Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
++++EUROPA
Migrationskonferenz in Rom: Suche nach gemeinsamen Lösungen
Vertreterinnen und Vertreter aus 21 Staaten nehmen an der ersten Internationalen Konferenz für Entwicklung und Migration in Rom teil. Gastgeberin Giorgia Meloni betont die Schwerpunkte: Bekämpfung der illegalen Einwanderung, Steuerung der legalen Migrationsströme, Unterstützung Geflüchteter und Vertriebener sowie eine breit angelegte Zusammenarbeit zur Unterstützung Afrikas.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/migrationskonferenz-in-rom-suche-nach-gemeinsamen-loesungen?urn=urn:srf:video:bd529a89-d84b-43e5-876f-963c0145248e
+++GASSE
Waldmensch «Chrütli» lebt seit 11 Jahren im Bremgartenwald
Die Ruhe der Natur geniessen und für ein paar Tage aus dem Alltag ausbrechen – vielleicht mit einem Abstecher in den Wald? Das reicht einer Gruppe im Bremgartenwald nicht. Seit 11 Jahren lebt der Waldmensch «Chrütli» dort und hat sich ein Zuhause aufgebaut. Wie geht es ihm heute?
https://www.telebaern.tv/news/waldmensch-chruetli-lebt-seit-11-jahren-im-bremgartenwald-152655959
+++POLIZEI CH
NZZ am Sonntag 23.07.2023
Polizeigewalt in der Schweiz: Nun fordern Beamte Handyverbot für Gaffer
Nach Verhaftungsvideos tauchen Vorwürfe von Polizeigewalt auf. Die Polizeiverbände fühlen sich zu Unrecht an den Pranger gestellt und reagieren mit umstrittenen Ideen.
Mirko Plüss
Das Gesicht auf dem regennassen Asphalt, die Arme fixiert: Der Junge in rotem Pullover und schwarzen Trainerhosen wird von einem knienden Beamten der Zürcher Stadtpolizei festgehalten, zwei Kollegen stehen daneben. Der Vorfall ereignet sich am 5. Juli. Auf Twitter postet jemand ein 24 Sekunden langes Video, gefilmt durch eine getönte Scheibe. In einer Schlagzeile wird es kurz darauf heissen: «Bub in Handschellen – Gewaltvorwürfe gegen Zürcher Stadtpolizei».
Ein 11-jähriges Kind mit Handschellen auf dem Rücken gegen den nassen Boden gedrückt während 10 Minuten.
Sollte das so sein @StadtpolizeiZH?#polizeigewalt #polizei #zürich @Blickch @20min @BaselBlock @watson_news pic.twitter.com/Hj0umnJgNU
— Joggeli Joggel (@Happyfaceslover) July 5, 2023
Verhaftungsvideos wie dieses kursieren vermehrt auf Twitter oder Tiktok, oft versehen mit dem Hashtag «Polizeigewalt». Die Gesichter von Beamten und Beteiligten sind meist unverpixelt. News-Plattformen übernehmen die Videos, und für manche Kommentatoren ist klar: Die Schweiz hat ein Problem mit rabiaten Beamten, ja eben gar mit Polizeigewalt.
Doch wie ist die Wahrnehmung in den Polizeikorps selber? Sie könnte gegenteiliger nicht sein. Viele fühlen sich missverstanden, ihre Arbeit werde durch die Videoschnipsel falsch dargestellt. Die wahren Opfer seien die Polizisten, heisst es – bedroht von Gaffern, Aktivisten und den Medien.
Aus Sicht der Polizei sind die Videos völlig normal
17 Jahre lang fuhr Giovanni Garra Streife. Heute ermittelt er in Milieu- und Sexualdelikten und ist Vizepräsident des Polizeibeamtenverbands der Stadt Zürich. Zu den Vorwürfen von Polizeigewalt hat Garra eine klare Meinung: «Was man auf diesen Videos sehen kann, ist aus unserer Sicht völlig normal.»
Zwar seien Bilder eines Minderjährigen, der zu Boden gedrückt werde, «nicht schön anzuschauen», sagt Garra. Die Zürcher Polizei sah sich denn auch genötigt, Details zu kommunizieren. Demnach hätte der Junge wegen Fremdgefährdung in eine Institution begleitet werden sollen. Er habe zweimal zu flüchten versucht und die Polizisten geschlagen und getreten. «Die Durchsetzung des Rechts erfordert je nach Eskalationsstufe auch Zwang», sagt Garra. «Und der muss manchmal auch bei Minderjährigen und Frauen angewendet werden, denn wir Polizisten haben auch ein Recht auf körperliche Unversehrtheit.»
Die Videos führen zu Unruhe im Korps. «Dass man bei jeder Verhaftung damit rechnen muss, gefilmt zu werden, ist ein Stressfaktor», sagt Garra. Zudem fühlten sich viele Polizeiangehörige durch die bruchstückhafte Wiedergabe missverstanden. Für Garra gäbe es ein probates Mittel, um die Deutungshoheit zurückzugewinnen: die Bodycam. Deren Einführung planen mehrere Kantone, Städte und auch die SBB-Transportpolizei. «Angesichts der Tatsache, dass heute jede und jeder ein Handy hat, sollten Bodycams unverzüglich eingeführt werden», sagt Garra. «Die Kameras laufen ohnehin schon – nur nicht unsere.»
Gefordert: Filmverbot bei Polizeiaktionen
In Basel hingegen will man nicht Kameras auf beiden Seiten – sondern künftig gar keine mehr. «Wenn das Vorgehen der Polizei jedes Mal derart krass verfälscht wird, darf ein Videoverbot von Polizeieinsätzen kein Tabu mehr sein», sagt Harald Zsedényi, Vizepräsident des Polizeibeamten-Verbands Basel-Stadt. «Oft werden wir bei einer normalen Kontrolle gefilmt und dann wird bei einer eskalierenden Verhaftung genau jene Szene gezeigt, die ohne Kontext unverhältnismässig erscheinen kann.»
Der Basler Verband will nun im nationalen Verband für ein Filmverbot bei Polizeiaktionen weibeln. Die Forderung kommt auch ins nationale Parlament. Jean-Luc Addor, SVP-Nationalrat aus dem Wallis, wird in der Herbstsession einen Vorstoss einreichen, wonach das Filmverbot vom Personal der Zollverwaltung auf alle Polizeikräfte ausgeweitet werden soll.
In Luzern wiederum wurde kürzlich geprüft, Polizisten durch das Tragen eines Schlauchschals vor der Exposition im Netz zu schützen. Dieser hätte bei heiklen Einsätzen, also wenn man in einer Menschenmenge fürchten muss, ins Visier der Handykameras zu geraten, über das Gesicht gezogen werden können. Verhüllung bei Bedarf also. Die Polizisten wären weiterhin mittels Dienstnummer am Helm identifizierbar gewesen. Wie der Luzerner Verband bestätigt, haben Abklärungen des zuständigen Departements aber ergeben, dass die Verschleierung aufgrund «staatsrechtlicher Grundsätze» nicht umsetzbar ist.
Verband spricht von «Hetzjagd»
Was sagt der nationale Verband der Polizeibeamten zum Unmut? Präsidentin Johanna Bundi Ryser sieht das Ganze als Teil eines grösseren Problems: «Viele Polizistinnen und Polizisten fühlen sich zunehmend als ‹Prügelknaben› der Nation und zum Teil auch von der Politik im Stich gelassen.» Von einigen Gruppierungen gehe mittlerweile «eine regelrechte Hetzjagd» gegenüber der Polizei aus, so Bundi Ryser.
Sie erwähnt Vorfälle in der Westschweiz, wo eine linke Politikerin aus dem Waadtländer Kantonsparlament mit einem «ACAB»-Plakat (All Cops are Bastards) posierte. Oder einen Artikel in der welschen Ausgabe des «Blicks», in dem ein freischaffender Autor kürzlich die Genfer Polizei als «dumm» bezeichnete und schreiben durfte: «Nein, die Polizei besteht nicht nur aus ‹Bastarden›. Ausser vielleicht in Genf.»
In Bezug auf Verhaftungsvideos will sich der Verband nun auf die Medien konzentrieren, die solche Videos aufschalten. «Die Darstellung von eigentlich alltäglicher Polizeiarbeit ist noch nie in dem Masse entgleist, wie jetzt gerade», sagt Bundi Ryser. «Wir haben auch schon Protestnoten an diverse Verlage geschickt, doch das hat nichts genützt.» Nun überlegt sich der Polizeiverband, Journalistenverbände und den Verlegerverband anzuschreiben. «Wir wollen den Medien nicht vorschreiben, wie sie ihre Arbeit zu tun haben, aber sie darauf hinweisen, wie sie ihre Berichterstattung auch für die betroffenen Polizisten fair gestalten können.»
Das grösste Problem in der Debatte bleibt indes, dass zu Polizeigewalt in der Schweiz keine Zahlen existieren. Dass es fast nie zu Verfahren oder Urteilen gegen Polizeiangehörige kommt, mag für viele der Beweis sein dafür, dass das Problem nicht existiert. Ganz anders sieht dies Amnesty Schweiz. «Wir gehen davon aus, dass Polizeigewalt in der Schweiz ein ernstzunehmendes Phänomen ist», sagt Michael Ineichen, Leiter Advocacy bei der Schweizer Sektion. «Wir erhalten immer wieder Hinweise auf unverhältnismässige Gewalt bei Verhaftungen oder anderen Polizeieinsätzen.» Amnesty Schweiz fordert, dass jeder Kanton eine unabhängige Untersuchungsstelle für Polizeigewalt einrichtet.
Dass Polizisten im Netz blossgestellt werden, sei durchaus eine negative Entwicklung, findet auch Ineichen. Aber: «Weil die Polizei das Gewaltmonopol des Staates umsetzt, muss sie sich einer kritischen Beobachtung durch die Öffentlichkeit stellen.»
Die Debatte wird andauern – denn das nächste Video kommt bestimmt.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/polizeigewalt-in-der-schweiz-polizisten-wollen-handyverbot-fuer-gaffer-ld.1748395)
-> https://www.blick.ch/politik/weil-sie-sich-als-pruegelknaben-der-nation-fuehlen-polizisten-fordern-filmverbot-bei-einsaetzen-id18774378.html
-> https://www.20min.ch/story/polizei-gewalt-filmen-bei-einsaetzen-soll-verboten-werden-156112763223
-> https://twitter.com/farbundbeton/status/1683016530689228801
-> https://telebasel.ch/sendungen/punkt6/209676?autoplay
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/vorwuerfe-von-polizeigewalt-152667280
-> https://www.telem1.ch/aktuell/handyverbot-darf-man-polizeieinsaetze-bald-nicht-mehr-filmen-152666961
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/werden-videos-von-polizisten-bald-verboten-152668161
-> https://www.blick.ch/politik/weil-sie-sich-als-pruegelknaben-der-nation-fuehlen-polizisten-fordern-filmverbot-bei-einsaetzen-id18774378.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/basler-polizei-verband-will-filmen-von-polizeiaktionen-verbieten?id=12426721 (ab 01:14)
-> https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/polizeieinsatz-maja-riniker-fordert-bodycams-fuer-polizisten-statt-verbot-von-handyfilmen-ld.2491177
-> https://www.derbund.ch/polizei-will-filmen-bei-einsaetzen-verbieten-lassen-532419061620
-> https://www.baseljetzt.ch/basler-polizeibeamte-wollen-gaffern-das-filmen-bei-einsaetzen-verbieten/91088
+++JUSTIZ
derbund.ch 23.07.2023
Überlastete Strafverfolger: Schweizer Justiz vor dem Kollaps – über 100’000 offene Fälle
«Es ist dramatisch, wirklich dramatisch», sagt ein bekannter Strafverteidiger. Polizistinnen, Staatsanwälte und Gutachter fehlen. Die Verfahren dauern so lange, dass Kriminelle milder bestraft werden – oder gar nicht.
Roland Gamp, Catherine Boss
Es hätte ein Standardeingriff werden sollen, um ihre Rückenschmerzen zu lindern. Stattdessen verblutete die Patientin noch auf dem Operationstisch. Mehrere Gerichte sprachen ihren Arzt in der Folge wegen fahrlässiger Tötung schuldig – doch am Ende blieb er ohne jegliche Strafe. Das Bundesgericht ordnete an, den Fall einzustellen. Nicht etwa, weil es die Unschuld des Mediziners festgestellt hatte. Sondern weil das Verfahren mit zwölf Jahren zu lange gedauert hatte.
Ungestraft blieb auch der Tod eines 17-jährigen Lehrlings, der in einer Appenzeller Werkstatt von einem Warenlift zerdrückt wurde. Die Staatsanwaltschaft ermittelte fast sieben Jahre lang, ob jemand am tragischen Vorfall eine Schuld trägt. Doch als sie die möglichen Verantwortlichen endlich anklagte, war es zu spät. Der Fall verjährte.
Es sind Entscheide, die jedem Gerechtigkeitssinn widersprechen. Doch genau solche Fälle drohen sich zu häufen. Die Schweizer Justiz steckt in Schwierigkeiten, die gerade eine neue Dimension erreichen. Wie Recherchen zeigen, sind die Strafverfolgerinnen und Strafverfolger überlastet und ausgebrannt. Und selbst Rechtsanwälte auf der Gegenseite sehen einen Kipppunkt erreicht. «Es ist im Moment dramatisch, wirklich dramatisch», sagt der bekannte Zürcher Strafverteidiger Thomas Fingerhuth. Das System stehe vor dem Kollaps.
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«Wir warten monatelang», sagt der Zürcher Strafverteidiger Thomas Fingerhuth. – Video: Tamedia
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv449947h.mp4
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Die Zahl der offenen Kriminalfälle, die bei den Staatsanwaltschaften im ganzen Land liegen bleiben, steigt Jahr für Jahr – weil ihnen das Personal fehlt. Und weil das Parlament in Bern immer neue Gesetzesartikel beschliesst, die mehr Aufwand bedeuten. Genaue Daten, um das Problem gesamtschweizerisch zu erfassen, fehlten bisher. Der Recherchedesk von Tamedia hat nun bei sämtlichen kantonalen Staatsanwaltschaften nachgefragt. Diese verzeichneten allein im letzten Jahr 545’546 neue Fälle. Die Zahl der Pendenzen belief sich im Jahr 2022 auf insgesamt 113’064. Fünf Jahre zuvor waren es noch 102’088. Allein im Kanton Zürich waren zuletzt mehr als 10’000 Fälle offen, genauso in Genf oder im Aargau.
Die Zahl der Anzeigen steigt, weil die Bevölkerung wächst und so auch das Konfliktpotenzial zunimmt. Währenddessen stagniert der Personalbestand in der Justiz – oder er geht gar zurück. Das trifft nicht nur auf die Staatsanwaltschaften zu. Schweizweit gibt es auch zu wenig Polizistinnen, Gerichtsmediziner, Gutachter oder Richterinnen. So kann jeder Straffall an ganz verschiedenen Stellen hängen bleiben, weil die zuständigen Spezialistinnen und Spezialisten sowieso schon einen hohen Aktenstapel abzuarbeiten haben.
Die viel zu langen Verfahren erschüttern dabei das Vertrauen der Gesellschaft in die Justiz. Denn sie führen nicht nur dazu, dass Beschuldigte milder sanktioniert werden oder gar straflos bleiben, so wie in den eingangs erwähnten Beispielen. Sie demütigen auch die Opfer, die eine gefühlte Ewigkeit auf eine gerechte Strafe hoffen. Tragisch ist dies unter anderem bei sexuellen Übergriffen. Doch genau dort verschärfe sich das Problem, sagt Christoph Ill, Erster Staatsanwalt im Kanton St. Gallen. Bei einem schweren Sexualdelikt sei die Wahrscheinlichkeit heute hoch, dass es nach vier Jahren noch nicht rechtskräftig abgeschlossen sei. Und die Wahrscheinlichkeit, dass das Opfer nach vier Jahren vor einer zweiten Instanz nochmals aussagen müsse, sei ebenfalls gross. «Es ist offensichtlich, dass dies ein unhaltbarer Zustand ist», sagt Ill.
Auf der anderen Seite können lange Verfahren das Leben von Unschuldigen zerstören. Alberto Rossi hat es selbst erlebt – seinen echten Namen will er trotz Freispruch nicht in den Medien lesen.
Rossi wurde im Sommer 2004 verhaftet. Zu einer Zeit, als Mark Zuckerberg gerade Facebook gründete oder die Raumsonde Messenger zum Merkur aufbrach. Er wurde unter anderem der Geldwäscherei und anderer Finanzdelikte beschuldigt. Schwere Vorwürfe, die den Mann drei Jahre in Untersuchungshaft brachten. Insgesamt wurde 16 Jahre lang gegen Rossi ermittelt. Bis ihn das Bundesgericht 2020 komplett freisprach.
Facebook zählte da bereits Milliarden von Nutzern und die Messenger-Sonde hatte den Merkur längst erreicht. «Bei einem derart langen Verfahren kann man den Schaden gar nicht beziffern. Es ist einfach eine Katastrophe», sagt Rossi heute. Der Freispruch habe für ihn kaum noch einen Wert. «Man ist irgendwie doch schuldig. Die Leute denken, wenn da so lange ermittelt wurde, muss doch etwas dran sein.»
Die langen Strafverfahren stellten die Idee des Strafens fast schon grundsätzlich infrage, sagt Strafverteidiger Thomas Fingerhuth. «Eigentlich müsste auf eine Tat unverzüglich eine Strafe folgen.» Lange Verfahren führen laut Fingerhuth dazu, dass die Täter die Strafen am Schluss weniger akzeptierten. «Je länger es dauert, desto mehr wird die Tat relativiert, die sie begangen haben.»
Zudem sei das lange Warten für Beschuldigte «grausam». Erst vor kurzem hat Fingerhuth einen Mann verteidigt, der 14 Jahre lang warten musste, bis ein erstes Gericht seinen Fall überhaupt anschaute. «Schon nach wenigen Monaten Untersuchungshaft verliert ein Beschuldigter den Job, vielleicht läuft die Frau davon, die Kinder sieht er nicht mehr.»
Eigentlich gilt in der Schweiz das sogenannte Beschleunigungsgebot, um übermässig lange Verfahren zu verhindern. Strafbehörden müssen Ermittlungen laut Gesetz «unverzüglich» in Angriff nehmen und Verzögerung begründen. Das ist ein zentraler Grundsatz im Rechtssystem.
Nur kann die Justiz dieses Versprechen zunehmend nicht mehr einlösen. Wenn laut Bundesgericht in einem Verfahren «eine von der Strafbehörde zu verantwortende krasse Zeitlücke zutage tritt», können den Tätern mildere Strafen winken. Und genau das passiert immer wieder, wie Gerichtsentscheide der letzten Jahre zeigen. Wobei auch Schwerverbrecher profitieren.
Mildere Strafe für Raser, Tierquälerin und Vergewaltiger
Das Thurgauer Obergericht reduzierte eine Strafe wegen Raufhandels und versuchter schwerer Körperverletzung im letzten Herbst deswegen um sechs Monate. Die Staatsanwaltschaft sei «über zwei Jahre untätig geblieben», heisst es in einem Entscheid des Bundesgerichts zum Fall.
An dieses gelangte auch ein Mann, der in Zürich wegen Nötigung verurteilt wurde. Wobei es vom Verdacht bis zum rechtskräftigen Urteil fast zehn Jahre dauerte. «Das ist entschieden zu lang», so das Bundesgericht. Auch dieser Täter erreichte eine geringere Strafe.
Im Aargau erhielten dieses Jahr ein Raser, eine Tierquälerin und auch ein Mann, der die öffentliche Sicherheit mehrfach mit Waffen gefährdet hatte, allesamt mildere Strafen, weil die Gerichte nach der Verhandlung zu lange brauchten, um das begründete Urteil zuzustellen. Wobei eine der beteiligten Richterinnen dies explizit mit einer generellen Überlastung begründete.
Ein Vergewaltiger wiederum erreichte in Basel eine «leichtgradige Strafminderung aufgrund der langen Verfahrensdauer». Zur Verzögerung führte unter anderem eine psychologische Begutachtung, die eineinhalb Jahre dauerte. Dazu schrieb das Bundesgericht diesen März: «Es ist notorisch, dass Gutachter chronisch überlastet sind.»
Für die Strafverfolger selbst ist die Situation zunehmend unhaltbar. Viele sind frustriert, einige werden krank. Manche suchen einen neuen Job. Die Jahresberichte der kantonalen Staatsanwaltschaften, normalerweise eher eine trockene Lektüre, zeichnen zurzeit ein dramatisches Bild. Im Thurgau beklagen die Strafbehörden etliche Abgänge von Staatsanwälten, «weil für sie die sehr hohe Arbeitsbelastung unerträglich wurde». Erfahrener Ersatz sei jedoch kaum zu finden. Stattdessen müsse man oft direkt Studienabgänger rekrutieren, «die über keine oder nur sehr wenig Strafverfolgungserfahrung verfügen».
In Basel-Stadt regt die Aufsichtskommission über die Staatsanwaltschaft an, pensionierte Staatsanwälte befristet zu engagieren, um die Pendenzen abzuarbeiten. Die Rückstände hätten «besorgniserregende Höhe erreicht». 90 Verfahren musste jede Strafverfolgerin im letzten Jahr durchschnittlich abwickeln. Im Vorjahr waren es noch 67. Die Überlastung führe bei vielen Mitarbeitenden zu Frustration und mehr krankheitsbedingten Abwesenheiten. Einzelne Staatsanwälten seien «nahe an einem Burn-out oder leiden bereits darunter», steht im Bericht.
Im Wallis bearbeiten die Staatsanwälte zwar ständig mehr Fälle – und trotzdem steigt der Berg unerledigter Dossiers, «was beunruhigend ist», wie es im Jahresbericht heisst. In Solothurn gab es zuletzt einen Rekord an schweren Fällen, in Luzern hat sich der Arbeitsdruck zuletzt «nochmals markant verschärft».
Wenn sich die Situation in den nächsten Monaten und Jahren nicht entschärfen lässt, sind die Konsequenzen einschneidend. Dann wären die Staatsanwaltschaften gezwungen, eine Triage der Fälle vorzunehmen, also zu entscheiden, was sie untersuchen und was nicht. «Wir sagen dann: Diese möglicherweise strafbare Handlung untersuchen wir nicht, weil wir die Ressourcen nicht haben», sagt der Erste Staatsanwalt Christoph Ill. «Das ritzt die Rechtsstaatlichkeit insofern, als nicht mehr der Gesetzgeber, also das Parlament in Bern, sagt, was unter Strafe steht und bestraft werden muss, sondern wir von der Staatsanwaltschaft. Das ist ein Eingriff in die Gewaltenteilung.»
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«Einigen geht das an die Gesundheit»: Jacqueline Bannwarth, Erste Staatsanwältin Basel-Landschaft.
Video: Tamedia
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv449950h.mp4
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Dass es im Rechtsstaat Schweiz so weit kommen konnte, hat verschiedene Gründe. «Es geht nicht nur um die steigenden Fallzahlen, sondern auch darum, dass der einzelne Fall immer intensiver wird», sagt Jacqueline Bannwarth, Erste Staatsanwältin im Kanton Basel-Landschaft. «Ich hatte vor 20 Jahren ein Verfahren wegen sexueller Handlungen mit einem Kind. Da brauchte ich für die gesamten Akten einen Bundesordner.» Heute seien es für den gleichen Fall bis zu acht. «Einfach, weil alles sehr viel formalistischer geworden ist».
Zudem nutzten die Anwältinnen und Anwälte die Beschwerdemöglichkeiten ausgiebig, sagt Christoph Ill von St. Gallen: «Man kann gegen alles, was wir machen oder nicht machen, Beschwerde einlegen.» Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verlange, dass ein Verfahren als Gesamtes fair sein müsse. Diese Gesamtbetrachtung sei wichtig, aber sie finde im Schweizer System so nicht statt, sagt Ill. Da werde jeder kleinste Schritt isoliert im Detail überprüft – und das verlängere die Verfahren teilweise enorm.
Der Bund hat die Verfahrensrechte der Beschuldigten in den letzten Jahren deutlich ausgebaut. So hat heute jeder Verdächtigte das Recht, mit dabei zu sein, wenn ein Mitbeschuldigter befragt wird. «Das ist zum Beispiel bei Bandenkriminalität nur schwer zu koordinieren, und die Verfahren brauchen deshalb länger», erklärt Strafverfolgerin Bannwarth. Beschuldigte dürfen auch verlangen, dass ihre digitalen Daten gesiegelt werden, wenn man ihr Handy oder den PC beschlagnahmt. Erst ein Gericht gibt dann den Ermittlern die Erlaubnis, die Daten zu sichten – oder auch nicht. «Solche Anträge haben sich in nur zwei Jahren verdoppelt bei uns, und sie lösen immer ein separates Verfahren aus.»
Hinzu kommen neue Kriminalitätsfelder wie Cybercrime. Und immer mehr Paragrafen. 2016 wurde der Sozialhilfebetrug als neuer Artikel ins Strafgesetz aufgenommen – nun gibt es jährlich über 800 entsprechende Strafanzeigen. Seit 2019 ist zudem das lebenslängliche Tätigkeitsverbot für Pädophile bei Berufen mit Kindern in Kraft, das immer von einem Gericht geprüft werden muss.
Und im Jahr 2024 sind schon wieder neue Regeln für Strafverfahren geplant, die einen Mehraufwand für die Behörden bedeuten. Ab dann sollen die Staatsanwältinnen und Staatsanwälte deutlich mehr Einvernahmen durchführen und auch Fälle im Zivilrecht bearbeiten. Für die Schweizerische Staatsanwälte-Konferenz (SSK) sind diese Neuerungen «eine Verkomplizierung der Rechtsanwendung weitgehend ohne triftige Gründe», wie ihr Präsident, der Berner Generalstaatsanwalt Michel-André Fels, auf Anfrage sagt.
Der Bund sorgt für mehr Arbeit – die Kantone knausern
Beschlossen werden die Neuerungen jeweils in Bern. Das Bundesparlament schafft neue Gesetze, muss sich dann aber nicht darum kümmern, wie man den Mehraufwand stemmen soll. Denn für genügend Ressourcen in der Strafverfolgung sind die Kantone zuständig. Doch die sind oft auf Sparkurs.
«Die Mehrheit der Kantone dotieren ihre Staatsanwaltschaften nicht genug, um die immer anspruchsvolleren Aufgaben bewältigen zu können», sagt Fabien Gasser, Generalstaatsanwalt von Freiburg und Vizepräsident der SSK. Wobei neben den Staatsanwaltschaften auch andere Stellen mit ihren Forderungen nach mehr Personal ins Leere laufen. Am Institut für Rechtsmedizin in Zürich beispielsweise verlangen die Zuständigen seit Jahren mehr Stellen – ohne Erfolg. Obwohl dies die Gefahr birgt, dass sich die forensischen Gutachten verzögern, weil das Fachpersonal fehlt.
«Wenn ein Parlament neue Gesetze erlässt, gibt es nur dann einen Mehrwert an Rechtsstaatlichkeit, wenn auch die Ressourcen da sind, um sie umzusetzen», sagt der St. Galler Chefermittler Christoph Ill. Seine Forderung ist umso dringlicher, als den Staatsanwaltschaften und den Polizeikorps die Leute davonlaufen. Der Arbeitsmarkt ist ausgetrocknet, die Leute finden in der Privatwirtschaft bessere Bedingungen, weniger Schichtarbeit und Pickett, teils bessere Löhne.
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Für Thomas Fingerhuth sollten sich Anwälte, Richterinnen und Staatsanwälte an einen Tisch setzen und Lösungen suchen.
Video: Tamedia
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv449949h.mp4
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Bisher hat die Politik ungenügend auf die Hilferufe der Ermittler reagiert. Doch das gehe jetzt nicht mehr, zu prekär sei die Situation, sagt Strafverteidiger Thomas Fingerhuth und wartet mit einem Vorschlag auf. Um Lösungsansätze zu diskutieren, sollten sich jetzt Strafverteidiger, Richter und Staatsanwältinnen und Staatsanwälte an einen Tisch setzen, jeder und jede seine eigenen Interessen draussen lassen – und dann gemeinsam das Gesetz durcharbeiten, sagt der Zürcher Rechtsanwalt.
Unterstützung erhält er von der Staatsanwälte-Konferenz. Eine objektive Situationsanalyse und darauf abgestützte Massnahmen statt stetes Flickwerk seien überfällig, sagt SSK-Präsident Michel-André Fels. «Eine konstruktive Gesamtschau durch alle Partner der Strafverfolgung wäre zu begrüssen. Jedoch nur, wenn dies endlich mit einem vorurteilslosen Blick auf die jeweiligen gesetzlichen Rollen geschieht», sagt Fels.
Und Strafverteidiger Fingerhuth fügt an: «Es muss gelingen, die Regeln so zu ändern, dass die Verfahren schneller gehen. Und wir den Kollaps des Systems abwenden.»
(https://www.derbund.ch/schweizer-justiz-vor-dem-kollaps-ueber-100000-offene-faelle-925595145105)
+++ANARCHY 2023-07-23
„Antiautoritäre Internationale“ in Sankt Immer
Das Dorf ist am Wochenende Anarchistenhochburg.Teilnehmende aus aller Welt tauschen sich aus. Kameras sind aber nicht erwünscht.
https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2023-07-23
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/erneut-feuer-im-waldbrandgebiet-von-bitsch-ausgebrochen?id=12426742 (ab 03:22)
-> https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/ueber-5000-personen-besuchen-anarchisten-treffen-in-st-imier-152663835
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/uber-5000-personen-besuchen-anarchisten-treffen-in-st-imier-be-66553384
-> https://www.blick.ch/politik/treffen-in-st-imier-be-mit-5000-personen-ohne-zwischenfaelle-anarchisten-blieben-ganz-brav-id18774714.html
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NZZ am Sonntag 23.07.2023
Treffen der Anarchisten im Jura: Welche Regeln selbst für die radikalen Systemgegner gelten
Im Jurastädtchen Saint-Imier kommen Antiautoritäre aus aller Welt zu ihrem Kongress ohne herrschaftliche Strukturen zusammen. Nach einem jahrzehntelangen Tief bekommen sie nun wieder mehr Zulauf. Ein Besuch.
Martin Helg (Text), Stefan Bohrer (Bilder)
Man mag – zumindest im gutbürgerlichen Lager – dem Anarchismus manches übelnehmen. Die Kapitalismuskritik bestimmt, auch den Hang zur weltanschaulichen Improvisation, das revolutionäre Pathos und die negative Obsession mit Hierarchien.
Eines aber kann man den Antiautoritären nicht vorwerfen: innere Zwietracht oder eine Neigung zum Tumult. Auf ihrem Kongress dieser Tage bevölkern sie Saint-Imier so friedlich vereint, als wäre das Uhrmacherstädtchen im Berner Jura der Garten Eden. Und klaglos zelten sie auf zwei schön gelegenen, aber bedenklich abschüssigen Lagerplätzen.
Saint-Imier gilt als Wiege des Anarchismus, seit 1872 der weltweit erste antiautoritäre Kongress hier stattfand. Eine Ehre, die das Städtchen dem sozialrevolutionären Geist seiner Uhrmacher verdankte – und dem europaweit einmaligen freiheitlichen Klima der Schweiz, das russische Kommunisten in Massen anzog.
Einer von ihnen, Michail Bakunin, zerstritt sich mit dem Chefideologen Karl Marx. In der Folge drehte er mit Gesinnungsgenossen sein eigenes politisches Ding – ziemlich erfolgreich, doch lange im Schatten der Kommunisten. Erst seit der stalinistisch-sowjetischen Katastrophe gilt der Anarchismus vielen radikalen Linken als dessen bessere, unblutige Alternative.
Das Image des historischen Treppenwitzes sind die Anarchisten bis heute nicht ganz losgeworden. Trotzdem erfährt die Bewegung seit einigen Jahren neuen Zulauf – so der Tenor in Saint-Imier. Mehrere tausend Kongressteilnehmer besuchen die rund 350 Seminare, die an fünf Kongresstagen bis heute Sonntag stattfinden.
Wie weit darf Protest gehen?
Das Themenspektrum reicht von «Kritische Männlichkeiten», der «Befreiung von Geld und Eigentum» und «Non-violent communication» bis zum «Schnupperklettern» und «Open Skate Sessions». Vor einem der Seminarzentren wird immer wieder so laut in Gruppen getrommelt («Rhythms of Resistance»), dass bei «Scham und Macht» die Fenster geschlossen werden müssen.
