Medienspiegel 30. Juni 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Kapazität ursprünglich bei 150: Über 500 unbegleitete minderjährige Asylsuchende im Kanton Bern
Eigentlich hatte die Stiftung «Zugang B» den Auftrag vom Kanton Bern, 150 unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) zu betreuen. Aktuell sind es aber über 500, um die sich die Stiftung kümmert. Die Kapazitäten mussten deswegen stark erhöht werden.
https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/ueber-500-unbegleitete-minderjaehrige-asylsuchende-im-kanton-bern-152268643


+++ZÜRICH
Asylprovisorium Seuzach nicht bewilligungsfähig
Die geplanten provisorischen Notunterkünfte für Asylsuchende in Seuzach können nicht rasch erstellt werden. Das Verwaltungsgericht spricht Beschwerden wieder aufschiebende Wirkung zu, da das Projekt so gar nicht bewilligungsfähig sei.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/asylprovisorium-seuzach-nicht-bewilligungsfaehig-00215672/
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/asylwesen-seuzachs-asyl-provisorium-laut-gericht-nicht-bewilligungsfaehig-ld.2482574


Blindenzentrum in Landschlacht wird zum Durchgangszentrum für bis zu 120 Asylsuchende
Die Peregrina-Stiftung wird das ehemalige Blindenzentrum Landschlacht für zwei Jahre als Durchgangsheim für Asylsuchende nutzen. Die Gemeinde wurde heute informiert und rechnet am Montag bei der geplanten Infoveranstaltung von Regierung und Stiftung mit einer aufgebrachten Bevölkerung und vielen Fragen. Die Stiftung indes atmet nach monatelangen Überbelegungen in den Heimen auf.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/blindenzentrum-in-landschlacht-wird-zum-durchgangszentrum-fuer-bis-zu-120-asylsuchende-00215692/


Polizei, Geschäftsbericht, AOZ
Der Zürcher Gemeinderat beschäftigte sich am Mittwoch kurz mit der Polizei und dem Geschäftsbericht 2022, hauptsächlich aber mit einem Bericht und mehreren Postulaten zur Asylorganisation Zürich.
https://www.pszeitung.ch/polizei-geschaeftsbericht-aoz/


+++SCHWEIZ
Kantone prüfen Nutzung von Zivilschutzanlagen durch den Bund zur Unterbringung von Asylsuchenden
Der Sonderstab Asyl (SONAS) hat an seiner Sitzung vom 29. Juni 2023 die nächsten Schritte zur rechtzeitigen Bereitstellung ausreichender Unterbringungsplätze für Asyl- und Schutzsuchende konkretisiert. Die Kantone prüfen hierzu, inwieweit sie dem Bund Zivilschutzanlagen vorübergehend für die Beherbergung von Asyl- und Schutzsuchenden abgeben können. Parallel dazu evaluiert die Armee, welche der bisher von ihr ans SEM abgetretenen Infrastrukturen weiterhin für die Unterbringung der Flüchtlinge nutzbar wären und welche Gebäude zusätzlich auch über das Jahr 2023 hinaus zur Verfügung stünden.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-96278.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/engpass-befuerchtet-kantone-pruefen-unterbringung-asylsuchender-in-zivilschutzanlagen
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/211387/



nzz.ch 30.06.2023

Ein Tabuthema der Asylpolitik verschwindet: Die Schweiz entdeckt ihre Zivilschutzanlagen neu

Bestehende Anlagen statt Container: Bund und Kantone fügen sich nach Standpauke des Ständerats.

David Biner, Bern

Für die zuständigen Behörden in den Kantonen wird es ein langer Sommer, vermutlich auch ein kühler. Bis Ende Ferien sollen sie geprüft haben, inwieweit sie dem Bund Zivilschutzanlagen für die Unterbringung von Asylsuchenden zur Verfügung stellen können. Welche Anlagen können innert welcher Frist und mit wie viel Aufwand bis im Frühherbst aktiviert und zumindest bis im kommenden Februar betrieben werden? Der Bund weiss lediglich, dass es gegenwärtig 1570 Zivilschutzanlagen gibt in der Schweiz.

Warum erst jetzt?

In welchem Zustand diese sich befinden und ob sie sich aufgrund der örtlichen Gegebenheiten überhaupt als Asylunterkünfte eignen, dazu habe man keine genaueren Angaben, teilt das Bundesamt für Bevölkerungsschutz (Babs) mit. Mit Blick auf die drohende Asylkrise – der Bund rechnet in diesem Jahr mit bis zu 40 000 Asylgesuchen – entdeckt die Schweiz in diesem Sommer somit ihre Zivilschutzanlagen neu. Und man ist, angesichts der seit längerem angespannten Lage, geneigt zu fragen: Warum eigentlich erst jetzt?

Die Landesregierung unter der Federführung von Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider hatte zuvor einen anderen Weg eingeschlagen. Die SP-Bundesrätin wollte mit vier provisorischen Containerdörfern 3000 neue Plätze schaffen und dafür vom Parlament einen Nachschuss von gut 132 Millionen Franken erhalten. Doch die kleine Kammer lehnte Baume-Schneiders Notfallkonzept ab, sagte gleich viermal Nein zum Nachtragskredit. Es brauchte eine störrische Mehrheit bürgerlicher Ständeräte, die den Bundesrat und die zuständigen Behörden daran erinnern musste, dass die Kapazitäten und die entsprechende Gesetzesgrundlage sehr wohl vorhanden sind. Und dass deren Ausschöpfung der eigentliche Plan A der Asylpolitik wäre, so die Standpauke des Ständerats.

So liegt seit 2016 eine Verordnung vor, die sowohl das Babs als auch das Staatssekretariat für Migration (SEM) dazu berechtigt, Schutzanlagen der Kantone und Gemeinden zu requirieren, wenn eine Notlage im Asylbereich vorliegt. Weder Simonetta Sommaruga noch Karin Keller-Sutter scheinen Baume-Schneider, ihre Nachfolgerin im Justizdepartement EJPD, darauf hingewiesen zu haben. Jedenfalls waren die Zivilschutzanlagen als Notunterkünfte seit Jahren ein absolutes Tabuthema im zuständigen Departement. Auch dass der Bund immer noch über keine Übersicht über die Anlagen verfügt, spricht für sich. «Zivilschutzunterkünfte, wie es von Seiten des Ständerats gewünscht wird, sind keine Option», schrieb der Sonderkrisenstab Asyl noch vor knapp drei Wochen.

Nun also der vom Ständerat erzwungene Paradigmenwechsel. Am Freitag meldete der Stab: «Die Kantone prüfen hierzu, inwieweit sie dem Bund Zivilschutzanlagen vorübergehend für die Beherbergung von Asyl- und Schutzsuchenden abgeben können.» Die Anlagen sollen sich «in einem mit vertretbarem Aufwand nutzbaren Zustand» befinden. Das SEM will die Nutzung den Kantonen zu den «ortsüblichen» Tarifen des Zivilschutzes vergüten. Die Kantone erhielten zudem für die zusätzlich zur Verfügung gestellten Plätze die «üblichen Kompensationen des Verteilschlüssels für Asylsuchende». Und für den Betrieb würde man «das bewährte Betriebskonzept» Bundesasylzentren samt Betreuungs- und Sicherheitsdienstleistern anwenden.

