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+++BERN
hauptstadt.be 26.06.2023
Aufenthaltsraum 2,5 Kilometer entfernt
Noch immer leben in Brünnen abgewiesene Asylbewerber unter Tage. Die Aufenthaltsdauer ist länger als geplant – und die Situation vor Ort wurde nur minimal verbessert.
Von Joël Widmer
Eigentlich sollten die abgewiesenen Asylbewerber nur «einige Wochen» in der unterirdischen Unterkunft in Bern-Brünnen wohnen. So hatte es der Kanton in einer Medienmitteilung zur Eröffnung des Rückkehrzentrums letzten Dezember angekündigt. Doch die Bewohner leben deutlich länger im Zivilschutzbunker unter dem Coop-Verteilzentrum am westlichen Rand der Stadt Bern.
Im Durchschnitt sind es 72 Tage, also mehr als zwei Monate. Das gab der Kanton Mitte Juni in einer Antwort auf eine Anfrage von Grossrätin Christa Ammann (AL) bekannt. Fast 80 Prozent der Bewohner – in der Anlage wohnen nur Männer – hätten sich mehr als 3 Wochen im Rückkehrzentrum aufgehalten.
Das kantonale Amt für Bevölkerungsdienste (ABEV) erklärt zu dieser Diskrepanz von Ankündigung und Realität, man stehe im Bereich des Wegweisungsvollzugs aktuell vor grossen Herausforderungen: Der Dublin-Vollzug nach Italien sei seit November 2022 komplett blockiert. Und Dublin-Rückführungen nach Kroatien seien nur mittels Sonderflug möglich. Zudem sei der Wegweisungsvollzug abhängig von der Zusammenarbeit mit den ausländischen Behörden und dem Kooperationswillen der ausreisepflichtigen Personen. «Diese Faktoren wirken sich auf die Anwesenheitsdauer der im Zentrum untergebrachten Personen aus und waren durch den Kanton so nicht prognostizierbar», so das ABEV.
Die lange Aufenthaltsdauer der Bewohner bekräftigt die Stadt Bern in ihrer Forderung nach einer oberirdischen Unterkunft. Laut der zuständigen Gemeinderätin Franziska Teuscher (Grünes Bündnis) sind Komplexität und Dauer bei Rückführungen von abgewiesenen Asylsuchenden ein Beleg dafür, dass «auch für Rückkehrzentren unterirdische Anlagen generell ungeeignet sind.» Allerdings wisse auch die Stadt, wie schwierig es sei, Unterkünfte zu finden. «Die Suche danach hätte deshalb in den Jahren mit tiefen Asylzahlen im Sinne einer Vorbereitung erfolgen sollen.»
Der Kanton lehnt eine Verlegung der Bewohner ab
Die Stadt Bern macht seit Eröffnung Druck, das unterirdische Rückkehrzentrum aufzulösen. Das hat der Gemeinderat vor einer Woche in seiner Antwort auf eine Motion von drei linksgrünen Stadtrat-Fraktionen bekräftigt. Sie forderten die Aufhebung des «unterirdischen Bunkers», zumal im Containerdorf auf dem Viererfeld noch freie Plätze vorhanden seien. Eine Verlegung der abgewiesenen Asylbewerber ins Containerdorf lehnt der Kanton aber strikt ab. Die klare Trennung von Asylsuchenden und Abgewiesenen habe der Grosse Rat beschlossen.
Bis eine andere oberirdische Alternative gefunden ist, will die Stadt die Situation für die Bewohner aber immerhin verbessern. So hatte Teuscher nach einem Augenschein im Rückkehrzentrum Brünnen den Kanton aufgefordert, den Bewohnern müsse ein oberirdischer Aufenthaltsraum zur Verfügung stehen und soziale Kontakte im Quartier sollten ermöglicht werden.
Seit einigen Tagen können die Bewohner darum im Quartierzentrum Tscharnergut tagsüber Räumlichkeiten nutzen. Die betroffenen Bewohner wurden laut dem ABEV per Aushang und in persönlichen Gesprächen auf das neue «Rückzugsangebot» aufmerksam gemacht. Das Quartierzentrum liegt aber in 2,5 Kilometer Entfernung vom Rückkehrzentrum. Der kantonale Sicherheitsdirektor Philippe Müller sieht damit die Forderungen der Stadt erfüllt, wie er letzte Woche der Nachrichtenagentur Keystone-SDA sagte.
Die Stadt hingegen ist noch nicht zufrieden. Franziska Teuscher sagt: «Ich würde mir wünschen, dass die im Rückkehrzentrum untergebrachten Personen oberirdische Aufenthaltsräume in unmittelbarer Nähe der Anlage hätten.» Die sich in unmittelbarer Nähe befindlichen oberirdischen Räume seien allerdings für eine gewerbliche Nutzung gebaut. «Ob da Möglichkeiten für Räume bestehen, müsste der Kanton mit dem Vermieter klären.»
Quartierzentrum hat die Stadt vermittelt
Den Kontakt zum Quartierzentrum habe die Stadt vermittelt, sagt Teuscher. «Dabei konnten die Verantwortlichen vonseiten Kanton mit dem Quartierzentrum Tscharnergut immerhin eine Lösung finden, damit den untergebrachten Personen Räume für Freizeit und Sport zur Verfügung gestellt werden können.» Das Quartierzentrum biete zudem soziale Kontakte. «Die Option mit dem Tscharnergut ändert aber nichts am Umstand, dass das derzeitige Rückkehrzentrum keine geeignete Struktur für die Unterbringung von Menschen ist», sagt Teuscher.
Auch das ABEV schreibt, der Kanton präferiere oberirdische Unterkünfte und das Zentrum Bern-Brünnen sei nicht für langfristige Unterbringungen vorgesehen. Allerdings habe man bis jetzt keine geeignete oberirdische Anschlusslösung gefunden.
Damit bleiben die Weggewiesenen vorerst unter Tage im Bunker wohnen, dürfen aber neu tagsüber 2,5 Kilometer weit weg einen Raum im Quartierzentrum nutzen. Ob sie das auch tun, kann der Kanton nicht sagen. «Ein Zwischenfazit an dieser Stelle wäre verfrüht» schreibt das ABEV.
(https://www.hauptstadt.be/a/aufenthaltsraum-2-5-kilometer-entfernt)
+++SCHWEIZ
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider tauscht sich mit deutscher Innenministerin zu Migration und Sicherheit aus
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat sich am 26. Juni 2023 mit der deutschen Innenministerin Nancy Faeser in Zürich getroffen. Im Zentrum der Gespräche standen die Migration und Sicherheitsthemen. Die Ministerinnen bekräftigten ihren Willen, bei der Bewältigung der Herausforderungen weiterhin eng zusammenzuarbeiten und sowohl auf bilateraler als auch auf europäischer Ebene gemeinsame Lösungen anzustreben. Sie betonten auch die Bedeutung des freien Grenzverkehrs im Schengen-Raum.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-96040.html
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nzz.ch 26.06.2023
«Die Schlepper werden sagen: Jetzt kann man wieder in der Schweiz überwintern»
Staatssekretärin Christine Schraner Burgener befürchtet, dass sich die Asylverfahren wieder in die Länge ziehen, wenn der Bund nicht rasch neue Plätze bereitstellt.
Irène Troxler
Frau Staatssekretärin, Sie sind ja krisenerfahren. Als Sondergesandte der Uno mussten Sie in Myanmar eine viel grössere Flüchtlingskrise bewältigen. Aber auch in der Schweiz ist die Lage angespannt. Sind die Herausforderungen ähnlich, oder ist das etwas ganz anderes, weil es um Innenpolitik in einem Wahljahr geht?
