Medienspiegel 25. Juli 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++ZÜRICH
Flüchtlingsfamilie in Wiesendangen: Gemeinde fordert von wohlhabenden Ukrainern Sozialhilfe zurück
Was schnell zu einer Freundschaft wurde, endete in einer Enttäuschung. Eine ukrainische Familie in Wiesendangen bezog mutmasslich zu Unrecht Sozialhilfe und hinterliess eine Wohnung im Chaos.
https://www.tagesanzeiger.ch/gemeinde-fordert-von-wohlhabenden-ukrainern-sozialhilfe-zurueck-421649824095


+++ATLANTIK
Migrationsroute über den Atlantik: 17 Leichen vor Dakar entdeckt
Bei einem Bootsunglück vor der senegalesischen Küste sind wieder Migranten ums Leben gekommen. Das Boot sollte Richtung Kanarische Inseln unterwegs gewesen sein.
https://taz.de/Migrationsroute-ueber-den-Atlantik/!5950622/
-> https://taz.de/Mindestens-18-Tote/!5946377/
-> https://taz.de/Migrationsroute-ueber-den-Atlantik/!5950622/


+++SEXWORK
Das horizontale Brachland liegt im Oberland
Über 500 Bewilligungen für Bordelle und Ähnliches wurden im Kanton Bern in den vergangenen zehn Jahren ausgestellt, deren 25 wurden entzogen. Das geht aus der Antwort des Regierungsrates auf eine Anfrage von Grossrat Carlos Reinhard hervor, und auch, dass die Rotlicht-Hochburgen in den Stadtregionen Biel, Bern und Thun liegen und das horizontale Brachland im Oberland.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/212068/
-> Interpellation https://www.gr.be.ch/de/start/geschaefte/geschaeftssuche/geschaeftsdetail.html?guid=5136078f0218400bae171d30ba48f301


+++ANARCHY 2023
„Sabotage überall“: Am Ursprungsort des globalen Anarchismus
Im 19. Jahrhundert gründete sich die anarchistische Internationale in einem Schweizer Tal. Tausende Anarchist:innen pilgerten zum Jubiläum in die Kleinstadt St. Imier. Ihre Positionen, etwa zur Ukraine, gehen weit auseinander. Eine Reportage.
https://www.swissinfo.ch/ger/-sabotage-ueberall—am-ursprungsort-des-globalen-anarchismus/48684968



ajour.ch 25.07.2023

Anarchistentreffen — Warum ein Russe im Berner Jura nach Spuren seines toten Sohnes sucht

Er kämpfte in Weissrussland gegen das Lukaschenko-Regime und fiel im Krieg für die Ukraine: Leshy Petrovs Vater hatte keine Ahnung, dass sein Sohn in Osteuropa ein bekannter Anarchist war.

Ursi Grimm

Tausende Menschen aus aller Welt reisten am vergangenen Wochenende für den 150. Geburtstag des Anarchismus nach St-Imier. Vor der Freiluftküche neben dem Eisstadion hat sich eine lange Schlange gebildet. Auch Dimitri Petrov steht dort an. Sein Magen knurrt. «Es sind so viele schöne Leute hier», sagt er eher beiläufig. «Ja, da hast du recht», antwortet ihm ein Mann lachend. Auch Petrov lacht.

Vor drei Monaten konnte er sich nicht vorstellen, in seinem Leben jemals wieder zu lachen. Am frühen Morgen des 19. April erhält er eine SMS. Danach gerät sein Leben aus den Fugen. «Leshy und seine Gruppe wurden bei einer Mörserexplosion in Bachmut getötet.»

Leshy ist Dimitri Petrovs Sohn und heisst eigentlich genau wie sein Vater. Er kämpfte in der Ukraine, aber nicht an der Seite der russischen Armee, sondern gegen sie. Da seine sterblichen Überreste bisher nicht gefunden wurden, gilt er als vermisst. Der Vater hält es für unwahrscheinlich, dass sein Sohn noch lebt. Trotzdem bleibt ein Hoffnungsschimmer, an dem er sich festhält.

