Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
+++ZUG
Gebäude aus vollständig recycelbaren Materialien: Zuger Firma zeigt in Venedig Fertighaus für Flüchtlinge
Aktuell findet in Venedig die internationale Architektur Biennale statt. Dieses Jahr dreht sich alles um das Zukunftslabor. Ein Zuger Unternehmen zeigt dabei ein Projekt eines vollständig recycelbaren Fertighauses, das sich vor allem als Flüchtlingsunterkunft eignen soll.
https://www.zentralplus.ch/blog/architektur-blog/zuger-firma-zeigt-in-venedig-fertighaus-fuer-fluechtlinge/
+++GASSE
Kontrollen um die «Gassechuchi»: Suchtkranke klagen über zu viel Polizeipräsenz in Luzern
«Das esch wie Fangis»: Die Frage nach dem richtigen Mass an Repression gibt immer wieder zu reden. Auch derzeit wieder. Suchtbetroffene beschweren sich. Warum zu viel Polizeipräsenz zu einem Problem werden kann.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/suchtkranke-klagen-ueber-zu-viel-polizeipraesenz-in-luzern-2561402/
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nzz.ch 15.07.2023
Zu aggressive Stimmung: Genfer «Fixerstübli» akzeptiert Crack nicht mehr
Der Konsum der Billigdroge ist explodiert – mit dramatischen Folgen für das Sicherheitsgefühl der Anwohner und die Gesundheit der Süchtigen. Sie bleiben bis zu drei Tage ohne Schlaf.
Antonio Fumagalli, Genf
Es ist ein tristes Bild, gleich hinter dem Bahnhof Genf: Rund zwei Dutzend Personen mit eingefallenen Gesichtszügen lungern auf dem Parkplatz herum, sie wirken ungesund und gestresst. Plötzlich bricht Hektik aus, zwei Männer gehen sich beinahe an die Gurgel. Ein Dritter eilt dazwischen und schlichtet.
Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Anwesenden cracksüchtig sind – nach jener Droge also, die hauptsächlich aus rauchbarem Kokain besteht und für die es, anders als etwa für Heroin, kein Substitutionsprodukt gibt. Sie stellt die Behörden in der ganzen Schweiz vor Probleme, nirgends jedoch ist die Situation so angespannt wie in Genf.
Gemäss «Sucht Schweiz» war der westlichste Kanton jahrelang eine Ausnahme: Während Crack in anderen Schweizer Städten bereits verbreitet war, dominierte in Genf Heroin. Im Jahr 2021 änderte sich die Situation schlagartig – weil die Dealer ihre Strategie anpassten. Plötzlich boten sie Crack in billigen Kleinstdosen an, die praktisch ohne zusätzlichen Aufwand rauchbar sind. Das Perfide daran: Dank dem geringen Preis, einen «Stein» gibt es für zehn Franken, können sich auch Personen in grosser Armut den Stoff leisten – und landen damit nur noch mehr in der Misere. In der übrigen Schweiz stellen die Süchtigen das Crack zumeist selbst aus Kokain her.
Kurzes «High»
Die Schwemme an Billigdrogen führte dazu, dass die Genfer Auffangstrukturen je länger, je mehr überfordert waren. Im Konsumraum «Quai 9» rauchten vor drei Jahren noch ein Viertel aller Süchtigen Crack, 2021 waren es 45 Prozent, 2022 bereits 65 Prozent. Im Juni dieses Jahres mussten die Verantwortlichen schliesslich kapitulieren: Sie verboten innerhalb des «Fixerstübli» den Konsum von Crack.
Der Entscheid sei nicht etwa erfolgt, weil der – im Vergleich zu gespritzten Drogen rasch vollzogene – Konsumvorgang die Struktur überlastet habe, erzählt Thomas Herquel, Direktor der Institution Première ligne, die auch das «Quai 9» betreibt. Das Problem seien vielmehr die Nebeneffekte: Crack-Konsumenten agieren überaus impulsiv. Das High erfolgt durch die Inhalation unmittelbar, aber innert kürzester Zeit brauchen die Konsumenten einen neue Dosis – ein Teufelskreis.
Die Abhängigkeit ist derart stark, dass die Schwerstsüchtigen elementare Bedürfnisse wie Essen oder Schlafen «vergessen». Ein Crack-Konsument kann innert Wochen zehn, zwanzig Kilogramm abnehmen und teilweise bis zu drei Tage am Stück wach bleiben. «Unter solchen Umständen ist jeder Mensch gereizt. Die Stimmung im Lokal war deutlich aggressiver als früher, immer wieder kam es zu Gewaltausbrüchen. Letztlich mussten wir unsere Mitarbeitenden und die Konsumenten anderer Drogen schützen», sagt Herquel. Im Frühling habe man innert 45 Tagen 33 Mal die Polizei oder die Sanität rufen müssen.
Dealer vor dem Schulhaus
Zwar toleriert das «Quai 9» von jetzt an keinen Crack-Konsum mehr in seinen Räumlichkeiten, das heisst aber nicht, dass der Kontakt zu den Süchtigen gänzlich abgebrochen ist. Nicht nur konsumieren die meisten Crack-Raucher auch noch andere Substanzen, auch verteilt die Sozialinstitution weiterhin an sämtliche Abhängige Nahrungsmittel und Getränke. Zudem bietet sie über Nacht zwölf Schlafplätze an – eine Massnahme, die wegen des Crack-Booms überhaupt erst eingeführt worden ist.