Man braucht in beiden Fällen eine gute Krisenresistenz. Mich bringt fast nichts aus der Ruhe. Aber Sie haben recht, seit rund anderthalb Jahren beschäftigt uns die Migration in die Schweiz sehr intensiv. Die Herausforderungen waren bei der Uno noch grösser, weil damals die ganze Welt etwas von mir erwartete. Ich musste fast jeden Monat den Sicherheitsrat briefen. Der Leistungsdruck war enorm. Was ähnlich ist: Es geht in beiden Fällen um Menschen. Es ist für mich sehr wichtig, in der Asylpolitik den Menschen ins Zentrum unseres Tuns und Handelns zu stellen.
Im Mai wurden 24 Prozent mehr Asylgesuche gestellt als im gleichen Monat des Vorjahrs. Wie grosse Sorgen macht Ihnen die Aussicht auf weiter steigende Asylzahlen – ausgerechnet vor den eidgenössischen Wahlen?
Wir hatten sogar 44 Prozent mehr Gesuche in den ersten fünf Monaten im Vergleich zur Vorjahresperiode. Doch mich hat das nicht allzu sehr überrascht, denn unsere Analysten haben das so vorausgesagt. Schon im letzten Jahr hatten wir viele Flüchtlinge. Dazu kamen die Ukrainerinnen und Ukrainer. Viele vergessen, dass heute pro Woche immer noch gegen 300 Personen aus der Ukraine bei uns in der Schweiz eintreffen. Aber Sorgen? Nein, den Herausforderungen muss man sich stellen. Sorgen alleine lösen die Probleme nicht. Wir haben letztes Jahr, zusammen mit der Armee und den Kantonen, eine grosse Krise bewältigt. Mein Team ist sehr krisenfest, wir werden das wieder packen. Aber wir müssen vorausschauend handeln, uns vorbereiten. Natürlich hoffen wir insgeheim, dass die Analysten falschliegen, aber es sieht nicht danach aus, wenn man auf die Geopolitik blickt und beispielsweise die aktuellen Zahlen von Frontex zu Rate zieht.
Im Mai kamen am meisten Menschen aus der Türkei.
Die Türkei beobachte ich sehr genau. Ich gehe davon aus, dass die zurzeit steigenden Asylzahlen eine Folge der Wiederwahl von Präsident Erdogan sind. Immerhin ist denkbar, dass nun weniger Menschen aus Afghanistan zu uns kommen. Auch diese Migration ist eine direkte Folge der türkischen Politik. Die Türkei hat 3,7 Millionen Flüchtlinge aufgenommen. In letzter Zeit begann Präsident Erdogan aber, Afghanen zurückzuschaffen. Manche entzogen sich dem, indem sie nach Europa weiterreisten. Wir werden sehen, wie sich das nun entwickelt.
Sie wollten vorausschauend handeln, aber das Parlament hat Ihre Vorbereitungen durchkreuzt. Ihre Pläne für Containerdörfer, die zusätzliche 3000 Plätze geboten hätten, hat der Ständerat versenkt. Im Parlament kam der Vorwurf, das Geschäft sei nicht gut vorbereitet gewesen.
Wir waren sehr gut vorbereitet, haben die Rechtslage vertieft abgeklärt und auch das Bundesamt für Justiz konsultiert: Im Asylgesetz steht, dass Militäranlagen verwendet werden können, sobald keine alternativen Plätze mehr vorhanden sind. Und selbstverständlich können wir nicht erst dann Container bestellen, wenn der letzte Platz in unseren Unterkünften belegt ist. Das bedingt einen gewissen zeitlichen Vorlauf. Ich habe auch stets betont, dass wir die Container erst benutzt hätten, wenn alle bestehenden Unterkünfte voll gewesen wären. Unsere Analysten haben zwei Szenarien errechnet: Im Szenario «hoch» sind unsere Infrastrukturen im Frühherbst voll. Beim mittleren Szenario wird das im Dezember der Fall sein. Mich hat es erstaunt, dass das Wort Sicherheit in der Parlamentsdebatte nie gefallen ist. Es ist ein Riesenunterschied, ob Flüchtlinge beim Bahnhof am Boden schlafen oder ob wir wissen, wo sie sind. Sie menschenwürdig unterzubringen, dient allen und ist auch unsere humanitäre Pflicht.
Wie wollen Sie jetzt die fehlenden 3000 Plätze bereitstellen? In Zivilschutzanlagen, wie der Ständerat vorschlug?
Natürlich kann man junge Männer vorübergehend in Zivilschutzanlagen einquartieren. Wir haben aber auch Familien mit kleinen Kindern oder traumatisierte Personen, beispielsweise Ukrainerinnen, die sich vorher schon wochenlang in einem Keller aufhalten mussten. Die können wir nicht so unterbringen. Zudem entsteht ein logistischer und finanzieller Mehraufwand für die Asylverfahren, wenn die Personen in Kleinstanlagen über das ganze Land verteilt sind. Die Verfahren werden wieder länger dauern. Das ist etwas, was die Schlepper sofort realisieren. Sie werden sich sagen: Jetzt kann man in der Schweiz wieder überwintern.
Was meinen Sie mit «überwintern»?
Vor der Asylrechtsreform von 2019, als die Verfahren noch viel mehr Zeit in Anspruch nahmen, gab es viele Personen, die im Sommerhalbjahr in Südeuropa auf den Feldern arbeiteten und bei Wintereinbruch in der Schweiz ein Asylgesuch stellten. Im Frühling waren sie dann plötzlich verschwunden.
Gibt es noch andere Optionen für zusätzliche Plätze in den Bundesasylzentren?
Wir sind intensiv am Diskutieren in einer Arbeitsgruppe mit den Kantonen. Ich treffe mich in Kürze auch wieder mit dem Armeechef. Ich möchte vermeiden, dass wir die Flüchtlinge wieder frühzeitig den Kantonen zuweisen müssen.
Wie soll es denn nun weitergehen mit dem Schutzstatus S? Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat angedeutet, dass sie eine Harmonisierung der verschiedenen Asylkategorien wünscht. Man hört, dass demnächst ein Bericht dazu erscheine.
Es gibt eine Evaluationsgruppe zum Status S, die vom Aargauer Altregierungsrat Urs Hofmann geleitet wird. Ihr Bericht soll demnächst präsentiert werden. Es geht dort um den S-Status, nicht um eine Harmonisierung. Der Schutzstatus S und jener der vorläufigen Aufnahme unterscheiden sich in der Praxis gar nicht gross. Auch vorläufig Aufgenommene dürfen sofort arbeiten und werden bei der Integration unterstützt. Die Ukrainer sind ein Sonderfall, weil sie sich visumsfrei im Schengen-Raum bewegen können. Das könnten sie aber auch ohne S-Status tun. Die Diskussionen um den Status der vorläufig Aufgenommenen begannen schon vor dem Ukraine-Krieg. Es ist tatsächlich unbefriedigend, dass Leute eigentlich nur vorläufig in der Schweiz aufgenommen werden, dann aber bleiben, weil die Situation in ihrem Land auch längerfristig keine Rückkehr ermöglicht. Wir versuchen aber über unsere Migrationspartnerschaften, die Situation vor Ort im Herkunftsstaat zu verbessern.
Fast anderthalb Jahre nach Kriegsausbruch sieht man, dass sich die Ukrainerinnen und Ukrainer etwas leichter zurechtfinden auf dem Schweizer Arbeitsmarkt als andere Flüchtlinge. Aber wäre angesichts des grossen Arbeitskräftemangels nicht mehr möglich und sinnvoll?
Momentan arbeiten 17 Prozent der Ukrainerinnen und Ukrainer, das ist im Vergleich zu anderen Flüchtlingsgruppen viel. Generell dauert es bei Flüchtlingen fünf bis sieben Jahre, bis die Hälfte von ihnen eine Stelle hat. Bei den Ukrainern waren es nach einem Jahr schon 15 Prozent. Wir haben eine Arbeitsgruppe mit Branchenvertretern und Sozialpartnern gebildet, die sich mit der Frage befasst: Wie bringen wir noch mehr Leute in den Arbeitsmarkt?