Dimitri Petrov ist 61, in Russland geboren und aufgewachsen. Er sagt, er spreche Russisch wie seine Muttersprache. Trotzdem identifiziere er sich stärker mit seiner jüdischen Herkunft. In Russland arbeitete er als Schriftsteller und Journalist. Mehr Details aus seinem Leben wagt er nicht preiszugeben.

Als er die Nachricht vom Tod seines Sohnes erhält, lebt er bereits nicht mehr in Russland. «Mir wurde bewusst, dass ich wenig über das Leben meines Sohnes weiss», sagt Petrov. Deshalb bricht er auf, um Menschen zu treffen, die seinen Sohn gekannt hatten.

Von ihnen hofft er, vieles über dessen Leben zu erfahren, was ihm bisher verborgen war. Die Reisen auf der Suche nach solchen Menschen bringen ihn in viele Länder, nach Polen, Skandinavien, Italien und in die Schweiz.

Inzwischen ist Petrov am Tisch mit der Essensausgabe angekommen. Er schnappt sich einen Teller mit Teigwaren, einer Gemüsesauce und etwas Salat. Bei den Festbänken am Eingang des Eisstadions findet er einen freien Platz in der prallen Sonne.

Im weissen Leinenhemd und Hut mit blauem Band sieht er aus wie ein Tourist. Dass seine Reise eine besondere ist und durch Trauer bestimmt, erfährt man nur, wenn man ihm zuhört. Petrov nimmt einen Happen und beginnt zu erzählen:

«Leshy war schon als Kind sehr naturverbunden.» So habe er als Zehnjähriger Abfall im Wald gesammelt. Petrov erzählt von der Datscha in einem Wald in der Nähe von Moskau. Sein Sohn sei dort als Kind von Baum zu Baum gelaufen und habe die Bäume umarmt. «Daher sein Spitzname Leshy.» Der Name Leshy kommt aus der slawischen Mythologie und bezeichnet einen Walddämon, der die Tiere des Waldes schützt und verteidigt.

Im Laufe seines Lebens wird Petrov junior zum Umweltaktivisten. Er versteht sich als Anarchist und als Antifaschist. Wegen der zunehmenden Repression verlässt er Russland. Er lässt sich in Kiew nieder. Zu Beginn des Ukrainekrieges schliesst er sich einer Gruppe an, die Sabotageakte gegen das russische Militär verübt.

Petrov erfährt vom Treffen der Anarchisten im Berner Jura und verspricht sich Begegnungen mit Menschen, die die gleiche Gesinnung wie sein Sohn haben. Mit der Erwartung, auch Freunde von ihm zu treffen, packt er seine Koffer und besteigt das Flugzeug.

Vor Ort ist Petrov überwältigt. Ihm war nicht bewusst, wie bekannt sein Sohn ist: Am Freitag gab es an dem internationalen antiautoritären Treffen in St-Imier eine Konferenz über sein Leben und Wirken. Davon erfährt Petrov erst, als er bereits in St-Imier ist. «Ich traf sogar jemanden aus den USA, der eine Biografie über Leshy geschrieben hat», staunt Petrov. Das kleine Büchlein war an der anarchistischen Buchmesse im Stadion von St-Imier innert Kürze ausverkauft.

Leshy Petrov war in der Anarchistenszene in Osteuropa tatsächlich kein Unbekannter. Die Website Pramen – Anarchismus in Weissrussland – widmet ihm einen ausführlichen Nachruf.

Mit Datum vom 28. April schreiben die Betreiber: «Neulich starb unser Kamerad Dimitri Petrov, vielen bekannt als Ilja Leshy, in den Kämpfen in der Nähe von Bachmut.» Leshy Petrov soll bei den Protesten 2020 illegal über die Grenze nach Weissrussland gekommen sein, um am Kampf gegen das Lukaschenko-Regime teilzunehmen.