Ohnehin hat ein Grossteil des Konsums seit je ausserhalb der Mauern des «Quai 9» stattgefunden. Ein Crack-Stein ist in wenigen Minuten geraucht und benötigt kaum Utensilien. Bewohnerinnen und Bewohner der Stadtviertel Pâquis und Grottes haben schon letztes Jahr Alarm geschlagen. Besonders für Empörung sorgte, dass sich Dealer vor einem Schulhaus breitmachten. Denn dort gibt es – gedacht als Schutz der Privatsphäre der Kinder – keine Überwachungskameras.
Der Entscheid, das «Fixerstübli» für Crack-Konsumenten zu schliessen, erhöht den Druck auf die Umgebung also weiter. Dies zeigt sich – wie eingangs geschildert – auf dem unmittelbar ans «Quai 9» grenzenden Parkplatz. Aber auch in den Quartieren bleibt die Anspannung gross. Erst vor wenigen Tagen haben sich Bewohner erneut mit den Kantonsbehörden in Kontakt gesetzt, um ihren Unmut über die Situation kundzutun.
Maudet will keinen neuen Konsumraum
Einer der Adressaten ist der neue Genfer Gesundheitsvorsteher Pierre Maudet. Von der Idee, einen neuen Inhalationsraum für Süchtige zu eröffnen, will dieser allerdings nichts wissen. Vielmehr müsse man die «dramatischen Auswirkungen» des Konsums auf den Zustand der Personen in den Griff kriegen, sagte er gegenüber «Le Matin Dimanche». Eine kantonale Strategie, die gesundheitliche, soziale und Sicherheitsaspekte vereinigt, soll bis im Herbst ausgearbeitet werden.
Die Genfer Polizei ihrerseits betont, dass sie sowohl vor dem «Quai 9» wie auch in der Umgebung präsent sei. Die Situation sei, «trotz Spannungen zwischen den Konsumenten», zumeist unter Kontrolle, schreibt sie auf Anfrage. Die regelmässigen Festnahmen würden von verschiedenen Beteiligten positiv aufgenommen. Anwohner des Pâquis berichten allerdings von einem Katz-und-Maus-Spiel. Verkehrsberuhigende Massnahmen – etwa Sackgassen für Autofahrer – hätten zudem dazu geführt, dass sich die Dealer bei drohenden Polizeikontrollen einfacher aus dem Staub machen können.
Für die Verantwortlichen des «Quai 9» ist die jetzige Situation unbefriedigend. Zwar ist in ihrem Lokal wieder verhältnismässige Ruhe eingekehrt, das Problem ist damit allerdings keineswegs gelöst. Für Herquel handelt es sich um eine gesamtgesellschaftliche Thematik. Statt sich auf den Konsum und dessen Folgen zu konzentrieren, müsse die Lebenssituation der Betroffenen generell verbessert werden. «Solange es Armut und soziale Ausgrenzung gibt, wird es Crack-Süchtige geben», sagt er.
(https://www.nzz.ch/schweiz/crack-genfer-fixerstuebli-kapituliert-wegen-explosion-des-drogenkonsums-ld.1746874)
-> https://www.20min.ch/story/genf-crack-quai-9-konsumrau-fixerstuebli-pierre-maudet-124-815574075692
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Zureich ist noch lange nicht tot!
Heute zogen in Zureich tausende gegen Kommerz-Kultur und für autonome Freiräume durch die Strassen!
https://alleswirdbesetzt.ch/was-passiert/zureich-ist-noch-lange-nicht-tot/
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Anti-Gentrifizierungs-Demo im Kreis 4
(tagesanzeiger.ch, 15.07.2023)
Eine Demonstration zieht momentan durch den Kreis 4. Sie startete am Samstagnachmittag um etwa Viertel nach drei Uhr am Bullingerplatz. Um fünf Uhr befand sich der Umzug auf der Militärstrasse neben der Kreuzung zur Langstrasse.
Die mehreren Hundert Teilnehmenden aus dem links-alternativen Umfeld protestieren mit lauter Musik und Transparenten gegen die anhaltende Verteuerung der Mieten in der Stadt Zürich. Viele von ihnen tanzen. Auf dem Banner an der Spitze steht «Freiraum lebt, die Strasse bebt».
Die Stadtpolizei begleitet den Umzug mit Einsatzfahrzeugen. Ob er bewilligt ist oder nicht, darüber erteilt sie bislang keine Auskunft. Gemäss den Zürcher Verkehrsbetrieben (VBZ) kam es auf den Linien 4, 8, 13, 17 und 32 zu Verzögerungen. Ab halb sechs verkehrten sie wieder nach Fahrplan. (bat)
(https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich-news-ticker-wichtigste-news-live-163-251047807335)
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Schweizer Klimakleber im Wallis von Polizei gestoppt – in Deutschland haben sie Ferien
Die Polizei hat am Samstagvormittag in Sitten eine unbewilligte Demonstration der Klimabewegung «Renovate Switzerland» aufgelöst. Sie unterzog die rund 20 Teilnehmerinnen und Teilnehmer einer Kontrolle und stellte ihnen das Demonstrationsverbot zu.