«Wo stehen wir 2043?» findet in einem Kirchgemeindehaus statt, im Seminarraum hängt ein Kruzifix. Die Referentin Samira Fansa hat eine öffentliche Vergangenheit: 1999 schleuderte sie einen Farbbeutel auf den damaligen deutschen Aussenminister Joschka Fischer, um gegen deutsche Militäreinsätze zu protestieren («es war ein Volltreffer und traf den Richtigen») – ein Widerspruch zu ihrer pazifistischen Haltung, der sich nicht völlig auflösen lässt.
Auch im Kurzfilm, den Fansa in Saint-Imier zeigt, wird geohrfeigt, unter Mitgliedern einer Schwesternschaft. Es geht um das gemeinsame Überleben in Zeiten von Krieg und Klimakatastrophe. «Du rennst offene Türen ein», sagt jemand in der Diskussion so lobend wie kritisch, jemand anderen hat «das kirchliche Setting» nicht überzeugt. Ungeteilten Anklang findet hingegen die soziale Fragestellung des Films: Wie entsteht aus einer Notgemeinschaft eine intentionale Gemeinschaft?
Um handfestere Umweltschutzmethoden geht es einen Stock höher bei «Kohlekraftwerke blockieren – Erfahrungen der letzten Jahre». Ist eine Ankett-Aktion, durch die 11 430 Tonnen CO2-Äquivalente eingespart, aber Teilnehmer zu Gefängnisstrafen verurteilt werden, ein gutes Unterfangen?
Ein Teilnehmer argumentiert mit Kant: Würden alle Menschen Kraftwerke blockieren, wäre die Frage nach der ethischen Legitimation hinfällig. Ein anderer argumentiert mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und ihrer «Theorie der radikalen Flanken», wonach es das extreme Handeln braucht, um die gemässigteren Positionen bei ihrer Gegnerschaft akzeptabler erscheinen zu lassen.
Koloniales Unrecht und Geschlechtsidentität
Im Hause der antiautoritären Bewegungen sind viele Wohnungen. Über kolonialistisches Unrecht wird in Saint-Imier ebenso debattiert wie über antifaschistische Seenotrettung, Widerstand in der Türkei, kreditfreie Währungssysteme, Geschlechtsidentität – und Pandemien. Viele Maskenträger sitzen in den Seminaren, geimpfte, ungeimpfte.
Mit dem Lager der Corona-Massnahmenskeptiker und Verschwörungstheoretiker teilen die Anarchisten ihre Opposition zum Staat – das schafft eine inhaltliche Nähe, über die manche nicht gerne reden, andere dagegen umso resoluter. «Impfgegner gehören nicht hierhin», sagt ein Psychiater und Mitglied der Bewegung Sea Punks, die Flüchtlinge im Mittelmeer rettet. «Solidarität ist ein anarchistischer Grundgedanke. Wer sich nicht impfen lässt, hat diesen Gedanken aus medizinischer Sicht nicht zu Ende gedacht.»
Und so müssen denn auch Anarchisten, die Hierarchien ablehnen, zumindest Prioritäten setzten: Die Kritik an kapitalistischen Impfstoffherstellern sei zweitrangig gegenüber dem Impfschutz, sagt das Sea-Punk-Mitglied.
Immerhin gelingt es den Anarchisten in Saint-Imier, ihren weltweit beachteten Grossanlass von herrschaftlichen Organisationsstrukturen fast vollständig freizuhalten. Kein OK erhebt sich sichtbar über das Fussvolk, obwohl es eines gibt (natürlich sind alle Mitglieder unbezahlt). Die 350 Seminare, alles Eigeninitiativen von Kongressbesuchern, werden von nur zwei Personen koordiniert und gesiebt.
Und die Menschen in den pinkfarbenen Westen mit dem Aufdruck «Team Care» sehen ihre Aufgabe weniger in der Aufrechterhaltung von Sicherheit und Ordnung als darin, «Situationen des Unwohlseins, der Belästigung oder Diskriminierung zu erkennen und zu moderieren». Dafür, dass sie dabei Gefahr laufen, «Gewalt zu reproduzieren», entschuldigen sich die Pink-Westen präventiv.
Dennoch gibt es ein paar Regeln auf dem Treffen der Antiautoritären. In der Eishalle, wo die grosse Buchmesse stattfindet und anarchistischer Schlüsselereignisse wie des Spanischen Bürgerkriegs gedacht wird, ist das Fotografieren verboten, strikt verboten, «Nein heisst Nein!». Und zum Finta-Zeltlager für Frauen, Interpersonen, Nichtbinäre, Trans- und Agenderpersonen haben Cis-Männer keinen Zutritt.
Gründervater Michail Bakunin, auf den sich in Saint-Imier so viele berufen, wäre hier aussen vor geblieben und hätte sich darob bestimmt ratlos den Bart gekratzt. Sie hat sich entwickelt, seine Bewegung – und so überlebt.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/treffen-der-anarchisten-im-jura-welche-regeln-selbst-fuer-die-radikalen-systemgegner-gelten-ld.1748382)