Anarchismus und Revolution seien sein Lebensziel gewesen, heisst es weiter. Er habe sich weit über die Grenzen Russlands hinaus für seine Überzeugungen eingesetzt.

Derweil stochert Vater Dimitri Petrov in seinem Essen. Er bietet es einer Punkerin an, die sich Teigwaren und Gemüse auf ihren Teller schaufelt. Mit vollem Mund und kauend bedankt sie sich.

Noch steht die Sonne über dem Mont-Soleil, Petrov möchte die letzten Sonnenstrahlen einfangen und beschliesst einen kleinen Spaziergang zum Waldrand über St-Imier zu machen. Das steile Strässchen hochgehend, sagt er nachdenklich:

«Ich wollte immer, dass Leshy selbstbestimmt und frei leben kann.» Petrov respektiert alle Entscheidungen seines Sohnes. «Aber wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich alles tun, damit Leshy dem Krieg fernbleibt.»

Wenn ein Kind seine Eltern verliert, wird es zum Waisenkind, doch wenn Eltern ihre Kinder verlieren, fehlt dieser Begriff in der deutschen Sprache. Ebenso fehlen auch Petrov hin und wieder die Worte, wenn er über seinen Sohn spricht.

«Die Welt ist voller guter Menschen, aber dann gibt es Krieg und politische Repression und man vergisst es», sagt Petrov. All diese leidenschaftlichen, schönen Menschen zu treffen, lindere seinen Schmerz. Petrov beginnt zu erahnen, wie viele Menschen seinen Sohn geschätzt und vielleicht auch bewundert haben.

Trotz Trauer ist er dankbar dafür, dass er lebt. Er sucht nach Boden unter den Füssen: «Tag für Tag diskutiere ich mit meiner Frau Irina, wie wir unser Leben fortführen sollen.» Der Schock über den plötzlichen Verlust seines 33-jährigen Sohnes sitzt tief.

Die Sonne verschwindet hinter dem Mont-Soleil und das Tal versinkt in seinem Schatten. «Die ganze Welt befindet sich zwischen Leben und Tod. Wie sollen wir da soliden Boden für unsere Zukunft finden?» fragt Petrov. Sein Blick schweift über die Gärtchen der Einfamilienhäuser und bleibt an einem Gartenzwerg hängen. Petrov murmelt: «Hier gibt es diesen Boden bestimmt.»
(https://ajour.ch/de/story/125195/warum-ein-russe-im-berner-jura-nach-spuren-seines-toten-sohnes-sucht)


+++SPORT
nzz.ch 25.07.2023

Wegen Fangewalt fuhren nach Fussballspielen rund ums Stadion Letzigrund keine Trams und Busse mehr – jetzt lockert die Stadt Zürich die Einschränkungen

Künftig soll der öV wieder häufiger verkehren.

Isabel Heusser

Es sind wüste Szenen, die sich am Abend des 19. Dezembers 2021 in einem Tram der Linie 2 in der Stadt Zürich abspielen. Zwischen den Haltestellen Zypressenstrasse und Lochergut wird ein Trampilot angegriffen und erheblich verletzt. Der Mann muss ins Spital gebracht werden.

Bei den Tätern handelt es sich um Fussballfans, die Linie 2 führt vom Stadion in die Innenstadt. An diesem Abend sind im Letzigrund der FC Zürich und der FC St. Gallen gegeneinander angetreten. Rund um das Spiel kommt es zu zahlreichen Scharmützeln.

Es ist nicht das erste Mal. Immer wieder sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Verkehrsbetriebe Zürich (VBZ) brenzligen Situationen ausgesetzt, wenn im Letzigrund Fussball gespielt wird. Auch für unbeteiligte Fans und Passagiere kann es ungemütlich werden. Und manchmal begeben sich Fans in Lebensgefahr, wenn sie auf Trams klettern und den Hochspannungsleitungen gefährlich nahe kommen.

Nach dem Vorfall mit dem verletzten Trampiloten reicht es den VBZ. Sie beschliessen, ab Februar 2022 den Betrieb der Tramlinien 2 und 3 sowie der Buslinie 31 jeweils kurz vor Spielende rund um das Stadion für eine Stunde einzustellen – so lange, bis sich die Situation beruhigt hat. Die Massnahme gilt für Spiele mit mindestens 5000 Zuschauerinnen und Zuschauern.

Buslinie 31 fährt wieder ganz normal

Seither hat sich die Situation für Fahrgäste, die VBZ-Mitarbeitenden und die Fans zwar entspannt. Gleichzeitig müssen die Bewohner in den Quartieren Albisrieden und Altstetten an Spieltagen längere Wege in Kauf nehmen, wenn sie mit dem öV unterwegs sind.

Nun hat der Stadtrat beschlossen, die Einschränkungen ab diesem Sommer zumindest teilweise wieder aufzuheben. Die Buslinie 31 verkehrt wieder gemäss normalem Fahrplan, die Tramlinie 3 wird partiell eingeschränkt. Die Linie 2 fährt weiterhin nicht nach grossen Spielen. Dies geht aus einer Antwort des Stadtrats auf eine Anfrage zweier GLP-Parlamentarier hervor.

Künftig wollen VBZ und Stadtpolizei flexibler reagieren. So gelten die Einschränkungen künftig nicht mehr grundsätzlich bei Spielen mit mehr als 5000 Personen im Stadion, sondern es wird bei Matches mit 5000 bis 8000 Zuschauern eine Risikoabschätzung vorgenommen. Verkehrsbetriebe und Polizei überprüfen laufend, ob die Personenlimite weiter erhöht werden kann.

Die GLP-Parlamentarier wollten wissen, ob es möglich sei, die Einschränkungen erst bei Spielen mit 15 000 Zuschauern zu erlassen. Dies kommt für den Stadtrat aber nicht infrage. Er geht davon aus, dass sich die Sicherheitslage wieder verschlechtern würde. Je mehr Personen im Stadion, desto grösser sei der Andrang an den Haltestellen. Das berge die Gefahr von Angriffen durch gegnerische Fans. «Aus polizeilicher Sicht ist bei Interventionen die Trennung von friedlichen und gewaltbereiten Fans sowie von vollkommen unbeteiligten Personen und Fahrpersonal der VBZ kaum möglich», schreibt der Stadtrat.

Die Stadt hat Alternativen geprüft, wie das ÖV-Angebot rund um das Stadion auch bei grossen Fussballspielen aufrechterhalten werden könnte. Zur Diskussion standen Ersatzbusse. Diese einzusetzen, ist aus Sicht des Stadtrats aus mehreren Gründen keine gute Lösung. Etwa, weil Busse nur einen Drittel der Kapazität eines Tramkurses böten – die VBZ brauchten also deutlich mehr Ressourcen, um die Passagiere zu befördern.

Zudem wollen die VBZ das Sicherheitsproblem nicht von der Haltestelle Letzigrund auf andere Haltestellen im Quartier verschieben, weil dies den Verkehr noch weiter beeinträchtigen würde.

Gestaffelte Entleerung des Stadions nicht möglich

Auch der Idee, die Gäste gestaffelt aus dem Stadion zu entlassen und so das Gedränge zu verringern, erteilt der Stadtrat eine Absage. Tausende Fans zurückzuhalten, würde das Problem nur um wenige Minuten verschieben und neue Probleme verursachen: «Der Druck auf den stadioninternen Sicherheitsdienst insbesondere bei Regen oder Gewitter wäre immens.» Der Stadtrat befürchtet, es könnte zu Panikreaktionen kommen, wenn manche Personen in einem Sektor eingeschlossen bleiben, während Zuschauer in einem anderen Sektor das Stadion bereits verlassen dürfen.

Man bedaure die Umstände insbesondere für die Quartierbewohner, hält der Stadtrat fest. «Die Einschränkungen gelten als letztes Mittel, um die Betriebssicherheit zu garantieren.»

Klar ist: Aus Sicherheitsgründen sieht der Stadtrat vorerst keine Möglichkeit, ganz auf die Massnahmen zu verzichten. Und die Polizei muss sich in erster Linie darauf konzentrieren, rund um die Spiele Konfrontationen zwischen rivalisierenden Fangruppen möglichst zu verhindern, auch auf dem An- und dem Abreiseweg. Für eine «ausgedehnte» Abdeckung des öV hat die Polizei zu wenig Personal.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-vbz-lockern-einschraenkungen-nach-fussballspielen-im-letzigrund-ld.1748378)


+++JUSTIZ
«Apropos» – der tägliche Podcast: Das Schweizer Justizsystem am Anschlag
Schweizer Staatsanwältinnen und Staatsanwälte sind überlastet und ausgebrannt. Zehntausende Fälle bleiben deshalb liegen. Droht das System zu kollabieren?
https://www.bernerzeitung.ch/das-schweizer-justizsystem-am-anschlag-291745671240



tagesanzeiger.ch 24.07.2023

Überlastete Strafverfolger: Ein runder Tisch soll Schweizer Justiz vor dem Kollaps bewahren

Von links bis rechts sind sich alle einig: Strafverfahren dauern in der Schweiz viel zu lange. Deshalb brauche es dringend Lösungen – die Praktikerinnen und Politiker gemeinsam suchen sollen.

Iwan Städler, Roland Gamp

Normalerweise duellieren sie sich vor Gericht. Doch nun sind sich Staatsanwälte und Rechtsanwälte für einmal einig: Die Schweizer Justiz ist überlastet. Das zeigt eine Recherche dieser Redaktion, wonach sich bei den Schweizer Strafverfolgern über 100’000 offene Fälle angehäuft haben. Immer wieder dauern Verfahren so lange, dass die Täter milder bestraft werden oder wegen Verjährung gar freigesprochen werden müssen.

Der bekannte Zürcher Strafverteidiger Thomas Fingerhuth fordert einen runden Tisch, an dem alle Seiten gemeinsam Lösungen suchen. Er erhält dabei Zuspruch von der Schweizerischen Staatsanwälte-Konferenz. Auch sämtliche Politikerinnen und Politiker von links bis rechts, mit welchen diese Redaktion gesprochen hat, begrüssen die Idee.

Die Ermittler haben keine Lobby

«Das ist eine gute Sache», findet etwa Carlo Sommaruga (SP), Präsident der Rechtskommission im Ständerat. Rechtsanwälte hätten im Parlament eine starke Lobby, «sie können ihre Interessen dort besser einbringen als Staatsanwälte». Daher sei ein offener Austausch zu begrüssen. Das sieht auch Ständerat Andrea Caroni (FDP) so. Denn: «Es hat praktisch keine Staatsanwälte im Parlament», sagt der Rechtsanwalt, der immerhin in der Militärjustiz als Staatsanwalt tätig ist.

Die Recherchen hätten ihn «aufgerüttelt», so Caroni. Lange Verfahren seien für alle schlecht – auch für mutmassliche Täter, die zum Teil allein schon wegen des Verfahrens ihren Job verlieren würden, auch wenn sich später ihre Unschuld herausstelle. Dessen müsse sich das Parlament bewusst sein. «Statt die Justiz ständig mehr zu belasten, sollten wir sie auch mal entlasten – etwa durch die Entkriminalisierung von Cannabis», findet Caroni.

Nationalrätin Andrea Geissbühler (SVP) hält die langen Verfahren für «ein Riesenproblem». Das habe sie bereits geärgert, als sie noch Polizistin gewesen sei. «Es darf doch nicht sein, dass sich Täter durch Verzögern des Verfahrens in die Verjährung schleppen können.» Ginge es nach Geissbühler, dürften Verdächtige ihren Anwalt oder ihre Anwältin nur noch einmal wechseln. Auch andere Verteidigungsrechte wollte sie gemeinsam mit Parteikollege Mauro Tuena einschränken – etwa die Teilnahme bei der Einvernahme von Mitbeschuldigten. Damit ist sie aber im Parlament unterlegen.

Ein runder Tisch hätte laut der SVP-Nationalrätin den Vorteil, dass man einmal Praktikern zuhören würde. Dies begrüsst auch Ständerat Stefan Engler (Die Mitte), wobei er Wert auf die Gewaltenteilung legt. Will heissen: Mit den Justizvertretern zu reden, sei sinnvoll. Aber anschliessend müsse das Parlament selbst entscheiden.

Engler will die Verteidigungsrechte nicht einschränken. «Wir dürfen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nicht der Beschleunigung opfern», mahnt der Rechtsanwalt. Am Ende sei es Sache der Kantone, die Justiz mit genügend Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern auszustatten. Das sehen auch Nationalrätin Min Li Marti sowie die Ständeräte Daniel Jositsch und Carlo Sommaruga (alle SP) so. Es müsse kurzfristig möglich sein, das Personal flexibel anzupassen, findet Jositsch. Dafür bräuchten die Regierungen eine entsprechende Kompetenz. «Juristen gibt es ja ausreichend», so der Rechtsprofessor.

Erschreckt vom hohen Pendenzenberg

Zwar haben die Strafverfolger in verschiedenen Kantonen im Lauf der letzten Jahre mehr Stellen erhalten. Doch meist nicht so viele, wie es bräuchte. In Basel haben Regierung und Parlament mit dem Budget 2023 lediglich die Hälfte der zusätzlich geforderten Ressourcen bewilligt. Nach wie vor ist die Situation so angespannt, dass die Aufsichtskommission über die Staatsanwaltschaft vorschlägt, pensionierte Strafverfolger befristet zurückzuholen. Im Thurgau sprach die Politik zuletzt ebenfalls zusätzliches Personal. Dennoch zeigt sich gemäss Jahresbericht der Staatsanwaltschaft, «dass die Entwicklung des Personalbestandes nicht mit dem ansteigenden Arbeitsvolumen Schritt halten kann». Auch in Zürich wurde mehr Personal bewilligt, etwa in der Region Winterthur/Unterland. Trotzdem müssen Kolleginnen und Kollegen anderer Regionen aushelfen, damit die Zahl der Pendenzen nicht weiter steigt.

Die Kantone sieht auch Ständerat Thomas Minder (parteilos) in erster Linie in der Pflicht. Dennoch will er das Problem auch in der Rechtskommission des Ständerats zur Diskussion stellen. Ihn erschrecken der riesige Pendenzenberg und überhaupt die hohe Zahl an Fällen, die er zum Teil auch auf die Zuwanderung zurückführt.

Bleibt die Frage, wer den runden Tisch umsetzt. Der Bund signalisiert trotz aller Forderungen aus Praxis und Parlament wenig Interesse: «Die Organisation der Strafbehörden und deren Ausstattung mit den nötigen Ressourcen liegt in der Kompetenz der Kantone», heisst es auf Anfrage beim Bundesamt für Justiz. Man könne sich nicht zum Thema äussern.