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass es harzt?
Viele können nur Ukrainisch und Russisch, manche noch Englisch. Es braucht aber Kenntnisse der Landessprachen, denken Sie nur an die Gastronomie. In Gesprächen höre ich auch, dass viele Ukrainerinnen baldmöglichst nach Hause wollen. Ich habe keine getroffen, die zu mir sagte: «Ich will in der Schweiz ein neues Leben aufbauen.» Ein weiterer Punkt ist, dass viele Frauen mit Kindern hier sind. Die Kinderbetreuung hat in der Schweiz Verbesserungspotenzial.
In letzter Zeit sind auch besonders viele unbegleitete Minderjährige gekommen, die Anspruch auf besonderen Schutz haben. Das Staatssekretariat für Migration wurde kritisiert, weil es wegen der grossen Zahl minderjähriger Asylsuchender eine Unterkategorie der «selbständigen unbegleiteten Minderjährigen» einführte für Sechzehn- und Siebzehnjährige. Diese werden weniger eng betreut.
Wir haben nicht eine neue Kategorie eingeführt. Ich sehe das eher als eine Management-Massnahme. Wir hatten volle Bundesasylzentren, und es kamen immer noch neue allein reisende Minderjährige an. Wir haben es einfach nicht mehr geschafft, für jeweils fünfzehn dieser Jugendlichen eine sozialpädagogisch ausgebildete Betreuungsperson bereitzustellen. So wäre es vorgesehen, aber der Fachkräftemangel macht auch vor dem Migrationswesen nicht halt. In dieser Ausnahmesituation haben wir beschlossen, die qualifizierte Betreuung denjenigen zukommen zu lassen, die sie am meisten brauchen. Um einen Zwölfjährigen muss man sich mehr kümmern als um einen Siebzehnjährigen.
Wie ist die Lage jetzt? Konnten Sie diese Triage wieder aufheben?
Ja, das war nur vorübergehend.
Die EU hat entschieden, ihre Asylverfahren zu verschärfen. Menschen aus sicheren Herkunftsländern sollen in streng kontrollierte Aufnahmezentren kommen und – wenn sie kein Asyl erhalten – innert maximal sechs Monaten direkt zurückgeschafft werden. Was bedeutet das für die Schweiz?
Wir begrüssen diese Reform. Die Schweiz hat ja 2019 ebenfalls ein neues System eingeführt mit den Bundesasylzentren, in denen die Verfahren rasch durchgeführt werden. Ich wünsche mir sehr, dass diese EU-Reform gelingt. Wir brauchen einen starken Grenzschutz an den Schengen-Aussengrenzen. Erst dann reduziert sich die Sekundärmigration. Zum Vergleich: Am Flughafen Zürich führen wir ebenfalls Grenzverfahren durch. Personen von ausserhalb des Schengen-Raums, die dort ein Asylgesuch stellen, dürfen nicht einreisen, bis ihr Gesuch geprüft wurde. Wenn der Zustrom abnimmt, können wir den tatsächlich Schutzbedürftigen auch schneller den Schutz bieten, der ihnen gemäss Genfer Konventionen zusteht. Aber natürlich müssen diese Zentren an den EU-Aussengrenzen so ausgestaltet sein, dass die Menschenrechte gewährleistet sind.
Die Schweiz würde sich also beteiligen?
Die Schweiz hat die Reformbemühungen bisher unterstützt. Im EU-Parlament wird das Thema aber noch viel zu reden geben. Dann wissen wir genauer, welche Anpassungen notwendig sind. Die Reform soll 2027 in Kraft treten.
–
Christine Schraner Burgener leitet das Staatssekretariat für Migration (SEM) seit Anfang 2022. Sie wurde in Tokio geboren und kehrte als Zehnjährige in die Schweiz zurück. Im Jahr 2000 wurde sie Schweizer Botschafterin in Bangkok, 2015 wechselte sie in die Botschaft in Berlin. 2018 ernannte Uno-Generalsekretär António Guterres sie zur Sondergesandten für Myanmar. Schraner Burgener ist Mitglied der Sozialdemokratischen Partei.
(https://www.nzz.ch/schweiz/schlepper-werden-sagen-jetzt-kann-man-wieder-in-der-schweiz-ueberwintern-ld.1744031)
+++MITTELMEER
Die italienischen Strafmaßnahmen gegen Sea-Eye sind staatliches Unrecht!
Gemeinsames Statement von Sea-Watch und Alarm Phone
https://alarmphone.org/de/2023/06/25/die-italienischen-strafmassnahmen-gegen-sea-eye-sind-staatliches-unrecht/
+++EUROPA
Schnelle „Grenzverfahren“ auch für Syrer möglich
Entgegen der Ankündigung von Innenministerin Faeser sind die schnellen „Grenzverfahren“ auch für Menschen aus Staaten mit hohen Anerkennungsquoten möglich. Zudem werfen die EU-Asylpläne weitere Fragen auf.
https://www.tagesschau.de/faktenfinder/eu-asylplaene-102.html
+++MAROKKO/SPANIEN
Ein Jahr nach der Tragödie von Melilla – Tagesschau
Vor einem Jahr versuchten hunderte Migranten, die meterhohen Zäune von Melilla zu überwinden. An der Grenze zwischen der spanischen Exklave und Marokko starben mindestens 30 Menschen. Marokko und Spanien bauten in den letzten 12 Monaten die Zäune und Wälle weiter aus.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/ein-jahr-nach-der-tragoedie-von-melilla?urn=urn:srf:video:fd59a6ea-1f5f-46d0-afbe-a7293f28c366
+++FREIRÄUME
Zürich: Alte Post in Wipkingen ZH wieder besetzt
Das Gebäude der «Alten Post» in Wipkingen wurde erneut von Aktivisten besetzt. Diese fordern eine soziale und kulturelle Nutzung des Leerstands.
https://www.nau.ch/ort/zurich/zurich-alte-post-in-wipkingen-zh-wieder-besetzt-66528652
Die Post reicht Anzeige ein gegen die Besetzer der ehemaligen Post Wipkingen (ab 08:07)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/gebaerdensprache-im-zuercher-kantonsrat?id=12411502
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/post-erstattet-strafanzeige-gegen-zurcher-hausbesetzer-66528871
Immer noch keine Bewilligung für Alba-Festival in Zürich – Schweiz Aktuell
Und wieder kämpfen die Organisatoren des Alba-Festivals in Zürich um die Bewilligung. Seit Monaten bemühen sie sich darum, bisher ohne Erfolg. Das Problem: eine Asyl-Unterkunft, die auf dem Hardturm-Areal geplant war. Und: Derzeit wird es besetzt.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/immer-noch-keine-bewilligung-fuer-alba-festival-in-zuerich?urn=urn:srf:video:9da2f3b1-3420-4c65-bb4e-1da875371afd
+++GASSE
Gemeinderatsantwort auf Interpellation Fraktion Mitte (Lionel Gaudy): Organisierte Bettelei & Menschenhandel – welche Massnahmen hat die Stadt Bern ergriffen, um die organisierte Bettelei und den damit zusammenhängenden internationalen Menschenhandel zu unterbinden bzw. zu bekämpfen? (PDF, 353.6 KB)
https://www.bern.ch/politik-und-verwaltung/gemeinderat/aktuelle-antworten-auf-vorstosse/publizierte-antworten-am-26-juni-2023/interpellation-fraktion-mitte-organisierte.pdf/download
Bettelverbot überprüfen
Menschenrechte Mit einem parlamentarischen Vorstoss erneuert SP-Stadtparlamentarierin Marlène Schürch ihre vor zweieinhalb Jahren erfolgte Forderung nach Überprüfung des allgemeinen Bettelverbots in der Stadt St.Gallen. Da es sich bei den St.Galler Vorschriften gemäss Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs um einen Verstoss gegen die Menschenrechte handeln könnte, möchte sie vom Stadtrat wissen, was die versprochene Überprüfung ergeben hat und weshalb nicht informiert worden ist. Schürch macht auch auf den aktuellen Entscheid des Bundesgerichtes aufmerksam, dass die Bestimmung zum Bettelverbot von Basel-Stadt in den Parkanlagen aufhob.
https://st-galler-nachrichten.ch/st-gallen/detail/bettelverbot-ueberpruefen
Basler Regierung präsentiert Massnahmenpaket für soziales Wohnen
Die Basler Regierung will das soziale Wohnen ausbauen. Künftig soll es eine staatliche Anlaufstelle für soziales Wohnen geben, Finanzhilfen in Notsituationen und für Obdachlose «Housing First Plus». Mit diesem Massnahmenpaket reagiert die Regierung auf die Initiative «Recht auf Wohnen».
