Medienspiegel 24. Juni 2023

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+++BERN
derbund.ch 24.06.2023

Ein Projekt für Geflüchtete: Auf Berndeutsch gegen die Ohnmacht

Farhad Haji ist selber vor acht Jahren in die Schweiz geflüchtet. Nun unterstützt der Migrationsfachmann andere Geflüchtete – und kritisiert die hiesigen Strukturen.

Jessica King

«Guter Tee heute», sagt Farhad Haji auf Arabisch. Schwarz, stark, mit zwei Teelöffeln Zucker.

Das sei die einzige Bedingung für seine Hilfe, fügt er auf Berndeutsch hinzu. Dass er eine Tasse Tee kriege.

Die Familie, bei der er im Wohnzimmer auf dem geblümten Sofa sitzt, stammt wie er aus Syrien. Vor drei Jahren sind Mutter, Vater, vier Kinder und zwei Enkelkinder als sogenannte Resettlement-Flüchtlinge in die Schweiz gereist. Legal, mit dem Flugzeug. Das Programm des Flüchtlingskommissariats UNHCR teilt besonders schutzbedürftige Flüchtende Drittstaaten zu.

Als besonders schutzbedürftig gilt diese Familie unter anderem, weil zwei Kinder an einer schweren und sehr seltenen Krankheit leiden: Sie leben mit einer starken Behinderung und brauchen einen elektrischen Rollstuhl. So in die Schweiz zu fliehen, über das Mittelmeer oder die Balkanroute, auf Booten oder mit Lastwagen, wäre unmöglich gewesen, sagt der Vater.

Mittlerweile erzählt eine der erwachsenen Töchter Farhad Haji von ihrem letzten Besuch auf dem Sozialamt. Sie will ein Praktikum anfangen, müsste dafür aber ihre Kinder in die Tagesschule schicken, sagt sie. Das Sozialamt wolle aber die Tagesschule nicht finanzieren – die Tochter hat nun Angst, dass sie deshalb beim Praktikumsbetrieb absagen muss.

Haji runzelt die Stirn, währenddessen er auf Deutsch übersetzt. Er werde dem nachgehen, verspricht er dann der Tochter. Was heisst das? «Immer dasselbe», sagt er. «Einen Termin vereinbaren, mit den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern sprechen, eine Lösung suchen.»

Wissen von Landsleuten

Farhad Haji sieht sich als Brücke zwischen Geflüchteten und der Schweiz. Was das bedeutet, wird beim Besuch bei dieser Familie klar. Denn die Realität, die sie aus Syrien kennen, ist weit entfernt von der Realität in der Schweiz. In Syrien gebe es keine Invalidenversicherung, keine Sozialversicherungen, keine Arbeitsintegration, zählt der Vater auf. «Die einzige Versicherung ist es, Kinder zu haben.»

Hier in der Schweiz kämpft sich die Familie nun durch einen Bürokratie-Dschungel, den sie sich bemüht zu überblicken. Bei Terminen mit dem Sozialamt oder den Ärztinnen benützen Mutter und Vater zwar Google Translate, halten das Handy hin, lesen die automatische Übersetzung. Doch das genügt oft nicht, weil sie nicht wissen, was der übersetzte Begriff «Invalidenversicherung» genau bedeutet. Erschwerend ist zudem: Ihr Wissen über die behördlichen Vorgänge in der Schweiz stammt mehrheitlich von Landsleuten, die teilweise selber falsche Informationen gelernt haben. «Ich fühle mich oft verloren», sagt der Vater.

Die Probleme der Familie gehen weiter als Arztbesuche oder IV. Über eineinhalb Jahre lang hatten die Kinder etwa keine Elektrorollstühle, stattdessen schob sie die Mutter abwechslungsweise bei medizinischen Terminen zum Bahnhof. Der Vater habe die Kinder nicht zum Arzt fahren können, weil sein syrischer Führerschein erst noch zu einem schweizerischen umgewandelt werden müsste. Geändert hat sich alles erst, als Farhad Haji die Familie zu unterstützen begann und Kontakt mit den Behörden aufnahm. «Vorher hatten wir schon aufgegeben», übersetzt Farhad die Mutter.

