Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
+++BERN
Anhaltende Kritik am «Asylbunker» Riedbach
Die Kritik am unterirdischen Rückkehrzentrum in Bern-Brünnen reisst nicht ab.
Maximal «einige Wochen» würden abgewiesene Asylsuchende dort untergebracht, versprach die Bernische Sicherheitsdirektion noch anfangs Jahr anlässlich der Eröffnung. In der Regel ist die Aufenthaltsdauer nun aber deutlich länger. Wie die Antwort auf eine Anfrage der Alternativen Linken AL im Kantonsparlament ergab, müssen abgewiesene Asylsuchende durchschnittlich 2.5 Monate dort verbleiben. Der bisher längste Aufenthalt liegt gemäss Sicherheitsdirektion bei 5 Monaten.
https://rabe.ch/2023/06/23/anhaltende-kritik-am-asylbunker-riedbach/
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Interfraktionelle Motion AL/PdA, SP/JUSO, GB/JA! (David Böhner, AL/Barbara Keller, SP/Anna Leissing, GB/Mahir Sancar, JA!/Nicole Bieri, JUSO): Keine Unterbringung von Geflüchteten in unterirdischen Bunkern. Die Stadt Bern soll sich für oberirdische Alternativen zum Rückkehrzentrum in Bern Brünnen einsetzen.
https://ris.bern.ch/Geschaeft.aspx?obj_guid=f0a660b4d8484a92b9868351e7b14aff
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derbund.ch 23.06.2023
Streit um Asylunterkunft Wolfisberg: Wahlkampfrhetorik, Realpolitik und Groll im Dorf
Wolfisberg revoltiert gegen die Pläne von Regierungsrat Pierre Alain Schnegg für eine Asylunterkunft in dem Dorf mit 180 Bewohnern. Die SVP bleibt auffallend still.
Cedric Fröhlich, Andres Marti
In einem kleinen Dorf am Südhang des Jura werden in diesen Tagen die ganz grossen Dinge verhandelt: die Folgen des globalen Migrationsdrucks, die nationale Asylpolitik und die Kapazitäten des Berner Asylwesens. Nicht ganz unerwartet, liegen in Wolfisberg die Nerven blank.
Vor drei Wochen hat der Kanton Bern den entlegenen Ortsteil der Gemeinde Niederbipp zum Standort für eine neue Kollektivunterkunft auserkoren. Das Hotel Alpenblick soll per Ende August Platz bieten für bis zu 120 Schutzsuchende – in Wolfisberg leben zurzeit 180 Menschen. Diese Woche reisten zweimal Vertreter der zuständigen kantonalen Direktion an, um diese Pläne zu verteidigen. Beide Unterfangen mündeten in hitzigen Debatten.
Die Situation ist auch Ausdruck der Diskrepanz, die im eidgenössischen Wahljahr 2023 zutage tritt: zwischen Wahlkampfrhetorik und politischer Realität.
Die Zurückhaltung der SVP
Auf nationaler Ebene übt die wählerstärkste Partei im Land, die SVP, harte Kritik an der Asylpraxis der Schweiz. Erst letzte Woche ritt die Partei einen Frontalangriff gegen die zuständige Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider (SP). Baume-Schneider habe den «Bezug zur Realität verloren», schrieb die Partei in einer Medienmitteilung.
Zu Wolfisberg verschickte der kantonale Ableger der Partei hingegen keine geharnischten Communiqués, setzte keine Spitzen in den sozialen Medien ab. Das Berner Asylwesen verantwortet mit Pierre Alain Schnegg ein Vertreter der SVP. Rührt die Zurückhaltung daher? Anruf bei Manfred Bühler, Präsident der SVP des Kantons Bern. Er widerspricht vehement: «Asylpolitik auf Bundesebene und Asylpolitik im Kanton sind zwei komplett verschiedene Sachen.»
Regierungsrat Schnegg, so Bühler, trage die Konsequenzen einer verfehlten Asylpolitik. Denn: «Wenn die Menschen einmal hier sind, ist es völlig klar, dass wir sie nicht unter einer Brücke schlafen lassen können.» Die Pläne für Wolfisberg bezeichnet der Parteipräsident dennoch als «eine Katastrophe». Ein solch kleiner Ort könne doch nicht einfach Menschen aufnehmen, als wäre er eine Stadt wie Biel oder Bern.
