Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
+++AARGAU
Schockierte Schule: Die Polizei fängt in Reinach zwei Schwestern auf dem Schulweg ab und schafft sie aus
Zwei Schülerinnen aus Reinach wurden auf dem Schulweg von der Polizei abgefangen und noch am selben Tag in ein Flugzeug nach Sri Lanka gesetzt. Der Grund: Die Mutter ist eine abgewiesene Asylbewerberin. Die Schule ist schockiert und will den Mädchen nun helfen. Klassenkameraden verkaufen Kuchen und sammeln Spenden für die beiden Schwestern.
https://www.telem1.ch/aktuell/schockierte-schule-die-polizei-faengt-in-reinach-zwei-schwestern-auf-dem-schulweg-ab-und-schafft-sie-aus-152291399
-> https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/zwei-schuelerinnen-auf-schulweg-abgefangen-und-ausgeschafft-152291340?autoplay=true&mainAssetId=Asset:152291428
+++SCHWEIZ
Streit um Kosten: So stark belasten Asylsuchende das Gesundheitswesen
Zum ersten Mal zeigen Zahlen, die dem «Beobachter» vorliegen, was die Gesundheit von Asylsuchenden kostet. Die Rechte kritisiert «Luxusmedizin», die Linke sieht keinen Handlungsbedarf.
https://www.blick.ch/politik/streit-um-kosten-so-stark-belasten-asylsuchende-das-gesundheitswesen-id18712939.html
+++MITTELMEER
»Humanity 1« rettet fast 200 Flüchtende: »Drei Tage Fahrt bis zum Hafen ist den Überlebenden kaum zumutbar«
Die italienischen Behörden weisen dem deutschen Seenotrettungsschiff einen Hafen in 1300 Kilometer Entfernung zu. Dabei gäbe es Alternativen in der Nähe, kritisiert der Berliner Verein SOS Humanity.
https://www.spiegel.de/panorama/nach-gelungener-rettungsaktion-im-mittelmeer-drei-tage-fahrt-bis-zum-hafen-ist-den-ueberlebenden-kaum-zumutbar-a-1ea14ab2-1c88-4871-a08f-22ecc5b35471
-> https://www.nau.ch/news/europa/deutsches-schiff-rettet-fast-200-mittelmeermigranten-aus-seenot-66534361
-> https://www.blick.ch/ausland/doch-italien-verweigert-hilfe-deutsches-schiff-rettet-fast-200-fluechtlinge-vor-dem-tod-id18715123.html
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Marsch im Schneckentempo: Klimakleber in Bern behindern Verkehr mit neuer Methode
Wer am Samstagnachmittag durch die Berner Innenstadt mit dem Auto fahren will, braucht Geduld. Die Aktivisten von Renovate Switzerland behindern den Verkehr mit einem langsamen Marsch.
https://www.blick.ch/schweiz/bern/marsch-im-schneckentempo-klima-kleber-in-bern-behindern-verkehr-mit-neuer-methode-id18715380.html
-> https://www.derbund.ch/news-ticker-bern-region-kanton-polizei-verkehr-politik-kultur-117-290281918894
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/klimaaktivisten-behindern-verkehr-in-bern-152291563
-> https://twitter.com/realaydemir
-> https://www.watson.ch/international/bern/626260726-renovate-switzerland-behindert-den-verkehr-in-der-berner-innenstadt
Hunderte feiern heute Queerness und Diversität
Im Rahmen des «Queer Festival Basel» haben sich heute Nachmittag rund 700 Menschen für den «Pride Walk» am Messeplatz versammelt, um für mehr Toleranz und Vielfalt zu demonstrieren.
https://www.baseljetzt.ch/hunderte-feiern-heute-queerness-und-diversitaet/81359
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nzz.ch 01.07.2023
Die Kantonspolizei verlangt von jungen Aktivisten Zehntausende Franken, weil sie ein besetztes Waldstück räumen musste. Das setzt die Stadt Zürich unter Druck
Weil eine Volksinitiative gute Chancen hat, kommt Bewegung in den jahrelangen Streit um die Verrechnung von Polizeieinsätzen.
Marius Huber
Eben hatten sie sich noch amüsiert über die Vertreter der Staatsgewalt, die unbeholfen zu ihnen hochkletterten. Sie sassen wie jugendliche Erben von Robin Hood in ihren Hängematten und auf Holzplattformen, hoch in den regennassen Kronen alter Eichen. Mit bester Sicht auf das filmreife Spektakel, das ihretwegen veranstaltet wurde. Überall Polizisten, Spürhunde, Absperrband, eine Drehleiter.
Aber wenige Tage nachdem die Kantonspolizei im April ein besetztes Waldstück in der Gemeinde Rümlang geräumt hatte, herrschte unter den umweltschützerisch motivierten Aktivistinnen und Aktivisten eine Mischung aus Unglauben und Entsetzen. Ihnen wurde eine happige Rechnung für den Grosseinsatz in Aussicht gestellt – eine ungewohnte Erfahrung für Zürcher Besetzer.
Jetzt zeigt sich: Die Forderung liegt tatsächlich auf dem Tisch der Waldbesetzer, die sich gegen eine Abfalldeponie wehrten. Ein Sprecher aus ihrem Umfeld sagt auf Anfrage, die Kantonspolizei verlange von mehreren Personen, einen Teil der Einsatzkosten zu übernehmen. Unter ihnen befinden sich laut dem Sprecher auch unbeteiligte Unterstützer, die lediglich einem Aufruf gefolgt seien, nach der Besetzung beim Aufräumen im Wald zu helfen. Die geforderte Summe: ein mittlerer fünfstelliger Betrag.
Überprüfen lässt sich all dies nicht, denn die Polizei gibt keine Auskunft. Der Grund ist, dass im Zürcher Kantonsrat eine Anfrage zum Thema hängig ist. Solange die Regierung nicht darauf geantwortet hat, herrscht auf offizieller Seite faktisch eine Infomationssperre.
Die Höhe der geforderten Summe klingt plausibel, denn die Kosten vergleichbarer Polizeieinsätze lagen in der Vergangenheit bei 150 000 bis 300 000 Franken. Die Angaben der Besetzer wirken auch deshalb glaubhaft, weil die Kantonspolizei im letzten halben Jahr schon bei mindestens zwei anderen Anlässen angekündigt hat, ihren Aufwand in Rechnung zu stellen.
Beide bekannten Fälle betrafen Mitglieder von Renovate Switzerland, die sich auf Strassen festklebten, um Verkehrsadern zu blockieren. Im ersten Fall sei die Rechnung allerdings nie eingetroffen, wie eine Sprecherin von Renovate sagt. Der zweite, die Sperrung einer Autobahnabfahrt in Zürich Altstetten, liegt erst wenige Tage zurück.
In der Stadt Zürich verrechnet die Polizei nie ihre Kosten
Das Vorgehen gegen die Waldbesetzer von Rümlang dürfte insofern eine Premiere sein, zumindest in jüngerer Vergangenheit. Eine hochpolitische noch dazu. Denn links und rechts streiten seit Jahren leidenschaftlich darüber, ob man Besetzerinnen und Teilnehmer unbewilligter Kundgebungen für Polizeieinsätze zwingend zur Kasse beten soll. Bis jetzt ohne Folgen.
Die Einzigen, die zwischen 2019 und 2022 mehrere hunderttausend Franken zahlen mussten, waren die drei Profifussballklubs von Zürich und Winterthur, wegen Ausschreitungen ihrer Fans. Dies zeigt eine Aufstellung der Kantonsregierung.
Dass die Waldbesetzung von Rümlang jetzt womöglich zum Präzedenzfall wird, liegt an der Geografie und der politischen Wetterlage.
Denn: Befände sich das Waldstück nur knapp 200 Meter weiter südlich, auf Gebiet der Stadt Zürich, wäre gar nichts passiert. Die Stadtpolizei verzichtet seit Jahren konsequent darauf, in solchen Fällen die Kosten einzufordern. Das Zürcher Polizeigesetz erlaubt dies zwar, aber die links-grüne Mehrheit in Stadtregierung und Parlament stemmt sich dagegen. Dadurch verkommt der Paragraf zu Zierrat, weil es ausserhalb der Stadt kaum je Grosseinsätze wegen Besetzern oder Demonstranten gibt.