Start des Projekts

Haji ist selber 2015 in die Schweiz geflüchtet, als der Krieg in Syrien auf dem Höhepunkt war. Seither hat der 28-Jährige etliche Berufe ausgeübt: Er war Hauswart, Sozialpädagoge bei der Jugendarbeit, Betreuer im Asylzentrum Aarwangen, Museumsguide im Bernischen Historischen Museum, Barmitarbeiter in der Turnhalle. Die für ihn wichtigste Errungenschaft: Er hat 2018 die «Integrationsbrücke Bern» gegründet. Ein Projekt für die interkulturelle Vermittlung. Seither arbeite er an mehreren Tagen pro Woche für das Projekt, sagt er, zahle sich aber nur sporadisch einen Lohn aus. «Je nachdem, ob wir genug Spenden haben.» Sein Leben finanziert er sich mit anderen Jobs. 2020 gewann der Verein den «Prix Effort», ein mit 10’000 Franken dotierter Förderpreis der Burgergemeinde Bern.

Farhad Haji kennt das Gefühl, wenn man die Sprache nicht kann, die Strukturen nicht versteht, sich verloren fühlt. Er erinnert sich an seine Ankunft in der Schweiz, als er dem Asylzentrum Viktoria in Bern zugeteilt wurde. An der ersten Haussitzung habe der Zentrumsleiter die Hausregeln und Angebote für die Bewohnenden in gebrochenem Englisch erklärt. «Ich konnte nur ganz wenig Englisch, die anderen gar nicht.»

Stattdessen hörte Haji auf Leute aus Syrien oder Afghanistan, die schon länger in der Schweiz waren. «Sie sagten mir, ich solle in einem Restaurant, einer Bäckerei, einem Coiffeurgeschäft arbeiten, sieben Tage die Woche, zwölf Stunden pro Tag, falls nötig auch schwarz. Deutschkurse würden nichts bringen.» Das war das einzige Bild, das Haji während der ersten Monate von der Schweiz hatte. Erst allmählich lernte er andere Leute kennen, unter anderem die vielen Freiwilligen, die in Bern Angebote gründeten. «Und allmählich verstand ich, dass ich auch eine Ausbildung machen könnte. Dass es Gratis-Deutschkurse und Übungsmöglichkeiten gab.»

Brücke zu den Menschen

Vor einem Monat hat Farhad Haji nun die Ausbildung zum Migrationsfachmann bestanden. Mit der «Integrationsbrücke» unterstützt er rund 150 bis 200 Personen pro Jahr, alle im Raum Bern. Und er hat eine starke Meinung, wie die Schweiz die Integration verbessern könnte. «Die Behörden müssten cleverer investieren», glaubt er. «Sie müssen nicht mehr Geld aufbringen, aber es besser verteilen.»

Was heisst das? Farhad Haji führt länger aus. Dass zwar viele Projekte und Angebote existierten, diese die Menschen aber nicht erreichten. Auch, weil diese nichts davon wüssten. Dass die Geflüchteten zwar zu ihren Pflichten, aber nicht zu ihren Rechten instruiert würden.

Eines der Probleme sei auch, dass die meisten Zentren auf dem Land seien, die Angebote hingegen im Zentrum. «Und der ÖV ist teuer.» Zudem sei fast alles auf Deutsch: «Dir wird in den Zentren auf Deutsch erklärt, welche Angebote existieren. Aber du musst jahrelang Deutsch lernen, bis du das verstehst. Und bis dann hast du viele Falschinformationen von Landsleuten erhalten, die es auch nicht besser wissen.»

Er ist überzeugt, dass sich Investitionen zu Beginn längerfristig lohnen. Klar könne jemand, der jung und kräftig sei, schnell eine Arbeit finden. Wie er es hätte machen können, der zuvor in Syrien als Gipser tätig war. «Aber was passiert, wenn du mit Mitte 40 den Job verlierst und weder Ausbildung noch Sprachkenntnisse vorweisen kannst? Du findest dann keine Stelle mehr. Und das kostet den Staat schliesslich mehr, als wenn du zu Beginn eine Ausbildung gemacht und die Sprache gut gelernt hättest.»

Und was sagt das Sozialamt?