https://www.watson.ch/schweiz/klima/858617470-klimakleber-im-wallis-von-polizei-gestoppt-deutsche-haben-ferien
-> https://www.polizeiwallis.ch/medienmitteilungen/sitten-unbewilligte-demonstration-von-klimaaktivisten/
-> https://www.nau.ch/ort/sion/polizei-lost-unbewilligte-klima-demonstration-in-sitten-auf-66544705
+++POLICE VD
«La justice a délivré un permis de tuer»
Le 22 juin dernier, le Tribunal d’arrondissement de Lausanne a acquitté les six policiers accusés d’homicide par négligence suite au décès de Mike Ben Peter, quadragénaire nigérian, durant une intervention en ville en 2018. Entretien avec le collectif contre les violences policières Kiboko, soutien de longue haleine de la famille de Mike.
https://solidarites.ch/journal/423-2/proces-mike-ben-peter-la-justice-a-delivre-un-permis-de-tuer/
-> https://solidarites.ch/journal/423-2/mike-ben-peter-nahel-la-police-tue/
+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Einblick in die Lebensweise der Fahrenden – letzter Tag der offenen Wohnwägen
Das Leben von Fahrenden erscheint für Aussenstehende oft rätselhaft. Antworten und Einsichten gibt es am Samstag auf der Kreuzbleiche. Hier veranstaltet das «Zigeuner-Kultur-Zentrum» einen Tag der offenen Wohnwägen. Aufgrund mangelnder Unterstützung findet der Anlass jedoch zum letzten Mal statt.
https://www.tvo-online.ch/aktuell/einblick-in-die-lebensweise-der-fahrenden-letzter-tag-der-offenen-wohnwaegen-152557883
+++RASSISMUS
Wegen Rassismus: Kollektiv schliesst Stand
(derbund.ch 15.07.2023)
Sie sind am Gurtenfestival nicht zu übersehen: Grosse gelbe Plakate, auf denen in roter Schrift steht: «Feel Safe Together». Es wird zu einem respektvollen Verhalten und Offenheit gegenüber Diversität aufgerufen. Wer Diskriminierung, Gewalt oder Rassismus beobachte oder erlebe, der solle dies der Security melden.
Dass Rassismus am Gurtenfestival ein Thema ist, zeigen die Erfahrungen des Café Révolution. Dabei handelt es sich um ein Kollektiv von Schwarzen und Schwarzgelesenen Frauen, das sich gegen Rassismus einsetzt. Das Kollektiv war in den vergangenen Tagen im Essenszelt mit einem Stand vor Ort.
Es bestand die Möglichkeit, das Depot der Becher, Teller oder des Geschirrs an das Kollektiv zu spenden. Dies ist zwar noch immer möglich, jedoch hat das Kollektiv beschlossen, seinen physischen Stand nicht länger zu betreuen.
Das teilt das Kollektiv am Samstagabend auf Instagram mit. Dass im Kontext eines Festivals mit übergriffigem und diskriminierendem Verhalten zu rechnen sei, sei man sich bewusst gewesen. «Das Ausmass der Gewalt und des Rassismus mit dem wir konfrontiert wurden, überstieg jedoch, was wir unserem Team und uns zumuten wollen.»
-> https://www.instagram.com/p/CuunxJuKb9O/
Das Team habe das Privileg, sich dieser Situation entziehen zu können, heisst es im Instagram-Post weiter. Viele rassifizierte Menschen, die auf dem Gelände für Pfandgut arbeiten, hätten dieses aber nicht. Das Kollektiv ruft daher zu einem respektvollen Umgang auf. Auf dem Gelände werde Schwarze Kultur bereitwillig konsumiert, wie Schwarze Menschen aber behandelt würden, stehe in einem starken Widerspruch dazu.
Was sagt das Gurtenfestival dazu? Auf Anfrage schickt die Kommunikationsabteilung folgendes Statement: «Wir möchten mit Nachdruck betonen, wie leid es uns tut, dass die Becherspende eine schwierige Erfahrung mit verletzenden Interaktionen war. Dass die (Gurten)-Gesellschaft so reagiert, erschreckt uns und führt uns einmal mehr vor Augen, dass wir nicht dort sind, wo wir sein möchten und als gesamtheitliche Gesellschaft sein sollten.» Man fordere das Publikum dazu auf, sich reflektiert mit der Thematik auseinanderzusetzen.
Entstanden ist Café Révolution um die weltweiten Black Lives Matter Demonstrationen im Jahr 2020. Das Kollektiv organisiert kulturelle Angebote wie Ausstellungen und Lesungen aber auch Meditationskursen und Konzerten rund um das Thema des anti-rassistischen Wirkens. (sik)
(https://www.derbund.ch/gurtenfestival-2023-bern-live-musik-3-112791551428)
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Zweifel säen – die Geschichte der Klimaleugner
Je grösser die Einigkeit zum Klimawandel in der Wissenschaft, desto aggressiver die Gegenkampagne der Klimaspektiker. Mit viel Geld säten Erdölkonzerne wie Exxon ab den 1990er Jahren Zweifel daran, dass der Klimawandel menschgemacht sei. Zweifel, die bis heute – auch in der Schweiz – weiterleben.
https://www.srf.ch/audio/zeitblende/zweifel-saeen-die-geschichte-der-klimaleugner?id=12420811
+++HISTORY
ajour.ch 15.07.2023
Verdingkinder: Sie lebte in einer dunklen Zeit – und war glücklich
Wie Tausende andere Kinder wurde die Mutter der Bielerin Gertrud Iseli verdingt und wuchs in einer Pflegefamilie auf. Ihr Fall zeigt, dass es anders laufen konnte, als man meistens hört.