Frust bei der Gemeindepräsidentin
Eine politische Ebene weiter, in der Niederbipper Gemeindepolitik, sitzt der Frust tief. Gemeindepräsidentin Sibylle Schönmann – selbst SVP-Mitglied – ist wütend. Sie habe sich «ganz klar» mehr Unterstützung vom zuständigen Regierungsrat Pierre Alain Schnegg gewünscht, sagt sie. Vor allem bei der Kommunikation sei es ein «ganz schlechter Start» gewesen. Ihre Gemeinde hätte viel eher informiert werden sollen. Erste Besichtigungen hätten im März stattgefunden. Trotzdem sei man erst Anfang Juni informiert worden.
Schönmann wirft dem Kanton ausserdem vor, sich nicht an Abmachungen zu halten: «Wir hatten im Dorf schon einmal für zwei Jahre eine Kollektivunterkunft. Danach hat man uns versprochen, dass wir unsere Pflicht damit erfüllt haben.»
Während sich die kantonale SVP zurückhält, zog die Kontroverse in Wolfisberg gut vernetzte Aktivisten an: Freiheitstrychler, Reichsbürger und weitere Extremisten. «Wir haben diese Leute weder bestellt noch eingeladen», sagt Schönmann. Auch dass «diese Leute» nun so viel Aufmerksamkeit bekommen, stört die Gemeindepräsidentin. «Wir tolerieren keine extremen Ideologien.» Klar sei aber auch: «Weil der Kanton die Leute hier im Stich gelassen hat, fühlen sich viele von den Trychlern unterstützt.» Viele im Dorf hätten ihnen bei ihrem Auftritt am Dienstag zugejubelt.
Pierre Alain Schnegg wollte sich am Donnerstag nicht zur Kritik äussern. Vor knapp zwei Wochen zeigte er im Grossen Rat Verständnis für die Kritik am Standortentscheid, begründete diesen gleichzeitig mit der anhaltenden Platznot. «Wir sind nicht weit vom Zusammenbruch des Systems entfernt.»
Überall fehlen Unterkünfte
Man kann die Situation in Wolfisberg auf zwei Arten betrachten: aus der Optik der Menschen, die dort leben – und aus einer weitwinkligeren. Vor Ort fühlen sich Menschen wie Sibylle Schönmann überrumpelt. Im grösseren Kontext ringt der Berner Regierungsrat mit einer unangenehmen Tatsache: Es fehlt an Unterkünften. Überall.
2022 suchten so viele Geflüchtete in der Schweiz Zuflucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Das lag primär am Kriegsausbruch in der Ukraine, aber nicht nur. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) rechnet 2023 mit einer Entspannung und im «wahrscheinlichsten» Fall mit 27’000 regulären Gesuchen bis Ende Jahr.
Diese Prognose erhöht den Druck auf den Bund und auf die Kantone, welche für die Unterbringung der Schutzsuchenden verantwortlich sind. Sollte sie sich bewahrheiten – «und alles deutet darauf hin», so ein SEM-Sprecher –, dann wird der Bund im Herbst auf zusätzliche Unterkünfte angewiesen sein.
Auch deshalb hat er in den letzten Monaten auf verschiedenen Waffenplätzen, darunter in Thun, temporäre Zentren in Betrieb genommen. Zentren, die er bis Ende Jahr aber wieder schliessen muss, da die Armee diese Anlagen benötigt. Im Juni lehnte sodann der Ständerat einen Kredit ab, Geld, mit dem Containersiedlungen für Schutzsuchende hätten gebaut werden sollen. Der Entscheid sorgt seither für zusätzliche Unruhe in den Kantonen.
1200 Plätze werden benötigt
Hier bereitet die Lage Menschen wie Manuel Michel seit Monaten Sorgen. Im März warnte der Vorsteher des kantonalen Amts für Integration und Soziales: «Wenn die Szenarien des SEM eintreten, dann sind unsere Zentren bis im Juni voll.»
Ganz so dramatisch ist es bislang nicht gekommen. Derzeit unterhält der Kanton Bern knapp 4000 Plätze in 43 Kollektivunterkünften. Noch seien diese Zentren nicht voll ausgelastet, heisst es vonseiten des Kantons. Bis im kommenden Frühling aber würden voraussichtlich bis zu 1200 zusätzliche Plätze benötigt.