Angesprochen auf Farhad Hajis Kritik, zögert Claudia Hänzi, Leiterin des Sozialamts der Stadt Bern. Gewisse Elemente kann sie nachvollziehen. Das Gefühl der Ohnmacht bei den Geflüchteten kennt sie, auch die Probleme, das Versicherungssystem zu verstehen. «Wir legen aber viele Anstrengungen darauf, zu vermitteln, wie die Schweiz funktioniert», sagt sie. Das fange bei den Kollektivunterkünften an, in denen Geflüchtete über Themen wie Schulsystem, Wohnungsmarkt, Rechte und Pflichten aufgeklärt würden. «Aber die Situation ist komplex», sagt Hänzi. So kenne die Mehrheit der Länder beispielsweise keine Krankenversicherung. «Und sogar Schweizerinnen und Schweizer haben Mühe, das Sozialversicherungssystem zu durchschauen.»

Sie betont aber, dass sich vieles geändert habe, seit sich Bund und Kantone 2019 auf die sogenannte Integrationsagenda geeinigt haben. Im neuen System sollen Geflüchtete so rasch wie möglich einen Sprachkurs und eine Ausbildung absolvieren – sieben Jahre nach der Einreise sollte die Hälfte nachhaltig in den Arbeitsmarkt integriert sein. Die Fallführung ist durchgehend und beinhaltet unter anderem Potenzialabklärungen, damit die Geflüchteten individuell gefördert werden. «Es braucht sowohl einen Integrationswillen als auch das zugehörige Angebot», sagt Hänzi. «Das muss zusammenpassen.»

Sie gibt aber Farhad Haji recht, dass sich Investitionen in die Integration längerfristig finanziell oft lohnten. Laut Gesetzgebung sei es aber die Aufgabe der Sozialhilfe, Menschen möglichst schnell in die finanzielle Selbstständigkeit zu entlassen. Egal wie. «Dass eine solche Vorgehensweise teilweise weniger nachhaltig ist, ist seit längerem ein Thema. Die Forderungen der Fachwelt, zu Beginn mehr zu investieren, liegen auf dem Tisch.» Das Problem sei einfach: Das koste kurzfristig mehr.
(https://www.derbund.ch/auf-berndeutsch-gegen-die-ohnmacht-654864829240)


+++SCHWEIZ
Boots-Katastrophe: Schweiz soll auch ohne Frontex Beitrag leisten
Der Einfluss der Schweiz bei Frontex ist klein. Doch sie könne und müsse eigenständig mehr tun, fordern sowohl Frontex-Gegner wie -Befürworter.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/boots-katastrophe-schweiz-soll-auch-ohne-frontex-beitrag-leisten-66526094


Hauptthema im Wahlkampf: Juso fordern Ausschaffungsstopp
Die Juso-Delegierten haben am Samstag in Neuenburg die «Heuchelei der bürgerlichen Gleichstellungspolitik» und deren «menschenverachtende Migrationspolitik» kritisiert.
https://www.blick.ch/politik/hauptthema-im-wahlkampf-juso-fordern-ausschaffungsstopp-id18694959.html


+++MAROKKO
Marokko/Spanien: Familien der Toten und Vermissten von Melilla weiter im Ungewissen – Verschleierungstaktik der Behörden
Auch ein Jahr nach den tödlichen Ereignissen an der Grenze der spanischen Enklave Melilla befinden sich die Familien der Toten und Vermissten nach wie vor im Ungewissen. Ihre Versuche, das Schicksal ihrer Angehörigen zu klären, und ihre Bemühungen um Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung werden von den spanischen und marokkanischen Behörden behindert. Amnesty International ist der Ansicht, dass es sich hierbei möglicherweise um Verschleierungstaktiken handelt.
https://www.amnesty.at/news-events/marokkospanien-familien-der-toten-und-vermissten-von-melilla-weiter-im-ungewissen-verschleierungstaktik-der-behoerden/


+++FREIRÄUME
Das Alba-Festival steht auf der Kippe
Letztes Jahr kamen über 20 000 Besucherinnen und Besucher ans Alba-Festival auf der Zürcher Hardturm-Brache. Dieses Jahr ist noch nicht klar, ob das albanische Musikfestival wieder dort stattfinden kann und unter welchen Bedingungen. Denn derzeit blockieren Besetzer einen Teil des Areals.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/das-alba-festival-steht-auf-der-kippe?id=12410242