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/basler-regierung-praesentiert-massnahmenpaket-fuer-soziales-wohnen?id=12411475
-> https://www.bs.ch/nm/2023-der-regierungsrat-staerkt-das-soziale-wohnen-in-basel-stadt-rr.html
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/positive-bilanz-des-pilotprojekts-housing-first-in-basel?urn=urn:srf:video:9647eb32-63c4-4c3e-8d73-f4debe757c5a
-> https://telebasel.ch/sendungen/punkt6
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/bezahlbarer-wohnraum-basler-regierung-will-wohnraum-fuer-langzeitarbeitslose-schaffen-ld.2479091
Lebensmittel für Bedürftige in Sankt Immer (ab 07:40)
Die Armut betrifft immer mehr Menschen. Der Verein Tischlein deck dich schlägt Alarm und startet eine Sammelaktion vor den Läden.
https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2023-06-26
+++SPORT
luzernerzeitung.ch 26.06.2023
Stadt Luzern begrüsst neue Anspielzeit bei Hochrisikospielen des FCL – Fanmärsche bleiben möglich
Hochrisikospiele am Samstagabend wird es in der neuen Saison nicht mehr geben. Davon direkt betroffen sind jedoch nur die Anhänger von zwei Teams – weil die anderen ohnehin schon ausgesperrt sind.
Christian Glaus
Der FC Luzern reist zum Saisonstart am 22. Juli nach Winterthur, das erste Heimspiel bestreitet er am Sonntag, 30. Juli, gegen Lausanne-Ouchy. Mit Blick auf die öffentliche Sicherheit interessant wird es am 1. Oktober. An diesem Sonntag bestreitet der FCL sein erstes Hochrisikospiel der neuen Saison zu Hause. Gast ist der FC Zürich, Spielbeginn ist um 16.30 Uhr.
Die Luzerner Polizei als Bewilligungsbehörde bestätigte gegenüber unserer Zeitung, dass sie Hochrisikospiele am Samstagabend wieder untersagt. In der Rückrunde der vergangenen Saison hatte sie solche erlaubt – und prompt kam es in der Stadt Luzern mehrfach zu Ausschreitungen: am 4. März (FC Basel), 15. April (FC Zürich) und 20. Mai (FC St.Gallen).
Auf Nachfrage erklärt Polizeisprecher Urs Wigger, das Verbot von Hochrisikospielen am Samstagabend gelte für die Gästemannschaften aus Basel, Zürich und St.Gallen. Wobei im Fall der Ostschweizer der Gästesektor als Reaktion auf die Strassenschlachten vom Mai ohnehin geschlossen bleibt.
«Chaoten nutzen Schutz der Dunkelheit»
Auf die Frage, was sich die Polizei vom Verbot von Hochrisikospielen am Samstagabend verspricht, schreibt Wigger: «Die Erfahrung der letzten Saison hat deutlich gezeigt, dass Chaoten den Schutz der Dunkelheit zur Begehung von Straftaten ausnutzen.» Die Polizei wolle das Risiko von Ausschreitungen und Straftaten reduzieren.
Dieselbe Absicht verfolgt die Stadt Luzern. Sicherheitsmanager Christian Wandeler schreibt, in der Rückrunde habe sich gezeigt, dass Hochrisikospiele am Samstagabend vermehrt zu Problemen führen. «Aus Sicht der Stadt Luzern kann man festhalten, dass sich durch die Spielansetzung an Sonntagen das Risiko durchaus vermindern lässt.»
Problematisch ist teilweise die Anreise, meist jedoch die Abreise der Gäste. Mit dem Verbot von Samstagabendspielen ist dieses Problem nicht gelöst. Und dafür eine Lösung zu finden, ist schwierig. Ein generelles Verbot von Fanmärschen ist laut Wandeler nicht vorgesehen. Die Stadt werde die jeweiligen Gesuche individuell prüfen. Aktuell liefen Gespräche über allfällige Anpassungen am Fantransport. «In Luzern haben wir das Problem, dass Fanmassen ab 1000 Personen aus Kapazitätsgründen nicht mit den VBL-Bussen transportiert werden können.»
Fanperron wird wieder diskutiert
In den Gesprächen werde auch die Einrichtung eines sogenannten Fanperrons beim Bahnhof Luzern ein Thema sein, so Wandeler weiter. Mit einem Fanperron sollten die Anhänger der Gästeteams besser von den restlichen Reisenden separiert werden. Die Idee war jedoch vor Jahren verworfen worden und wird nun unter anderem von Seiten des FC Luzern wieder ins Spiel gebracht. Damit würden die Extrazüge im Bereich des Güterbahnhofs halten. Die Gäste könnten dann auf einer neuen Route zum Stadion geführt werden. So kämen sie nicht mehr am Fanlokal Zone 5 am Bundesplatz vorbei, wo es wiederholt Ausschreitungen gab.
Die Fantransporte sind auch auf nationaler Ebene ein Thema, wie Florian Düblin, Generalsekretär der Justiz- und Polizeidirektorenkonferenz bestätigt. Unter dem Namen «Biglietto+» befasst sich ein Projektteam mit personalisierten Tickets. «Ein eigenes Teilprojekt wird sich dem Problemkreis von Fanreisen und Gästefans widmen und dabei mögliche Massnahmen prüfen», schreibt Düblin. Der Bericht sollte bis Ende Jahr vorliegen. Im März dieses Jahres hatte das Projektteam informiert, dass personalisierte Tickets vorerst nicht obligatorisch werden. Für eine Ausweispflicht und den Abgleich mit der Hooligan-Datenbank bräuchte es eine gesetzliche Grundlage auf Bundesebene.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/fangewalt-stadt-luzern-begruesst-neue-anspielzeit-bei-hochrisikospielen-des-fcl-fanmaersche-bleiben-moeglich-ld.2478571)
-> https://www.pilatustoday.ch/zentralschweiz/luzern/stadt-luzern-begruesst-anspielzeiten-von-hochrisikospielen-des-fcl-152197207
-> https://www.20min.ch/story/gegen-drei-teams-darf-der-fc-luzern-nicht-mehr-am-samstagabend-spielen-781719168951
Fan-Gewalt: Mitte zieht Vorstoss zurück
Die Mitte-Fraktion hat das Postulat von Adrian Nussbaumer über eine Kündigung und einen Neuabschluss der Vereinbarung mit dem FC Luzern zurückgezogen.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/luzern-die-mitte-zieht-den-vorstoss-betreffend-massnahmen-gegen-fan-gewalt-zurueck-ld.2480190
+++JUSTIZ
bzbasel.ch 26.06.2023
Ehemaliger Gerichtspräsident rügt Vorgehen der Basel-Nazifrei-Strafrichter
Peter Albrecht kritisiert das Vorgehen der Basler Justiz. Organisatorische Absprachen über Prozesse zwischen Richterinnen und Richtern seien okay. Dass aber im Nazifrei-Komplex mutmasslich Beschlüsse gefasst worden seien, gehe definitiv zu weit.