Im Juli soll ein Besichtigungstermin im Spital Tiefenau in Bern stattfinden. Bereits Anfang Jahr hatten die Berner Behörden einen Hilferuf an die Gemeinden abgesetzt, man möge doch bei der Suche nach geeigneten Immobilien mithelfen. Der Rücklauf soll, das berichten Kantonsvertreter, bescheiden ausgefallen sein.
Der Kanton weicht deshalb auf Mietverträge mit Privaten aus. Auf Liegenschaftsbesitzer, die ein Hotel leer stehen haben oder ein Gasthaus. So kommt es, dass einige der grossen Fragen dieser Zeit am Gurnigel verhandelt werden, in Sumiswald – und nun auch im kleinen Wolfisberg.
(https://www.derbund.ch/wahlkampfrhetorik-realpolitik-und-groll-im-dorf-203825734087)
+++AARGAU
aargauerzeitung.ch 23.06.2023
Gemeindeversammlung unter Polizeischutz – wegen Drohungen im Zusammenhang mit der Asylunterkunft im «Aarehof»
Die Gmeind von Möriken-Wildegg fand unter besonderen Umständen statt, allerdings keinen erfreulichen.
Eva Wanner
Man erschrak, wenn man am Donnerstagabend zur Gemeindeversammlung in Möriken-Wildegg wollte. Drei Regionalpolizisten und ein Kastenwagen standen vor dem Gemeindesaal. Die Vermutung lag nahe, dass das etwas mit der Asylunterkunft zu tun hatte. Ursache für den Polizeischutz waren aber nicht etwa Asylsuchende, die das frühere Hotel Aarehof bezogen haben, sondern Personen, die auf unangebrachte Weise ihre Meinung dazu äussern.
Frau Gemeindeammann Jeanine Glarner informierte denn auch vor der Versammlung: «Wegen Drohungen gegen den Gemeinderat und mich im Besonderen in Zusammenhang mit der Asylunterkunft sind zur Sicherheit des Gemeinderats und der Stimmbürgerinnen und Stimmbürger heute Regionalpolizisten vor Ort.» Sie sagte auch: «Ich halte mich für eine Demokratin, diskutiere gerne, halte viel auf die verfassungsmässig garantierten Grundrechte. Dazu gehören aber auch Respekt und das Einhalten von Regeln, die uns der Rechtsstaat gibt.»
«Die Verantwortlichen haben die friedliche Demo selbst verhindert»
Der Gemeinderat sei im Januar überrumpelt worden von der Mitteilung von «Aargauhotels», dass der Aarehof zur Asylunterkunft werde. «Ich konnte es nicht fassen», sagte Glarner am Donnerstagabend. Vom Kanton erfuhr sie damals, dass noch gar kein Vertrag zwischen Kanton und Hotelbetreiberin bestand.
Nun besteht aber einer. Während drei Jahren werden die Räume als Asylunterkunft genutzt. «Der Gemeinderat ist nach wie vor der Überzeugung, dass der Standort mitten im Dorf falsch ist», sagte Glarner. «Wir haben uns aber entschieden, nicht den ‹täubelenden› Weg zu gehen, sondern den konstruktiv-kritischen.» Forderungen wie jene nach der 24-Stunden-Überwachung wurden erfüllt.
Dann stand eine Demoankündigung für den 10. Juni, zwei Tage vor dem Bezug der Unterkunft, im Raum. Ein Gesuch wurde aber nie eingegeben. Dennoch machte ein Aufruf zur Teilnahme die Runde, «in rechten Kreisen und in linken einer zur Gegendemo», so Glarner. Der Gemeinderat musste davon ausgehen, dass irgendetwas passiert, und wandte sich an die Polizei.