Auch die Armee lenkt ein

«Üblich», «bewährt» – zumindest in der Wortwahl der Medienmitteilung scheint der vom SEM koordinierte Krisenstab Asyl den Entscheid des Ständerats ohne Zähneknirschen hinzunehmen. Die vorzeitige Zuweisung der Asylsuchenden durch den Bund an die Kantone, das bis dato stärkste Drohargument der Behörden, wird nicht mehr bemüht. Und auch die Armee, die sich teilweise etwas ausgenutzt fühlte von den Asylbehörden, lenkt ein. Sie prüfe bis Mitte September, welche Truppenunterkünfte oder Hallen über das laufende Jahr hinaus verwendet werden könnten – unter Berücksichtigung der Erfüllung des eigenen Auftrags. Mit den gemeinsamen Bemühungen will der Bund mindestens 3000 neue Unterbringungsplätze schaffen. Das Geld für die Aktivierung der Anlagen steht bereit. Das Parlament hatte hierfür einen Nachtragskredit in der Höhe von 139,9 Millionen Franken beschlossen – ein Aspekt, der neben der Container-Debatte etwas unterging.
(https://www.nzz.ch/schweiz/tabuthema-der-asylpolitik-verschwindet-die-schweiz-entdeckt-ihre-zivilschutzanlagen-neu-ld.1745163)



Streit um Kosten: So stark belasten Asylsuchende das Gesundheitswesen
Lesezeit: 2 Minuten
Zum ersten Mal zeigen Zahlen, was die Gesundheit von Asylsuchenden kostet. Die Rechte kritisiert «Luxusmedizin», die Linke sieht keinen Handlungsbedarf.
https://www.beobachter.ch/migration/so-stark-belasten-asylsuchende-das-gesundheitswesen-613792


Gewalt und Missstände im kroatischen Asylsystem
Solidarité sans frontières und Droit de Rester, zwei Schweizer Flüchtlingsorganisationen, haben am 29. Juni 2023 einen Bericht über das kroatische Asylsystem veröffentlicht. Ihre Recherchen vor Ort decken sich mit den Erkenntnissen der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) über die Missstände und den menschenunwürdigen Umgang mit Geflüchteten in Kroatien.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/gewalt-und-missstaende-im-kroatischen-asylsystem


Elisabeth Baume-Schneider besucht in Polen und der Slowakei Hilfsprojekte für vor dem Krieg in der Ukraine geflüchtete Menschen
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider weilt am 5. und am 6. Juli auf Arbeitsbesuch in Polen und in der Slowakei, zwei Nachbarländer der Ukraine, die sehr viele Geflüchtete aufgenommen haben. Die Bundesrätin besucht mehrere Hilfsprojekte zugunsten ukrainischer Geflüchteter, die von der Schweiz mitfinanziert werden. Ausserdem trifft sie in beiden Ländern Amtskollegen für einen bilateralen Austausch.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-96298.html


Asyl-Zentren in Afrika: Wie realistisch sind die SVP-Pläne wirklich?
Die SVP fordert Asylzentren ausserhalb der EU – beispielsweise auf dem afrikanischen Kontinent. Die Flucht nach Europa soll so weniger attraktiv werden. Doch sind solche Zentren überhaupt realistisch?
https://www.blick.ch/politik/asyl-zentren-in-afrika-wie-realistisch-sind-die-svp-plaene-wirklich-id18713654.html


+++GRIECHENLAND
Griechenland: Ärzte ohne Grenzen fordert Rechenschaft für schweres Schiffsunglück
Nach dem schweren Schiffsunglück vor der griechischen Küste berichten Überlebende von traumatischen Erlebnissen. Ärzte ohne Grenzen fordert die Übernahme von Verantwortung für den tragischen Tod von bis zu 500 Menschen und kritisiert die Migrationspolitik der Europäischen Union.
https://www.aerzte-ohne-grenzen.at/artikel/griechenland-aerzte-ohne-grenzen-fordert-rechenschaft-fuer-schweres-schiffsunglueck


Illegale Pushbacks: Frontex-Chef erhöht den Druck auf griechische Regierung
Der Frontex-Grundrechtsbeauftragte empfiehlt der EU-Grenzschutzbehörde, nicht mehr mit der griechischen Küstenwache zusammenzuarbeiten. Zu eklatant sind die Rechtsbrüche in der Ägäis. Jetzt reagiert sein Chef – und bittet schriftlich um Aufklärung.
https://www.spiegel.de/ausland/frontex-chef-erhoeht-den-druck-auf-griechische-regierung-a-7f5cadd2-187a-47a9-a5f1-be11546d91c8


+++MITTELMEER
„Hinter Mauern“: Unsere Kälte
Das jüngste Bootsunglück im Mittelmeer war auch eine Folge der europäischen Flüchtlingspolitik. Zwei neue Bücher erklären, wie wir uns an das Sterben gewöhnen.
https://www.zeit.de/kultur/literatur/2023-06/hinter-mauern-geschlossene-grenzen-als-gefahr-fuer-die-offene-gesellschaft-buch-rezension/komplettansicht


+++EUROPA
Migrationspolitik am EU-Gipfel – Der Weg zur Umsetzung des EU-Asylkompromisses ist noch weit
Rund drei Wochen nach dem Asylkompromiss der EU-Innenminister ist der Streit bereits zurück auf der höchsten EU-Ebene.
https://www.srf.ch/news/international/migrationspolitik-am-eu-gipfel-der-weg-zur-umsetzung-des-eu-asylkompromisses-ist-noch-weit
-> https://www.deutschlandfunk.de/eu-gipfel-zeigt-dissens-beim-thema-asylpolitik-100.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eugipfel-streit-102.html
-> https://taz.de/Streit-ueber-EU-Asylpolitik/!5944427/
-> https://www.jungewelt.de/artikel/453828.gipfel-in-br%C3%BCssel-eu-zerstritten-%C3%BCber-asylpolitik.html


++++FREIRÄUME
ajour.ch 30.06.2023

Die Bieler Hausbesetzer haben schon den zweiten Räumungsbefehl erhalten

Eine neue Frist von Kanton und Polizei gibt dem Kollektiv Zeit bis Sonntag, um das Areal am Unteren Quai zu verlassen. In linken Kreisen können die Besetzenden auf viel Solidarität zählen.

Carmen Stalder

Schon mehr als drei Wochen sind vergangen, seit am 7. Juni ein Kollektiv leer stehende Gebäude am Unteren Quai 30 besetzt hat. Das Wohngebäude und die Holzbaracken gehören dem Kanton Bern. Dieser hat von Anfang an deutlich gemacht, dass die Besetzer unerwünscht sind. Ein erstes Ultimatum liess das Kollektiv verstreichen. Eine Reaktion des Kantons auf dieses Versäumnis blieb bisher aus.

Im Hintergrund arbeiten die Behörden aber durchaus an ihrem Ziel, die Besetzerinnen und Besetzer loszuwerden. «Das Dossier wurde inzwischen unserem Anwalt übergeben, der den Kanton in dieser Sache vertritt. Die nötigen Schritte für eine Räumung wurden eingeleitet», sagt Lorenz Held, Vorsteher des kantonalen Amtes für Grundstücke und Gebäude.

Die Kantonspolizei bestätigt, dass der Kanton unter anderem Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs gestellt hat. Entsprechend sei man aktiv geworden und habe am Mittwoch vor Ort eine Frist zum Verlassen des Gebäudes gesetzt. Diese läuft am Sonntagabend um 17.00 Uhr ab. Zu weiteren Details wie etwa einer allfälligen Räumung will sich Mediensprecherin Jolanda Egger nicht äussern. Dies «nicht zuletzt aus taktischen Gründen».

Laut Lorenz Held finden die schon länger laufenden Verhandlungen für eine Zwischennutzung durch einen Privaten weiter statt. Um wen es sich dabei handelt, ist jedoch nicht klar. Mit den Besetzern selbst habe der Kanton keinen direkten Kontakt. Man habe von Anfang an klargemacht, «dass nur verhandelt wird, wenn die Besetzer den legalen Zustand wiederherstellen und die Gebäude verlassen», so Held.