Nora Bader
Peter Albrecht, 77, war von 1978 bis 2002 als Präsident am Basler Strafgericht tätig und von 1978 bis 2013 an der Universität Basel. Albrecht wohnt in Riehen und ist SP-Mitglied. Er ist zudem Mitglied der Ethikkommission der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter. Im Interview spricht er über die Affäre rund um den Basel-Nazifrei-Komplex (siehe Kontext) und verurteilt das Vorgehen der Strafrichter.
Herr Albrecht, in der zweiten Runde vor Appellationsgericht hat sich bestätigt, was vorher die Runde gemacht hat. Protokolle eines «internen Meinungsaustauschs» halten «Beschlüsse» und Absprachen zu den Basel-Nazifrei-Prozessen fest. Sie haben die Protokolle auch gelesen.
Peter Albrecht: Ich war sehr überrascht und auch schockiert, dass so etwas in unserem Justizsystem überhaupt möglich ist. Anfangs haben die Betroffenen eine Absprache bestritten. So etwas darf an einem Gericht, wo es immerhin Juristinnen und Juristen hat, einfach nicht passieren.
Was bedeuten die neusten Entwicklungen in der Basel-Nazifrei-Affäre für das Basler Justizsystem?
Das Ansehen des Strafgerichts und auch des Appellgerichts wurde dadurch geschädigt. Ein Gericht muss glaubwürdig sein und mit gutem Vorbild vorangehen. Andererseits befürchte ich aber, dass das alles schnell wieder vergessen geht.
Wurden Sie während Ihrer Zeit als Gerichtspräsident mit ähnlicher Problematik konfrontiert?
Nein, nie, in diesem Ausmass nicht. Hinzu kommt, dass man in diesem Fall noch so dumm war, ein Protokoll zu verfassen. Da waren sich die Richterinnen und Richter der grossen Problematik offenbar nicht bewusst oder wollten es nicht sein. In meiner Zeit hat es so etwas nicht gegeben und ich hätte auch nicht mitgemacht.
Gewisse Absprachen unter Kolleginnen und Kollegen am Gericht sind doch sicher auch gut oder notwendig. Wo liegt Ihres Erachtens die Grenze?
Organisatorische Fragen zu grossen Fällen zu besprechen, ist okay. Etwa, ob ein Fall aufgeteilt wird. Das passiert manchmal schon, wenn der Fall bei der Staatsanwaltschaft und noch nicht vor Gericht ist. An sich gibt es eine Bestimmung in der Prozessordnung, die besagt, Verfahren, die den selben Sachverhalt betreffen, müssen gemeinsam verhandelt werden. Aber in diesem Fall kann man das vergessen. Das geht faktisch nicht mit einer solchen Anzahl Verteidiger und Beschuldigter. Sobald es aber um inhaltlichen Bezug zum Schuldspruch oder zur Strafe geht, darf man sich nicht absprechen. Es geht etwa um Steinwürfe gegen Polizisten und ob das jetzt versuchte schwere Körperverletzung sei.
René Ernst machte gegenüber der bz auch auf Paragraf 35 des Gerichtsorganisationsgesetzes aufmerksam. Dieser verpflichte die Präsidienkonferenzen der Gerichte, die Einheitlichkeit der Rechtsprechung und somit den Meinungsaustausch zu fördern.
Für mich stellt sich zuerst einmal die Frage, ob diese Bestimmung verfassungskonform ist. Da hätte ich meine Bedenken, ob das vereinbar ist mit der richterlichen Unabhängigkeit, wenn es um Absprachen geht. Bei den Nazifrei-Prozessen ging man konkret auf einzelne Konstellationen ein und ging somit relativ weit. Auch wenn es nicht als Beschluss zählen sollte, besteht natürlich ein Fokus in eine Richtung. Faktisch wird wohl niemand anders entscheiden, als in diesem Gespräch besprochen wurde. Somit ist man nicht mehr unabhängig. Und der zweite Punkt, der in der allgemeinen Diskussion etwas untergegangen ist, ist die Unschuldsvermutung. Das ist ein Grundsatz, der sagt, jeder Beschuldigte gilt als unschuldig, bis er oder sie rechtskräftig verurteilt ist. Bei diesen Absprachen im Protokoll ist nirgends die Rede von einem Freispruch. Das heisst, da war der Schuldspruch schon vorgegeben.
Die betroffenen Richterinnen und Richter sagen darauf, die Urteile seien ja milder als die Forderungen der Stawa ausgefallen.
Das ist ein faules Argument. Die richterliche Unabhängigkeit gilt auch gegenüber der Staatsanwaltschaft. Das Wichtigste ist der Grundsatz, dass ein Verfahren bis zum rechtskräftigen Abschluss offen sein muss. Und selbst wenn man findet, das alles sei korrekt abgelaufen, dann hätte man diese Protokolle von Anfang an einreichen und auch den Prozessparteien Einblick gewähren müssen. Das Vertuschen macht es noch schlimmer.
Hätte René Ernst das Interview in der «Basler Zeitung» geben sollen oder nicht? Der Fall war und ist noch immer von grossem öffentlichem Interesse.
Ich fand das heikel, weil es um einen konkreten Fall ging. Und vor allem wenn es um Fragen geht, die auch andere Verfahren in diesem Zusammenhang betreffen können. Er äusserte sich auch über die Beweissituation. Das ist problematisch.
Sie haben Einsitz in der Ethikkommission der Schweizerischen Vereinigung der Richterinnen und Richter. Wie steht man da dazu?
Solche Fragen diskutieren wir in der Tat immer wieder. Es herrscht klar die Meinung, sobald es um konkrete Fälle geht, wird es heikel, unter Kollegen und erst recht öffentlich darüber zu reden.
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Basel-Nazifrei-Prozesse
Was bisher geschah
Vor drei Jahren fand der erste Prozess des sogenannten Basel-Nazifrei-Komplexes statt. Insgesamt mussten und müssen sich rund 40 Personen aus dem linksautonomen Milieu vor Gericht verantworten. Sie waren im November 2018 bei einer unbewilligten Demo gegen eine Kundgebung der rechtsextremen Pnos auf dem Messeplatz mit der Polizei aneinandergeraten. Eine Reihe von Verteidigern hatte beim Appellationsgericht den Antrag gestellt, ein ausserkantonales Strafgericht solle die Fälle beurteilen. Es liege eine institutionelle Befangenheit vor. Anlass war einerseits ein Zeitungsinterview mit der Basler Zeitung, das Gerichtspräsident René Ernst (SP) im September 2020 nach einem Urteil gegeben hatte. Die Strafrichterinnen und -richter bestritten die Vorwürfe und wurden dabei vom Basler Appellationsgericht gestützt.