Anne Marti
Während die 85-jährige Gertrud Iseli in ihrer Küche in Biel sitzt und erzählt, gestikuliert sie mit den Händen, ihre Stimme ist lebhaft. Sie erzählt von ihrer verstorbenen Mutter Martha – den Familiennamen möchte sie lieber nicht in der Zeitung preisgeben –, die als Verdingmädchen auf einem Bauernhof im Emmental aufwuchs. Mit ihren 85 Jahren will Gertrud Iseli endlich über etwas sprechen, das ihr schon lange auf dem Herzen liegt.
Im Gegensatz zu vielen Erzählungen über die Kindheit eines Verdingkindes kommen in ihrer Version keine emotionalen, physischen oder sexuellen Missbräuche vor. Es geht nicht um ein Kind, das im Stall leben musste, in der Schule verspottet wurde und unverhältnismässig viel arbeiten musste. Im Gegenteil. «Man darf nicht vergessen, dass es zur Zeit der Verdingkinder auch gute Pflegeeltern gab», sagt Gertrud Iseli.
Beim zweiten Versuch
Iselis Grossmutter, also die Mutter ihrer Mutter Martha, ist bei der Geburt des neunten Kindes und einzigen Sohnes gestorben. «Meine Mutter war zu diesem Zeitpunkt ein Jahr alt, sie ist 1911 geboren», sagt Gertrud Iseli. Der Vater ihrer Mutter war Zimmermann und den ganzen Tag fort. So mussten Plätze für Martha und deren Geschwister gefunden werden. Die Älteren gingen als Kindermädchen zu Verwandten, für die Jüngeren wie Martha wurden Pflegefamilien gesucht.
Als Erstes kam Martha zu einer Pflegefamilie in Biberist. Nach nur zwei Jahren holte sie der Pfarrer aber wieder aus der Familie heraus, sie wurde dort nicht gut behandelt. Was tragisch anfing, fand nun ein gutes Ende: Ihre nächste Pflegefamilie, die einen Bauernhof in der Nähe von Oberburg besass, nahm sie auf. Und dieses Mal musste sie niemand aus der Familie herausholen.
Wie ein eigenes Kind
«Die Familie bestand aus einem reichen Bauernpaar, das selbst keine Kinder hatte», erzählt Iseli. Die beiden anderen Verdingkinder, die bereits in der Familie lebten, waren schon erwachsen. «Meine Mutter ist dort gross geworden und wurde wie ein eigenes Kind behandelt», so Iseli. Das hat sie auch selbst erlebt: «Die Pflegeeltern schickten uns in der Zeit, in der sie den Hof noch selbst bewirtschafteten, jeden Herbst einen grossen Korb voller Birnen, Äpfel und manchmal auch Kabis – die Freude war immer riesig. Wir gingen sie bis zu ihrem Tod mehrmals im Jahr besuchen.» Für Iseli waren die Pflegeeltern wie Grosseltern.
Und auch in der Schulzeit hatte es ihre Mutter gut. «Es war eine eher kleine Schule. Nie wurden gegenüber ihr oder anderen Verdingkindern Sprüche gemacht, im Gegenteil. Sie hatte viele Freunde.» Als sie danach die Lehre zur Damenschneiderin absolvieren durfte, 1936 heiratete und ein Haus baute, waren die Pflegeeltern auch weiterhin an ihrer Seite und unterstützten sie. Iselis Mutter blieb nach ihrer Lehre sogar ein Jahr lang zu Hause und sorgte für ihre erkrankte Pflegemutter.
Über die Kindheit hinaus
Die Pflegeeltern wurden also quasi zu den richtigen Eltern ihrer Mutter und zu ihren eigenen Grosseltern. Klar habe ihre Mutter auf dem Hof mitarbeiten müssen, so Iseli. Sie habe aber immer genug zu essen und zu trinken gehabt. «Zu dieser Zeit mussten auch die eigenen Kinder auf dem Hof mitarbeiten, das war ganz normal», sagt sie. Ihre Mutter konnte aber stets Pausen machen, wenn sie sie brauchte und lebte nicht unter unmenschlichen Verhältnissen.
Die Verbindung ging über die Kindheit hinaus und blieb bis zum Tod der Pflegeeltern in den 50er-Jahren bestehen. Ihre Mutter erzählte bis zu ihrem Tod im Jahr 2000 immer nur Positives über ihre Kindheit. «Sie schickte mich oft auf den Bauernhof. Keine Mutter würde ihr Kind an einen Ort bringen, wo sie geschlagen wurde», sagt Iseli.
Doch nicht nur als Tochter bekam Iseli die teils positiven Erfahrungen der Verdingkinder mit. Als Lehrerin – einen Teil ihrer Ausbildung wurde von der Schwester des Pflegevaters gezahlt – erlebte sie viele Verdingkinder. Auch da habe sie mit vielen guten Pflegeeltern zu tun gehabt.
Iseli betont, dass dieses Kapitel in der Schweizer Geschichte natürlich viel Leid verursacht hat. «Man darf es einfach nicht verallgemeinern», findet sie. Denn die Geschichte ihrer Mutter beweist, dass es zu dieser Zeit auch gute Pflegeeltern gab. Nur höre man davon wenig. «Das ist ungerecht gegenüber den Pflegeeltern, die sich wirklich Mühe gegeben haben und die nun vergessen werden», findet sie energisch.