Die Polizei nahm eine Lagebeurteilung vor – und handelte
Diese nahm eine Lagebeurteilung vor und handelte entsprechend. Sie stellte klar: «Ich lasse die Kritik am Gemeinderat und mir nicht gelten, wir hätten eine friedliche Kundgebung verhindert. Das haben die Verantwortlichen selbst gemacht, indem sie kein Gesuch eingereicht haben und den Aufruf verbreitet haben.» Die 313 Personen starke Versammlung unterstützte die Worte mit frenetischem Applaus.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/lenzburg/moeriken-wildegg-gemeindeversammlung-mit-polizeischutz-wegen-drohungen-im-zusammenhang-mit-der-asylunterkunft-im-aarehof-ld.2476326)
+++OBWALDEN
nlz.ch 23.06.2023
Bundesasylzentrum Glaubenberg: Streit unter Asylsuchenden eskaliert: Mann wird mit Stein beworfen und am Auge verletzt – das sagt Bundesrätin Baume-Schneider zum Fall
Kurdische Asylbewerber fühlen sich im Stich gelassen: Sie hätten im Bundesasylzentrum Glaubenberg trotz Bitte keinen Schutz erhalten. Praktisch täglich muss die Polizei wegen Tätlichkeiten in ein Bundesasylzentrum ausrücken.
Kari Kälin
Der Glaubenberg im Kanton Obwalden ist ein Wander- und Wintersportparadies. Am abgelegenen Ort auf etwa 1500 Metern über Meer befindet sich auch ein Bundesasylzentrum (BAZ). Doch dort geht es nicht immer idyllisch zu und her.
Die Eskalation hatte sich abgezeichnet. So beschreibt es die demokratische Gesellschaft der Kurden und Kurdinnen in der Schweiz (CDK-S) in einem Brief an das Staatssekretariat für Migration (SEM). Immer wieder hätten Vereinsmitglieder die BAZ-Mitarbeitenden auf dem Glaubenberg darauf hingewiesen, dass kurdische Asylsuchende von Afghanen bedroht würden. Dennoch hätten die numerisch klar unterlegenen Kurden keinen Schutz erhalten und sich im Zimmer einsperren müssen.
Der Konflikt mündete in einen gewaltsamen Streit, an den am 26. Mai laut Angaben des SEM 60 Personen involviert waren. Es wurden Messer gezückt und Steine flogen. Ein Stein traf einen Kurden am Auge, sodass er sich in Spitalpflege begeben und eine Wunde nähen lassen musste. Gemäss Recherchen von CH Media hat sich das Opfer von der Verletzung erholt.
Kritisiert das Staatssekretariat für Migration: Hüseyin Mamakli, Co-Präsident der Demokratischen Gesellschaft der Kurdinnen und Kurden in der Schweiz.
In einem dringenden Appell forderte die CDK-S das SEM auf, die Asylsuchenden besser vor Gewalt zu schützen. «Die Asylzentren dürfen nicht zu Orten werden, an denen Asylsuchende um ihr Leben bangen müssen», sagt CDK-S-Co-Präsident Hüseyin Mamakli. Der 53-Jährige ist Nationalratskandidat der Grünen im Kanton Zürich und kam 1991 aus der Türkei als Asylsuchender in die Schweiz. Die CDK-S ist eine Dachorganisation kurdischer Vereine und unterstützt Flüchtlinge bei der Integration. Aus welchem Grund auf dem Glaubenberg ein Konflikt zwischen Afghanen und Kurden entbrannte, ob vielleicht unterschiedliche politische Ansichten dahintersteckten, weiss Mamakli nicht.
Nationalrätin Natalie Imboden (Grüne, BE) thematisierte den Vorfall auf dem Glaubenberg in der Fragestunde. In ihrer Stellungnahme lobte Elisabeth Baume-Schneider die Krisenintervention. Die Sicherheitsmitarbeitenden seien umgehend eingeschritten und hätten in enger Zusammenarbeit mit den Betreuenden zunächst alle Personen in Sicherheit gebracht, die nicht am Streit beteiligt gewesen seien. Anschliessend habe das Sicherheitspersonal die direkt am Konflikt beteiligten Personen getrennt. Gleichzeitig habe das BAZ vorschriftsgemäss die Kantonspolizei Obwalden und den Sanitätsdienst alarmiert. Nach der Auseinandersetzung verlegte das SEM die Streithähne in unterschiedliche Asylunterkünfte.