Das Bundesgericht allerdings kam Anfang Jahr zu einem anderen Schluss. Das Basler Appellationsgericht habe es sich bei seinem Urteil zu einfach gemacht. Im Rahmen seiner Befragung in der zweiten Runde vor dem Appellgericht Anfang Juni reichte René Ernst zwei Protokolle einer Sitzung vom 31. August 2020 ein mit dem Titel «Interner Meinungsaustausch». Diese liegen der bz vor. Teilgenommen an besagter protokollierter Sitzung haben sechs Präsidentinnen und Präsidenten des Basler Strafgerichts. Im Protokoll ist von «Beschlüssen» zu konkreten Fällen im Basel-Nazifrei-Komplex die Rede (bz berichtete). Das Urteil wird im Herbst erwartet. (no)
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/prozessreihe-ehemaliger-gerichtspraesident-ruegt-vorgehen-der-basel-nazifrei-strafrichter-ld.2479023)
+++BIG BROTHER
«Sicherheit Schweiz 2023»: Der Nachrichtendienst des Bundes publiziert seinen neuen Lagebericht
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine beeinflusst weiterhin die nationale und internationale Sicherheitspolitik. Das sicherheitspolitische Umfeld der Schweiz bleibt wesentlich durch die wachsende Konkurrenz der Grossmächte geprägt. In diesem Kontext sind die Fähigkeiten der Antizipation und Früherkennung des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) zentral. Es gilt Bedrohungen und relevante Veränderungen im strategischen Umfeld der Schweiz rechtzeitig zu identifizieren und zu beurteilen und anschliessend die notwendigen präventiven Massnahmen zu ergreifen. Der neue Lagebericht «Sicherheit Schweiz 2023» des NDB stellt die wichtigsten Lageentwicklungen aus nachrichtendienstlicher Sicht vor.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-95984.html
-> Pressekonferenz 26. Juni 2023: https://www.youtube.com/watch?v=F8VQErXYX1U
-> Sicherheit Schweiz 2023 – Lagebericht des Nachrichtendienstes des Bundes: https://www.vbs.admin.ch/de/vbs/organisation/verwaltungseinheiten/nachrichtendienst.detail.document.html/vbs-internet/de/documents/nachrichtendienst/lageberichte/NDB-Lagebericht-2023-d.pdf.html
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/die-schweiz-als-eldorado-fuer-russische-spione?partId=12411292
-> https://www.derbund.ch/schweizer-geheimdienst-hielt-putin-regime-fuer-stabil-396276314188
-> https://www.blick.ch/politik/nachrichtendienst-stellt-lagebericht-vor-welches-sind-die-groessten-bedrohungen-fuer-die-schweiz-id18698089.html
-> https://www.20min.ch/story/was-sagt-der-schweizer-nachrichtendienst-zum-prigoschin-putsch-vom-samstag-690346353463?version=1687766495154
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/neuer-ndb-sicherheitsbericht-getarnt-als-fluechtlinge-bund-warnt-vor-russischen-spionen
-> https://www.20min.ch/story/geheimdienst-warnt-russische-spione-koennten-sich-als-fluechtlinge-tarnen-390824096986?version=1687782035922
-> https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/wagner-aufstand-chef-des-schweizer-nachrichtendienstes-ein-substanzieller-schock-fuer-das-system-putin-ld.2479940
-> 10vor10: https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/fokus-hinter-den-kulissen-des-schweizer-nachrichtendienstes-ndb?urn=urn:srf:video:ab2ab15e-69d8-4eb0-918e-a4d6e8bf5405
Dschihadismus und Terror – Inside NDB: So bekämpft der Nachrichtendienst den Terrorismus
Wie werden mutmassliche Gefährder und Gefährderinnen in der Schweiz überwacht? Zwei Nachrichtendienst-Mitarbeiterinnen im Bereich Terrorismus geben Einblick in ihren Job im Verborgenen.
https://www.srf.ch/news/schweiz/dschihadismus-und-terror-inside-ndb-so-bekaempft-der-nachrichtendienst-den-terrorismus
+++POLICE BE
Sie postete ein Bild auf Instagram: Bernerin kassiert Busse wegen Armee¬verkleidung
Weil sie für eine Kostümparty in einen Tarnanzug schlüpfte, machte sich eine 48-jährige Frau strafbar. Nicht weniger absurd ist dabei die Rolle eines Polizisten.
https://www.derbund.ch/bernerin-kassiert-busse-wegen-armee-verkleidung-500768924784
Gewalt und Sexting: Kapo Bern stärkt Prävention an Schulen
Die Jugend im Kanton Bern ist gewaltbereiter als früher. Darum will die Kantonspolizei die Aufklärungsarbeit an Schulen ausbauen und einmal pro Jahr mit allen 114000 Schülerinnen und Schülern des Kantons sprechen. Im Fokus stehen dabei Themen wie sexualisierter Gewalt, Sucht oder digitale Medien. (ab 07:00)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/gewalt-und-sexting-kapo-bern-staerkt-praevention-an-schulen?id=12411466
-> https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=0bbe3e31-22c7-474c-a2aa-68c1f523ae65
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/berner-kantonspolizei-will-praevention-an-schulen-staerken-152199446
-> https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2023-06-26
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/hate-crime-gewaltpraevention-152205242
-> https://www.derbund.ch/polizei-will-moegliche-taeter-schon-in-der-schule-ansprechen-935526054505
+++POLICE VD
Polizisten von fahrlässiger Tötung freigesprochen: Familie von Mike (†39) akzeptiert Urteil nicht
Vor wenigen Tagen wurden die sechs Lausanner Polizisten, die der fahrlässigen Tötung von Mike Ben Peter beschuldigt waren, freigesprochen. Jetzt zieht der Anwalt der Familie des Opfers den Fall ans Kantonsgericht weiter.
https://www.blick.ch/schweiz/westschweiz/waadt/polizisten-von-fahrlaessiger-toetung-freigesprochen-familie-von-mike-39-akzeptiert-urteil-nicht-id18700709.html
-> https://www.rts.ch/info/regions/vaud/14131353-la-famille-de-mike-ben-peter-fait-appel-apres-lacquittement-des-six-policiers.html
+++FRAUEN/QUEER
Gemeinderatsantwort auf Interfraktionelles Postulat GLP/JGLP, AL/GaP/PdA, BDP/CVP, GB/JA!, GFL/EVP, SP/JUSO, (Patrick Zillig, GLP/Tabea Rai, AL/Zora Schneider, PdA/Milena Daphinoff, CVP/Ursina Anderegg, GB/Marcel Wüthrich, GFL/Mohamed Abdirahim, JUSO): Massnahmen zur Gleichstellung und zur Sicherung der Grundrechte von trans* Personen (PDF, 294.7 KB)
https://www.bern.ch/politik-und-verwaltung/gemeinderat/aktuelle-antworten-auf-vorstosse/publizierte-antworten-am-26-juni-2023/interfraktionelles-postulat-glpjglp-massnahmen-zur.pdf/download
+++RASSISMUS
EKR – Rassismus und Jugend: Bestandsaufnahme und Handlungsfelder
An einer Fachtagung der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) sind am 26. Juni 2023 mehr als 270 Menschen in Bern zusammengekommen, um über das Thema «Rassismus und Jugend» zu sprechen. Gestützt auf verschiedene Studien und Beobachtungen aus der Praxis warfen die Referentinnen und Referenten der Tagung einen kritischen Blick auf Rassismus im schulischen Umfeld, in Sport und Freizeit sowie im digitalen Raum. Bundespräsident Alain Berset unterstrich in seiner Eröffnungsrede die Wichtigkeit des Anlasses.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-95990.html
Coop verbietet Kopftücher für Mitarbeitende im Verkauf
A.T. darf bei Coop nicht mit einem Kopftuch arbeiten. Kopfbedeckungen sind laut Bekleidungsvorschriften von Coop im Verkauf untersagt. Die dreifache Mutter fühlt sich diskriminiert und kündigte.
https://www.20min.ch/story/coop-verbietet-kopftuecher-fuer-mitarbeitende-im-verkauf-557854055243?version=1687772595046
ANTIRA-WOCHENSCHAU: Freispruch für Cops, Freiheitsentzug für Asylsuchende, Freiheit für Homayoun
https://antira.org/2023/06/26/freispruch-fuer-cops-freiheitsentzug-fuer-asylsuchende-freiheit-fuer-homayoun/
+++RECHTSPOPULISMUS
St.Galler Gemeinde Schmerikon verbietet den Genderstern
Die Gemeinde Schmerikon untersagt den Gemeindebehörden und der Schule die Verwendung des Gendersterns. Dies auf Antrag der regionalen SVP, die den Erfolg gegen die «Woke-Sprache» feiert.
https://www.tvo-online.ch/aktuell/st-galler-gemeinde-schmerikon-verbietet-den-genderstern-152205208
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nzz.ch 26.06.2023
Gender, Gender, Gender: Erlebt die Schweiz gerade eine Amerikanisierung ihrer Politik?