Chessu zeigt sich solidarisch

Das Kollektiv blieb in der Zwischenzeit nicht untätig. Anfang Woche rief es zu einer Demonstration vor der Stadtratssitzung am Mittwochabend auf. Rund 70 Personen folgten dem Aufruf und versammelten sich auf dem Rosius-Platz. Auf der Onlineplattform change.org hat das Kollektiv eine Petition lanciert, die zum Erhalt des «nicht kommerziellen Wohn- und Kulturraumes» aufruft. Bereits zählt die Petition mehr als 1000 Unterschriften.

Unterstützung gibt es auch von anderen Institutionen, darunter vom Verein Ensemble Stark. Der Chessu zeigt sich ebenfalls solidarisch: «Da sich das AJZ seit jeher für soziokulturelle Freiräume in Biel einsetzt, unterstützen wir auch das Kollektiv ‹L’Equipe›», heisst es in einem Instagram-Post. Beide verbinde die Vision einer lebendigen und vielfältigen Stadt.

Auf dem Areal am Unteren Quai haben gemäss Schreiben des Kollektivs schon mehrere Veranstaltungen, Konzerte und Ausstellungen stattgefunden. Über 800 Bielerinnen und Bieler hätten diese besucht. «Es war eine unglaubliche Solidarität vonseiten der Bevölkerung spürbar», schreiben die Besetzerinnen und Besetzer auf der Petitionsplattform.

Auf Instagram ruft das Kollektiv Interessierte dazu auf, sich mit Projekten und Ideen einzubringen, um den Ort zu beleben. Und macht dabei keinen Hehl daraus, dass die rechtliche Lage nicht gerade zu seinen Gunsten steht: «Wir sind räumungsbedroht», heisst es, es könne jederzeit zu einer Räumung und damit zu «Polizeikontakt» kommen.

Die Blockade auflösen

Derweil hat sich auch die Politik eingeschaltet. Am Mittwoch wurden gleich zwei Vorstösse im Zusammenhang mit dem Unteren Quai 30 eingereicht. 27 Stadtratsmitglieder, also fast die Hälfte des Parlaments, haben ein dringliches überparteiliches Postulat unterschrieben. Darin fordern sie den Gemeinderat auf, sich mit dem Kollektiv «L’Equipe» an einen Tisch zu setzen und seine Pläne anzuhören.

Weiter soll die Stadt den Kanton Bern im Rahmen des Zwischennutzungsreglements auffordern, die leer stehenden Gebäude zur Verfügung zu stellen. Zur Erinnerung: Das 2020 eingeführte Reglement besagt, dass leere Geschäftsräume nach drei Monaten und leere Wohnungen nach sechs Monaten der Stadt gemeldet werden müssen. Zudem heisst es im Postulat, dass die Stadt weitere Gebäude und Brachen für Zwischennutzungen freigeben oder dem Kollektiv «L’Equipe» als Alternativen vorschlagen soll.

Im Postulat argumentieren die Politikerinnen und Politiker, dass niemand Interesse daran habe, im Stadtzentrum Gebäude dem Verfall zu überlassen. Weil das Areal am Unteren Quai wenig direkte Anwohnerinnen und dafür einen grossen Garten habe, eigne es sich für ein Projekt, wie es sich das Kollektiv vorstelle. Mit dem vorliegenden Postulat wolle man die Blockade zwischen den Besetzenden, der Stadt und dem Kanton aufbrechen, heisst es.

Wurde die Meldepflicht verpasst?

Ein weiterer Vorstoss stammt von den Juso-Mitgliedern Fabio Oberle, Nina Schlup und Anna Louise Cacciabue. In einer dringlichen Interpellation thematisieren die drei die Meldepflicht für leer stehende Gebäude – und stellen infrage, ob diese Pflicht im Fall des Unteren Quais eingehalten worden ist.

Laut Aussagen des Kantons steht die fragliche Liegenschaft seit Januar leer. Aus diesem Grund habe man der Stadt noch keine Meldung darüber erteilt. Das Kollektiv stellt sich jedoch auf den Standpunkt, dass der Kanton zumindest die Parzelle mit den Holzbaracken hätte melden müssen. Schliesslich handle es sich dabei um Gewerberäume mit einer Meldefrist von drei Monaten.

Die Juso will vom Gemeinderat wissen, ob das Areal am Unteren Quai der Meldepflicht untersteht, ob der Kanton dieser nachgekommen ist und falls nicht, ob die Stadt juristisch gegen den Kanton vorgehen wird. Und dann treiben die Jungsozialistinnen und der Jungsozialist das Ganze auf die Spitze: Der Gemeinderat weigere sich aufgrund der illegalen Besetzung, mit dem Kollektiv in einen Dialog zu treten. «Wird er nun logischerweise auch jeden Dialog mit dem Kanton sistieren, da der Verstoss gegen die Meldepflicht auch gesetzeswidrig ist?», schreiben sie.

Einfach gesagt wollen sie also wissen, ob Biel den Austausch mit dem Kanton abgebrochen hat, weil sich dieser eventuell genauso illegal verhalten habe wie das Kollektiv. Eine zugegebenermassen kreative Überlegung – die bei den betroffenen Behörden aber wohl auf wenig Verständnis stossen dürfte.
(https://ajour.ch/de/story/110513/die-bieler-hausbesetzer-haben-schon-den-zweiten-r%C3%A4umungsbefehl-erhalten)


+++GASSE
solothurnerzeitung.ch 30.06.2023

Kampf geht in die dritte Runde: Gegnerschaft der Notschlafstelle in Olten ruft das Verwaltungsgericht an

Das kantonale Verwaltungsgericht hat als nächste Instanz zu entscheiden, ob die vorinstanzlich gutgeheissene Schaffung einer Notschlafstelle rechtens ist. Und falls ja, unter welchen Konditionen. Die Beschwerdeführer halten sich bedeckt.

Urs Huber

«Es ist selbstverständlich das Recht der Gegner, sich gegen das Projekt zu wehren.» Das meint Andreas Brun, Vorstandsmitglied des Vereins Schlafguet, als er über diese Zeitung von der Beschwerde an das Verwaltungsgericht erfährt. Aber er lässt auch keinen Zweifel daran, dass Schlafguet an seinem Ziel, der Schaffung einer Notschlafstelle an der Bleichmattstrasse 21 in Olten, festhalten wird.

Die beiden Vorinstanzen, die örtliche Baukommission sowie das kantonale Bau- und Justizdepartement hatten die Umnutzung der Liegenschaft gutgeheissen. Wenn auch vorerst nur befristet auf zwei Jahre, um Erfahrungen mit dem Tagesbetrieb der Einrichtung sammeln zu können. Schon nach dem Entscheid der Baukommission hatten rund 20 Parteien angekündigt, dagegen vorzugehen und in diesem Zusammenhang von einem «Nichtentscheid» gesprochen. Der nämlich lasse aus ihrer Sicht zu viele Fragen offen.

Eine kleine Retusche aus Solothurn

Das Bau- und Justizdepartement als zweite Instanz hatte den Entscheid der Baukommission gestützt, aber zusätzlich noch mit kleinen Auflagen ergänzt. Konkret ging’s dabei angeblich um Verbindlichkeiten bezüglich Pflege und Unterhalt der Umgebung. Und möglicherweise weiter um die Erstellung eines Erfahrungsberichts, auf dessen Grundlage später über den Weiterbetrieb der Notschlafstelle befunden werden soll.

Auflagen, mit denen der Verein Schlafguet gut leben kann, wie Brun zu verstehen gibt. «Es ist klar, dass wir als Verein alles daran setzen werden, einen möglichst reibungslosen Betrieb zu führen.» Ihm ist auch klar, dass die künftige Einrichtung unter steter und genauer Beobachtung stehen wird. Die beiden Entscheide sieht Brun aber im Grundsatz als Bestätigung dafür, dass der Betrieb einer Notschlafstelle an der Bleichmattstrasse durchaus rechtens ist.