Meistens geht es um Bagatellen
Wie oft brodelt es in Asyl-Kollektivunterkünften des Bundes? Bis Ende Mai dieses Jahres registrierte das SEM 132 Tätlichkeiten, die einen Polizeieinsatz erforderten. Die Polizei rückt damit fast täglich wegen Gewalt in Bundeszentren aus. In weiteren 369 Fällen erschien die Polizei vor Ort, um die Lage zu deeskalieren. 1944 Mal schritt in den ersten fünf Monaten dieses Jahres sodann der Sicherheitsdienst ein, um aufflackernde Konfliktherde zu ersticken. «Es handelt sich hier in den allermeisten Fällen um Bagatellen, also zum Beispiel um eine verbale Auseinandersetzung zwischen zwei Personen, um Diskussionen bei der Essensausgabe oder beim Fussballspielen», teilt ein SEM-Sprecher mit.
Aktuell sind die etwa 10’000 Plätze in Bundesasylzentren zu gut der Hälfte besetzt. In den Unterkünften treffen Menschen mit unterschiedlichen Kulturen und Religionen aufeinander. Bewegungsfreiheit und Privatsphäre sind eingeschränkt, das Bleiberecht in der Schwebe, man ist zum Warten und Nichtstun verdammt, dazu kommt in manchen Fällen Suchtmittelmissbrauch. Dass sich in einem solchen Umfeld Spannungen aufbauen, verwundert nicht. Schon seit Anfang 2022 setzt das SEM das Projekt «Prävention und Sicherheit» um. Bereits seit Februar 2021 stehen Konfliktpräventionsbeauftragte im Einsatz, aktuell sind es deren 110. «Sie erkennen Frustrationen und Streitereien frühzeitig und gehen diese an, damit Konflikte nicht in Gewalt eskalieren», schreibt ein SEM-Sprecher.
Das SEM installierte neue Präventionsmassnahmen nach Vorwürfen, das Sicherheitspersonal wende unverhältnismässig viel Gewalt gegen Asylsuchende an. Die Massnahmen scheinen zu fruchten, die Lage in den BAZ hat sich in den letzten Monaten eher entspannt. Registrierte das SEM im Februar 2021 noch 20,8 sicherheitsrelevante Vorfälle pro 10’000 Übernachtungen, so sank dieser Wert bis im Oktober 2022 auf 12,4. Dass die BAZ zu einer gänzlich konfliktfreien Zone avancieren, bleibt freilich unrealistisch. Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider formuliert es so: «Trotz aller Massnahmen und Bemühungen aller Beteiligten können Gewaltvorfälle leider nicht ausgeschlossen werden.»
(https://www.luzernerzeitung.ch/schweiz/bundesasylzentrum-glaubenberg-streit-unter-asylsuchenden-eskaliert-mann-wird-mit-stein-beworfen-und-am-auge-verletzt-das-sagt-bundesraetin-baume-schneider-zum-fall-ld.2477208)
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-> https://www.nau.ch/news/forschung/glaubenberg-lu-streit-in-bundesasylzentrum-eskaliert-66526514
+++SCHWEIZ
Bundesrat Cassis begrüsst bei seinem offiziellen Besuch im Königreich Marokko die Stärkung der bilateralen Zusammenarbeit
Bundesrat Ignazio Cassis weilte am 22. und 23. Juni 2023 auf Einladung seines marokkanischen Amtskollegen Nasser Bourita, Minister für auswärtige Angelegenheiten, afrikanische Zusammenarbeit und im Ausland lebende Marokkanerinnen und Marokkaner, zu einem Besuch in Rabat. Die beiden Länder pflegen bereits sehr gute bilaterale Beziehungen und haben ihre Partnerschaft weiter vertieft, so unter anderem in den Bereichen Handel, Forschung und nachhaltige Entwicklung.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-95985.html
«Arena» zum Asylwesen – Syrerin: «Wir flüchten nicht freiwillig – wir suchen Sicherheit»
In der «Arena» berichtet eine aus Syrien geflüchtete Frau von Ihrer gefährlichen Bootsfahrt übers Mittelmeer. Heute arbeitet sie in der Schweiz an einer Schule. Die Parteien streiten derweil über die Ausrichtung der Schweizer Asylpolitik und die Rolle von der zuständigen Bundesrätin Baume-Schneider.