Die Politikwissenschafterin Silja Häusermann erklärt, warum der Gender-Stern polarisiert, wer von der Debatte darüber profitiert – und warum das Gender-Thema zur DNA der SVP gehört.
Giorgio Scherrer, Michael von Ledebur
In Stäfa wird ein Gender-Tag wegen Drohungen abgesagt. In Zürich kann eine Dragqueen-Vorlesestunde nur mit Polizeischutz stattfinden. Und die grösste Partei des Landes erklärt den Kampf gegen «Woke-Wahn» und «Gender-Ideologie» zum Topthema.
Hält hier ein neuer Politikstil Einzug? Und hat «Gender» das Potenzial, das dominierende Thema der Wahlen im Herbst zu sein? Zeit für eine Einordnung mit der Zürcher Politikwissenschafterin Silja Häusermann.
Frau Häusermann, erleben wir gerade die Amerikanisierung der Schweizer Politik?
Nein, wir erleben ein ganz normales Wahljahr. Da geht es eben darum, Themen zu bewirtschaften, bei denen die Leute genau wissen, auf welcher Seite sie stehen. Geschlechternormen bei der SVP – und übrigens auch Gleichstellungspolitik auf der Linken – sind solche Wertfragen.
Man versucht gar nicht erst, die andere Seite von seinem Standpunkt zu überzeugen. Es geht links und rechts nur noch darum, sich zu empören.
Es geht um die Mobilisierung der eigenen Basis. Das ist die zentrale Aufgabe der Parteien im Wahlkampf: potenziellen Wählern in Erinnerung zu rufen, wofür man steht. Schon im November hat die SP Gleichstellung zum zentralen Thema ihres Wahlkampfs erklärt. Und Anfang Jahr hat die SVP damit begonnen, das Thema Gender praktisch symmetrisch zu bedienen.
Aber wie kommt die Anti-Ausländer- und Anti-Migrationspartei SVP dazu, sich mit dem Thema Geschlechterrollen zu befassen? Das passt doch gar nicht zu ihr.
Im Gegenteil: Es passt historisch betrachtet sehr gut. Sehen Sie sich dieses Foto von 1985 an (sie holt ein Bild von Christoph Blocher hervor, hinter ihm ein Plakat mit dem Slogan: «Der Richter im Ehebett»). Das ist aus dem Abstimmungskampf gegen das neue Eherecht – einer der ersten grossen Kampagnen von Blocher und seiner neuen SVP. Damals begann ihr Aufstieg von einer kleinen, eher moderaten Bauern- und Gewerbepartei zur grössten Partei des Landes.
Da steht: «familienfeindlich, kinderfeindlich, ehefeindlich». Der Slogan könnte aus der heutigen Gender-Debatte sein.
Genau. Der «Richter im Ehebett» von damals entspricht der «Sprachpolizei» von heute. Die Botschaft ist: Nicht einmal im Schlafzimmer ist man sicher vor einem progressiven Staat, der sich einmischt und kontrolliert. Geschlechternormen – und damit auch das Gender-Thema – gehören zum programmatischen Kern der SVP.
Die Partei hat sich seit den 1980ern doch auch verändert.
Sie hat sich den zentralen Entwicklungen in diesem Bereich konsistent entgegengestellt: dem Eherecht, dem Gleichstellungsgesetz, der Mutterschaftsversicherung, der Fristenlösung, der Ehe für alle, dem Vaterschaftsurlaub. Wenn Sie heute der SVP-Programmchefin Esther Friedli zuhören, könnte man meinen, dass ihre Partei jahrzehntelang für die Gleichstellung gekämpft habe und diese Errungenschaften nun durch die «Gender-Ideologie» bedroht sieht. Das ist nicht so.
Nun macht die Partei Stimmung gegen den Gender-Stern oder Dragqueen-Lesestunden – und stösst damit im eigenen Lager auf viel Resonanz. Wie kann man sich über scheinbar Nebensächliches so stark aufregen?
Der Gender-Stern und die Dragqueen-Lesung sind Symbole für etwas Tieferliegendes. In den Worten einer Berliner Soziologengruppe: Es sind Triggerpunkte. Solche gibt es links wie rechts. Und Konservative werden eben getriggert durch Verstösse gegen eine als natürlich wahrgenommene Geschlechterordnung. Wenn sie den Eindruck haben, es gebe bald keine Männer und Frauen mehr. Sie befürchten dann einen Dammbruch. Dabei geht es auch um Autonomieverlust: die Sorge, dass man bald nicht mehr frei sprechen kann, dass der Staat Schreibweisen kontrolliert und mit Sanktionen belegt.
Der vermeintlich kleine Anlass steht für grundlegende Sorgen.
Eine Studie aus den USA hat es einmal so beschrieben: Die Leute haben das Gefühl, sie stehen in einer Schlange und es reihen sich immer wieder andere vor ihnen ein. Sie selbst stehen nicht unbedingt schlechter da, aber andere Gruppen sind plötzlich wichtiger. Diese Wahrnehmung einer relativen Verschlechterung der eigenen gesellschaftlichen Position – das zeigen viele Umfragen – ist sehr eng verbunden mit rechtskonservativen Einstellungen. Es geht letztlich darum, dass man sich von sozialem Wandel bedrängt und bedroht fühlt.
Und warum lösen gerade Geschlechterthemen solche Ängste aus?
Die Geschlechterrollen sind etwas von dem, was in den letzten Jahrzehnten am stärksten progressiv aufgebrochen wurde. Das Leben der Frauen und auch vieler Männer hat sich gegenüber dem vor vierzig Jahren massiv verändert, in Bildung, Beruf, Familie und im Beziehungsverhalten. Auch die Haltung zu Geschlechterfragen wird von Generation zu Generation liberaler. Es gibt in diesem Bereich einen klaren progressiven Trend. Das ist alles andere als selbstverständlich; bei Migrationsfragen gibt es zum Beispiel keinen eindeutigen Trend.
Die Angst vor «Woke-Wahn» und «Gender-Ideologie» ist also eine Reaktion auf den liberalen Wandel der Gesellschaft.
In der Forschung nennen wir das ein Backlash-Argument: Der Erfolg von rechtsnationalen Parteien ist eine Gegenbewegung zur gesellschaftlichen Modernisierung. Dafür gibt es Beispiele in ganz Europa: Giorgia Meloni in Italien oder die Schwedendemokraten versuchen zum Beispiel, das Thema Familie und traditionelle Geschlechterrollen höher zu hängen.
Und das funktioniert?
Es funktioniert im eigenen Lager. Dazu gibt es zwei aktuelle Studien, eine aus Spanien und eine aus Schweden. In beiden Ländern gab es infolge der #MeToo-Bewegung eine starke feministische Mobilisierung. Beide Studien zeigen nun, dass das bei den Konservativen eine Gegenreaktion auslöste: Sie gingen vermehrt an die Urne – mit Auswirkungen auf das Wahlresultat. Es gibt den Gender-Backlash also. Aber es braucht dafür einen Aufreger, einen Anlass. Es ist kein Dauerbrennerthema wie Migration, das immer zieht.
In der Schweiz liefert die Linke ihren Gegnern regelmässig solche Anlässe. Zum Beispiel, wenn die Sprachregelung in der Stadt Zürich neu den Gender-Stern vorsieht.