Beschwerdeführer geben sich bedeckt

Die Beschwerdeführer halten sich derweil zurück, wollen über ihre Motive mit Hinweis auf das laufende Verfahren nicht reden. Durchgesickert ist allerdings, dass die Sammelbeschwerde ans Verwaltungsgericht von einem knappen Dutzend Parteien getragen wird. Eine beachtliche Zahl.

Und so darf spekuliert werden. Was treibt die Gegnerschaft weiter um? Schon früh in deren Argumentarium erschien: Die Zonenkonformität des Projekts Notschlafstelle wird bezweifelt. Die Liegenschaft Bleichmattstrasse 21 liegt in der Zone W2. Wie das städtische Zonenreglement dazu ausführt, sind dort neben Wohnbauten auch nicht störende Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe zugelassen. Zugelassen sind auch öffentlichen Zwecken dienende kleinere Bauten und Anlagen.

Denkbar auch, dass die Gegnerschaft sich Fragen stellt, unter welchen Bedingungen die befristete Umnutzung in eine definitive umgewandelt wird. Wird dafür ein neues Gesuch notwendig? Welche formalen Kriterien hat der Erfahrungsbericht zu erfüllen, um als aussagekräftige Grundlage zum Entscheid über den Weiterbetrieb der Notschlafstelle zu dienen? Wie lange wird die Dauer der Prüfungsphase sein? Ein Jahr, 18 Monate, zwei Jahre?

Seit 19 Monaten ein Thema

Vor gut anderthalb Jahren, im September 2021, war Schlafguet mit der Idee einer Notschlafstelle erstmals an die Öffentlichkeit getreten. «Ein Haus für Menschen in Not» sollte aus der Liegenschaft werden, titelte diese Zeitung damals. Dass diese wohl nicht unbestritten bleiben würde, zeigte sich schon damals. Rund 20 Anrainer waren an der Versammlung dabei.

Befürchtungen waren laut geworden: Der Betrieb bringe Lärm, verstärkt durch die Ringhörigkeit der Häuser. Dreck ebenfalls. Zudem sorge die Notschlafstelle für den Einzug des Milieus mit allen Nebeneffekten ins Wohnquartier. Das erklärt auch den seinerzeitigen Satz von Cyrill Jeger, dem Präsidenten der Stiftung «Raum für soziale Projekte in der Region Olten». Ihr nämlich gehört die Liegenschaft. Das Projekt werde abgebrochen, wenn sich dieses nicht nachbarschaftsverträglich umsetzen lasse.

Wann mit einem Entscheid des Verwaltungsgerichts zu rechnen ist, steht offen. «Wir sind bereit, das Projekt zu starten», sagt Brun. Er rechnet, bei aller Unsicherheit, mit einer Verzögerung von mindestens sechs Monaten.
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/olten/naechste-instanz-kampf-geht-in-die-dritte-runde-gegnerschaft-der-notschlafstelle-in-olten-ruft-das-verwaltungsgericht-an-ld.2481708)


+++POLIZEI ZH
Die Stadtpolizei stand für ihre Kommunikation nach dem Frauenstreik in der Kritik – nun hat sie auf Twitter reagiert
In den Tagen nach dem umstrittenen Einsatz am 14. Juni verteidigte sich die Stadtpolizei in den sozialen Medien mit Händen und Füssen. Inzwischen ist etwas Ruhe eingekehrt.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/zuerich-nach-einsatz-am-frauenstreik-kommt-die-stadtpolizei-in-erklaerungsnot-auf-twitter-hat-sie-bereits-reagiert-ld.2482477


Bezirksgericht Bülach verurteilt Polizisten wegen Amtsmissbrauchs
Eine Polizistin und ein Polizist der Kantonspolizei mussten sich wegen Amtsmissbrauchs vor dem Bezirksgericht Bülach verantworten.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/polizei-bezirksgericht-buelach-verurteilt-polizisten-wegen-amtsmissbrauchs-ld.2482362


+++POLICE FRA
Experte Gilbert Casasus zu Frankreich-Krawallen: «Jeder zweite Polizist hat rechtsradikale Ideen»
Der Tod des 17-jährigen Nahel hat das Pulverfass Frankreich zum explodieren gebracht. Seit Jahrzehnten gibt es in Frankreich und in den Banlieues Probleme. Die Polizisten seien aber mitschuldig, sagt Politikwissenschaftler Gilbert Casasus.
https://www.blick.ch/ausland/experte-gilbert-casasus-zu-krawallen-jeder-zweite-polizist-in-frankreich-hat-rechtsradikale-ideen-id18713733.html
-> 10vor10: https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/fokus-unruhen-in-frankreich-gehen-weiter?urn=urn:srf:video:4a7469da-805b-47a5-83ca-3fc0dd50db4d
-> https://www.srf.ch/news/international/krawalle-in-frankreich-gewaltausbruch-in-den-banlieues-ein-sturm-mit-vorgeschichte


Krawalle nach Tod von 17-Jährigem: Französische Polizeigewerkschaften bezeichnen Protestierende als «Schädlinge»
Nach dem Tod eines 17-Jährigen ist es in Frankreich zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen. Französische Polizeigewerkschaften sprechen von «wilden Horden» und «Krieg».
https://www.tagesanzeiger.ch/ab-21-uhr-soll-in-ganz-frankreich-die-oev-stillstehen-824765744885


+++RECHTSPOPULISMUS
Skandal-Sektion im Kanton Schwyz: Wie Diethelm der SVP Wägital den Stempel aufdrückt
Hitler-Post auf Facebook, Corona-Skepsis, und jetzt die Prostituierten-Vorwürfe: Bernhard Diethelm und die Skandal-Sektion SVP Wägital SZ geraten immer wieder in die Schlagzeile. Warum? Eine Spurensuche.
https://www.blick.ch/politik/skandal-sektion-im-kanton-schwyz-wie-diethelm-der-svp-waegital-den-stempel-aufdrueckt-id18709406.html


Beten Richtung Mekka: Hetzt da die SVP gegen Schweizer Soldaten?
Ein gutes Dutzend Männer im Tarnanzug beten Richtung Mekka. Und die SVP fragt: «Was kommt als Nächstes? Kinderehen, Scharia-Gerichte, Steinigungen?» Das sorgt für Ärger.
https://www.derbund.ch/hetzt-da-die-svp-gegen-schweizer-soldaten-469291244433


Anti-Rassismus-Kommission verurteilt Reaktion auf muslimisches Feldgebet: «Der Tweet der SVP ist rassistisch und hetzerisch»
Als Reaktion auf ein muslimisches Feldgebet hetzt die SVP in den sozialen Medien gegen Muslime. Die Anti-Rassismus-Kommission des Bundes verurteilt den Post aufs Schärfste.
https://www.blick.ch/politik/anti-rassismus-kommission-verurteilt-reaktion-auf-muslimisches-feldgebet-der-tweet-der-svp-ist-rassistisch-und-hetzerisch-id18713117.html



nzz.ch 30.06.2023

Schweizer Soldaten beten in Richtung Mekka: Das sagt der oberste Armeeseelsorger zur Kontroverse

In den sozialen Medien ist der Teufel los. Der Grund: Muslimische Armeeangehörige haben im Tarnanzug in Richtung Mekka gebetet. Samuel Schmid, Chef der Armeeseelsorge, ordnet ein.

Kari Kälin

Rund 20 Schweizer Armeeangehörige beugen sich anlässlich des Opferfestes Bayram in Richtung Mekka: Die Bilder sorgen in den sozialen Medien für helle Aufregung. Was ist passiert? Am vergangenen Mittwoch leitete Armeeseelsorger Muris Begovic ein muslimisches Feldgebet. Das Ritual fand in der Ostschweiz beim Gebirgsschützenbataillon 6 während einer Arbeitspause statt. Die SVP fragt auf Twitter, ob als Nächstes Scharia-Gerichte kommen, Nationalrat Andreas Glarner sieht die Armee «definitiv verloren».