https://www.srf.ch/news/schweiz/arena-zum-asylwesen-syrerin-wir-fluechten-nicht-freiwillig-wir-suchen-sicherheit
+++OSTEUROPA
Verloren in Europas letztem Urwald: Fotos von der polnisch-belarussischen Grenze
„Der Weg übers Mittelmeer ist gefährlich. Doch die Leute haben gar keine Vorstellung davon, wie gefährlich der Urwald sein kann.“
https://www.vice.com/de/article/xgwwe3/verloren-in-europas-letztem-urwald-fotos-von-der-polnisch-belarussischen-grenze
Lettland: Parlament stimmt für völkerrechtswidrige Pushbacks
Das lettische Parlament hat gestern, am 22. Juni, einer eklatant rechtswidrigen Gesetzesänderung zugestimmt, die de facto dafür sorgt, dass die anhaltende Praxis rechtswidriger und oftmals gewaltsamer Abschiebungen an der Grenze gesetzlich legitimiert wird. Nach Litauen ist Lettland damit nun das zweite Land in der Region, das völkerrechtswidrige Pushbacks erlaubt.
https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/lettland-voelkerrechtswidrige-pushbacks
+++MITTELMEER
Migration: Zahlreiche Geflüchtete vor Zypern aus Seenot gerettet
Östlich der Mittelmeerinsel Zypern hat die Küstenwache 45 Migrantinnen und Migranten gerettet. Sie kamen auf zwei Booten direkt aus Syrien. Unter ihnen sind elf Kinder.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-06/gefluechtete-rettung-zypern-kuestenwache-seenot
Ungereimtheiten der Flüchtlingstragödie: Was passierte wirklich bei der Höllenfahrt im Mittelmeer?
Noch immer ist unklar, was genau zu der Katastrophe mit über 500 toten Migranten letzte Woche vor der griechischen Küste führte. Der Kutter könnte bei einem missglückten Schleppversuch gekentert sein.
https://ajour.ch/de/story/108558/ungereimtheiten-der-fl%C3%BCchtlingstrag%C3%B6die-was-passierte-wirklich-bei-der-h%C3%B6llenfahrt-im-mittelmeer
+++EUROPA
EU-Abgeordneter über Asylrecht: „Ich will eine bessere Asylpolitik“
Der Grüne Erik Marquardt kämpft für eine humane Asylpolitik. Ein Gespräch über die drohende Verschärfung des Asylrechts und grüne Kompromisse.
https://taz.de/EU-Abgeordneter-ueber-Asylrecht/!5941545/
+++LIBYEN
Libysche Küstenwache: Die Flöße der Medusa
Wie die libysche Küstenwache am tödlichen Schmuggel mit Flüchtlingen verdient
https://www.zeit.de/2023/27/libysche-kuestenwache-schleuser-korruption-seenotrettung/komplettansicht
+++FREIRÄUME
Kein Festival wegen Besetzern? Albafestival auf der Hardturmbrache steht auf der Kippe
Seit der Räumung des Kochareals ist die Hardturmbrache besetzt. Das könnte Folgen für das Albafestival haben, das jährlich dort stattfindet. Bürgerliche Politiker sind erzürnt darüber, dass die Stadt die Besetzenden duldet.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/kein-festival-wegen-besetzern-albafestival-auf-der-hardturmbrache-steht-auf-der-kippe-152169126
+++GASSE
Solimenü: In diesen Berner Beizen können auch Armutsbetroffene speisen
Damit sich nicht nur Wohlhabende ein Gang ins Restaurant leisten können, bieten mehrere Berner Lokale die Möglichkeit, ein Menü für finanziell schwächer Gestellte zu sponsern.
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/in-diesen-berner-beizen-koennen-auch-armutsbetroffene-speisen-152136004
+++SEXWORK
Gelockerte Regeln für kleine Betriebe im Sexgewerbe
Der Berner Regierungsrat hat die Bewilligungspflicht angepasst und erleichtert damit künftig die Zusammenarbeit zwischen Sexarbeitenden. Die Anpassung soll besseren Schutz vor Ausbeutung bieten.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/gelockerte-regeln-fuer-kleine-betriebe-im-sexgewerbe?id=12409606
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Gegen die Politik des Todes!
Bekämpfen wir das indirekte rassistische Morden auf dem Mittelmeer!