Dies ärgert bürgerliche Politiker schon lange. In jüngster Zeit wieder verstärkt, weil sich die Aktionen von Klimaaktivisten und Besetzern gehäuft haben. Die Junge SVP unternimmt gerade den nächsten Anlauf, das kantonale Polizeigesetz zu verschärfen: Sie hat eine «Anti-Chaoten-Initiative» eingereicht, die unter anderem aus der Kann-Formulierung eine Pflicht machen will. Die Polizei müsse Einsatzkosten wegen unbewilligter Kundgebungen oder Besetzungen immer und überall einfordern.
Dieses Anliegen kann in einer Volksabstimmung mit einer Mehrheit rechnen, wie Umfragen der NZZ und der Tamedia-Zeitungen im Winter gezeigt haben.
Eine Initiative und ein Gegenvorschlag ohne Überzeugung
Der Kantonspolizei wird es vor diesem Hintergrund gelegen kommen, den Beweis erbringen zu können, dass ein härteres Vorgehen auch unter geltendem Gesetz möglich ist. Dass es also vor allem am politischen Willen des zuständigen Gemeinwesens liegt – Stadt oder Kanton –, ob etwas passiert. Denn mit diesem Argument wehrte sich die Kantonsregierung in der Vergangenheit dagegen, das Polizeigesetz zu verschärfen und den Polizeien mehr Arbeit zu machen.
Der Regierungsrat zweifelte, ob es juristisch möglich ist, einen Teil der Einsatzkosten einzelnen Teilnehmern von Demonstrationen zu verrechnen. An dieser Sorge hat sich wenig geändert, wie eine Stellungnahme zur Initiative der Jungen SVP zeigt: Müsse die Polizei dies konsequent tun, bedeute dies für sie einen Mehraufwand mit ungewissem Nutzen. Es sei nicht garantiert, dass sie damit im Einzelfall Erfolg habe.
Als vor zweieinhalb Jahren eine fast identische Initiative im Kantonsrat behandelt wurde, machte Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) klar, dass er eine Gesetzesänderung für überflüssig hält. Die Möglichkeit, Polizeieinsätze zu verrechnen, bestehe bereits. Dann ergänzte er, ohne die Stadt Zürich namentlich zu nennen: «Man soll es aber auch tun.»
Unter dem Druck des neuen Volksbegehrens lässt sich der Regierungsrat diesmal auf eine Gesetzesänderung ein und macht einen Gegenvorschlag. Wider seine innere Überzeugung, wie die etwas gewundene Begründung verrät: «Im Lichte der vorliegenden Volksinitiative» sei davon auszugehen, dass der Mehraufwand für die Polizei «in Kauf zu nehmen ist».
Der Gegenvorschlag läuft auf Folgendes hinaus: Wer «vorsätzlich» einen Einsatz auslöst, muss zahlen. Dies ist der SVP zu wenig griffig, wie ihre Parlamentarier kürzlich klarmachten. Sie verlangen von der Regierung einen Bezahlzwang ohne Einschränkung. Vor allem, um in der Stadt Zürich eine abschreckende Wirkung zu entfalten. An diesem Punkt steht die Debatte derzeit.
Aktivisten sammeln Geld – und gehen vielleicht vor Gericht
Wenn die Kantonspolizei jetzt demonstriert, was unter geltendem Gesetz möglich wäre, setzt dies die Stadt Zürich unter Druck. Sie könnte zum Schluss kommen, dass es in ihrem Interesse ist, die eigene Praxis zu ändern, wenn sich dadurch eine unerwünschte Zwangsbestimmung abwenden lässt.
Ohne Druck von aussen geht dies kaum, denn in der Stadt waren jüngst gegenläufige Tendenzen zu erkennen: Die links-grüne Mehrheit im Gemeinderat hat 2021 entschieden, die Bewilligungspflicht für Demonstrationen abzuschaffen. Erst kürzlich beschloss sie zudem, bei unbewilligten Demonstrationen auf Bussen zu verzichten.
Gegen die Überwälzung von Einsatzkosten hat der Stadtrat in den letzten Jahren stets ähnliche Argumente vorgebracht: Diese Möglichkeit sei gedacht für Einsätze, die nicht zum Grundauftrag der Polizei gehörten. Zum Beispiel, wenn sie jemand rufe, um nach entlaufenen Tieren zu suchen. Oder für Einsätze, bei denen der Verantwortliche klar zu identifizieren sei, etwa bei einer Bombendrohung.
Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung dagegen gehöre zum Grundauftrag der Polizei – also auch Einsätze wegen Kundgebungen und dergleichen. Überdies könne man die dabei entstehenden Kosten nicht präzis einzelnen Personen zuordnen.
Ob die Räumung von Rümlang zur Zäsur wird, ist noch offen, denn die finanziellen Forderungen könnten vor Gericht landen. Die Besetzerinnen und Besetzer prüfen nach eigenen Angaben rechtliche Schritte dagegen. Gleichzeitig sammeln sie Geld, um die «Repressionskosten» zu bestreiten – mit wie viel Erfolg, lassen sie unbeantwortet.
Es dürften aber noch weitere Forderungen auf sie zukommen, denn die Gemeinde Rümlang verrechnet die Kosten fürs Aufräumen nach der Besetzung den Waldeigentümern. Diese wiederum lassen auf Anfrage wissen, dass sie die Rechnung jenen 22 Aktivistinnen und Aktivisten weiterleiteten, von denen sie die Adresse hätten.
(https://www.nzz.ch/zuerich/waldbesetzer-von-ruemlang-sollen-rechnung-fuer-polizeieinsatz-zahlen-ld.1745159)
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-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/kanton-zuerich/kantonspolizei-schickt-rechnung-an-waldbesetzer-das-koennte-schule-machen-152285698?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151111820
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/waldrapp-kueken-aus-zuerich-begeistern-vogel-paparazzi?id=12413908
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nzz.ch 01.07.2023
Ein Klimaaktivist kettet sich vor Bankeingänge und blockiert Strassen. Vor Gericht sagt er: «Es braucht eine rasche, radikale Reaktion»
Ist es eine Nötigung, wenn Klimaaktivisten mitten in Zürich Strassen blockieren oder sich vor dem Eingang einer Bank zusammenketten? In dieser Frage musste das Bezirksgericht entscheiden.
Fabian Baumgartner
Mal kettet sich der 50-jährige Klimaaktivist vor den Eingang einer Grossbank, mal blockiert er den Verkehr mit einer Sitzblockade und einem Boot, dann klebt er sich auf Autobahnen. Alles im Namen des Klimaschutzes.
Ist das nun eine legitime Form des Protests oder eine strafrechtlich relevante Nötigung? Mit dieser Frage hat sich am Freitag der Einzelrichter des Bezirksgerichts Zürich auseinandersetzen müssen.
Mit einem Boot die Strasse blockiert
Zu beurteilen hatte das Gericht mehrere Aktionen, an denen der Mann teilnahm. Die Zürcher Staatsanwaltschaft und das städtische Statthalteramt hatten ihn mit Strafbefehlen verurteilt, der Pädagoge erhob jedoch Einsprache. Laut Staatsanwaltschaft soll der Klimaaktivist an zwei Tagen Anfang Oktober 2021 zusammen mit anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Organisation Extinction Rebellion den Verkehr in der Zürcher Innenstadt lahmgelegt haben.
In einem Fall habe der Mann um die Mittagszeit ein Auto mitsamt Anhänger und aufgeladenem Schiff auf der Strasse parkiert. Dann habe er zusammen mit anderen Aktivisten den Bootsanhänger vom Fahrzeug gelöst und quer auf die Fahrbahn gestellt. Trotz Abmahnung hätten er und die anderen Teilnehmer die Strasse nicht freigegeben.