Auch die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD) mochte vorerst keine Stellung nehmen. Das Problem ist also weitherum erkannt – doch die Lösung lässt noch auf sich warten.
(https://www.tagesanzeiger.ch/ein-runder-tisch-soll-schweizer-justiz-vor-dem-kollaps-bewahren-198818584304)


+++KNAST
Psychiatrische Gutachten: Ein Algorithmus in der Kritik
Der Kanton Zürich verwendet einen einfachen Algorithmus, um die Rückfallwahrscheinlichkeit von Straftäter:innen zu ermitteln. Doch die Fachwelt hält seinen Einsatz für ethisch bedenklich.
https://tsri.ch/zh/psychiatrische-gutachten-ein-algorithmus-in-der-kritik-fortes-justiz.nWSGZcytcifoq5sw


++++POLIZEI CH
Filmen von Polizeieinsätzen: «Diese Forderung ist komplett unzeitgemäss»
Nach der Forderung eines Handy-Filmverbots bei Polizeieinsätzen kommt die nach den Bodycams. Gewaltforscher Dirk Baier hat sie untersucht – und glaubt, dass Amateuraufnahmen für die Polizei wertvoller sind als Bodycams.
https://bajour.ch/a/clkh54rxw7894562sfr748yy034/dirk-baier-filmverbot-bei-polizeieinsaetzen-ist-komplett-unzeitgemaess
-> https://www.blick.ch/politik/filmverbot-kaum-umsetzbar-ehemaliger-polizeikommandant-will-mehr-transparenz-bei-einsaetzen-id18779430.html
-> https://bs.juso.ch/aktuelles/medienmitteilungen/juso-basel-stadt-fordert-recht-auf-bild-filmaufnahmen-von-polizeieinsatzen/



bzbasel.ch 25.07.2023

Kamera ein oder aus? Basler Sicherheitsdepartement ist gegen ein Videoverbot bei Polizeieinsätzen

Soll in Zukunft das Filmen von Polizeieinsätzen verboten werden? Da sind sich das Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement und der Verband der städtischen Polizeibeamten uneinig.

Neomi Agosti

Viele Polizeikorps in der Schweiz sehen sich mit dem Vorwurf konfrontiert, unverhältnismässig hart einzuschreiten – zu diesen Korps gehört auch die Kantonspolizei Basel-Stadt. Da heute fast jede und jeder ein Smartphone mit sich herumträgt, taucht nach Demonstrationen und anderen Einsätzen in der Regel rasch Videomaterial auf. Diese Aufnahmen passen nicht allen.

Laut der «NZZ am Sonntag» will der Polizeibeamten-Verband Basel-Stadt das Filmen von Einsätzen verbieten. Geht es nach dem Verband, würden alle Arten von Aufnahmen verboten. Denn die Videoschnipsel würden nur Ausschnitte zeigen und nicht den Kontext. Zudem würden filmende Gaffer und Aktivisten Einsätze stören. Auch Bodycams, also Kameras auf den Uniformen der Polizisten im Einsatz, lehnt der Verband ab. Doch das Basler Justiz- und Sicherheitsdepartement (JSD) sieht die Sachlage anders.

JSD spricht sich für Bodycams aus

JSD-Mediensprecher Topark Yerguz sagt, das JSD spreche sich nicht gegen Bodycams aus. Im Gegenteil: In einer nächsten Polizeigesetzrevision solle die Grundlage für deren Einführung geschaffen werden. Ob die Kameras aber tatsächlich bald zum Einsatz kämen, das sei noch zu prüfen, sagt Yerguz.

Das JSD distanziert sich vom Vorschlag des Basler Polizeibeamten-Verbands, private Filmaufnahmen zu unterbinden. «Es ist verständlich, dass Polizistinnen und Polizisten sich wehren möchten, wenn sie von aktivistischen Kreisen an den Pranger gestellt werden», sagt Yerguz. Das Problem von Videos, die ohne oder in verfälschten Kontext veröffentlicht würden, sei eine Tatsache.

Doch das Mittel, Filmen zu untersagen, sei kontraproduktiv und werde vom JSD nicht unterstützt. Ein Videoverbot fördere nicht das Vertrauen in die polizeiliche Tätigkeit, sondern untergrabe sie, sagt Yerguz. Darüber hinaus sei die Durchsetzung eines solchen Verbots in der Praxis kaum möglich. Die Basler Polizei wollte sich auf Anfrage nicht zur Problematik äussern.

Möglich oder nicht – der Vizepräsident des Polizeibeamten-Verbands Basel-Stadt, Harald Zsedényi, bleibt bei seiner Auffassung. Sie seien störend, die «nichtssagenden» Videoaufnahmen, die viele Zuschauende aus Sensationslust erstellen würden, sagt Zsedényi. «Aus diesen Aufnahmen können meistens keine tauglichen Schlüsse gezogen werden.»

Grundidee wurde an Frankreich angelehnt

In einer funktionierenden Demokratie gehört es zu den Aufgaben der Medien, die Arbeit der Polizei zu dokumentieren. Auf die Frage, ob Medienschaffende aus dem Filmverbot ausgenommen würden, sagt Harald Zsedényi, jedes Verbot kenne Ausnahmen. Es sei eine Abwägung im Einzelfall notwendig. Zsedényi fügt an, die Grundidee des Verbots sei an das französische Modell angelehnt. In Frankreich sollte 2021 nicht das Filmen von Polizeieinsätzen verboten werden, jedoch die Verbreitung der Aufnahmen. Doch das Gesetz wurde kassiert.

In der Schweiz bestehe bereits die Handhabe, den Persönlichkeitsschutz von Polizeibeamtinnen und -beamten während eines Einsatzes zu gewährleisten, sagt der Basler SP-Grossrat und Anwalt Christian von Wartburg: «Auf öffentlichem Raum besteht bei Polizeieinsätzen ein öffentliches Informationsinteresse.» Filmen von Einsätzen sei erlaubt, solange keine einzelnen Polizistinnen oder Polizisten im Fokus stünden. Falls solche Aufnahmen veröffentlicht würden, so von Wartburg weiter, könnten die Betroffenen auf zivilrechtlichem Weg ihr Persönlichkeitsrecht geltend machen.

«Es gibt schon genügend Einschränkungen»

Das sieht Zsedényi anders. Er sagt: «Die Regelungen des Persönlichkeitsschutzes reichen nicht. Bei zivilen Klagen müsste der Verursacher oder die Verursacherin bekannt sein.» Das sei jedoch nicht immer der Fall. Es brauche deshalb einen umfassenderen Schutz.

Neben dem zivilrechtlichen Weg könne auch bereits heute strafrechtlich gegen allenfalls störende Filmende vorgegangen werden, sagt von Wartburg. Wenn das Filmen einen Einsatz behindere, handle es sich womöglich um eine Hinderung der Amtshandlung. Von Wartburg: «Es gibt schon genügend Verbote, und es ist wichtig, dass polizeiliches Handeln der öffentlichen Kontrolle unterworfen bleibt.»
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/polizeigewalt-kamera-ein-oder-aus-basler-sicherheitsdepartement-ist-gegen-ein-videoverbot-bei-polizeieinsaetzen-ld.2491499)


+++RECHTSEXTREMISMUS
Streamingdienste entfernen zweifelhafte Songs
Antisemitischer Songtitel – Spotify und Apple Music sperren die Songs.
https://www.srf.ch/sendungen/kassensturz-espresso/espresso/nazigruss-im-titel-streamingdienste-entfernen-zweifelhafte-songs


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Bremser des Klimaschutzes – Die Geschichte der Klimaleugner
Seit über 30 Jahren ist sich die Klimawissenschaft einig, dass der Klimawandel nicht nur stattfindet, sondern dass er weitgehend menschgemacht ist. Bis heute ziehen Klimaleugnerinnen und -leugner den wissenschaftlichen Konsens in Zweifel – auch in der Schweiz – und bremsen damit den Klimaschutz.
https://www.srf.ch/wissen/klimaerwaermung/bremser-des-klimaschutzes-die-geschichte-der-klimaleugner