Gestern versammelten sich rund 300 Menschen auf dem Hechtplatz in Zürich, um den unzähligen Menschen zu gedenken, die am Mittwoch, 14. Juni 2023, vor der Küste Griechenlands starben.
https://barrikade.info/article/6018
Ja zur gesetzlichen Umsetzung des Verhüllungsverbots
Nach dem Ständerat spricht sich auch die Staatspolitische Kommission (SPK-N) des Nationalrates für eine gesetzliche Umsetzung des verfassungsrechtlichen Verbots zur Verhüllung des Gesichtes auf Bundesebene aus.
https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-spk-2023-06-23b.aspx
+++BIG BROTHER
Totalrevidiertes kantonales Datenschutzgesetz geht in die Vernehmlassung
Das totalrevidierte kantonale Datenschutzgesetz (KDSG) geht bis am 29. September 2023 in die Vernehmlassung. Der Regierungsrat hat dafür die Zustimmung erteilt.
https://www.rr.be.ch/de/start/ueber-den-regierungsrat/medien/medienmitteilungen.html?newsID=67d80e23-972d-4700-ac18-4f2ea5b23dac
-> https://www.derbund.ch/berner-regierungsrat-will-datenschutz-zentralisieren-281125497049
+++POLICE VD
Justice for Mike Ben Peter!
Morgen findet die Urteilsverkündigung im Prozess gegen die sechs Polizisten statt, die Mike Ben Peter ermordet haben. Der Prozess ist eine Farce.
https://barrikade.info/article/6019
+++FRAUEN/QUEER
Differenzen in der queeren Gemeinschaft
An der Zürich Pride laufen jeweils Tausende Menschen mit. Doch nicht der ganzen queeren Gemeinschaft passt die Ausrichtung des Festivals. Es sei zu kommerziell und zu wenig politisch, so die Kritik. Deshalb gibt es jetzt eine alternative Veranstaltung, die sich deutlich von der Pride abgrenzen will.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/differenzen-in-der-queeren-gemeinschaft?id=12409840 (ab 01:47)
+++RECHTSPOPULISMUS
Wegen Rimoldis Aufenthalt in der gesperrten Wandelhalle: Parlamentarier fordern Verwarnung für SVP-Glarner
Niemand war während der Rede des ukrainischen Präsidenten Selenski in der Wandelhalle. Sie war für Parteiangestellte und Journalisten gesperrt, aber Massnahmenkritiker Nicolas Rimoldi war dennoch dort. Für Politiker muss das Folgen haben.
https://www.blick.ch/politik/wegen-rimoldis-aufenthalt-in-der-gesperrten-wandelhalle-parlamentarier-fordern-verwarnung-fuer-svp-glarner-id18691839.html
Aargauer Regierung gegen Deutschpflicht auf Pausenplätzen
Kinder an den Volksschulen im Aargau sollen auf den Pausenplätzen Deutsch sprechen. Das forderte die SVP. Die Regierung lehnt die Motion ab.
https://www.nau.ch/news/schweiz/aargauer-regierung-ist-gegen-deutschpflicht-auf-pausenplatzen-66526603
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/welterbe-bettlachstock-touristen-ja-aber-bitte-nicht-zu-viele?id=12409993 (ab 05:00)
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Künftige Privatschule des Vereins «Urig Schwyz» löst in der Schwyzer Politik kritische Fragen aus (ab 01:35)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/bundesgericht-friert-umbau-des-hotelkomplexes-auf-buergenstock-ein?id=12409837
+++HISTORY
Zürcher Kunsthaus präsentiert Bührle-Sammlung auf neue Art.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/differenzen-in-der-queeren-gemeinschaft?id=12409840
-> https://www.zueritoday.ch/unterhaltung/kultur/kunsthaus-zuerich-praesentiert-neue-buehrle-ausstellung-152170611
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derbund.ch 23.06.2023
50 Jahre Contact: «Diese Scheiss-Drogenszene hat trotz allem etwas Anziehendes»
Isabelle hat vor dreissig Jahren das erste Mal Heroin geschnupft. Heute hat sie ihr Leben mehr oder weniger im Griff. Ein Streifzug durch die Berner Drogengeschichte.
Marius Aschwanden
Es ist 8.15 Uhr, und Isabelle zündet sich vor der Schreinerei im Wankdorfquartier eine Zigarette an. «In fünf Minuten müssen wir drinnen sein», sagt sie. