Den wackligen Schreibtisch hat Western Union gespendet, am Fensterrahmen blättert der Putz, aus dem Innenhof dringt Kinderlärm.

Der Prinz erzählt, einer seiner Jungs aus dem Waisenhaus habe einmal gesagt, mit den Benin-Bronzen, die Deutschland und womöglich auch die Schweiz nun zurückgeben werden, kehre die Geschichte zurück. Das stimme. Es sei, als wären es seine Vorfahren selbst, die nach Hause kommen.

Nach Hause – für den Prinzen heisst das: in die Hände seines Neffen, des Oba Ewuare II. Der aus seiner Sicht einzig rechtmässige Besitzer.

Die Strafexpedition

Die Geschichte Benins endete im Jahr 1897. Damals schickten die Briten Soldaten in das Königreich, das im Süden des heutigen Nigerias lag und nicht mit dem gleichnamigen Nachbarland zu verwechseln ist, dem ehemaligen Dahomey, das später nach der Bucht von Benin benannt wurde. In einer sogenannten Strafexpedition wollten die Briten den Tod eines Kolonialbeamten rächen.

Als die Soldaten durch den Dschungel gestreift waren und Benin erreichten, brannten sie den Königspalast nieder, schickten den Oba, den König, ins Exil und plünderten: neben Tonnen von Elfenbein bis zu 5000 Skulpturen, von deren Existenz die Soldaten zuvor nichts geahnt hatten und die später – obwohl mehrheitlich aus Messing gegossen – als «Benin-Bronzen» in die Geschichte eingehen sollten. Sie sind so detailreich und raffiniert gearbeitet, dass Kunsthistoriker sie heute mit Werken der italienischen Renaissance vergleichen. Auf Auktionen erzielen sie Millionen.

Damals aber, zur Jahrhundertwende, als die Bronzen den europäischen Kunstmarkt fluteten, wurden sie von deutschen Museumsdirektoren und Schweizer Händlern für wenige Pfund gekauft und landeten dann in etlichen ethnologischen Sammlungen. Dort standen die allermeisten jahrzehntelang, allen Rückgabeforderungen der nigerianischen Regierung seit den Siebzigerjahren zum Trotz. Erst heute, befördert durch die Postcolonial Studies an den Universitäten, aber auch die «Black Lives Matter»-Bewegung, könnte sich daran etwas ändern. (Mehr zur Debatte hier.)

Denn seitdem spricht die westliche Welt über ihre Kolonialschuld – und auch die Schweiz, die selbst keine Kolonien hatte, stellt sich Fragen. Denn selbst wenn man die Kunst rechtmässig erworben hat, so wurde sie doch zuvor in den meisten Fällen geraubt. Und ist man bei Hehlerware nicht verpflichtet, sie den Bestohlenen zurückzugeben?

In diesem Sinne entschied im Juli 2022 die Bundesregierung Deutschlands nach langen Verhandlungen: Alle Bronzen, die sich in deutschen Museen befinden – mehr als 1100 Objekte – sollen an Nigeria zurückgegeben werden. Und auch Schweizer Museen verkündeten, offen zu sein für die teilweise Restitution der insgesamt 96 Werke, die auf acht Museen im Land verteilt sind.

Im Rahmen der Benin Initiative wurden auch nigerianische Experten zurate gezogen, um festzustellen, welche der Werke während der Strafexpedition geraubt worden waren. Darunter Patrick Oronsaye, der Prinz. Das Ergebnis: Bei 21 sei der Fall klar, bei 32 naheliegend, dass sie aus dem Raubgut stammen. Die 43 weiteren waren offenbar auf nicht gewaltsame Weise über den Kunstmarkt in die Schweiz gelangt. Nun müssen noch Städte, Stiftungen und Kantone der Rückgabe zustimmen.

Damit könnte die Geschichte der Benin-Bronzen ein versöhnliches Ende nehmen. Denn die Rückgabe der Bronzen wäre zwar keine Wiedergutmachung für das Leid. Aber es wäre zumindest ein Eingeständnis der Schuld. Ein symbolischer Sieg der Gerechtigkeit. Nur gibt es offene Fragen, vor allem diese eine: An wen genau gibt man die Bronzen zurück?

Schuldfragen

An der Bürodecke im Waisenhaus rotiert der Ventilator. Und auch der Prinz wirbelt mit seinen Armen, als er über die ruhmreiche Geschichte des Königreichs Benin spricht. Er ist ein geborener Erzähler: Mal senkt er die Stimme und flüstert, als wollte er andeuten, dass man nun genau hinhören müsse, um die Feinheiten seiner Worte zu erfassen.

Er erzählt dann davon, wie das Königreich Benin in der Blüte seiner Macht über Jahrhunderte hinweg gleichberechtigt mit den Europäern Handel führte, erst mit den Portugiesen, dann mit den Niederländern, mit den Franzosen, mit den Briten. Dann zieht der Prinz das Tempo an, wird lauter und lauter, je näher er dem Unglück kommt, jener Strafexpedition vor 126 Jahren.

Er erzählt, wie ein Kolonialbeamter – ein Mann namens James Robert Phillips – plante, den Oba zu putschen, um sich unbeschränkten Zugriff auf das Palmöl Benins zu sichern; wie Phillips und sein Gefolge von Chiefs des Königs ermordet wurden; wie daraufhin die Raketen vom Himmel fielen, die Briten dem Oba schwere Ketten an die Handgelenke schraubten.

Besonders laut wird der Prinz aber, als er über den Vorwurf des Sklavenhandels spricht, den afroamerikanische Aktivisten kürzlich gegen das Königreich erhoben, indem sie es als Kollaborateur und Profiteur der Kolonialisten angeprangert haben. Diese Anschuldigungen seien falsch, und dann brüllt er fast: «Diese Leute sollten ihre Geschichtsbücher lesen.»

Zu «diesen Leuten» gehören die Aktivistinnen und Juristen der US-amerikanischen Restitution Study Group. Diese fordert, die Rückgabe der Benin-Bronzen zu stoppen – zumindest jener, die ab dem 15. Jahrhundert hergestellt wurden. Denn von da an habe das Königshaus Benin Menschen, die nach Überfällen auf Nachbarstaaten versklavt worden seien, nach Europa verkauft. Dafür habe es sogenannte Manillen erhalten, Armreife aus Messing, die als Tauschwährung fungierten. Diese wiederum seien eingeschmolzen worden, um die Benin-Bronzen herzustellen.

Und so könnte die Opfergeschichte gleichzeitig auch eine Tätergeschichte sein: Das Blut, das an den Bronzen klebt, haben womöglich nicht nur die britischen Kolonialisten verschuldet, sondern auch die Eliten Benins.

Doch das ist nicht alles: Ende Februar schrieb die Schweizer Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung», ein Grossteil der Bronzen, die sich bereits vor der Rückgabe im National Museum der nigerianischen Metropole Lagos befunden hatten, seien von Kunstdieben gestohlen worden – das schliesst sie aus den lückenhaften Beständen im Onlinekatalog des Museums.

Wie Äusserungen der Museumsleitung aus den Achtzigern vermuten lassen, sollte es eigentlich die drittgrösste Benin-Sammlung der Welt bewahren, 400 bis 500 Objekte. Heute befänden sich dort aber nur 80 Bronzen.

Sollen Schweizer Museen unter diesen Voraussetzungen die Bronzen zurückgeben – an einen mutmasslichen Täterort, an dem die Kunstwerke, die hierzulande sorgsam aufbewahrt und präsentiert wurden, zu leichter Beute für Diebe werden?

Ein Sanatorium für die Kunst

Fährt man in der Megacity Lagos mit ihren sechzehn Millionen Einwohnern einen der vielspurigen Boulevards der Reichenviertel entlang, vorbei an Palmen und Hochhäusern mit Luxusappartements, taucht irgendwann das Monstrum eines Shoppingcenters mit neoklassizistischer Säulenfront am Strassenrand auf. Fast übersieht man den in die Jahre gekommenen Betonbau daneben: das National Museum.

Nachdem wir unter einem Mangobaum geparkt und den Eintrittspreis von 1000 Naira (knapp einem Franken) bezahlt haben, begrüssen uns im Innenhof blühende Hecken. Doch drinnen hängen nackte Glühbirnen von der Decke, einige Kunstwerke stehen im völligen Dunkel. Um die Sicherheit scheint es nicht besser bestellt zu sein als um die Beleuchtung: Lediglich Plexiglasscheiben schützen vor Diebstahl, eine Alarmanlage gibt es nicht, Kameras kaum.

Aus dem Zustand des Museums kann man jedoch nicht auf die Sinnhaftigkeit der Rückgabe schliessen. Zwar sind immer wieder einmal Werke aus Lagos auf dem europäischen Kunstmarkt aufgetaucht, einmal wurden sogar Sicherheitskräfte des Museums als Diebe überführt; das Argument, die restituierten Bronzen würden zur Plünderung in Lagos freigegeben, ist trotzdem falsch. Denn die Bronzen kommen gar nicht ins Nationalmuseum nach Lagos, sondern dorthin, von wo die Briten sie einst geklaut haben. Doch auch dieser Ort birgt seine Probleme.

Benin City liegt eine Flugstunde von Lagos entfernt, umschlungen von etlichen Hektaren Regenwald. Zweieinhalb Millionen Menschen leben hier im Süden Nigerias, weitestgehend verschont vom Terror der Islamistengruppen und Milizen, der weite Teile des Landes erschüttert.

Die meisten Einwohner gehören dem Volksstamm der Edo an. Die Edo sind eine von insgesamt etwa 250 ethnischen Gruppen in Nigeria, die erst durch den Kolonialismus zu einem Nationalstaat vereint wurden. Die meisten dieser Gruppen besitzen ihre eigene Sprache und ihr eigenes Oberhaupt. Im Falle der Edo ist es der Oba von Benin.

Das Zentrum von Benin City bildet ein Kreisverkehr mit einem riesigen Reklameschild. Rundherum drängen verbeulte Limousinen, feilschen Mütter mit Kind auf dem Arm um ein Büschel Bananen, balancieren Strassenverkäufer Wasserflaschen oder Tabletts mit Pouletschenkeln auf ihren Köpfen.

Eine Strasse weiter: die dicken Betonmauern des Königspalastes, der 1914 wieder aufgebaut wurde, als die Briten mit Eweka II. erstmals wieder einen – jedoch völlig entmachteten – Oba zuliessen. Von dort aus sind es nur wenige Fussminuten Weg zu dem Ort, der bis vor kurzem als Europas Hoffnung für die Zukunft der Benin-Bronzen galt und alle Kritiker zum Schweigen bringen sollte: die Baustelle des Edo Museum of West African Art, kurz EMOWAA. Privat finanziert, geführt von einem erfahrenen Kuratorenteam und erbaut von dem britisch-ghanaischen Stararchitekten David Adjaye, soll es zu einem kulturellen Leuchtturm Westafrikas werden.

Das Gesicht des Projekts ist Phillip Ihenacho. Der 57-Jährige ist Geschäftsführer des EMOWAA Trust, der Stiftung hinter dem geplanten Museum, finanziert von internationalen Grossstiftungen wie der Ford Foundation oder der Open Society Foundation von George Soros.

Vor kurzem habe hier, auf dem Gelände der Baustelle, noch ein Spital gestanden, sagt Ihenacho. Nach Baubeginn sei es provisorisch ein paar Strassen weitergezogen. Aus seiner Sicht ist der Abriss kein Verlust: «Es war ein Desaster. Da wolltest du nicht hinkommen, wenn du krank warst.»

Der Zustand des einstigen Spitals stehe sinnbildlich für die Gesamtsituation seines Landes, sagt Ihenacho: «Früher sind wir mit der Hoffnung aufgewachsen, dass die Dinge besser werden.» Er selbst lebte als Kind einer britischen Mutter und eines nigerianischen Vaters in Lagos. Zum Studieren ging er in die USA, nach Yale und Harvard, kam nach einer Zwischenstation bei McKinsey aber zurück nach Nigeria, um in der afrikanischen Finanzbranche Karriere zu machen. Heute pendelt er zwischen London, Lagos und Benin City.

Er sei wiedergekommen, um sein Land voranzubringen, sagt er. Denn Korruption und Misswirtschaft hätten dazu geführt, dass vieles viel schlechter funktioniere als früher. Die öffentliche Verwaltung, die Infrastruktur, das Gesundheits- oder das Bildungswesen – alles sei marode.

Der Benin-Effekt

Wenn Ihenacho von seinen Museumsplänen erzählt, dann klingt er ähnlich leidenschaftlich wie Patrick Oronsaye, der Prinz – nur dass er lieber die Zukunft ausmalt als die Vergangenheit. Das EMOWAA soll mehr sein als ein Museum: In einem Pavillon sollen Kunstwerke zukünftig gelagert und wissenschaftlich untersucht werden, ein Kreativquartier wird dereinst Künstlerinnen und Künstler aus der ganzen Welt beherbergen und ein künstlich angelegter Dschungel Entspannung vom hektischen Stadtleben bieten.

Das Museum selbst orientiert sich an der traditionellen Architektur Benins: Gebaut aus Lehm, wird das Gebäude mit etwas Abstand aussehen wie zu Türmchen geschichtete Korkpaletten.

Die Idee des EMOWAA: Kunst von der gesamten afrikanischen Westküste gesammelt auszustellen. Das Highlight wären die Benin-Bronzen gewesen. Das jedenfalls behaupteten schon bald Medien weltweit. Es klang auch so gut: ein hochmoderner Bau, erdacht von zwei Kosmopoliten, unter deren Aufsicht man sich über die Sicherheit der Objekte keine Sorgen machen musste.

Vor allem aber wären die Bronzen in der Obhut eines transparent agierenden Trägers gewesen und nicht in der des Königshauses von Benin, das im Verdacht steht, sich am Sklavenhandel der Europäer bereichert zu haben.

Es klang zu gut.

Am 11. Mai 2021 veröffentlichte eine nigerianische Zeitung ein Statement des königlichen Hofs von Benin: Der Oba sei der einzig legitime Eigentümer der königlichen Kunst, da die Bronzen aus seinem Palast geraubt worden seien. Jeder, der das anders sehe, sei ein Feind und arbeite gegen die Interessen des Königreichs.

Im März dieses Jahres folgte die Ankündigung des scheidenden nigerianischen Präsidenten Muhammadu Buhari: Die restituierten Bronzen gehen zurück an den Oba von Benin, in seinen Privatbesitz. Der plant mittlerweile ein eigenes, royales Museum. Eine Baustelle existiert, gebaut wird noch nicht. Denkbar, dass die Bronzen im Königspalast landen, abgeschirmt von der Öffentlichkeit.

Der McKinsey-Mann sieht Potenzial

Auf mehrmalige Interviewanfragen reagierte der Oba nicht – dafür sein Onkel, Prinz Oronsaye. Als Mitglied der royalen Familie fungiert er als Sicherheitschef des Oba und hat einen direkten Draht zu ihm. Was er über das EMOWAA-Projekt denkt? «Es gibt nur ein Wort dafür: Ignoranz», antwortet er. Und redet sich wieder in Rage: Da komme ein Mann von der anderen Seite des Flusses – er meint Ihenacho, der aus dem Norden Nigerias stammt – und bringe einen Ghanaer mit – den Architekten David Adjaye –, der ihnen zeigen wolle, wie man hier zu bauen habe. Der Prinz ist sichtlich empört. «Unser architektonisches Wissen geht tausend Jahre zurück!»

Ihenacho wusste, dass seine Stiftung von der Kooperationsbereitschaft von Staat und König abhängig war. Aber seit er 2019 vom Gouverneur von Edo in die Benin Dialogue Group geholt wurde, in der Kuratoren westlicher Museen mit nigerianischen Vertretern über die Rückgabe verhandeln, sei ihm klar geworden, dass es dem Staat hinten und vorne an Geld fehle, um sich anständig um seine Werke kümmern zu können – nicht nur um zukünftig zurückgegebene, auch um die, die schon hier seien.

Um dem unterfinanzierten Staat unter die Arme zu greifen, habe er die Stiftung gegründet. Es sei aber von Anfang an um Kunst im Allgemeinen gegangen, nicht allein um die Benin-Bronzen.

Unterhält man sich mit Ihenacho, merkt man, dass er auf Benin City blickt wie auf einen Freund, der etwas aus sich machen könnte, würde er sich mal neue Kleider kaufen und den Bart abrasieren. Da sind verstopfte Strassen und heruntergekommene Hotels, aber auch eine Stadtmauer, die mit 16’000 Kilometern einmal die längste der Welt war, länger als die Chinesische Mauer, und von der nur noch ein mit Gestrüpp überwucherter Graben übrig ist. Ihenacho sieht, wenn er auf Benin City blickt, eine lebendige Künstlerszene, die das Erbe der Benin-Bronzen weiterlebt und weiterentwickelt. Kurz: Ihenacho, der McKinsey-Mann, sieht Potenzial.

Die Benin-Bronzen sind für ihn der Katalysator, dieses Potenzial endlich zu nutzen: Sie sollen Touristen in die Stadt holen, Jobs schaffen, so wie es in der baskischen Stadt Bilbao mit dem Guggenheim-Museum geschah.

Ihenacho sagt, für den Westen ende die Geschichte mit der Rückgabe der Bronzen. Dann könnten die Verantwortlichen sagen: «Schaut her, was für gütige Menschen wir sind» – und nebenbei noch Lagerungskosten sparen. «Für uns aber beginnt die Geschichte erst jetzt. Wir müssen uns fragen: Wie können wir das Maximum aus den Bronzen herausholen?»

Die Duplikate der Igun Street

Diese Frage wird zukünftig allein der König beantworten dürfen – und das, obwohl die restituierten Bronzen explizit an den nigerianischen Staat übergeben wurden. Natürlich muss das nicht bedeuten, dass sich der Oba an den Bronzen bereichern will; es ist durchaus möglich, dass er nur das Wohl der Bürger im Blick hat.

Und trotzdem: Sollte das kollektive Erbe einer Hochkultur nicht der nigerianischen Allgemeinheit gehören so wie die Kunstwerke, Schlösser und Parks in vielen europäischen Ländern? Dann könnte die nigerianische Regierung selbst entscheiden, mit wem sie kooperiert, um das Gemeinwohl zu mehren.

Aber dürfen europäische Länder, die nigerianisches Raubgut in ihren öffentlichen Sammlungen haben, die Restitution überhaupt an solche Fragen knüpfen? Darf es eine Rolle spielen, was der nigerianische Staat mit den Kunstwerken macht?

Michaela Oberhofer, Kuratorin der Afrika-Abteilung des Museums Rietberg in Zürich, warnt vor Bevormundung – auch wenn es um die Art und Weise geht, wie die Werke zukünftig ausgestellt werden. «Es existieren Formen des Konservierens, die von unserer eurozentrischen Sicht abweichen», sagt sie. Die meisten Museen in Afrika seien aus dem Kolonialismus hervorgegangen. Ein Land wie Nigeria benötige deshalb die Freiheit, neue Konzepte auszuprobieren. Eigene Konzepte.

Denkbar wären Museen, bei denen Objekte etwa mit spirituellem Hintergrund hin und wieder aus den Ausstellungsräumen geholt würden, um sie bei Ritualen zu nutzen. Bei der Suche nach Antworten wolle das Rietberg Museum unterstützend mitwirken. Bedingungen stellen werde man allerdings mit Sicherheit nicht.

Es gibt jedoch neben den Fragen der Sicherheit, des Eigentümers und des rechten Aufbewahrungsorts noch ein ganz anderes Argument, das für die Restitution der Bronzen nach Benin City spricht. Es ist die Informations- und Deutungshoheit über die eigene Geschichte. Denn mit den Bronzen ging Benin nicht nur eine riesige Zahl wertvoller Kunstwerke verloren, sondern auch ein, vielleicht das zentrale Zeugnis seiner Vergangenheit.

Entsprechend eindeutig ist auch das Bild, das sich ergibt, wenn wir mit Künstlern, Historikern oder Taxifahrern in Benin City sprechen. Egal mit wem wir reden, fast immer heisst es: Keine Frage, die Bronzen gehören dem Oba!

Um zu verstehen, welche Bedeutung die Bronzen für das kulturelle Gedächtnis an diesem Ort haben, reisen wir in die Vergangenheit des Königreichs. Von der EMOWAA-Baustelle fahren wir über die kerzengerade Hauptstrasse, die einst die Portugiesen errichtet haben sollen, bis schliesslich ein Torbogen auftaucht: «Gilde von Benin: Bronzegiesser – Weltkulturerbe», steht dort in dicken Lettern geschrieben. Die Igun Street.

Hinter dem Bogen reihen sich Wellblechverschläge aneinander, in denen Künstler über offenem Feuer Messing erhitzen und auf eine jahrhundertealte Familientradition zurückblicken. Die Männlichkeitsform «Künstler» ist hier nicht generisch gemeint: Frauen sind aus der Giesser-Gilde der Igun Street ausgeschlossen.

Die Nähe der Igun Street zum Königspalast ist kein Zufall. Man kann die Strasse vielleicht mit den königlichen Manufakturen in Europa vergleichen: Die Giesser arbeiteten ausschliesslich für den König. Ihr Daseinszweck war es seit jeher, Kunst für den Palast zu schaffen. Denn auch das ist Teil der Wahrheit: Ohne den König gäbe es die Benin-Bronzen gar nicht.

«Setzt euch und wartet», sagt der Junge im «Original Gangster»-T-Shirt und deutet auf die beiden Plastikstühle auf der Veranda. Der Chief, das lebende Gedächtnis der Igun Street, komme gleich. Hupende Autos brettern die Igun Street hinunter, nach fünf Minuten öffnet ein Mann Mitte sechzig in grauem Kaftan die Tür des Wohnhauses und geht in gravitätischer Langsamkeit auf die Gäste zu. Der Junge verbeugt sich. «Ich zeige euch etwas», sagt der Mann, dessen Name vielleicht K. O. Inneh lautet, aber von allen als Zeichen der Verehrung nur «Chief» genannt wird.

Er sperrt eine Plexiglastür zu einem Verschlag auf, der mit «The Gallery» überschrieben ist. Drinnen ein Holzregal, mit Bleistift nummeriert, 15, 16, 17. Auf dem Regal stehen Bronzen, etliche Bronzen – filigrane Relieftafeln mit Flötenspielern, Köpfen, Hühnern.

Man glaubt, man habe sie schon mal irgendwo gesehen, auf Abbildungen in Büchern und Zeitungsartikeln. Hergestellt von seinen Vorvätern, sagt der Chief, viele seien mehrere Hundert Jahre alt. Denn damals hätten sie die Bronzen in doppelter Ausführung gegossen: einmal für den Palast, einmal für sich selbst.

Mehrere Jahrhunderte Familiengeschichte, Duplikate der verlorenen Raubkunst, dicht gedrängt auf wenigen Quadratmetern. Wenn es stimmt, was der Mann behauptet, müssen sie Hunderttausende, wenn nicht Millionen wert sein. Doch verkaufen wollte der Chief sie nie.

Er sagt, es gebe zwei Gruppen von Kunstwerken. Zum einen jene mit religiöser Bedeutung. Solche stehen bei ihm in einem Schrein: Bronzeköpfe oder Rasselstäbe, einer für jeden verstorbenen Ahnen. Sie machen die Minderheit der Objekte aus. Viel häufiger sind jene, die historische Ereignisse dokumentieren. Auf Relieftafeln sind Kriege gegen Nachbarstämme abgebildet oder Beziehungsgeflechte am Hof. Und bei den Skulpturen von Männern mit Musketen und spitzen Helmen handelt es sich um Portugiesen – die ersten Europäer in Benin.

Es sind die Geschichtsbücher einer Zeit, als in Benin noch keine geschriebene Schrift existierte. «Mit den Bronzen hat man uns unsere Geschichte gestohlen», sagt der Chief. Und was sei das, ein Volk ohne Geschichte?

Das Ende der Geschichte?

An einem anderen Ort in Benin City, eine halbe Autostunde von der Igun Street entfernt, versucht eine kleine Gruppe seit Jahrzehnten, diese Geschichte wiederzubeleben. Um dorthin zu gelangen, lassen wir den Trubel der Märkte hinter uns, auf denen unter Sonnenschirmen Ziegen, Hühner und SIM-Karten angeboten werden, fahren an etlichen Baptistenkirchen vorbei, um schliesslich gegenüber einer geschlossenen Textilfabrik das Institute of Benin Studies zu erreichen.

Im Garten vor dem Institut, einem Betonbungalow, riecht es nach gemähtem Gras, und an den Mauern flitzen bunte Eidechsen entlang. Das Institut besteht aus zwei Räumen: Im einen sitzen ein paar Studenten und lesen in angegilbten Büchern; der andere beherbergt eine Bibliothek – circa 1250 Werke umfasst sie, hinter Drahtgittern geschützt.

Es ist die einzige Bibliothek, die sich mit der Geschichte des Königreichs Benin auseinandersetzt. Gegründet wurde das Institut von einem Marinenavigator, der in den 1990ern vom Oba beauftragt wurde, eine Erinnerungsfeier zum Gedenken an die Invasion zu planen – und dabei feststellte, dass es kaum Informationen darüber gab. Also begann er, jedes Buch zum Thema zu kaufen, das er nur finden konnte.

Mittlerweile wird das Institut von dem Historiker Godfrey Ekhator geleitet, ein kräftiger Mann mit kräftiger Stimme, der sich für jede ihm gestellte Frage höflich bedankt. Er betätigt sich nebenbei im Digital Benin Project, in dem europäische und nigerianische Experten Bronzen-Sammlungen weltweit katalogisieren.

Von jenem Projekt, bei dem zwischen den knapp 500 angeblich vorhanden und den 80 digital zugänglichen Objekten eine erhebliche Lücke klafft, leitete die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin ab, die Werke seien systematisch aus dem Museum in Lagos gestohlen worden – ein Vorwurf, den Ekhator für «zynisch» hält: Man habe aus Zeitmangel noch nicht alles digitalisieren können – was nicht heisse, dass die Werke verschwunden seien.

Ekhator hat sich im Schatten eines grossen Avocadobaumes niedergelassen, das Gespräch dreht sich um die Studienergebnisse eines deutschen Biochemikers, der herausgefunden haben will, dass das Messing der Benin-Bronzen vom Rhein stamme. Die Portugiesen hätten es dann nach Benin gebracht – in Form von Manillen, also Messingringen, im Tausch gegen Sklaven.

Ekhator sagt, er habe lachen müssen, als er davon las: «Es ist ein fundamentaler Fehler anzunehmen, es habe vor den Portugiesen in Benin kein Messing gegeben.» Das Metall habe auch in Afrika existiert, und Benin, dieses mächtige Königreich, habe Handelsbeziehungen bis nach Ägypten gepflegt. Benin, so viel sei sicher, habe Europa nicht gebraucht für seine Bronzen. Nicht gebraucht, um Zivilisation zu entwickeln.

Nun kann es durchaus sein, dass die Menschen in Benin schon vor der Ankunft der Portugiesen Zugriff auf Messing hatten. Nur: Dass der Manillenhandel ab dem 15. Jahrhundert der Bronzekunst einen grossen, vielleicht den entscheidenden Schub gegeben hat, lässt sich kaum bestreiten. In der Digital-Benin-Datenbank jedenfalls finden sich für die Zeit davor gerade einmal zwei Objekte – von über 5000.

Dieses eher selektiv anmutende Geschichtsbild teilt Ekhator mit Patrick Oronsaye, dem Prinzen. Hunderte Menschenopfer, von denen die Briten nach dem Einmarsch in Benin berichtet haben? Propaganda, antwortet Ekhator. Wenn überhaupt, habe es Hinrichtungen von Verbrechern gegeben.