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Sogenannte «Verdingkinder» sind verarmte, uneheliche oder Waisenkinder, die nach Angaben des Bundes zwischen dem 19. Jahrhundert und 1981 durch die Behörden fremdplatziert wurden. Bis 1850 wurden die Verdingkinder üblicherweise auf einem Markt versteigert. Sie mussten für ihren Lebensunterhalt arbeiten, standen in vielen Fällen auf der untersten sozialen Stufe, hatten schwere körperliche Tätigkeiten zu verrichten und mussten Schikanen über sich ergehen lassen. Das Verdingwesen gilt heutzutage als eines der dunkelsten Kapitel der jüngeren Schweizer Geschichte und ist jahrelang nicht aufgearbeitet worden. Erst 2013 entschuldigte sich die ehemalige Bundesrätin Simonetta Sommaruga (SP) im Namen der Landesregierung bei allen Opfern. Allen ehemaligen Verdingkindern steht ein Solidaritätsbeitrag von 25 000 Franken zu. (ama)
(https://ajour.ch/de/story/118547/sie-lebte-in-einer-dunklen-zeit-und-war-gl%C3%BCcklich?shareHash=ZFHrFi)
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tagblatt.ch 15.07.2023
Hexenverfolgung im Thurgau: Für den Beischlaf gab es Rossbollen
Sie hiessen Kunigunde, Elsa oder Juditha. Sie wohnten in Frauenfeld, ein Mann hatte sie «teuflischer Weise beschlafen», und ihre Richter liessen sie als Hexen ins Feuer werfen. Was uns alte Gerichtsakten erzählen.
Text: Peter ExingerZeichnungen: Tom Werner
Er will ihr Speis und Trank geben, verspricht der Mann, der ihr im Wald begegnet, beim Holz- oder Harzsammeln. Er, mit seinem Wams und seiner Feder am Hut, hat leicht reden und sieht sofort, mit wem er es zu tun hat. Mit einem Weibe nämlich. Ärmer als er.
An Holz soll es ihr im Leben nicht mehr mangeln. Er tut der Frau sehr freundlich und macht Versprechungen. Keck hat er den Hut auf dem Kopf. Sie müsse nur … Ja, was? Die Apostel verleugnen und die heilige Mutter Maria, der Dreifaltigkeit abschwören und dem Herrgott. Die tugendhaften Pfade ein wenig verlassen, vielleicht da rein durchs Dickicht, er kennt da eine kleine Lichtung.
Ja, der Hunger plagt. Vielleicht nicht immer, aber doch zu oft. Im Winter ist nie genug zu heizen da. Das Leben oftmals nur noch Plage. Mühselig die tägliche Arbeit, schwer das Schicksal. Der Mann schon verstorben. Man muss sich jetzt alleine durchbringen. Und auch die Kinder. Also – in drei Teufels Namen – lässt sie sich verlocken und mitziehen von diesem Mann, der sich als Hensli so freundlich lächelnd vorgestellt hat.
Vielleicht hat sich alles tatsächlich so zugetragen. Vielleicht aber auch wollten die Richter des Malefiz-Gerichts zu Frauenfeld es nur genau so hören. Das ist heute schwer zu sagen. Wer in den vierhundert Jahre alten Gerichtsprotokollen stöbert, dem ersteht eine Welt, die nicht mehr die heutige ist.
Man verhört die Frauen, zu zweit, zu dritt, übt Druck auf sie aus, stellt wohl Suggestivfragen. Immer auch martert man die Frauen, tut ihnen weh. Buchstäblich. Und mit Absicht. Nicht gleich am ersten Tage des Verhörs, aber vielleicht am zweiten oder dritten. Da hilft der Scharfrichter nach. Entzug der Nahrung. Prügel. «Einschraubung der Daumen», «Einschnürung der Glieder, Zwicken mit Zangen». Bei beharrlichem Schweigen oder Leugnen zieht der Scharfrichter die Verhörten auf. Unter der Streckfolter mit einem Gewicht an den Füssen wird manches Geständnis doch noch detailreicher, und manche Ereignisse kamen den Hexen in den Sinn, die sie vielleicht gar nie so erlebt hatten.
Das war eine für damalige Zeiten typische Vorgehensweise: zuerst gütlich, das Verhör, dann peinlich. Die Welt als Hölle, selbst ohne Zutun des Satans.
1611: Die Pest sucht den Thurgouw heim
Ansonsten sind die Zeitläufte auch nicht immer dazu angetan, sich mit Freude an sie zu erinnern. Nehmen wir das Jahr 1611. Das grosse Sterben zieht über das Untertanengebiet «Thurgouw». Der schwarze Tod, die Pest rafft ein Zehntel, vielleicht auch ein Viertel oder mehr der etwa 1200 Einwohner von Frauenfeld dahin. Arme und Reiche. Kinder und Alte. Die Krankheit macht keinen Unterschied. Schlägt rasch zu. Versetzt die Menschen in Panik, in Angst. Dort fehlt nun der Wagner, hier liegt der Koch todkrank, die Wirtin bereits hingeschieden. Die Magd ist weg, kopflos auf und davon, der Knecht liegt schon seit Tagen fiebrig. Der einst starke Gatte jetzt sterbensblass und morgen dann schon bald hinüber. Die Kinder spielen nicht mehr draussen. Die Kost wird knapp. Was hat man schon? Dünne Hafersuppe, wenn es gut geht. Einen Kanten Brot vielleicht. Wer es sich halt leisten kann. Die meisten können nicht.