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
30 Jahre nach dem Mord an Şemsettin Kurt in Bern – Kein Vergeben & Vergessen!
Gedenkaktionen in ZH & BE für den ermordeten Şemsettin Kurt 1993 in Bern.
Heute, dem 24. Juni 2023 vor 30 Jahren wurde der Kurde Şemsettin Kurt in Bern von der türkischen Botschaft aus erschossen. Mit zwei Bildern in Bern und Zürich wollen wir an ihn erinnern. Sein Kampf gegen den Krieg des türkischen Staates ist auch heute unsere Aufgabe.
https://barrikade.info/article/6022
-> https://twitter.com/gegen_oben/status/1672608036530028544
-> https://www.woz.ch/1617/24-juni-1993/als-in-bern-aus-der-tuerkischen-botschaft-auf-kurdische-demonstrantinnen
-> https://fredi-lerch.ch/journalistisches/reportagen/einzelseite-reportagen/kleiner-kaempfer-fuer-die-grosse-sache-92
-> https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/kurden-demonstration-und-trauerfeier-fuer-semset—?urn=urn:srf:video:c8309d6a-e806-48a1-95db-aecfb8ddbbb5


Greta Thunberg in Basel: Klimademonstration zieht durch die Innenstadt zur BIZ
Gestern kündigte die schwedische Klimaaktivistin kurzfristig an, die Demonstration in Basel besuchen zu wollen. Die Polizei ist mit einem kleineren Aufgebot vor Ort.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/klimastreik-greta-thunberg-in-basel-klimademonstration-zieht-durch-die-innenstadt-zum-biz-ld.2479551
-> https://www.bazonline.ch/greta-thunberg-zieht-mit-rund-300-menschen-durch-die-stadt-686639210464
-> https://www.baseljetzt.ch/greta-thunberg-protestiert-in-basel/78317
-> https://primenews.ch/articles/2023/06/endfossil-demo-mit-greta-thunberg-zieht-durch-basel
-> https://www.watson.ch/schweiz/basel/166433307-klimaaktivistin-greta-thunberg-ist-an-der-peoples-parade-in-basel
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/klimaaktivistin-greta-thunberg-protestiert-in-basel-66527456
-> https://twitter.com/Kapo_BS/status/1672570027914977281
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/greta-thunberg-in-basel-klimademonstration-verlaeuft-friedlich?id=12410197
-> https://telebasel.ch/sendungen/punkt6


+++SPORT
Erneute Kehrtwende rund um FCL-Heimspiele: Luzerner Polizei verbietet Hochrisikospiele an Samstagen
Jahrelang verhinderte die Luzerner Polizei die Ansetzung von Hochrisikospielen des FC Luzern an Samstagabenden – wegen Sicherheitsbedenken. Nicht so während der Rückrunde der abgelaufenen Saison. Inzwischen hat sie das Experiment abgebrochen.
https://www.zentralplus.ch/sport/fc-luzern/luzerner-polizei-verbietet-hochrisikospiele-an-samstagen-2555769/


+++KNAST
Resozialisierung im Gefängnis – So bereitet Knast-Fussball Häftlinge auf die Freiheit vor
Das Fussballteam im Gefängnis Witzwil BE soll die Insassen auf die Freilassung vorbereiten. Funktioniert das?
https://www.srf.ch/news/schweiz/resozialisierung-im-gefaengnis-so-bereitet-knast-fussball-haeftlinge-auf-die-freiheit-vor


+++POLICE VD
tagblatt.ch 24.06.2023

Freisprüche im «Fall Mike»: Ein Urteil mit (zu) vielen Auffälligkeiten – Strafrechtsexperte Mohler zerlegt das Verfahren

Das Verfahren wegen tödlicher Polizeigewalt gegen einen dunkelhäutigen Kleindealer endete mit Freisprüchen für sechs Polizeibeamte in Lausanne. Der ehemalige Basler Polizeikommandant Markus Mohler stellt der Justiz kein gutes Zeugnis aus.

Henry Habegger

Der Fall erinnert zwangsläufig an die Tötung von George Floyd in den USA. Der Nigerianer Mike Ben Peter, 39, widersetzte sich 2018 in der Nähe des Lausanner Bahnhofs einer Drogenkontrolle. Er wurde geschlagen, mit Pfefferspray traktiert, zu Boden auf den Bauch gedrückt, die Polizisten legten ihm Handschellen an. In dieser Position auf dem Bauch blieb er minutenlang fixiert, er erlitt einen Herzstillstand und starb später im Spital.

Sechs Polizisten wurden am Donnerstag vom Strafgericht in Lausanne vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen.

Sicherheitsexperte Markus Mohler, 82, ist ein Verfechter der Rechtsstaatlichkeit. Er war viele Jahre Basler Polizeikommandant und selbst Staatsanwalt. Er verfasste Bücher über diese Rechtsgebiete und ist also beileibe kein Polizeigegner.

Gerade deshalb ist dieser Freispruch für ihn unverständlich. Mohler sagt: «Dieses Verfahren, dieses Urteil richtet in Bezug auf die Glaubwürdigkeit von Justiz und Polizei Schaden an.» Es sei offensichtlich, dass – nach der vielfältigen Medienberichterstattung zu schliessen – die Waadtländer Justiz fundamentale rechtliche Regeln missachtet habe.

Mohler zählt sechs «Auffälligkeiten» in dem Verfahren auf, die seine Aussagen belegen.

Die Ermittler

«Auffällig ist bereits die Leitung der Untersuchung durch den vorgesetzten Staatsanwalt und eigene Leute der Polizei», sagt Mohler. Die Waadtländer Staatsanwaltschaft führte das Strafverfahren selber, obschon sich dieses gegen Polizisten richtete, mit denen sie Tag für Tag zusammenarbeitet. «Das ist nach der geltenden Praxis des Menschenrechtsgerichtshofs nicht erlaubt», stellt Mohler fest. Die Unvoreingenommenheit sei nicht gewährleistet. Spätestens in Strassburg würde dieses Urteil gekippt. Aber er hoffe, es komme gar nicht so weit: dass nämlich höhere Schweizer Gerichtsinstanzen die Lausanner Fehler vorher schon korrigierten.

Die Bauchlage

Mohler stellt fest, dass Mike Ben Peter laut den Berichten längere Zeit in Bauchlage festgehalten wurde. Für den Polizei- und Strafrechtsexperten ist das ein ganz entscheidender Punkt. «Seit den Achtzigerjahren weiss man, dass diese Bauchlage sehr gefährlich ist, weil sie zum Herzstillstand, zur sogenannten bauchlagebedingten Asphyxie führen kann.» Alle Polizeiangehörigen müssten das wissen.

Das Festhalten in Bauchlage sei nach Instruktion nicht zulässig. «Es ist verboten, jemanden in Bauchlage länger als unverzichtbar so zu fixieren», sagt Mohler. «Eine verdächtige Person in Bauchlage zu bringen, um ihr Handschellen anzulegen: Das ist, wenn nötig, in Ordnung. Danach muss sie aber sofort wieder umgedreht oder aufgestellt werden. Nach längstens etwa einer Minute sollte die Bauchlage beendet sein.»

Der Freispruch

Auch der gänzliche Freispruch an sich ist für Mohler eine «Auffälligkeit» in diesem Verfahren. Denn für den Experten steht fest: «Die Polizisten erfüllten durch das beschriebene Verhalten den Tatbestand der fahrlässigen schweren Körperverletzung.» Rechtlich gesehen liege diesbezüglich ein Unterlassungsdelikt vor. «Dass man den Angehaltenen auf den Bauch legte, um ihm die Handschellen anzulegen – das war rechtlich wohl in Ordnung.

Dass man ihn danach aber nicht sofort wieder in eine andere Position verbrachte, war eine Unterlassung. Ob die Bauchlage für den Tod ursächlich oder mitursächlich gewesen war oder nicht, spielt dabei rechtlich gar keine Rolle.» Die Polizisten hätten in sorgfaltswidriger Weise eine lebensgefährliche Beeinträchtigung der Herz- und Atmungsfunktion durch Unterlassen verursacht. Einer der beteiligten Polizisten habe gemäss den Berichten auch auf diese Gefahr hingewiesen.

Die Gleichbehandlung

Auffällig ist für Mohler ferner, dass, wie der Berichterstattung zu entnehmen gewesen sei, «alle sechs Polizisten über einen Leisten geschlagen» wurden. «Einer von ihnen war aber wohl der Ranghöchste und trug daher erhöhte Verantwortung», sagt der ehemalige Polizeikommandant. «Die relevanten Verhaltens- und Verantwortungsanteile waren kaum alle gleich.»

Die Kniestösse

Zum tragischen Vorfall kam es, nachdem ein Polizist, der allein auf Patrouille war, Mike Ben Peter dabei beobachtete, wie er ein Säcklein unter einem Auto behändigte. Der Polizist stellte den Verdächtigen und versetzte ihm zwei Kniestösse zwischen die Beine, um ihn zu Boden zu bringen. Nach den Medienberichten war der Kontrollierte nicht gewalttätig geworden. Mohler: «Ein Polizist darf nicht als erster Gewalt anwenden, seine Handlungsweise war daher meines Erachtens unverhältnismässig und ein Amtsmissbrauch.» Dieser Punkt sei offenbar gar nicht untersucht und beurteilt worden.

Die Kehrtwende

Der Staatsanwalt selbst hatte im Lauf des Prozesses plötzlich Freisprüche gefordert, weil die Kausalität zwischen Handlungen der Polizisten und Tod des Nigerianers laut medizinischen Gutachten nicht zu beweisen sei. «Dass der Staatsanwalt im Lauf des Verfahrens von der ursprünglichen Anklage abweicht, ist möglich», weiss Mohler. Im Strafprozess gelte vor Gericht das Unmittelbarkeitsprinzip, es könne sich also während der Verhandlung eine neue Beweislage ergeben. Aber in diesem Fall war das offenbar anders. «Auffällig ist, dass der Staatsanwalt seine Meinung aufgrund von Gutachten geändert haben will, die schon vor der Anklageerhebung vorlagen. Das ist doch eher seltsam, denn diese matchentscheidende Beweislage hat sich ja gerade nicht geändert.»

Für Mohler ist klar: «Mit diesem Freispruch leistete die Waadtländer Justiz sich selbst und ihrer Polizei, ihrem Ruf und ihrer Arbeit keinen guten Dienst.»
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/waadt-freisprueche-im-fall-mike-ein-urteil-mit-zu-vielen-auffaelligkeiten-strafrechtsexperte-mohler-zerlegt-das-verfahren-ld.2479399)


+++POLIZEI ZH
Einblick in Zürcher Spezialeinheit
Bei Gewaltverbrechen, Geiselnahmen und im Personenschutz kommt sie zum Einsatz. Die Interventionseinheit «Skorpion» der Stadtpolizei Zürich. An ihrem 50-jährigem Jubiläumsfest haben sich die Skorpione einmalig über die Schultern schauen lassen.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/einblick-in-zuercher-spezialeinheit-00215247/


+++RASSISMUS
tagblatt.ch 24.06.2023

«Ein Stich in die Bischofszeller Seele»: Ehemaliges Restaurant Möhrle ist Opfer einer Farbattacke geworden

Die Fassade der Liegenschaft Kirchgasse 14 in Bischofszell «ziert» seit Anfang Juni die Parole «Fuck Racism». Das ehemalige Restaurant Möhrle in der Altstadt ist Opfer von Vandalen geworden.

Georg Stelzner

Was der Stadt Zürich recht ist – nämlich die Diskussion darüber, wie man es heutzutage mit den Mohren zu halten hat –, ist Bischofszell billig. Könnte man sagen, doch ist es das wirklich? Oder bedarf die Aussage vielleicht eines Fragezeichens? Immerhin handelt es sich im Falle der Rosenstadt nur um ein Möhrle, an dessen Existenz sich jemand zu stören scheint. Spass beiseite: Die Fassade der Liegenschaft Kirchgasse 14 «ziert» seit Anfang Juni die vulgäre Parole «Fuck Racism». Ausserdem ist der Name der früheren Gaststätte übermalt worden – beides mit rosaroter Farbe. Es handelt sich somit zumindest um den Tatbestand der Sachbeschädigung. Anzeige ist laut Auskunft der Kantonspolizei bis Mitte dieser Woche aber noch nicht erstattet worden. Die Frage ist: Wer oder was steckt dahinter?

Weingart glaubt nicht an politische Botschaft

«Was hier geschehen ist, ärgert mich furchtbar. Damit habe ich nicht gerechnet», sagt Stadtpräsident Thomas Weingart und bezeichnet die Verschandelung der Fassade eines historischen Gebäudes als «Stich in die Bischofszeller Seele». An eine politische Botschaft im Sinne einer Rassismuskritik oder einen aus ehrlicher Überzeugung artikulierten Protest mag Weingart nicht glauben. Den Urhebern der Sprayerei sei es einzig und allein ums Leidwerken gegangen, die Parole habe nur als Mittel zum Zweck gedient, ist er überzeugt.

Leute aus der Bischofszeller Bevölkerung hätten während seiner Amtszeit noch nie Anstoss an der Bezeichnung «Möhrle» genommen. Das einzige ablehnende Statement sei vor einigen Jahren per E-Mail von einem auswärtigen Stadtbesucher eingegangen.

Polizei hat noch keine Ermittlungen aufgenommen

Weingart wird die Sache nicht auf sich beruhen lassen, ist es in jüngster Zeit doch auch an anderen Orten auf Stadtgebiet zu solchen Aktionen gekommen. Er vermutet aufgrund des verwendeten Farbsprays, dass immer dieselbe Täterschaft am Werk war. Und diese müsse aufgrund der gewählten Objekte über genaue Ortskenntnisse verfügen.

Heimgesucht wurden laut Weingart auch eine Trafostation, Brücken und das Reservoir in Halden. Die Technischen Gemeindebetriebe Bischofszell würden Anzeige erstatten. Der Stadtpräsident betont: «Wir werden jetzt beharrlich beobachten und kontrollieren. Wir sind überzeugt, den oder die Täter ausfindig machen zu können.»

Da seitens der Besitzerin der Liegenschaft Kirchgasse 14, der Emo Invest GmbH in Arbon, bisher keine Anzeige vorliegt, hat die Polizei auch noch keine Ermittlungen aufgenommen. Dass der Schandfleck nach wie vor jedem Passanten ins Auge sticht, wurmt Weingart zusätzlich. «Es handelt sich um Privateigentum; der Stadt sind da die Hände gebunden», gibt er zu bedenken.

Sich austoben oder wichtig machen

Josef Mattle, von 2000 bis 2015 Stadtammann von Bischofszell, ist ebenfalls konsterniert. Auch ihn stört, dass die Parole noch nicht von der Hauswand entfernt worden ist. «Das hätte unverzüglich geschehen müssen», sagt Mattle. Er warnt vor einer Ermunterung zu weiteren Sprayereien und vor Nachahmungstätern. Die Verschandelung der Altstadt dürfe nicht hingenommen werden.

Die Sorge um Menschen, die unter Rassismus zu leiden haben, nimmt Mattle den Sprayern von der Kirchgasse nicht ab: «Ich vermute vielmehr, dass hier jemand einen Trend zum Vorwand genommen hat, um sich auszutoben oder sich wichtig zu machen.» Mattle kennt das «Möhrle» aus einer Zeit, als es noch ein Restaurant war. «Es war keine berühmte Gaststätte, sondern eine typische Quartierbeiz mit recht vielen Stammgästen. Da diese auch noch rauchen durften, musste man sich oft durch einen Nebel hindurchkämpfen, um an seinen Platz zu gelangen.»

Seit rund fünf Jahren ist es in der Gaststube an der Ecke Kirchgasse/Tuchgasse dunkel und rauchfrei. Letzte Wirtin war Nelly Brügger, die das Lokal mit ihrer Schwester Irma führte. Beide leben heute nicht mehr. Aus Sicht der gesamten Bischofszeller Gastronomie sei die Betriebseinstellung im «Möhrle» zu verschmerzen, sagt Mattle. Er empfindet aber alles, was sich durch eine gewisse Originalität ausgezeichnet hat und nicht mehr vorhanden ist, als Verlust. «Für mich war es schön, dass es diese Quartierbeiz gegeben hat», gibt das frühere Stadtoberhaupt seine Gefühle preis.

Nicht abwertend gemeint

Einer, dem das Ortsbild ebenfalls am Herzen liegt und der als junger Bursche selbst im «Möhrle» einkehrte, ist Bernhard Bischof, seines Zeichens Bischofszeller Ehrenbürger. Er meint: «Zum einen lehne ich Sachbeschädigungen grundsätzlich ab, zum andern kann ich nicht nachvollziehen, was am Bildnis eines Mohren rassistisch oder faschistisch sein soll.»

Bischof gibt zu bedenken, dass bei der Beurteilung des Sachverhalts der kulturhistorische Background berücksichtigt werden müsse. Die bildliche Darstellung eines Mohren oder die Verwendung des Begriffs war seiner Einschätzung nach einst überhaupt nicht abwertend gemeint, im Gegenteil. Bischof, der vor zwei Jahrzehnten die Bischofszeller Rosen- und Kulturwoche ins Leben gerufen hat, betont, dass ihm wegen des «Möhrles» nie negative Stimmen von Besuchern zu Ohren gekommen seien. Auch er plädiert dafür, die Schuldigen unbedingt ausfindig zu machen und für den Vandalismus angemessen zu bestrafen.

Bleibt zu hoffen, dass Bischofszell jetzt nicht unter einen generellen «Rassismusverdacht» gerät. Immerhin pflegt die Rosenstadt im Thurgau seit vielen Jahren partnerschaftliche Beziehungen zu Möhringen (!) in Baden-Württemberg und zu Waidhofen an der Ybbs in Niederösterreich, wo – man ahnt es – ein Mohr an prominenter Stelle das Stadtwappen schmückt.



Nach Brand 1743 wieder aufgebaut

Die im Inventar der schützenswerten Bauten im Kanton Thurgau als «wertvoll» aufgeführte Liegenschaft Kirchgasse 14 fiel dem Stadtbrand von 1743 zum Opfer, wurde aber im selben Jahr wieder errichtet. In einem Protokoll des Jahres 1813 ist nachzulesen, dass im Haus damals eine «Bäcker-Pfisterey und Pintenschenke» untergebracht waren.

Die Bezeichnung «Möhrle» für das Gebäude dürfte jüngeren Ursprungs sein. Historische Fotografien bezeugen, dass das frei hängende Wirtshausschild mit dem Mohrenkopf erst nach dem Zweiten Weltkrieg angebracht wurde. Auffallend ist, dass hier die Bezeichnung «Möhrli» statt «Möhrle» Verwendung findet.

Eine mögliche Erklärung für die einstige Vorliebe für heute exotisch wirkende Wirtshausnamen liefert René Creux in seinem Buch «Schilder vor dem Himmel». Darin schreibt der Verfasser: «Ein jeder Reklame innewohnender Grundsatz ist, dass um jeden Preis die Aufmerksamkeit geweckt, der Kunde angelockt werden muss, dass sie ihm gefallen, ihn erheitern, ihn neugierig machen soll.» Aufgrund dieser Überlegung könnte auch das Bischofszeller «Möhrle» zu seinem Namen gekommen sein. (st)
(https://www.thurgauerzeitung.ch/ostschweiz/oberthurgau/rassismus-vorwurf-ein-stich-in-die-bischofszeller-seele-ehemaliges-restaurant-moehrle-ist-opfer-einer-farbattacke-geworden-ld.2478936)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGEN
EDU verbindet sich mit Aufrecht Thurgau und gibt SVP einen Korb: Jetzt herrscht Alarmstimmung wegen drittem Nationalratssitz
Die EDU kehrt der SVP den Rücken und geht für die Nationalratswahlen eine Listenverbindung mit Aufrecht Thurgau ein. Dadurch droht der SVP im Herbst ein Sitzverlust. Der Kantonalpräsident ruft deshalb die Parteimitglieder zu einem ausserordentlichen Einsatz auf.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/wahlkampf-edu-verbindet-sich-mit-aufrecht-thurgau-und-gibt-svp-einen-korb-jetzt-herrscht-alarmstimmung-wegen-drittem-nationalratssitz-ld.2478996