Mitte-Präsident Gerhard Pfister hingegen schreibt: «Wenn diese Soldaten bereit sind, sich selbst und nötigenfalls sogar ihr Leben für die Verteidigung der Schweiz einzusetzen, dann dürfen sie von mir so viel beten wie sie wollen, zu wem auch immer.»

Und ein während des Gebets anwesender Offizier wirft der SVP Hetze vor.

    Dieser Gottdienst fand in meinem Battailon statt.

    Dementsprechend kenne ich die Kameraden und war auch live dabei.

    Im Gegensatz zu euch, die nur hetzen könnt, leisten meine Kameraden verantwortungsbewusst ihren Dienst für Heimat und Vaterland.

    Die Armee soll für alle da sein! https://t.co/sZ1vYkcmjq
    — Thomas Percy 🇨🇭🇺🇦🇪🇺🇺🇳 (@ThomasPercy95) June 29, 2023

Wie reagiert Samuel Schmid, 50, Chef Armeeseelsorge, auf die Kontroverse?

Samuel Schmid, wie beurteilen Sie das muslimische Feldgebet in der Schweizer Armee, das in die Schlagzeilen geraten ist?

Es ist etwas völlig Normales passiert. Armeeangehörige haben das Bedürfnis angemeldet, ihren Glauben auszuüben. Diesem Anliegen haben wir entsprochen. Die Armee pflegt seit Langem die Tradition, auf die Bedürfnisse der Gläubigen einzugehen. Das passiert zum Beispiel auch, wenn Katholiken einen Gottesdienst wünschen. Wichtig ist: Die Teilnahme an den religiösen Handlungen basiert immer auf Freiwilligkeit und erfolgt ausserhalb des ordentlichen Dienstbetriebs.

Haben Sie mit dieser öffentlichen Kontroverse gerechnet?

Armeeangehörige haben das Recht – sofern es der Dienstbetrieb zulässt – ihre Religion in einem geschützten Rahmen zu pflegen. Gebete sind Privatsache. Der Armee war es wichtig, dass dieses Gebet in einem würde- und respektvollen Rahmen stattfinden konnte. Dass das Bild mit den betenden Armeeangehörigen unterschiedliche Reaktionen hervorrufen würde, überrascht mich nicht. Meinungsvielfalt macht unsere Gesellschaft stark – wenn sie mit gegenseitigem Respekt verbunden ist. Mich haben die vielen positiven Rückmeldungen gefreut. Sie zeugen von Akzeptanz und Verständnis für religiöse Handlungen während des Militärdienstes.

Ist die Armee religiös neutral?

Ja, sie ist nicht konfessionell gefärbt. Wobei: Über allem steht die Bundesverfassung, in der es einen Gottesbezug gibt. In diesem erkennen wir religiöse Vielfalt als Ressource, die uns als Gesellschaft eint und nicht trennt. Sofern es der Dienstbetrieb erlaubt, dürfen Armeeangehörige ihre Rituale ausüben, im Sinne der Gleichbehandlung ungeachtet der Konfession.

Wie oft führen Armeeseelsorger Truppengottesdienste durch?

Wir führen keine Statistik. Aber wenn Armeeangehörige das Bedürfnis nach einem katholischen oder protestantischen Gottesdienst anmelden, organisieren wir das. Truppengottesdienst finden in verschiedener Form immer wieder statt. Gerade während der Coronapandemie stieg die Nachfrage.

Ist der Armeealltag mit religiösen Vorschriften vereinbar, zum Beispiel dem Fasten während des Ramadans oder dem täglichen Gebet?

Jeder Armeeangehörige kann seine Religion ausleben, wenn es mit dem Dienstbetrieb vereinbar ist. In der Praxis verläuft das reibungslos. Tauchen Fragen zu ganz konkreten Fällen auf, können Armeeseelsorger die betroffenen Armeeangehörigen und Kommandanten unterstützen. Viele Rekruten fasten während des Ramadans. In Ausnahmesituationen, zum Beispiel während einer körperlichen Anstrengung wie einem Marsch, ist das Aussetzen des Fastens aber zulässig. Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass wir auch einen Armeeseelsorger mit muslimischem Hintergrund haben, der solche Fragen klären kann.
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/armee-schweizer-soldaten-beten-in-richtung-mekka-das-sagt-der-oberste-armeeseelsorger-zur-kontroverse-ld.2482525)



nzz.ch 30.06.2023

«Unsere muslimischen Soldaten leisten gleich viel wie alle anderen»: Der freisinnige Atheist Thomas Percy wirft der SVP Hetze vor

Ein muslimisches Feldgebet in Vilters-Wangs erzürnt die rechtskonservative Schweiz. Thomas Percy, Vizepräsident der Umweltfreisinnigen St.Gallen, hat die Zeremonie miterlebt und verurteilt die Kritik, die aus SVP-Kreisen laut wird.

Seraina Hess

Er ist bekennender Atheist und hält seinen religiösen Militärkollegen aus dem Gebirgsschützenbataillon 6 trotzdem die Stange. Thomas Percy (27), Vizepräsident der Umweltfreisinnigen St.Gallen, leistete just in der Zeit seinen WK, als der muslimische Seelsorger Muris Begovic und ein gutes Dutzend Soldaten der Schweizer Armee am Mittwoch in Vilters-Wangs anlässlich des islamischen Opferfests Bayram den Gebetsteppich ausbreiteten.

Das Bild des etwas anderen Feldgebets sorgte in SVP-Kreisen für Aufruhr: So bezeichnet Nationalrat Andreas Glarner die Armee etwa als «definitiv verloren», die SVP Schweiz fragt: «Was kommt als Nächstes? Kinder-Ehen, Scharia-Gerichte, Steinigungen?»

Diese Reaktionen erstaunen Percy nicht – und doch verurteilt der Leutnant die Vorwürfe aufs Schärfste, wie er am Donnerstag auf Twitter durchblicken liess.

    Dieser Gottdienst fand in meinem Battailon statt.

    Dementsprechend kenne ich die Kameraden und war auch live dabei.

    Im Gegensatz zu euch, die nur hetzen könnt, leisten meine Kameraden verantwortungsbewusst ihren Dienst für Heimat und Vaterland.

    Die Armee soll für alle da sein! https://t.co/sZ1vYkcmjq
    — Thomas Percy 🇨🇭🇺🇦🇪🇺🇺🇳 (@ThomasPercy95) June 29, 2023

Thomas Percy, Sie haben das Gebet selbst miterlebt, schreiben Sie auf Twitter. Weshalb haben Sie an der Zeremonie teilgenommen?

Thomas Percy: Ich habe nicht teilgenommen, vielmehr beobachtete ich das Gebet aus der Ferne während einer Übung.

Waren Sie erstaunt ob Ihrer Beobachtung?

Nicht wirklich. Ich wusste, dass das Gebirgsschützenbataillon 6 sehr modern eingestellt ist und es inzwischen auch Seelsorger verschiedenster Glaubensrichtungen gibt. Ausserdem war es einfach ein Feldgebet, keine riesige Zeremonie, wie derzeit gern verbreitet wird. Was mir sofort bewusst war: Das gibt Ärger.

Ärger im Sinne von öffentlicher Kritik aus rechtskonservativen Kreisen?

Genau davon bin ich ausgegangen, obschon man uns gebeten hat, keine Fotos vom Gebet auf Social Media zu teilen, um Kritikern keinen Anlass zu geben.



Nach Mekka-Gebet: Sanija Ameti erzürnt – «wie integriert sind eigentlich diese SVPler?»
Jetzt meldet sich Sanija Ameti, Chefin der Operation Libero, zum Mekka-Gebet der Armee zu Wort und greift die FDP frontal an. Deren Präsident Thierry Burkart lässt das nicht auf sich sitzen.
https://www.20min.ch/story/sanija-ameti-erzuernt-wie-integriert-sind-eigentlich-diese-svpler-624117983921


+++RECHTSEXTREMISMUS
Zuger Regierung sieht keinen Handlungsbedarf – Rechtsextreme beim Morgartendenkmal: SP kritisiert Behörden
Rechtsradikale trafen sich im vergangenen November beim Morgartendenkmal in Oberägeri. Die SP wirft der Zuger Regierung Fahrlässigkeit und Leichtfertigkeit vor, weil die Behörden keinen Handlungsbedarf ausmachen.
https://www.zentralplus.ch/politik/rechtsextreme-beim-morgartendenkmal-sp-kritisiert-behoerden-2557846/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
ABO https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/nationalratswahlen-aufrecht-kandidiert-mit-millius-trappitsch-und-jetzer-die-staatsverdrossenen-geben-der-politik-eine-letzte-chance-ld.2482149


+++HISTORY
Von «Wilden» in wilden Zeiten: Ein Werk der Obertoggenburger Schriftstellerin Rea Brändle zum Thema Völkerschauen
Das umfassende Werk der im Jahr 2019 verstorbenen Autorin trägt den Titel «Wilde, sie sich hier sehen lassen» und dreht sich um die Zeit der Völkerschauen, Jahrmärkte und Schaustellerei im 18. und 19. Jahrhundert.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/toggenburg/literatur-von-wilden-in-wilden-zeiten-ein-werk-der-obertoggenburger-schriftstellerin-rea-braendle-zum-thema-voelkerschauen-ld.2480880



derbund.ch 30.06.2023

Tod in Adelboden – Teil 1: Der Tag, an dem die Polizei Martin M. erschoss

2020 tötet die Spezialeinheit Enzian einen Mann. Seither tut sich die Justiz schwer – musste es so weit kommen? Chronik einer Gewaltnacht.

Cedric Fröhlich, Quentin Schlapbach, Illustrationen: Karin Widmer

Martin M. hat die Fensterläden verrammelt, die Vorhänge zugezogen, alle Türen verschlossen. Ein letztes Mal hat er den Belagerungszustand verhängt, noch einmal die Welt ausgesperrt. In seinem Schlafzimmer ist es stockfinster.

M. – 44, dunkles Haar, ein kleiner, unscheinbarer Mann – befindet sich im Krieg gegen einen Feind, der in Wasserleitungen gurgelt und mit Rasenmähern röhrt, der bimmelt und blökt, knallt und lacht. Gegen einen Feind, der durch jede noch so dicke Mauer und in jedes Schlafzimmer findet. Gegen den Lärm.

Er floh vor ihm aus der Stadt in die Berge. Von Zürich bis nach Adelboden. Jeder Umzug ein Rückzugsgefecht, verbunden mit der Hoffnung, den Gegner in Schach zu halten. Jetzt steht er da, die Pistole in der Hand – Glock, Modell 19, 4. Generation.

Vor seiner Schlafzimmertür presst sich ein Kommando der Sondereinheit Enzian in den schmalen Korridor. Schwer bewaffnete Männer mit dunklen Schutzwesten und Helmen. Die Einsatzleitung hat entschieden: Die Zeit für Verhandlungen ist vorbei.

Mit einer Ramme donnern sie das Türschloss auf. Der erste Polizist drängt in den Raum, sieht M. und schreit: «Achtung Waffe! Waffe! Waffe! Waffe!» Er drückt ab. Zuerst nur einmal, dann vier weitere Male. Zwischen den fünf Schüssen lässt er seinen Schutzschild vornüberfallen.

Zwei Projektile verfehlen M. Eines durchbohrt M.s linken Oberschenkel und seinen Hodensack. Eines bleibt in seiner Brust stecken. Ein weiteres schlägt in seinem Hinterkopf ein.

Es ist der Abend des 21. Mai 2020, 19.58 Uhr. Die Meldung kommt über Funk: Tod der Zielperson. Der Staat hat Martin M. erschossen.

Der Fall Martin M.

In der Schweiz kommt es durchschnittlich zu 13 Tötungsdelikten mit einer Schusswaffe pro Jahr. Es sind rare, aber fundamentale Brüche im menschlichen Zusammenleben. Tötet ein Mensch einen anderen, so antwortet die Justiz in der Regel wuchtig, scheut sie weder Zeit noch Aufwand. Im Fall von Martin M. aber ist so vieles anders.

Mehr als drei Jahre sind seit den Schüssen in Adelboden vergangen. Weder der Schütze noch die beiden Einsatzleiter mussten sich bislang in einem Gerichtssaal rechtfertigen. Die Staatsanwaltschaft wollte das Verfahren gegen die drei Polizisten bereits einstellen.

Angehörige von Martin M. hatten sich gegen die Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft gewehrt und erhielten in praktisch allen Punkten recht. Auf 24 Seiten zerpflückte die Beschwerdekammer in Strafsachen des Berner Obergerichts die Argumentation der Staatsanwaltschaft, der zufolge der Zugriff, die fünf Schüsse, die tödliche Eskalation eindeutig verhältnismässig waren. Gestützt auf die Verfahrensakten und die Protokolle kritisierte das Gericht die Ermittlungen als unvollständig und zu unkritisch.

Danach passiert lange Zeit: nichts. Das macht den Fall Martin M. zu einem Exempel. Dafür, wie zaghaft die Schweizer Strafverfolgung vorgeht, wenn sie gegen ihre eigenen Leute ermitteln muss. Erst in diesen Tagen finden zum ersten Mal seit 2020 wieder Einvernahmen statt.

In einer zweiteiligen Serie rekonstruieren wir, wie es zum fatalen Einsatz der Sondereinheit Enzian kam. Und wie schwer sich die Strafverfolgungsbehörden bis heute damit tun, gegen ihre eigenen Leute zu ermitteln.
Die folgenden Schilderungen stützen sich auf anonymisierte Einvernahmeprotokolle der am Einsatz beteiligten Beamten, auf mehrere Hundert Seiten Akten und auf Gespräche mit Angehörigen und Bekannten von Martin M.

Für sämtliche Personen, über die wir in der Folge berichten, gilt die Unschuldsvermutung.

Flucht

Martin M. wächst in einer Gemeinde am linken Zürichseeufer auf. Er ist das mittlere von drei Geschwistern. Streiten sich die anderen zwei, vermittelt er. Seine eigenen Probleme trägt er derweil mit sich selbst aus. In sich gekehrt geht er durchs Leben, und lange wirkt er damit nicht unglücklich. Gleichzeitig erkennt niemand, was sich über all die Jahre in seinem Innern manifestiert, auftürmt, Bahn bricht.

Das menschliche Gehör ist Sensor und Filter zugleich, ein komplexes Miteinander von Gehörgang, Innenohr und Gehirn, das Schall in menschliche Empfindung übersetzt. Zugleich trennt es Wichtiges vom Unwichtigen: das Weinen des Kindes vom Rauschen der fernen Autobahn. Das gute Gespräch vom Geklapper von Messer und Gabel.

Martin M. schafft diese Differenzierungen irgendwann nicht mehr. In ihm vermischt sich alles zum Getöse.

M. lebt mit dem Asperger-Syndrom, einer autistischen Veranlagung, gepaart mit einer Hypersensibilität, einer ausgeprägten Lärmempfindlichkeit. Die Diagnose erhält er erst im Erwachsenenalter. Je älter er wird, umso schwerer fällt es ihm, zu unterscheiden: das Geflüster vom Schrei, das Rascheln vom Sturm.

Bevor die Krankheit in seinem Leben endgültig die Regie übernimmt, ist Martin M. ein kreativer Mensch. Er malt, schreibt und fotografiert. Er arbeitet in der kleinen IT-Bude seines jüngeren Bruders, entwickelt eine Software für Buchautoren, mit der sich Plot, Protagonisten, Dramaturgie büscheln lassen.

In dieser letzten, geregelten Arbeit spiegeln sich die Maximen des Martin M. wieder: Ordnung. Übersicht. Kontrolle. Mit diesen Werkzeugen hatte er sich eine Schallmauer gegen den Lärm dieser Welt gebaut. Als sie zu bröckeln beginnt, tritt M. zunächst einen geordneten Rückzug an.

Sein jüngerer Bruder fragt ihn: «Es gibt so viele schöne Orte in der Schweiz, was hält dich noch in dieser Stadt?» M. weiss darauf keine Antwort. Er verlässt Zürich und den Wohnblock, in dem er jahrelang gelebt hat. Die Wahl fällt auf Grindelwald. Er war immer gerne in der Natur, ging auf die Ski und auf Wanderungen.

Zugleich steigt er aus. M. löscht Mailkonten, tilgt seine Spuren aus dem Internet, schaltet den PC nur noch ein, wenn es eben nicht anders geht. Für den Moment scheint es, als fände er nach der Stadtflucht den Halt wieder. In Wahrheit schlittert er tiefer, tiefer, immer tiefer.

Auf Grindelwald folgen Frutigen, wo er eine Zeit lang bei einem Landwirt arbeitet, und mehrere Adressen in Adelboden. Seine Flucht wird immer erratischer. Von einer Wohnung in die nächste, ein unablässiges Aus- und wieder Zusammenpacken. Mal sind ihm die Geissen im Pferch nebenan zu laut, mal die Gäste in der Ferienwohnung eine Etage höher. Er dreht Warmwasserleitungen ab, beschwert sich bei Vermieterinnen, er hadert, zetert und schläft kaum noch.

Für den Einkauf im Dorf trägt er einen Gehörschutz und zu Hause Noise-Cancelling-Kopfhörer. Sein Leiden macht ihn zum IV-Fall, er begibt sich immer mal wieder in Behandlung. Und doch zeigt er seine tiefe Verzweiflung nur ganz wenigen.

«Es war ihm einfach nicht wohl auf dieser Welt», sagt jemand, der ihm in diesen letzten Jahren eine Stütze ist. Flüchtigen Bekannten bleibt er ein Mysterium.

M. erzählt niemandem von der Pistole. Wie er den Waffenschein macht, die Glock legal erwirbt. Womöglich hält er die Niederlage gegen den Lärm irgendwann für gewiss. Was ihm an Kontrolle bleibt, beschränkt sich auf die Art der Kapitulation. Im Krieg entscheidet der Verlierer, wie lange gekämpft wird.

Suiziddrohung

Der 21. Mai 2020 ist ein Donnerstag. In Adelboden hat der Frühling Einzug gehalten, und auf der lokalen Polizeistation hat nur ein Beamter Dienst, als um 15 Uhr das Telefon läutet. Am Apparat ist eine Frau. Sie hat Angst vor Martin M.

Der Hörnliweg liegt in den nordöstlichen Ausläufern des Dorfes – vortreffliche Lage, Chalet an Chalet, eine scharfe Kurve zum Ende hin. Hier wohnt Martin M. – noch. An diesem Nachmittag steht er einmal mehr zwischen Umzugskartons und packt. Ihn zieht es auf die gegenüberliegende Talseite. In ein Häuschen im Abseits, wo kein Bus verkehrt und es keine Nachbarn gibt. Vor wenigen Stunden hat er den Mietvertrag unterzeichnet und die Schlüssel entgegengenommen. Er soll fahrig gewirkt haben, aber nicht wie einer, der im Begriff ist, ausser Kontrolle zu geraten.

Zurück am Hörnliweg holen ihn seine Dämonen ein. Er poltert und schreit, drischt auf irgendetwas ein. Was ihn derart in Rage versetzt – ob banaler Umzugsstress oder der Wahn –, darauf wird es nie eine Antwort geben. Vermutlich hat er seit Wochen kaum ein Auge zugemacht. Seine Schlaflosigkeit bezeichnet er als «eine Form von Folter».

Die Frau am Hörer erzählt dem Beamten vom Mann, der über ihr wohnt. Sie berichtet, seit Tagen gehe das nun so, höre sie, wie er tobe und fluche. Sie halte es nicht mehr aus in ihren eigenen vier Wänden.

Der Polizist wird all das in seinen Bericht schreiben. Ebenso den Umstand, dass er Verstärkung anforderte. Wie er mit einem Kollegen in den Dienstwagen stieg und an den Hörnliweg fuhr. Und wie er im Rahmen einer Erstabklärung etwas Beunruhigendes feststellte: Martin M. wird im Waffenregister geführt.

Für zusätzliche Nervosität sorgen Mails und SMS. «Die fewo bleibt bis ende mnt leer oder ich bringe mich um», schreibt M. noch um 17.15 Uhr an seine Vermieterin. Gemeint ist die Ferienwohnung über seiner eigenen. Nicht zum ersten Mal deutet M. an, sich und seiner Pein ein Ende zu machen.

Die behandelnde Ärztin von Martin M. wird avisiert. Unter den gegebenen Umständen hält sie eine fürsorgerische Unterbringung für angebracht, wenn Martin M. weiter nicht mit sich reden lassen sollte.

Als die Polizisten vor Ort eintreffen, nähern sie sich vorsichtig dem Chalet. Sie klopfen, erhalten aber keine Antwort. Die Tür ist verschlossen, Martin M. nirgends zu sehen. Eine Person, die ihn in Adelboden mit am besten kennt, rät der Polizei telefonisch: «Treiben Sie ihn nicht in die Enge, er braucht immer einen Fluchtweg.»

Mehrmals rufen die beiden Polizisten M. auf dem Handy an – Combox. Die Wohnungstür lässt sich auch beim zweiten Versuch und mit einem Passepartout nicht öffnen. Dann spricht Martin M. endlich: «Kömmet nume, kömmet nume… dir huure Wixxere hauet ab, wagets nid inezcho.»

Für die Polizisten fügt sich nun alles zusammen. Der Waffenschein, die fehlende Kooperation, das Gepolter, die Suizidandrohungen: Dieser Mann ist eine Gefahr. Nicht nur für sich selbst.

Alarm in der Zentrale. Die Polizei ist sich einig, die Lage am Hörnliweg ist ab jetzt ein Fall für die Sondereinheit.

Elite

Kurz vor 18 Uhr, in Ittigen rast eine Fahrzeugkolonne los. Blaulicht. Bis nach Adelboden sind es 69 Strassenkilometer. In den Wagen sitzt die Elite der Kantonspolizei Bern. Die Spezialeinheit Enzian ist die Spitze des staatlichen Gewaltmonopols, das schwer bewaffnete Berner Pendant zu den S.W.A.T.-Teams in den USA. Ihre Mitglieder sind geschult für Anti-Terror-Einsätze, Geiselnahmen und den Schutz von besonders wichtigen Personen. Es heisst, nicht einmal die Ehepartnerinnen wüssten etwas davon, wenn ihr Mann für die Sondereinheit arbeitet.

In Ittigen befindet sich die Basis der Einheit. Das Briefing vor Ort war kurz. Noch während der Fahrt ins Bergdorf gibt der Einsatzleiter weitere Details via Funk durch. Im dritten Wagen der Kolonne sitzt ein Mann, den wir fortan Schildführer nennen. Er wird dem Notelement zugeteilt: Sollte es zur Stürmung kommen, würde er hinter einem fahrbaren Schutzschild und als Erster in die Wohnung eindringen. Über Funk kommt rein: Zielperson hat Asperger. «Wenn ich ihn anspreche, muss es sachlich sein», sagt sich Schildführer.

Der Korso der Spezialeinheit trifft um 18.33 Uhr am Hörnliweg ein. Die reguläre Polizei – im Enzian-Slang: die «Uniform» – hat das Chalet von Martin M. bereits umstellt. Um 18 Uhr hatte sie einen letzten Blick auf ihn erhascht, als er seine Fensterläden schloss.

Ein Scharfschütze bringt sich in Position. Eine Drohne fliegt ums Haus. Die Spezialeinheit fährt ihr Arsenal auf, bleibt vorerst aber auf Distanz. Wieder verlaufen Anrufversuche im Leeren. Auch die Kontaktaufnahme via Megafon scheitert. Martin M. bleibt stumm.

Gegen 19 Uhr öffnet ein Roboter die Eingangstür zum Chalet, liefert fortan Bilder aus dem Treppenhaus, dringt weiter vor zur Wohnungstür. Verschlossen. Die Einsatztruppe erhält das «Go», zuvorderst Schildführer, die Verhandlungsgruppe im Schlepptau – sie trägt Hellblau, soll näher an Martin M. herangebracht werden, um endlich ins Gespräch zu kommen.

Vor der Wohnungstür wechselt Schildführer von der Langwaffe auf die Pistole – 9 Millimeter. Der Kollege zu seiner Rechten spannt eine Hydraulikpresse in den Türrahmen, drückt. Hinter ihm spricht ein anderer Enzian-Beamter – wir nennen ihn Verhandlungsführer – ins Megafon. Keine Reaktion.

Ein kleinerer Roboter wird auf Aufklärungsmission geschickt. Erster Raum, clear. Badezimmer, Duschvorhang gezogen. Dritter Raum, verschlossen. Schildführer bezieht Stellung vor der verschlossenen Tür, der Rest schwärmt aus. Küche und Wohnzimmer, negativ. Blick hinter den Duschvorhang, negativ.

Pattsituation

Polizeiarbeit ist gefährliche Arbeit. Weil der Mensch und das Leben unberechenbar sind. Die Gefahr lässt sich hundertfach simulieren, im echten Leben fühlt sie sich doch ganz anders an. Schildführer wird später bei seiner Einvernahme sagen, dass ihm in diesen Sekunden vor der Schlafzimmertür der Todesfall eines Polizisten in Gelsenkirchen durch den Kopf ging.

Drei Wochen vor dem Einsatz in Adelboden, am 29. April 2020, wurde ein 28-jähriger Beamter eines deutschen Spezialeinsatzkommandos (SEK) bei einem Einsatz erschossen – durch eine Türe hindurch. Auch im Kanton Bern starb auf diese Weise schon einmal ein Polizist. 2011 feuerte in Schafhausen im Emmental der Strassenarbeiter Roger F. mit seinem Sturmgewehr durch die verschlossene Türe.

Immer, wenn es um die Enzian geht, fällt irgendwann auch der Name Peter Hans Kneubühl. Der Rentner schoss im Sommer 2010 einem Mann der Spezialeinheit aus nächster Nähe in den Kopf. Dieser überlebte nur durch ein Wunder.

Vor der Schlafzimmertür von Martin M. läutet die Spezialeinheit Phase zwei des Einsatzes ein. Die dünnen Holzwände des Chalets bereiten den Männern Sorge. Verhandlungsführer ergreift das Wort, kniend, hinter dem Schutzschild. Er fragt Martin M., ob es ihm gut gehe, spricht ihn auf die Waffe an und auf die vermutete Suizidabsicht. Es ist jetzt ungefähr 19.40 Uhr, das Kommando steht vor seinem Schlafzimmer. Erst nach Minuten sagt Martin M.: «Was faut euch eigendlech ii?»

Lässt er es auf eine Eskalation hinauslaufen? Oder wird sie ihm in diesen Augenblicken endgültig aufgezwungen? Fragen nach einer Waffe lässt er unbeantwortet, er droht aber auch nicht, dass er schiessen würde, sollte sich jemand nähern. Er interagiert mit den Polizisten. Mehrere von ihnen werden später Wortschnipsel wie «geht weg» oder «maximal eine Person in meiner Wohnung» zu Protokoll geben. Aber im Moment verstehen sie nur Bruchstücke von dem, was Martin M. sagt. Das liegt auch am Equipment der Spezialtruppe.

Ein Aktivgehörschutz hat die Funktion, einzelne Geräusche zu verstärken und andere zu vermindern. Er soll Lärm abdämpfen, nicht aber das gesprochene Wort. In diesem Moment versagt diese Technik. Verhandlungsführer kann Martin M. kaum verstehen. Immer wieder schaltet sein Gehörschutz den Ton ab, immer wieder muss er bei Schildführer und den anderen nachfragen, was M. gerade gesagt hat.

Die Einsatzleiter vor dem Chalet geben ein weiteres Tool für den Einsatz frei: ein Videoskop, eine an einem Schlauch befestigte Kamera, mit der die Polizisten unter der Schlafzimmertür hindurch in den Raum schauen.

Nichts zu sehen. Der operative Techniker schiebt den Schlauch weiter ins Zimmer, bis plötzlich eine Hand danach greift. Martin M. zieht am Schlauch, einmal, zweimal. Wie bei einem Katz-und-Maus-Spiel, so kommt es den Beamten vor. Bis der Operateur schliesslich die Bedienung loslässt.

Zugriff

Die Verhältnismässigkeit bestimmt den Handlungsspielraum des demokratischen Rechtsstaats. Es ist ein Abwägen von Mittel und Zweck. Bei aller Drastik und aus der luxuriösen Perspektive der Rückschau: Bis vor der Schlafzimmertür hält sich die Polizei an diese Spielregeln.

Zu diesem Schluss werden später die Staatsanwaltschaft wie auch das höchste Gericht im Kanton Bern kommen. Ob das, was in den nächsten Sekunden folgen wird, aber noch verhältnismässig ist, ist auch drei Jahre später umstritten.

Die Zeit für Verhandlungen ist vorbei. Das entscheidet die Einsatzleitung. Per Funk ertönt: Zugriff bei günstiger Gelegenheit. Die Ramme donnert gegen die Tür. Beim zweiten Schlag springt sie auf.

Schildführer und Martin M. stehen einander gegenüber, eineinhalb Meter trennen sie. Zwei Männer mit erhobenen Pistolen. Schildführer wird diesen Augenblick am Tag danach so beschreiben:

«Ich habe einmal ‹Polizei, Waffe weg!› gerufen und gleichzeitig einmal geschossen. Meine Wahrnehmung war, dass er auf diesen Schuss reagiert hat und weiter nach rechts gehüpft ist. Aber das waren Bruchteile einer Sekunde, in welcher seine Waffe kurz nach unten ist und gleichzeitig ist mein Schild nach vorne auf den Boden gefallen. Er hat seine Waffe wieder auf mich gerichtet, woraufhin ich mehrmals auf ihn geschossen habe und mich gleichzeitig in das Bad, wo schon zwei Personen drin waren, gequetscht habe. Ich habe noch gesehen, wie er sofort zusammengesackt ist. Die Wirkung war da.»

Protokoll

Wenn ein Polizist zu seiner Dienstwaffe greift, tritt ein Protokoll in Kraft: Verhalten nach gravierenden Ereignissen. Schildführer muss Urin, Blut und Waffe abgeben. Dann fährt ihn der Einsatzleiter zurück nach Ittigen. Dort versammelt sich die Sondereinheit zum Debriefing. Wer reden will, darf reden. Wer sie benötigt, erhält psychologische Betreuung.

Die forensische Untersuchung wird später zum Schluss kommen, dass Martin M. auf der Stelle tot war. Er selbst hat nie einen Schuss aus seiner Glock abgegeben.

Um 2 Uhr ist der Einsatz beendet. Wenige Stunden später beginnen die Einvernahmen bei der Staatsanwaltschaft.
(https://www.derbund.ch/der-tag-an-dem-die-polizei-martin-m-erschoss-623828857882)