Das Leben ausserhalb der Stadttore von Frauenfeld ist jedenfalls sehr ländlich geprägt. Es mag ein paar Bauern geben. Aber nicht viel mehr als eine Hand voll. Die meisten Menschen leben sehr bescheiden. Bewirtschaften vielleicht kleine Felder. Besitzen als Tagelöhner eine Ziege, wenn es gut geht vielleicht sogar eine Kuh, wenn der Haushalt das vermag, es genug zu füttern hat für dieses grosse Tier. Schulen gibt es keine. Lesen können nur die Allerwenigsten. Gesicherte Nachrichten gibt es nicht. Die Zeitung ist für diesen Landstrich noch nicht erfunden. Dafür gibt es Klatsch. An jeder Ecke. Gerüchte. Gerede. Deren viel. Und von der Kanzel Predigten. Es herrschen «knappe Lebensverhältnisse» und «strenge gegenseitige Beobachtung» – nicht nur innerhalb der meist einstubigen kleinen Häuser vor den Toren der Stadt.
Der Ernteertrag war siebenmal geringer als der heutige. Die Produktivität sogar 200-mal so tief wie in unseren Tagen. Es war ein mausarmes Leben. Ohne grosse Ablenkung oder Zerstreuung. Ohne ärztliche Hilfe in den wirklich dringenden Fällen. Eine Soziokultur der Armut aufgrund knapper Lebensgrundlagen. Vor diesem Hintergrund werden einem das Leben, welches aus den Protokollen spricht, und die Erlebnisse der Frauen immer wahrscheinlicher vorkommen.
Der Samen des Teufels ist eiskalt
Die Frauen erzählen im Verhör von besonderen Merkmalen des sie beschlafenen Mannes, dem sie oft nur zögernd oder widerwillig folgen und der erstaunlich oft mit dem Namen Hensli in den Protokollen auftaucht. Er habe «breite Füsse wie eine Gans» oder auch «beide Füsse gehabt wie ein Bär». Die Gemarterten erzählen von «Füssen wie ein Ross» oder ihr Buhl habe sich in Gestalt eines Knaben angenähert «mit Geissfüssen». Manche berichten, beim Geschlechtsakt seinen kalten Samen gespürt zu haben, wie Eiszapfen. Oder «wie er bei ihr gewesen», sei «die Natur gewesen wie eine kalte Hundsnase».
Teuflisch wird’s, wenn nach dem Geschlechtsakt der Mann die versprochene Belohnung herausrücken soll. Was er gibt, ist Münz und Brot. Doch das sieht nur im ersten Moment tatsächlich so aus. Denn der Liebeslohn ist schliesslich gar nichts wert, erweist sich später oder daheim als Stein oder Kot, das Brot als ungeniessbarer Lehm. «Habe gemeint, soll bei ihm liegen und gesagt, habe viel Geld. Habe ihr einmal Geld gegeben, sei worden wie wenn Stein, das andere Mal wie wilder Schweinkot, und ihr aus der Hand verschwunden.» Eine andere gibt zu Protokoll: «Da habe er ihr Geld geben (nach dem Akt), so worden wie ein Nussläubli.»
Haben sich die Frauen einmal auf diesen Hensli eingelassen, kann er auch recht böse tun, wenn die Frauen ihm einmal nicht zu Willen sein wollen. Dann nämlich hat er sie «oft übel geschlagen», im Holz, hinter der Scheune, am Gatter, in der Küche.
Aber weil sich die Frauen nun mit dem Teufel eingelassen haben, gestehen sie auch Erlebnisse, die nicht von dieser Welt sein können. Lisabetha Freyin berichtet etwa, sie habe als schwarze Katze in der «Krone» zu Frauenfeld Fleisch stehlen wollen, dabei sei es ihr aber gar nicht wohl ergangen. «Item, sei sie in Gestalt einer schwarzen Katze in die Krone allhie gelaufen, des Willens, Fleisch zu stehlen. Da hab der Wirt und auch die Magd sie mit Stecken dermassen geschlagen, dass sie darnach etliche Zeit zu Bett liegen müssen.»
Zuerst an den Pranger, dann ins Feuer
Die Hexenverfolgung fällt in eine Zeit des Aufbruches. Das Mittelalter ist bereits überwunden. Die Neuzeit angebrochen. Das Ausbrennen der Hexerei aus der Mitte der Gesellschaft fand also nicht im dunklen Mittelalter statt, sondern am Beginn unseres wissenschaftlichen Zeitalters. Das klingt paradox. Aber die alten Denkordnungen lösten sich gerade in diesen Zeiten auf, Veränderungen bahnten sich ihren Weg, die Naturwissenschaften begannen Fuss zu fassen – Amerika war bereits entdeckt, die Erde keine Scheibe mehr. Neues verunsichert, wie wir wissen. Wohl zuerst die Eliten, die in der Hauptsache die Anklagen wegen Hexereien vorantrieben: Kirche und Staat – eine unheilvolle Kombination. Schuldige und Sündenböcke müssen erst an den Pranger, dann ins Feuer.
Wie hexten die Hexen in Frauenfeld? Nicht viel anders als die Hexen im restlichen europäischen Kulturraum. Die Geständnisse gleichen sich in vielen Vorkommnissen oder klingen zumindest sehr ähnlich. Die Namen wechseln und auch die Orte. Die Hexen ruinieren Ernten: Sie machen Wetter – meist Hagel, Gewitter oder auch Kälteeinbrüche und Nebel. Mit einem Spruch wirft die Hexe etwa Steinchen in die Luft, die sie vorher von ihrem Hensli für diesen Zweck erhalten hat. Alsbald setzt ein Brausen und Toben der Elemente ein.