Sklavenhandel? Unbedeutend, antwortet der Prinz. Vielleicht 0,001 Prozent der europäischen beziehungsweise amerikanischen Sklaven seien aus Benin. Denn der Oba habe bereits 1516 den Sklavenhandel im ganzen Königreich abgeschafft, weil die Edo ihre Arbeitskräfte selbst benötigten. Und die Manillen, aus denen Bronzen gegossen wurden? Die habe Benin für Textilien erhalten, nicht für Sklaven.

Viele Fragen, so viel ist klar, werden sich wohl nie endgültig klären lassen. Denn sieht man von mündlichen Überlieferungen ab, stammen die Berichte dieser Zeit von Europäern, in Benin gab es keine Schrift. Die historischen Dokumente der Europäer wiederum sind verzerrt durch rassistische und koloniale Vorurteile, und es gibt wenig neue Forschung zu dem Thema.

Aber: In Oronsayes Behauptung, der Oba habe den Sklavenhandel abgeschafft, steckt mit ziemlicher Sicherheit zumindest eine Teilwahrheit. Im gut recherchierten Übersichtsbuch «Benin and the Europeans» des Historikers Alan Frederick Charles Ryder etwa heisst es, 1516 habe der Oba den Handel nach Geschlechtern unterschieden, wobei Männer nur noch selten verkauft wurden. Dadurch verlagerte sich der Sklavenhandel auf andere westafrikanische Länder, etwa Ghana oder das heutige Benin. Ab dem 18. Jahrhundert habe er aber im Königreich wieder zugenommen.

Die Heilung

Seit klar ist, dass die Bronzen zurück nach Benin gehen, wird die verschüttete Geschichte Stück für Stück freigelegt. Ihenachos EMOWAA-Stiftung schickt Lehrer in Schulklassen, um die Schüler über die Vergangenheit aufzuklären. So beginnt allmählich eine Auseinandersetzung mit der Frage, wo man herkommt. Wer man eigentlich ist. Und wo man hinwill. Nicht jedem gefällt, was dabei herauskommt – aber immerhin: Es gibt eine Diskussion darüber, was war und was daraus folgt.

Für Ihenacho ist klar, wohin diese Diskussion führen muss: «Nicht nur in Benin, in ganz Westafrika ist nun der Zeitpunkt gekommen, sich einzugestehen: Ja, wir haben am Sklavenhandel mitgewirkt», sagt er. Nur so könne es eine Heilung geben zwischen den Afrikanern hier und jenen in der Diaspora, den Nachfahren der Sklaven, die vor allem in den USA gegen die Restitution Stimmung machen.

Die Benin-Bronzen haben das Potenzial, den Blick auf die eigene Vergangenheit zu schärfen – und damit auf die eigene Identität. Mit den historischen Bronzen, egal wo in Nigeria sie letztlich landen, kehrt kein totes Kulturgut zurück, sondern ein Konglomerat sehr aktueller Fragen.

Die Begegnung mit jedem der Beteiligten hat gezeigt, dass mit der Rückgabe der Werke nicht nur materielle Gerechtigkeit hergestellt wird, sondern man dem Land auch die Chance restituiert, sich zu seinem Erbe zu verhalten und darauf aufzubauen. Natürlich ist darin das Risiko des Scheiterns inbegriffen. Aber kann man, was die Behandlung der Bronzen angeht, stärker scheitern, als es Europa die längste Zeit getan hat?

Auf seiner Veranda erzählt der Chief den Gästen zum Abschied noch eine Geschichte. Er habe einmal das Weltmuseum in Wien besucht. Hinter einer dicken Glasscheibe entdeckte er eine seiner Bronzen – genau dieselbe, die hier hinten in seiner Kammer steht. Er wollte ein Foto machen, dann seien aber zwei Security-Männer auf ihn zugegangen und hätten ihn ermahnt: «Keine Fotos!» Das sei doch verrückt, sagt der Chief. «Dass ich meine eigene Kunst nicht fotografieren darf.» 
(https://www.tagesanzeiger.ch/eine-recherche-von-zuerich-bis-lagos-wem-gehoeren-die-bronzen-von-benin-389313027543)