Es war eine Rebellion mit Ansage. Bereits Monate zuvor hatten die Klimaaktivisten in einem Brief an den Bundesrat angedroht, die grösste Schweizer Stadt so lange lahmzulegen, bis die Landesregierung den Klimanotstand ausgerufen habe. Ihre Forderung: Die Politik solle netto null Treibhausgasemissionen bis 2025 sicherstellen.
Wie die Staatsanwaltschaft in ihrer Anklage festhält, hat der Lehrer mit seinem Tun «zahlreiche Verkehrsteilnehmer dazu gezwungen, ungewollt einen Umweg einzuschlagen oder im Stau stecken zu bleiben und Zeit zu verlieren».
«Es braucht eine rasche, radikale Reaktion»
Es war nicht die einzige Aktion, an der sich der 50-Jährige beteiligte. Anfang August 2021 war er dabei, als eine Gruppe von Klimaaktivisten den Eingang zur Grossbank UBS am Paradeplatz blockierte. Zudem fand er sich zwei Tage später auch bei einer Demonstration anlässlich der Klimawoche «Rise up for Change» ein.
Seither sind weitere ähnliche Aktionen hinzugekommen. In Zürich und Genf sind derzeit weitere Verfahren gegen den Mann hängig. Zudem klebte sich der Lehrer für die Organisation Renovate Switzerland vor dem Gotthardtunnel auf die Autobahn.
Vor dem Einzelrichter am Bezirksgericht Zürich erklärte der Klimaaktivist seine Aktionen. Er sagte: «Der Klimawandel ist real, und es braucht eine rasche, radikale Reaktion.» Stattdessen herrsche politische Untätigkeit. «Es sollten sich alle darüber freuen, wenn sich Aktivisten wie ich für das Klima einsetzen.»
Sich selbst beschreibt der Mann als «Klimaaktivisten mit Leib und Seele». Es sei jedoch nie sein Ziel gewesen, Verkehrsteilnehmer dazu zu zwingen, Umwege zu fahren. «Ich wollte auf die Anliegen des Klimaschutzes hinweisen.»
Aus seiner Sicht fehlt es an einem rechtswidrigen Verhalten, sowieso seien gewaltlose Handlungen im Rahmen einer Kundgebung ausdrücklich durch die Menschenrechtskonvention geschützt. «Allenfalls habe ich Verärgerung ausgelöst. Das ist aber weit von einer Gewaltanwendung entfernt.» Er sei deshalb von den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft freizusprechen.
Die Staatsanwaltschaft hatte eine Verurteilung wegen Nötigung und Übertretung von kommunalen Vorschriften gefordert.
Weitere Verfahren hängig
Damit drang der Mann beim Einzelrichter allerdings nicht durch. Es sei ja durchaus legitim, auf Anliegen des Klimaschutzes aufmerksam zu machen, erklärte der Richter – «aber nicht mit diesen Mitteln». Eine Verkehrsblockade zu provozieren, falle unter den Tatbestand der Nötigung.
Diese Sichtweise sei auch durch Urteile des Zürcher Obergerichts gestützt, das sich bereits verschiedentlich zum Thema Nötigung bei Strassenblockaden geäussert habe. Der Richter sagte: «Die Rechtswidrigkeit ist da grundsätzlich gegeben.» Es sei auch die Freiheit der automobilen Fortbewegung geschützt. Zudem seien auch tragische Konsequenzen solcher Blockaden denkbar, etwa wenn die Ambulanz bei einem Notfall nicht durchfahren könne.
Das Gericht sprach den Klimaaktivisten schliesslich wegen mehrfacher Nötigung sowie mehrfacher Teilnahme an einer nicht bewilligten Veranstaltung schuldig. Der Pädagoge, der derzeit auf Jobsuche ist, muss dafür eine Geldstrafe von 60 Tagessätzen à 100 Franken bezahlen.
Ein Teil wurde als Zusatzstrafe ausgesprochen, weil das Gericht eine Ende April 2021 bedingt ausgesprochene Strafe der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland widerrief. Zudem muss der Aktivist eine Busse des Stadtrichteramts von 300 Franken tragen und die Verfahrenskosten übernehmen.
Das Gericht ging von einer negativen Prognose aus. Der Richter sagte: «Sie sind nach wie vor der Ansicht, dass es diese Aktionen braucht.» Man gehe davon aus, dass weitere Verfahren gegen den Mann folgen würden. Die Aussage ist nicht allzu gewagt: In Zürich und Genf sind derzeit weitere Verfahren gegen den Mann hängig.
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Urteile GC 220119 und GB 220127 vom 30. 6. 23, noch nicht rechtskräftig.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-klimaaktivist-fordert-mehr-strassenblockaden-ld.1745201)
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aargauerzeitung.ch 01.07.2023
«Nicht alles, was legitim ist oder erscheint, ist auch legal»: Bezirksgericht verurteilt Tierschützerinnen und Tierschützer
Unter anderem drangen sie mitten in der Nacht in einen Trutenstall ein, um dort angebliche Missstände zu dokumentieren. Nun hat das Bezirksgericht Laufenburg die mit Spannung erwarteten Urteile gegen mehrere Tierschützerinnen und Tierschützer gesprochen.
Hans Christof Wagner
7500 Franken waren das Ziel. Mehr als 11’000 Franken sind es aktuell schon. Auf der Crowdfunding-Plattform «GoFundMe» sammelt die aus dem Fricktal stammende Annina Adler Geld ein. Geld, das sie zur Finanzierung ihrer Kosten braucht.
Es sind Kosten, die ihr aus einem Strafverfahren vor dem Bezirksgericht Laufenburg erwachsen sind: mehr als 2600 Franken Gerichtsgebühren, 2500 Franken Anwaltskosten und die Verbindungsbusse in Höhe von 1000 Franken. «Ich befinde mich noch in Ausbildung und verfüge nur über ein geringes Einkommen», schreibt sie.
Adler ist Tierschützerin und war mit Anja Glivar im Juni 2020 in einen Fricktaler Trutenstall eingedrungen, um darin, wie beide vorbrachten, Missstände zu dokumentieren und an die Öffentlichkeit zu bringen.
Für das ist sie jetzt wegen mehrfachem Hausfriedensbruch und Nötigung zu einer bedingten Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu 40 Franken und eben zu 1000 Franken Busse verurteilt worden,
Ihre Prozesse hatten im März in Laufenburg für Aufsehen gesorgt. Neben Adler hatten auch Glivar und Robert Rauschmeier da ihre Verhandlungen – begleitet von Tierschutzdemonstrationen vor dem Gerichtsgebäude. Aber Bezirksgerichtspräsident Beat Ackle hatte mit den Urteilen abgewartet, bis Ende Mai noch das letzte Verfahren in einer ganzen Verfahrensserie über die Bühne gegangen war.
Ausstandsbegehren gegen Bezirksrichter abgewiesen
Jetzt liegen die Urteile – auch nachdem ein gegen Ackle vor dem Obergericht Aargau hängiges Ausstandsbegehren abgewiesen worden ist – vor.
Und Ackle hat keinen der beschuldigten Tierschützerinnen und Tierschützer, wie diese erhofften, vollumfänglich freigesprochen. Schuldsprüche gab es bei allen. Aber zumindest sprach er Adler, Glivar und Rauschmeier vom Vorwurf der Tierquälerei frei. Die Staatsanwaltschaft Rheinfelden-Laufenburg hatte diese gesehen mit dem Argument, dass die Aktionen die Tiere gestresst hätten.
Ackle verurteilte Glivar aber wegen Hausfriedensbruch, Verleumdung, Nötigung und Störung der Glaubens- und Kultusfreiheit – letzteres für die Aktion in einer Zürcher Kirchgemeinde, an der sie auch beteiligt war. Ihre Geldstrafe beträgt 180 Tagessätze zu 30 Franken. Zudem muss sie 1350 Franken Busse zahlen. Gegen Rauschmeier verhängte Ackle eine Busse über 3875 Franken und Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu 150 Franken.
Glivar war neben dem Eindringen in den Fricktaler Trutenstall auch wegen einer Aktion im Kanton Schaffhausen beschuldigt. Dort hatte eine sechzigköpfige Tierschützergruppe, zu der sie und Rauschmeier auch gehörten, den Hof eines Schweinehalters aufgesucht.