Der progressive Wandel der Gesellschaft ist mitverantwortlich für den Backlash. Aber gerade linke Parteien entscheiden sich bewusst für solchen Aktionen und nehmen in Kauf, dass sie die Gegenseite provozieren. Weil es zum Kern ihrer Politik gehört und sie damit auf ein Bedürfnis aus ihrer Basis reagieren.
Es gibt doch auch linke Wählerinnen und Wähler – gerade ältere –, die Mühe mit diesem progressiven Kurs haben.
Das hört man oft. Aber wir haben intensiv zur Wählerbasis der SP und ihrer europäischen Schwesterparteien geforscht, und unsere Resultate zeigen: Den älteren Linken sind die modernen, progressiven Themen zwar in der Tat weniger wichtig als den jungen. Sie sind inhaltlich aber keineswegs dagegen.
Aber es gibt auch Figuren wie Alice Schwarzer, die sagt, Anliegen wie der Gender-Stern untergrüben, wofür sie dreissig Jahre gekämpft habe.
Alice Schwarzer nimmt eine dezidierte Position ein: Sie verteidigt die Bedeutung des biologischen Geschlechts, fordert aber ein Aufbrechen von traditionellen Geschlechternormen. Die Debatte bleibt aber innerhalb des progressiven Lagers. Wegen des Gender-Themas verlieren die Sozialdemokraten keine Stimmen an Parteien wie die SVP.
Hat es den Linken also am Ende auch genützt, dass sie das Geschlechterthema politisiert haben? Auch wenn es nun zu einem Backlash kommt?
Auf jeden Fall. Nur weil die Linke sich ab den 1980er Jahren gesellschaftspolitisch neu erfunden hat, konnte sie sich jene Wählerschichten erschliessen, die jetzt ihre grösste, treuste und wachsende Wählerschaft sind: die gut qualifizierten, eher städtischen Mittelschichten.
Es gibt ja die weitverbreitete These, dass die SP ihre klassischen Wähler – die «einfachen Arbeiter» – verliert, wenn sie zu stark auf Identitätspolitik setzt.
Es stimmt wohl schon, dass die SP dadurch einen Teil ihrer traditionellen Wählerschaft verloren hat. Aber das ist vor dreissig Jahren passiert. Heute verliert die SP niemanden, wenn sie zum Beispiel offensiv zum feministischen Streik aufruft. Im Gegenteil.
Wem nützt es denn mehr, dass das Gender-Thema bewirtschaftet wird: den Linken oder den Rechten?
Den Linken nützt es sicher. Gleichstellung ist für die SP seit vierzig Jahren ein zentrales Thema, von dem sie an der Urne profitiert, wenn sie damit mobilisieren kann. Rechts deutet auch vieles auf Mobilisierung im eigenen Lager hin. Es ist also eindeutig eine Dynamik, die die Polarisierung weiter stärkt.
Und die Mitteparteien haben das Nachsehen.
Das Thema ist ein Problem für FDP und Mitte. Das liegt auch daran, dass die Geschlechterpolitik an Bedeutung verloren hat in diesen Parteien. In den 1990er Jahren war das noch anders: Damals wurde enorm viel über Gleichstellung diskutiert – und Politikerinnen aus FDP und CVP spielten dabei eine zentrale Rolle. Sie waren dezidiert progressiv und auch bei der ersten Frauensession und dem Frauenstreik 1991 prominent mit dabei. Diese bürgerlichen Aushängeschilder sind heute im Zug der Polarisierung weitgehend verschwunden. Die GLP springt in die Bresche, aber hat natürlich nicht die Bedeutung der damaligen bürgerlichen Parteien.
Wenn man Ihnen so zuhört, bekommt man den Eindruck: Der «Gender-Kampf» ist nichts Neues, sondern schlicht die jüngste Variante eines alten Konflikts.
Es hat sich in den letzten dreissig Jahren schon etwas verändert: Die Polarisierung hat zugenommen. Die politischen Lager sind stärker segmentiert, sie bleiben unter sich. Die Überlappungen der Wählerpotenziale werden immer kleiner. Die Schweiz ist eines der polarisiertesten Länder in Europa. Man kann das empirisch zeigen: Wenn Sie die Schweizerinnen und Schweizer fragen, welchen Gruppen sie sich besonders nahe oder fern fühlen, finden Sie zwischen Linken und SVPlern den totalen Gegensatz. Die Leute wissen heute genau, wo sie hingehören.
Die Amerikanisierung der Schweizer Politik hat also längst stattgefunden.
Es ist eine Entwicklung, die alle westlichen Demokratien betrifft. Aber Amerikanisierung ist nicht der richtige Begriff dafür. Die Tea Party in den USA entstand deutlich später als der Aufstieg der SVP, des französischen Rassemblement national oder der FPÖ in Österreich. In den USA wird der Konflikt zwar radikaler ausgefochten, aber bei uns gibt es ihn parteipolitisch schon mindestens so lange.
Am neuen Kulturkampf ist also nicht Amerika schuld.
Natürlich orientieren sich alle Parteien auch an anderen Ländern und importieren Taktiken und Schlagworte, gerade für Kampagnen. Aber der Grundkonflikt ist überall derselbe: zwischen Bewahren und Aufbrechen hergebrachter sozialer Ordnungen und Hierarchien, zwischen gesellschaftlich progressiv und konservativ. Im 20. Jahrhundert war der Klassenkampf der zentrale politische Konflikt. Heute ist es der Kulturkampf zwischen der neuen Linken und den rechtsnationalen Parteien.
Ist es nicht ein Problem, wenn wir uns – statt über Altersvorsorge oder Inflation zu sprechen – immer mehr in Diskussionen um Gender-Tage und Dragqueen-Lesungen verlieren?
Natürlich wünscht man sich, dass in einem Wahlkampf die grossen und komplexen Probleme diskutiert werden. Ich würde gesellschaftspolitische Themen aber nicht als Nebensächlichkeiten abtun.
Weil man die Befürchtungen ernst nehmen muss, die diesen Debatten zugrunde liegen?
Ehrliche Befürchtungen, ja. Übrigens von rechts wie von links. Und zwar, weil es dabei um grundlegende Fragen der gesellschaftlichen Ordnung und Machtverteilung geht.
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Ein vergleichender Blick auf die Schweiz
sgi. Silja Häusermann, Jahrgang 1977, ist eine der renommiertesten Politikwissenschafterinnen der Schweiz. Sie war mit 34 Professorin, publiziert in den einflussreichsten Journals ihres Fachgebiets und ist Trägerin eines prestigeträchtigen Forschungsstipendiums des Europäischen Forschungsrats (ERC).
An der Universität Zürich forscht Häusermann zu Schweizer Politik. Sie setzt dabei auch auf Vergleiche mit anderen Ländern und internationalen Trends. Zu ihren Schwerpunkten gehören die Gleichstellungs- und Sozialpolitik sowie der Wandel der Parteienlandschaft. Zuletzt publizierte sie mit anderen das Buch «Wählerschaft und Perspektiven der Sozialdemokratie in der Schweiz» (NZZ Libro, 2022).
(https://www.nzz.ch/zuerich/politik-gegen-gender-woke-silja-haeusermann-ueber-die-svp-ld.1743269)
+++RECHTSEXTREMISMUS
Rechtsradikale-Treffen beim Morgartendenkmal: Regierung sieht keinen Grund, um zu intervenieren
Der Regierungsrat liefert Antworten zu einer Interpellation zweier SP-Kantonsratsmitglieder. Diese stellten Fragen zu den wiederkehrenden Besammlungen rechtsradikaler Gruppierungen beim Morgartendenkmal.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/oberaegeri-rechtsradikale-treffen-beim-morgartendenkmal-regierung-sieht-keinen-grund-um-zu-intervenieren-ld.2480048