Hexen können Menschen lähmen, sie lassen Kinder erkranken, verderben das Vieh sogar. Dafür sorgen sie mit Ruten, manchmal aus Birkenzweigen, die sie über die Körper streichen oder manchmal schlagen. Die Hexe streut aber auch bösen Samen unter den Türsturz von Häusern, deren Bewohner erkranken und vom Unglück verfolgt sein sollen. Aber es geht auch anders: «als sie von dem bösen Geist einen sonderbaren Samen in Gestalt Rosskümmels zur Verderbung Leut und Vieh empfangen», habe sie «auch ihrem Tochtermann und seinem Sohn von diesem Samen zu trinken geben. Der Sohn hab darob ungewillet, dass also schwarze Maden von ihm gegangen.»
Ein bekannter Topos bleibt auch in den Gerichtsakten der Thurgauer Hexen nicht unerwähnt. Der sogenannte Hexensabbath. Eine Angeklagte bekennt «ohne Marter und mit Marter», sie sei einmal mit ihrer Freundin Elselin auf dem Rücken eines Kalbes ausgefahren auf den Heuberg. Dort «haben sie alle Zeit miteinander tanzt, gegessen und trunken. Da seien Leute mit Federn vorhanden gewesen, bei 20 Weibern aus diesem Land bei ihnen gewesen.»
Auch auf dem «Felbemer Feld unter dem Birrenbaumle» seien die Hexen zusammengekommen. An Fleisch und anderem habe es nicht gemangelt dort, jedoch an Brot und Salz. Auch sei eine Hexe auf dem Stecken des Teufels durch die Luft geritten.
Nach den Verhören kommt das Malefizgericht zu einem Urteil, an dessen Ende immer der Scheiterhaufen brennt. Auf dem Mistkarren (Benne) werden die verurteilten Frauen gefesselt auf die «gewohnliche» Richtstatt geführt, auf eine Leiter gebunden und verbrannt. Sollte ein Hexe mittels Fürspruch Begnadigung erlangen, dann erfolgt vor dem Verbrennen das Köpfen, sodass «ein Karrenrad zwischen Leib und Kopf gehen möge». Auf der Richtstatt soll schliesslich vom Leibe «nichts mehr übrig bleiben als Asche, die so zu verwahren sei, dass Mensch und Vieh davor sicher sind». Hab und Gut der Verurteilten fiel übrigens den Obrigkeiten anheim.
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Quelle
Hexenverfolgung der «beiden Obrigkeiten» Stadt Frauenfeld und Landgrafschaft Thurgau im Bereich von Frauenfeld sowie Spuren der Verfolgung im übrigen Thurgau. Dokumentation bearbeitet durch Otto Sigg.
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Thurgauer Hexen
An dieser Stelle gedenken wir aller bislang dokumentierbaren weiblichen Opfern der Thurgauer Hexenverfolgung (1625–1707). Kunigunde Züricherin, Kurzdorf. Verena Spanin, Kurzdorf. Juditha Bosshartin, Frauenfeld. Barbara Sennin, Frauenfeld. Elsa, Kurzdorf. Bersabe Heusslerin, Frauenfeld. Elsi Kellerin, Felben. Lisabetha Freyin, Frauenfeld. Maria Stüelin, Frauenfeld. Evæ Wäberin, Zatzenloo/Steckborn. Barbara Federlein, Kurzdorf. Elisabeth Kochin, Stein/Rhein. Barbara Waberi, Stein/Rhein. Barbara Kellerin, Oberwangen. Agnes Wattingerin, Hüttwilen. (pex)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/hexenverfolgung-im-thurgau-fuer-den-beischlaf-gab-es-rossbollen-ld.2487714)
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tagblatt.ch 15.07.2023
«Die Verklemmtheit der Männer ist die Grundlage dafür gewesen»: Historiker Otto Sigg über die Hexenverfolgung im Thurgau
Die Erlebnisse der Frauen, die aus den Akten sprechen, lassen einen lange nicht los. Die Urteile gegen die sogenannten Hexen waren nichts anderes als Justizmorde.
Peter Exinger
Sie haben sich jahrelang mit dem Hexenwesen befasst: Warum?
Otto Sigg: In den 80er-Jahren habe ich die Gemeindegeschichte von Ossingen im Zürcher Weinland verfasst – meiner Heimatgemeinde. Eher zufällig kam ich dabei auf den Fall einer Hexe aus dem 16. Jahrhundert, der bislang noch unbekannt gewesen war. Ja, und seit meiner Pensionierung ist die Aufarbeitung sämtlicher Fälle im Kanton Zürich mein Steckenpferd.
Was fasziniert daran?
Wir sind ja alle in dieser Kultur mehr oder weniger von christlicher Erziehung geprägt. Die Christen hatten auch immer Angst. Angst vor der Strafe Gottes. Und das ist ein Vorgang, der seine Faszination hat: Die Obrigkeit musste die bösen Frauen bestrafen, denn sonst würde Gott sie bestrafen. Die Hexenverfolgungen sind aber aus heutiger Sicht nichts anderes als Justizmorde. Das bewegt mich. Und es macht einem natürlich ein schlechtes Gewissen.
Gibt es Vergleichbares in den letzten 500 Jahren in Europa?
Die deutsche Hexenforschung vergleicht die Vorgänge gerne mit dem Holocaust – der Vernichtung jüdischen Lebens während des Zweiten Weltkriegs. Aber diese Vorgänge waren weit grösser und weit schlimmer. Doch gewisse Parallelitäten sind vorhanden.
Die Verfolgung, Marter und Hinrichtungen zielten gegen Arme und Rechtlose. Gegen Frauen vor allem.
Das ist völlig klar, auch im Thurgau: Die Verfolgung traf in der Hauptsache nicht mehr ganz so junge Witwen – arm waren sie nicht immer. Aber das ist ein Schwerpunkt. So wie das Kurzdorf in Frauenfeld ein besonderer Schwerpunkt im Thurgau gewesen ist.
Warum gerade diese Frauen?
Die konnten sich nicht wehren. Sie hatten kein Netzwerk von Verwandtschaft, das helfen konnte, weder mental noch mit Geld. Diese Frauen hatten keinen Fürsprech.
Was war der eigentliche Rechtsbruch der Hexen?
Juristisch war der Einstieg immer Schadenzauber, an Vieh und Wetter. Das Dorfvolk meldete das dem Dorfweibel. Und der musste das dann der Obrigkeit melden. Sobald die Gefangennahme erfolgt war, kam das Gericht zusammen. Die beiden Tatbestände hiessen Gottesverleugnung und Teufelsbeischlaf. Das waren immer dieselben. Und die Grundlage dafür waren die Bibel und der «Hexenhammer».
War der «Hexenhammer» ebenso bekannt wie die Bibel?
Das nicht, aber in den Bibliotheken war er vorhanden. Die Geistlichkeit kannte den wohl meist auswendig. Die Obrigkeiten vielleicht nur vom Hörensagen, obwohl ihnen der Inhalt sicher bekannt war. Viele von ihnen waren belesen.
Aus den Protokollen spricht eine Obsession gegen das Böse, den Satan, aber auch ein Obsession gegen Sexualität.
Es tönt vielleicht für viele zu modern: Aber die Frage der Sexualität spielt bei der Hexenverfolgung eine ganz grundlegende Rolle. Ich möchte auch sagen: Die Verklemmtheit der Männer. Das war die Grundlage für diese ganze Verfolgung von Frauen, den damals sogenannten Unholden.
Gerade sexuelle Szenen finden sich in jedem Verhörprotokoll.
Und manche davon bleiben einem lange im Gedächtnis haften. Etwa das Schicksal der Witwe Kunigunde Züricherin aus dem Kurzdorf, die 1635 als Hexe verbrannt wurde. Als «noch kleines Mägdlein» war sie von ihrem Vater, der mit Richtern nach gehaltenem Gericht trunken ins Bett fiel, vergewaltigt worden. Sie war also ein Inzestopfer ihres Vaters. Das Malefizgericht hat das aber umgekehrt und sah die Kunigunde als Schuldige.
Sind das alles nur schräge Männerfantasien?
Ja, das könnte man schon auch so sehen. Aber wir dürfen nicht vergessen: die biblisch-theologische Moral darf man nicht ausser Acht lassen. Es waren den Menschen damals engste Grenzen gesetzt, was ihre Sexualität betraf. War eine Frau besonders lebensfreudig, konnte sie dies das Leben kosten.
Die evangelisch geprägte Gesellschaft war auf diesem Feld sehr fleissig.
Ganz im Gegensatz zu den Katholiken, sage ich als Reformierter. Die Zürcher sahen sich immer als vorbildliche Christen. Ihre Lehre nahm den Menschen viele Freiheiten. Eine Rationalität wie heute gab es damals noch nicht. Das war eine christlich verbohrte Gesellschaft. Das muss man so sagen.
Hexenverfolgung setzte am Anfang der Neuzeit ein. Ist das alles nur ein Ausläufer des Mittelalters?
Ich würde sagen: Es sind die Ausläufer einer fanatischen Religiosität. Auch Frauenfeld war ja evangelisch geprägt. Sie hatten für die Hexenverfolgung die gleichen Grundlagen wie die Zürcher.
Welche gesellschaftliche Schuld gilt es heute noch abzutragen?
Es stände den Stadtzürchern gut an, ein Mahnmal aufzustellen, worauf alle Namen der damaligen Opfer verzeichnet wären. Während man in Deutschland damit schon weiter ist, wollen wir Schweizer von solchen Schritten weniger etwas wissen. Und vielleicht wird es damit noch lange so weitergehen.
Und im Thurgau?
So ein Mahnmal wäre auch in Frauenfeld leicht möglich. Aber die Thurgauer sind vielleicht noch ein eigeneres Volk. Und so wie ich diesen Kanton kenne, wird er sich mit so einem Mahnmal noch schwerer tun als die Zürcher.
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Zur Person
Der promovierte Zürcher Historiker Otto Sigg (Jg. 1943) arbeitete am Staatsarchiv des Kantons Zürich. Er war von 1983 bis 2006 dessen Direktor. Seit seiner Pensionierung beschäftigt er sich intensiv mit den Fällen von Hexenverfolgung.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/interview-die-verklemmtheit-der-maenner-ist-die-grundlage-dafuer-gewesen-historiker-otto-sigg-ueber-die-hexenverfolgung-im-thurgau-ld.2487823)