Besonders wurmt es Rauschmeier, dass er, Glivar und ein weiterer Beschuldigter dem Bauern eine Genugtuung von 5000 Franken und zudem dessen Parteikosten von fast 9500 Franken zahlen sollen. «Ein System finanziell zu unterstützen, das auf Tierausbeutung und Tiertötung fusst, ist aus ethischer Sicht abzulehnen», sagt er.
Dabei haben er und Glivar selbst auch noch je vierstellige Verfahrens- und Prozesskosten am Hals. Bei einem vollumfänglichen Freispruch hätte diese die Staatskasse übernommen.
Aktivistinnen und Aktivisten überlegen sich Berufung
Doch diesen gab es nicht. Auch wenn das Gericht im Verhalten und den Motiven vieles für legitim hielt, so heisst es in der Urteilsbegründung dennoch: «Nicht alles, was legitim ist oder erscheint, ist auch legal.»
Ob die Beschuldigten das Urteil akzeptieren werden, ist offen. Rauschmeier sagt: «Ich bin im Gespräch mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten. Wir sind am Ausarbeiten, ob wir Berufung einlegen können.»
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/fricktal/laufenburg-nicht-alles-was-legitim-ist-oder-erscheint-ist-auch-legal-bezirksgericht-verurteilt-tierschuetzerinnen-und-tierschuetzer-ld.2482365)
+++KNAST
Häftlinge in Bellechasse prangern ihre Haftbedingungen an
Sie unterzeichneten eine Petition und traten am Donnerstag in den Streik. Die Behörden bezeichnen die Beschwerden als “routinemässig”.
https://frapp.ch/de/articles/stories/haftlinge-in-bellechasse-prangern-ihre-haftbedingungen-an
+++BIG BROTHER
derbund.ch 01.07.2023
Nach diversen Vorfällen: Der Bund will zwanzig Kameras am Bundeshaus installieren
Das Bundesamt für Polizei plant, die Sicherheitslücken beim Bundeshaus mit Überwachungskameras zu schliessen. Im linken Bern sind diese nicht gern gesehen.
Jana Kehl
Diese Baupublikation ist brisant: «Installation von Überwachungskameras gemäss den aufgelegten Plänen», hiess es am Mittwoch im «Anzeiger der Region Bern». Das Bundesamt für Bauten und Logistik (BBL) hat das Vorhaben eingereicht. Dieses sieht vor, die Kameraüberwachung rund um das Bundeshaus massiv auszubauen.
Weder das BBL noch das inhaltlich zuständige Bundesamt für Polizei (Fedpol) geben auf Anfrage bekannt, wie viele Kameras derzeit im Einsatz stehen. Ein Blick in die gesamten Auflageakten des Baugesuchs zeigt aber das Ausmass der Sicherheitsoffensive: Rund zwanzig neue Überwachungskameras sollen ab August rund um das Bundeshaus, die Bundesterrasse und den Bernerhof installiert werden. Als Begründung steht im Gesuch: «Um der aktuellen sicherheitspolitischen Situation Rechnung zu tragen, ist der Überwachungsumfang zu erweitern und an die heutigen Bedürfnisse anzupassen.»
Überraschend kommt der Plan, zusätzliche Videokameras zu installieren, nicht. Die Sicherheit des Bundeshauses wurde in den vergangenen Monaten wiederholt zum Politikum.
Mängel bei der Sicherheit
National- und Ständeräte kritisierten das mangelnde Sicherheitsdispositiv bereits Mitte Februar, als ein Walliser in Tarnuniform das Bundeshaus durch den Hintereingang betreten wollte. Wegen eines Bombenalarms musste das Parlamentsgebäude darauf in einem Grosseinsatz evakuiert werden.
Zudem schaffte es im Mai ein Jugendlicher, unbemerkt auf das Dach des Bundeshauses zu klettern und Sicherheitspersonal und Überwachungskameras zu umgehen. Dieser Vorfall warf die Grundsatzfrage auf: Ist das Parlamentsgebäude ausreichend geschützt, wenn ein 18-Jähriger es unbehelligt besteigen kann?
Abklärungen seien im Gang, hiess es bei Fedpol und Parlamentsdiensten nach diesem Vorfall. Dabei haben die Behörden offenbar Mängel festgestellt: «Das Fedpol hat die Abdeckung der Kameraüberwachung im Bereich Bundesmeile, Bundesgasse und das Postkontrollgebäude unterhalb der Bundesterrasse überprüft und Überwachungslücken festgestellt», heisst es im Baugesuch. Weiter wird darin betont: «Namentlich das Beklettern der Fassaden in den Bereichen der Balkone entlang der Bundesterrasse ist neu zu überwachen.»
Widerstand gegen Kameras
In der rot-grünen Stadt Bern haben Pläne für die Installation von Videokameras einen schweren Stand. Das Thema sorgt gelegentlich für hitzige Debatten. Will die Stadt auf öffentlichem Grund oder an ihren öffentlichen Gebäuden Videokameras installieren, muss dies gemäss dem städtischen Videoreglement vom Stadtrat bewilligt werden. Bisher wurde noch keine Videokamera bewilligt.
Der Gemeinderat hat sich auch gegen die Revision des kantonalen Polizeigesetzes ausgesprochen. Dieses sieht vor, dass der Kanton an exponierten Orten ohne Zustimmung der Gemeinde Kameras installieren kann. Kritiker sehen im Vorschlag ein Manöver des Kantons, damit dieser beispielsweise auf dem Areal der Schützenmatte, wo sich die Reitschule befindet, Kameras installieren kann.
Gemäss dem Geoportal des Kantons Bern sind an kantonalen Gebäuden in der Berner Innenstadt an vier Standorten Überwachungskameras angebracht. Dagegen gibt es kein Register, wo sich private Kameras befinden, die unter Umständen auch den öffentlichen Raum filmen.
So hatte beispielsweise das Hotel Schweizerhof Überwachungskameras an der Aussenfassade installiert. Als 2018 bekannt wurde, dass die illegalen Aufnahmen dem bernischen Obergericht dazu dienten, die Teilnehmenden einer unbewilligten Demonstration zu identifizieren, schlug der Fall grosse Wellen. Mittlerweile sind die Kameras entfernt worden.
Auch die Videoüberwachung am Gebäude der chinesischen Botschaft sorgte für Unmut, da nicht nur das eigene Grundstück, sondern auch der angrenzende Fussweg im Visier stand. Der Eidgenössische Datenschutzbeauftragte betonte, dies greife «empfindlich in die Privatsphäre der von den Kameras erfassten Personen» ein. Dies war aber bisher kein Anlass für die chinesische Botschaft, die Videokamera zu entfernen.
Ob die Stadt Bern nun zwanzig neue Videokameras um das Bundeshaus ohne Wenn und Aber toleriert, bleibt abzuwarten. Die Einsprachefrist läuft bis am 28. Juli.
(https://www.derbund.ch/der-bund-will-zwanzig-kameras-am-bundeshaus-installieren-807081363663)
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nzz.ch 01.07.2023
Wie sich Überwachungskameras und Gesichtserkennung in der Schweiz ausbreiten – werden wir in Zukunft alle gescannt?
Gesichtserkennung in Echtzeit ist in der Schweiz bis anhin ein absolutes Tabu. Doch die Befürchtung wächst, dass sich diese Technologie schleichend etablieren könnte. In verschiedenen Städten und Kantonen wird deshalb ein konsequentes Verbot gefordert.
Daniel Gerny
Mehrere hunderttausend Menschen feierten im Mai in London die Krönung von Charles zum König. Es war die wohl grösste europäische Massenveranstaltung dieses Jahres. Alleine für die Sicherheit wurden über 150 Millionen Franken ausgegeben. Die Polizei griff dabei auch zu einem ungewöhnlichen Mittel: Neuralgische Orte wie die Gegenden rund um den Buckingham Palace oder die Westminster Abbey wurden mit intelligenten Kameras abgesucht, um Gesichter in Echtzeit mit einer Liste von verurteilten Verbrechern und Terroristen abzugleichen.
Kritiker sprachen von der grössten Gesichtserkennungs-Operation in der Geschichte Englands. Sie warnten vor der Überwachung von Tausenden unbescholtener Bürgerinnen und Bürger. Die Polizei versicherte zwar, das System nicht zur Überwachung von Demonstrationen einzusetzen. Doch das Beispiel zeigt, wie gross die Bereitschaft bei den britischen Sicherheitsbehörden ist, die Technologie zu präventivpolizeilichen Zwecken – also noch bevor sich eine Straftat ereignet hat – anzuwenden. Schon vor drei Jahren kündigte die Londoner Polizei erstmals an, künftig vermehrt auf Live-Gesichtserkennung zu setzen.
Gibt es einen Treffer, schlägt das System Alarm
Solche Systeme können die biometrischen Daten eines Gesichtes fortlaufend und ohne Verzögerung mit Profilen aus einer Datenbank abgleichen. Dort können beispielsweise biometrische Informationen von Personen gespeichert sein, die bereits einmal verurteilt wurden oder in ein Strafverfahren involviert waren. Gibt es einen Treffer, schlägt das System Alarm. Theoretisch lassen sich Bilder auch mit sozialen Netzwerken abgleichen, um Personen auf diese Weise umgehend zu identifizieren. In China ist dies längst selbstverständlich.
Herkömmliche Videoüberwachung, wie sie in der Schweiz praktiziert wird, geht wesentlich weniger weit. Hier beobachtet Sicherheitspersonal Monitoren, damit es im Notfall eingreifen kann – beispielsweise wenn es in einem Parkhaus zu einem Übergriff kommt.
Häufig werden die Sequenzen sogar nur aufgezeichnet, um nach einem Vorkommnis Sachverhalte besser rekonstruieren und Personen einfacher finden zu können. Automatische Gesichtserkennung in Echtzeit wie bei der Krönung in England gibt es bei uns hingegen nicht. Doch ist es denkbar, dass die Schweiz dem Beispiel von England bald folgen könnte?
Bereits bei der Installierung von herkömmlichen Kameras im öffentlichen Raum nahm England während Jahren eine Pionierrolle ein. Schon Mitte der 1980er Jahre begannen englische Städte Kameras zu installieren, um öffentliche Plätze und Strassen sicherer zu machen.
Eine Million Kameras alleine in London
Das Beispiel der südenglischen Stadt Bournemouth zeigt, wie hoch das Tempo damals war: 1985 wurden dort die ersten 18 Kameras installiert, 14 Jahre später waren es bereits über 400. In der Zwischenzeit ist die Zahl der Kameras praktisch überall im Land explodiert. Fast eine Million private und öffentliche Überwachungskameras gibt es heute gemäss einer Studie alleine in London.
Die Schweiz dagegen zögert lange. Mitte der 1980er Jahre verwarf das Stimmvolk im Kanton St. Gallen beispielsweise eine Vorlage für eine zentrale Verkehrssteuerung. Zum Verhängnis wurde ihr, dass Cafés und Bars im Sichtbereich von Videokameras lagen und die Angst vor Überwachung zu gross war. An dieser Skepsis hat sich lange wenig geändert.
Noch 1998 meldete der Berner Datenschützer schwerwiegende Bedenken, als in Biel die Installation von Kameras im öffentlichen Raum geprüft wurde. Inzwischen hat unser Land aber englische Verhältnisse: An vielen Orten sind Kameras selbstverständlich geworden, vor allem im öffentlichen Verkehr. Alleine die SBB betreiben in ihren Zügen und Bahnhöfen über 24 000 Geräte.
Die Entwicklung ist sogar schon einen Schritt weiter. Auch Gesichtserkennungssoftware wird mehr und mehr zur Realität: Kürzlich hat der Bundesrat beschlossen, das System zum Abgleich von Finger- und Handflächenabdrücken (Afis) um ein Modul für den Gesichtsabgleich zu ergänzen. Ab 2026 wird es damit möglich, Aufnahmen von Überwachungskameras – etwa von einem Banküberfall – nachträglich mit den Afis-Daten automatisiert abzugleichen.
Mehrere Kantone setzen auf ähnliche Systeme. Die Kantonspolizei St. Gallen hat seit 2021 eine Software in Betrieb, mit der Bild- und Videodaten in kürzester Zeit ausgewertet werden können. Wird ein Bankräuber beim Überfall von der Überwachungskamera aufgenommen, kann dieses Bild mit Fotos von Personen abgeglichen werden, die im Rahmen früherer Strafverfahren erkennungsdienstlich erfasst wurden und sich in der entsprechenden kantonalen Datenbank befinden.
Mit intelligenten Kameras auf Hooligan-Jagd
Bei nachträglicher Gesichtserkennung wird nicht in Echtzeit überwacht. Doch die Befürchtung, dass die Entwicklung genau in diese Richtung geht, wächst. Tatsächlich gibt es einige Anzeichen, dass solche Systeme an Bedeutung gewinnen. Vor allem in ausserordentlichen Situationen werden sie interessant. Es ist kein Zufall, dass ein Startup während der Corona-Pandemie vorgeschlagen hat, per Gesichtserkennung Covid-Zertifikate zu überprüfen.
Im Kanton Wallis wurde vor einigen Jahren erwogen, an den Eingängen zum Stadion des FC Sion Kameras zu installieren, um Hooligans beim Betreten der Arena zu erkennen und aussortieren zu können. Und erste Stimmen aus der Politik fordern inzwischen, dass die Polizei mehr Möglichkeiten zur Nutzung von Gesichtserkennung haben und beispielsweise auch Social Media durchsuchen können sollte.
Auch ausserhalb der Schweiz nimmt die Debatte Fahrt auf: Ein EU-Verordnungsentwurf über die künstliche Intelligenz soll solche Live-Scans zwar verbieten – allerdings nur im Grundsatz. Vorgesehen sind Ausnahmen unter strengen Auflagen. So zum Beispiel für die gezielte Suche nach vermissten Kindern oder wenn es darum geht, einen unmittelbar bevorstehenden Terroranschlag zu vereiteln.
Tatsächlich scheint es schwer nachvollziehbar, auf solche Möglichkeiten komplett zu verzichten: Viele Leute würden es begrüssen, wenn mittels Gesichtserkennungssystemen vermisste Personen aufgefunden oder Serienmorde vor der nächsten Tat aufgeklärt werden könnten. Doch die Grenze zur Massenüberwachung ist fliessend. Was wäre beispielsweise, wenn es nur um Raub ginge? Um einen Autodiebstahl? Oder darum, Teilnehmer einer unbewilligten Demonstration oder Personen, die illegal Abfall entsorgen, identifizieren zu können?
In mehreren Stadt- und Kantonalparlamenten werden vor diesem Hintergrund inzwischen Verbote von automatischer Gesichtserkennung im öffentlichen Raum diskutiert – so zum Beispiel in Winterthur, St. Gallen, Basel-Stadt, Zürich oder Lausanne. Ein Bündnis aus verschiedenen, mehrheitlich linken Organisationen strebt unter dem Motto «Gesichtserkennung stoppen» sogar ein konsequentes Verbot im Bund, in den Kantonen und in den Gemeinden an. Es bestehe die Gefahr, dass schon bald nicht nur Schwerverbrecher erfasst würden, sondern die gesamte Bevölkerung ins Visier gerate. Das sei mit den Grundrechten nicht vereinbar.
Eine Trefferquote von unter 90 Prozent
Zudem bezeichnen die Gegner von Gesichtserkennungssoftware die Systeme als fehleranfällig. So lieferte ein Versuch an einem Berliner Bahnhof, bei dem die Bilder von 300 Testpersonen laufend mit Live-Aufnahmen von Kameras verglichen wurden, vor einigen Jahren eine Erfolgsquote von deutlich unter 90 Prozent. Das System vermeldete viel zu viele Treffer, die sich im Nachhinein als falsch erwiesen. Schwarze und Frauen werden besonders oft fälschlich identifiziert und verdächtigt.
Die Technologie ist noch zu wenig weit entwickelt – und die Bedenken sind grösser als die Hoffnungen. An vielen Orten in Europa sind Pläne und Versuche mit automatisierter Gesichtserkennung nach harscher Kritik wieder aufgegeben worden. Die Wahrscheinlichkeit ist deshalb gering, dass die automatische Echtzeit-Gesichtserkennung in der Schweiz bald eingeführt wird. Sie ist nirgendwo geplant – und es gibt dafür keine gesetzliche Grundlage. Doch die Erfahrungen beim Ausbau der herkömmlichen Videoüberwachung haben es gezeigt: Dass sich in den nächsten Jahren auch in der Schweiz Ermittlungsmethoden etablieren könnten, von denen heute noch kaum jemand etwas wissen will, ist keineswegs ausgeschlossen.
(https://www.nzz.ch/schweiz/wie-sich-ueberwachungskameras-und-gesichtserkennung-in-der-schweiz-ausbreiten-werden-wir-in-zukunft-alle-gescannt-ld.1742148)
+++POLICE FRA
Krawalle in Frankreich – Eine Wut, die weit über den Tod des Jugendlichen hinausgeht
Die Zerstörungswut der Randalierer ist gross. Ein wiederkehrendes Problem, das die Spaltung der Gesellschaft zeigt.
https://www.srf.ch/news/international/krawalle-in-frankreich-eine-wut-die-weit-ueber-den-tod-des-jugendlichen-hinausgeht
+++POLIZEI INT
Im Namen der Sicherheit (1/2)Neue Demos, neue Polizeigewalt
Hochgerüstete Polizisten stehen wütenden, wehrlosen Menschenmassen gegenüber, die ihre Handys hochhalten, um alles aufzuzeichnen – der Krieg der Bilder in den sozialen Medien provoziert sowohl Polizei als auch Demonstranten. Diese Folge konzentriert sich auf die Polizei zur Bekämpfung von Aufständen mit Beispielen aus Frankreich, Deutschland und den USA.
Während der Gelbwestenproteste standen Demonstrierende in Paris erstmals gepanzerten Fahrzeugen gegenüber – ein Zeichen für die zunehmende Militarisierung der Polizei. Das Phänomen spiegelt Entwicklungen auf der ganzen Welt wider, so zum Beispiel bei Klimaschutzprotesten in Deutschland, Black-Lives-Matter-Demonstrationen in den USA oder den sozialen Unruhen der El-estallido-Bewegung in Chile.
Wie konnte aus der Kontrolle der Massen eine Art Krieg werden? Die Dokumentation, die im Laufe von drei Jahren entstand, geht dieser Frage nach. Sie zeigt gewaltsame Proteste in Frankreich, Deutschland und den USA sowie Interviews mit Verantwortlichen der Polizei. Dass der gesellschaftliche Protest zunehmend Züge von Konfrontationen annimmt, ist eine für die Freiheitsrechte bedrohliche Zuspitzung.
https://www.arte.tv/de/videos/101352-000-A/im-namen-der-sicherheit-1-2/
Im Namen der Sicherheit (2/2)Die neuen Waffen
Der Krieg der Bilder in den sozialen Medien provoziert sowohl Polizei als auch Demonstranten. Die zweite Folge der Doku dreht sich um die seit zehn Jahren allgegenwärtige Waffe des Gummigeschosses. Sie wurde zunächst im kolonialen Kontext und später im Nordirlandkonflikt verwendet. Mittlerweile wird sie gegen ganz normale Bürgerinnen und Bürger eingesetzt …
Gummigeschoss-Werfer sind auf der gesamten Welt das Mittel der Wahl, um Massen unter Kontrolle zu halten. Polizisten setzen sie dafür ein, auf Demonstrierende zu zielen und zu schießen, was lange Zeit undenkbar war. Die angeblich weniger tödlichen Waffen töten tatsächlich seltener – aber sie verstümmeln. Durch sie haben unzählige Demonstranten ein Auge verloren.
Die zweite Folge der Dokumentation dreht sich um die seit zehn Jahren allgegenwärtige Waffe. Diese wurde zunächst im kolonialen Kontext und später im Nordirlandkonflikt verwendet. Mittlerweile wird sie gegen ganz normale Bürgerinnen und Bürger eingesetzt. Wenn dabei Personen verletzt werden, ist oft unklar, wer geschossen hat. Auf der anderen Seite stehen Menschen mit Handys: Sie setzen ihre Videos als Beweismittel gegen die Verwendung von Gummigeschossen ein.
https://www.arte.tv/de/videos/111712-000-A/im-namen-der-sicherheit-2-2/
+++RECHTSPOPULISMUS
Gefängnisstrafen für Aktivisten: SVP-Politiker Mike Egger nennt «Klimakleber» «Terroristen» und fordert eine deutlich schärfere Bestrafung
Sie sorgen für mächtigen Ärger und schaffen es damit immer wieder in die Medien: die Klimaaktivisten. SVP-Nationalrat Mike Egger fordert eine härtere Bestrafung – vorerst erfolglos.
https://www.dieostschweiz.ch/artikel/svp-politiker-mike-egger-nennt-klimakleber-terroristen-und-fordert-eine-deutlich-schaerfere-bestrafung-rVVon4K
-> https://www.blick.ch/politik/bundesrat-will-klima-kleber-nicht-ins-gefaengnis-stecken-svp-egger-enttaeuscht-ich-bedaure-diese-haltung-id18714664.html
-> https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20233490
Chiesa ruft zum «politischen Widerstand» gegen Asylpolitik auf
Bei der SVP-Parteidelegiertenversammlung in Küssnacht hat Präsident Marco Chiesa zum «politischen Widerstand» gegen die Asylpolitik aufgerufen.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/chiesa-ruft-zum-politischen-widerstand-gegen-asylpolitik-auf-66534283
-> https://www.blick.ch/news/jetzt-ist-es-offiziell-svp-sagt-10-millionen-schweiz-den-kampf-an-id18714646.html
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/svp-mit-volksinitiative-gegen-10-millionen-schweiz?partId=12413866
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/bei-10-millionen-soll-schluss-sein-svp-lanciert-am-sonderparteitag-die-nachhaltigkeitsinitiative-152291639
-> https://www.telem1.ch/aktuell/grosse-kritik-die-svp-schweiz-kommt-schon-wieder-mit-einer-masseneinwanderungsinitiative-152291395
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/svp-delegiertenversammlung-sonderparteitag-zum-thema-migration?urn=urn:srf:video:4c508d3e-1ec5-4544-99af-82c139afacd0
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/211417/
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/svp-delegiertenversammlung-chiesa-krankes-asylsystem-und-volksinitiative-zur-einwanderung
-> https://www.derbund.ch/chiesa-ruft-zum-politischen-widerstand-gegen-asylpolitik-auf-150193073111
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nzz.ch 01.07.2023
Vier Maghrebiner in Marco Chiesas Garten
Für die Selbstversorgungsinitiative interessierte sich niemand, und Christoph Blochers Neutralitätsinitiative zieht auch nicht: Deshalb lanciert die SVP vier Monate vor den Wahlen wieder einmal eine Zuwanderungsinitiative.
Christina Neuhaus
Der Sonderparteitag der SVP hätte auch in Bülach oder Birsfelden stattfinden können, doch Küssnacht macht sich natürlich besser. Tell, Gessler, Walterli, «durch diese Hohle Gasse muss er kommen». Der Ort steht für eine Schweiz, die sich wehrt. Eine Schweiz, die für ihre Werte einsteht.
SVP-Parteitage laufen stets nach demselben Muster ab: Eine Musikkapelle spielt Lüpfiges, danach kommt der Schweizerpsalm, eine Lokalgrösse hält die Begrüssungsrede, das nationale Parteikader peitscht die Anwesenden durch die erste Hälfte des Themas des Tages, Mittagessen, weiter mit der zweiten Hälfte des Themas des Tages, Varia, allgemeiner Aufbruch.
Vor vier Jahren der radikale Islam, jetzt die Zuwanderung
Vor vier Jahren fand die grosse Wahlkampfauftakt-Delegiertenversammlung in Frauenfeld statt. Das Thema des Tages war der radikale Islam. Viele Reden drehten sich um den sogenannten «Hassprediger von Nidau», der damals das grosse Thema in den Zeitungen war. Die Vorträge waren sachlich, die Redner riefen dazu auf, nicht alle Muslime in denselben Topf zu werfen, worauf die Anwesenden zustimmend nickten, bevor sie beim Saalpersonal noch ein Halbeli bestellten.
Einen scharfen Ton schlugen nur Parteipräsident Albert Rösti und Nationalrat Walter Wobmann an. Wobmanns Egerkinger Komitee hatte soeben die Burka-Initiative lanciert, und Rösti musste von Amtes wegen giftig tun. Die SVP befand sich damals im Verteidigungsmodus. Die grosse Wahlsiegerin von 2015 hatte die Klimakrise nicht kommen sehen und auch sonst ein paar strategische Fehler gemacht.
Sie wusste, dass sie im Herbst 2019 ein paar Wählerprozente einbüssen sollte, und gab alles, um die Verluste so klein wie möglich zu halten. Am Wahlsonntag resultierte dann ein Minus von 3,8 Prozentpunkten: eine ziemliche Schlappe für die erfolgsgewohnte Partei.
Vier Jahre nach Frauenfeld präsentiert sich der stets verneinende Geist der SVP deutlich böser. Zum Wahlkampfthema macht die Partei die «völlig ausser Kontrolle geratene Zuwanderung», das «kranke Schweizer Asylwesen», die «vielen jungen Männer aus Afrika und dem arabischen Raum», die «hohe Kriminalitätsrate», die «Einwanderung in den Sozialstaat via Familiennachzug».
Die Parteigrössen geben alles: Den Auftakt macht Parteipräsident Marco Chiesa mit einer Rede gegen die «masslose Zuwanderung und ein gescheitertes Asylsystem, die unser Land zerstören». Auch für Chiesa gehört die Kunst des rhetorischen Giftträufelns zum Jobprofil. Der Tessiner sagt deshalb oft das, was ihm das Parteisekretariat zu sagen aufgetragen hat. Journalisten, die mit Chiesa ein Interview führen oder ihm ein Zitat abringen wollen, müssen damit rechnen, dass ihnen Parteisekretär Peter Keller oder Kommunikationschefin Andrea Sommer antwortet.
Am Freitag beantwortete Chiesa kritische Fragen der Tamedia-Zeitungen zu einem Schmäh-Tweet der SVP über einen Feldgottesdienst für muslimische Schweizer Soldaten in den exakt gleichen Worten, mit denen Keller Stunden zuvor die Fragen der NZZ beantwortet hatte: Die Schweiz sei ein christlich geprägtes Land, davon zeuge auch das Kreuz im Schweizer Wappen, ausserdem wolle man grundsätzlich keine schleichende Islamisierung des Landes.
Doch an diesem Samstag in Küssnacht wirkt Chiesa auffällig authentisch. Nachdem er auf Deutsch und Französisch die üblichen SVP-Stanzen von sich gegeben hat, springt er von der Bühne, um den Rest seiner Rede auf Italienisch zu halten. Sie gipfelt in einem furiosen «J’accuse»: Kürzlich hat er vier Maghrebiner aus einer Flüchtlingsunterkunft bei sich im Garten entdeckt. Auch hinter dem eigenen Gartenzaun ist man nicht mehr sicher.
Wer hat in der Partei eigentlich das Sagen?
Es war immer die grosse Stärke der SVP, Dinge auszusprechen, die sich andere Parteien nicht zu sagen trauten. So sprach sie das Thema Sozialhilfemissbrauch an, als die Behörden noch so taten, als gäbe es das nicht. Doch in den vergangenen Jahren hat sich einiges geändert. Seit sich Christoph Blocher immer mehr zurückzieht, ist unklar, wer in der Partei eigentlich das Sagen hat. Deshalb klingen an diesem Samstag alle Reden wie die sackgroben Medienmitteilungen und Online-Posts, die das Parteisekretariat auf sein Publikum loslässt: Das Schweizer Asylwesen ist kaputt, es kommen zu viele, es kommen die Falschen, und schuld sind Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider und die anderen «Saboteure im Bundeshaus».
Marcel Dettling tönt so, der Zürcher Ständeratskandidat Gregor Rutz, der Aargauer Scharfmacher Andreas Glarner und verschiedene Gemeindepolitiker tönen so, nur der Berner Regierungsrat Pierre Alain Schnegg tönt leicht anders. Ihm tun die vielen unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge leid, die in immer grösserer Zahl in die Schweiz einreisen. Von ihnen werde erwartet, dass sie möglichst bald viel Geld nach Hause schickten, obwohl sie gar nicht arbeiten dürften. Diese Jungen, sagt Schnegg, würden ausgenützt, unter aller Augen und auf Schweizer Boden. Das gebe ihm zu denken.
Die SVP hat bei den kantonalen Wahlen wieder leicht zugelegt und hofft darauf, im Herbst die Verluste von 2019 wenigstens zum Teil wieder auszugleichen. Erst versuchte sie es mit dem Thema Versorgungssicherheit, dann drängte Christoph Blocher seiner Partei eine Neutralitätsinitiative auf. Doch beide Themen erwiesen sich als politisches Senkblei, und die Zeit drängt.
Deshalb hat die SVP am Samstag auf ihre schon vor Monaten fertig gebastelte Zuwanderungsinitiative zurückgegriffen und diese mit grossem Pathos lanciert. Der Ausdruck «die Schweiz retten» war gefühlte hundert Mal zu hören. Das einstimmig verabschiedete Volksbegehren kommt zeitgeistig unter dem Titel Nachhaltigkeitsinitiative daher und will eine 10-Millionen-Schweiz verhindern.
Denn der Partei geht es nicht nur um das Schweizer Asylwesen. Es geht ihr – das wurde in den Reden deutlich – um Kinder, die auf dem Pausenplatz bosnisch reden, um Schweizer Soldaten, die es wagen, zu Beginn des muslimischen Opferfests an einem Feldgottesdienst teilzunehmen, um Zugewanderte und solche, die noch zuwandern wollen.
Wie sagt Tell in seinem Monolog? «Hier ist keine Heimat.»
(https://www.nzz.ch/schweiz/vier-maghrebiner-in-marco-chiesas-garten-ld.1745337)
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„Bernhard Diethelm und seine rechtsextremen Parteifreunde der SVP Schwyz Eine Recherche in das Tal des braunen Schreckens im Kanton Schwyz Er spricht von einer N****Ordnung, lobt verurteilte Holocaust-Leugner Aber er ist damit nicht alleine. Ein Thread“
https://twitter.com/maier_lotta/status/1675184980035530753
Linksextremismus-Aussteiger packt aus! | Wortwächsel 42 mit Adrian Oertli
In der heutigen Episode sprechen wir mit Adrian Oertli, seines Zeichens Experte für Extremismusprävention über seinen eigenen Ausstieg, Sekten, Kollektivismus und Individualismus und noch vielem mehr. Schaltet ein.
https://www.youtube.com/watch?v=yWkxhEr7fPg
+++HISTORY
hauptstadt.be 01.07.2023
Berner Showdown zwischen Juden und Drittem Reich
Vor 90 Jahren erhoben Juden in Bern Klage und erreichten damit, dass die antisemitischen «Protokolle der Weisen von Zion» zur Fälschung erklärt wurden. Trotzdem berufen sich Verschwörungstheoretiker*innen bis heute auf die Schriften.
Von Hannah Einhaus, 01. Juli 2023
Im grössten Saal des Berner Casinos sind am 14. Juni 1933 Hakenkreuzflaggen gehisst. Die Versammelten der Nationalen Front grüssen sich mit «Haruus» und emporgestrecktem rechtem Arm. Sie wollen, dass die Schweiz sich Hitlerdeutschland anschliesst. Auf dem Büchertisch liegen die «Protokolle der Weisen von Zion» auf, an die auch Adolf Hitler glaubt.
Eine Gruppe jüdischer Berner beobachtet den Anlass im Casino und nimmt ein Exemplar mit. In den «Protokollen» wird behauptet, Juden strebten die Weltherrschaft an, seien eine Bedrohung für die Menschheit und daher mit allen Mitteln zu bekämpfen.
Antisemit*innen beharren darauf, es handle sich um die Protokolle von 24 Ratssitzungen jüdischer Weiser, angeblich entstanden am ersten Zionistenkongress 1897 in Basel. «Das Judentum darf nicht länger unter uns geduldet werden», heisst es im Nachwort der umstrittenen Veröffentlichung. «Es ist eine Ehrenpflicht der gesitteten Nationen, dieses räudige Geschlecht auszuscheiden.»
Besonderheit im bernischen Strafrecht
Gegen diesen offenen Antisemitismus vorzugehen, ist zu jener Zeit praktisch unmöglich. Es gilt Redefreiheit, und die «Protokolle» sind seit Jahren in zahlreichen Ländern und Sprachen im Umlauf.
Doch ausgerechnet in Bern sieht der einheimische Staranwalt Boris Lifschitz eine Möglichkeit: Im bernischen Strafgesetz existiert ein Artikel gegen «Schundliteratur». Dieser richtet sich zwar vor allem gegen Porno-Geschichten, aber einen Versuch ist es wert. Die Israelitische Kultusgemeinde Bern (heute Jüdische Gemeinde Bern) reicht Ende Juni 1933 Klage gegen die rechtsextreme Nationale Front und den Bund Nationalsozialistischer Eidgenossen ein.
Internationales Interesse
Fünf Männer sind offiziell angeklagt, doch im Kern dreht sich der Prozess bis 1935 um die Frage: Sind die «Protokolle» tatsächlich ein Produkt von Geheimsitzungen eines mächtigen Zirkels von Juden, oder sind sie ein Pamphlet aus der antisemitischen Ecke, das dem Judentum Übermacht und Bösartigkeit nachweisen will?
Mit dieser Grundsatzfrage muss sich das Berner Regionalgericht auseinandersetzen. In der öffentlichen Wahrnehmung wird daraus ein Prozess zwischen Juden und Nazis auf Berner Boden.
Eine erste Verhandlungsrunde im November 1933 verläuft ergebnislos. Bis zur zweiten Verhandlung ab Ende Oktober 1934 haben die jüdischen Kläger fast 20 Zeugen aus Russland, Frankreich, Schweden, Rumänien, England, den Niederlanden und der Schweiz nach Bern eingeladen, damit diese über die Herkunft der «Protokolle» aussagen. Im grössten Gerichtssaal des Berner Amtshauses verfolgen über 200 Personen den Prozess, Journalisten der internationalen Presse stenografieren mit.
Carl A. Loosli als Experte
Entstanden seien die «Protokolle der Weisen von Zion» in den Pariser Büros des zaristischen Geheimdienstes Ochrana kurz vor 1900. Das geht aus den Zeugenaussagen hervor, die sich wie ein Puzzle zusammenfügen: Grosse Teile seien abgeschrieben worden aus dem Werk «Dialogue aux enfers entre Machiavel et Montesquieu» des Franzosen Maurice Joly, geschrieben 1864 gegen den Machthunger Napoleons III., nun aber auf Juden umgemünzt.
Nach 1901 seien die «Protokolle» nach Russland gelangt, wo sie bald der Anstiftung von Pogromen dienten. Der Zürcher Nationalrat David Farbstein und der Londoner Chemieprofessor Chaim Weizmann – später Israels erster Staatspräsident – sagen über den ersten Zionistenkongress in Basel von 1897 im Zeugenstand: Die Sitzungen hätten ausschliesslich der Errichtung einer jüdischen Heimstätte gedient. Und nicht einer jüdischen Weltherrschaft.
Der vom Gericht als Experte aufgebotene Publizist Carl A. Loosli – zur Beruhigung der Angeklagten ein «Arier» – kommt zu den gleichen Schlüssen wie die Kläger.
Der Experte der Angeklagten hingegen, ein Frontist aus den eigenen Reihen, bemüht sich nicht einmal darum, das Gegenteil zu beweisen. Ihm reicht es, an die «Protokolle» zu glauben. Der Nachweis ihrer Echtheit ist für ihn zweitrangig, der zunehmende Antisemitismus sei ihm Beleg genug.
Schliesslich erhalten die Angeklagten Schützenhilfe aus dem Dritten Reich, von Ulrich Fleischhauer, Leiter der NS-Propagandamaschine «Weltdienst». Für seine Expertise verzögern sich die Gerichtsverhandlungen bis Mai 1935.
Konfrontation vor Berner Gericht
Mit Fleischhauers Auftritt im Berner Amtshaus erhält der Prozess eine neue Dimension, er wird auch in Hitlerdeutschland aufmerksam verfolgt. Er ist nicht mehr ein Prozess zwischen einer Gruppe jüdischer Menschen und Berner Nazis, sondern wird zum Prozess zwischen den Juden und dem «Dritten Reich» schlechthin.
Während fünf Tagen breitet sich Fleischhauer über die «niedrigste Rasse» aus und fordert vor dem Berner Gericht die «totale, hundertprozentige Eliminierung der Juden, die nur durch ihre physische Vernichtung erreicht werden kann».
«Die Beklagten haben mit Schmutz um sich geworfen und das Gericht für boshafteste Hetze benutzt, aber auch nicht den Hauch eines Beweises erbracht», entgegnet Klägeranwalt Georges Brunschvig in seinem Plädoyer. «Färbt jüdisches Blut das Pflaster, so werden wir wieder hören, das ist die Schuld der Juden und nicht ihrer Mörder.»
Der Urteilsspruch
Dann, nach zweijährigem Prozess, kommt der Tag des Urteils: Am 14. Mai 1935 erklärt der Berner Gerichtspräsident Walter Meyer die «Protokolle» vor der Weltöffentlichkeit zur Schundliteratur. Allerdings spricht er nur zwei der fünf Angeklagten schuldig. Neben Bussen von 20 und 50 Franken müssen sie den grössten Teil der Staats- und Klägerkosten tragen. Die Verurteilten legen Berufung bei der nächsthöheren Instanz ein.
Das Obergericht sieht es anders als die Vorinstanz: Die «Protokolle» seien keine «Schundliteratur», urteilt es 1937 und spricht die verurteilten Nazis frei.
Das Obergericht bestätigt jedoch, dass die Frontisten die Echtheit der «Protokolle» nicht belegen konnten. Und es wirft die Frage auf, ob «absolut ungerechte Beschimpfungen und Besudelungen» unter dem Vorzeichen der Pressefreiheit zu tolerieren seien.
Im selben Jahr entwirft der Klägeranwalt Georges Brunschvig mit seiner Dissertation «Die Kollektiv-Ehrverletzung» eine erste Vorstufe der heutigen Antirassismus-Strafnorm.
Warum erinnern?
Der Berner Prozess ist weitgehend in Vergessenheit geraten. Die «Protokolle der Weisen von Zion» sind es aber keineswegs. Mehrfach sind seither antisemitische Werke in der Schweiz und weltweit erschienen, die sich an die «Protokolle» anlehnen – beispielsweise «Der Grosse Plan der Anonymen» in den Fünfzigerjahren, eine Übersetzung aus dem Englischen, herausgegeben von James Schwarzenbach, der später die Überfremdungs-Initiative lancierte.
Diese Weltverschwörungstheorie ist nach wie vor in zahlreichen Sprachen im Umlauf. Anstelle der «Juden» sind je nach Variation die «Zionisten» oder der «Mossad» am Schalthebel der Macht. Wieder Aufwind bekommen hat das Storytelling der Weltverschwörung kürzlich etwa bei Corona-Leugner*innen. Zwar bleibt das Wort «jüdisch» oft aus, doch die Legende hat antisemitische Wurzeln. Das hat der Berner Prozess vor 90 Jahren eigentlich geklärt, weshalb seine Bedeutung bis heute anhält.
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Die Autorin: Hannah Einhaus ist Journalistin und promovierte Historikerin. Sie hat über den Berner Anwalt Georges Brunschvig die Biografie «Für Recht und Würde» veröffentlicht.
(https://www.hauptstadt.be/a/berner-prozess)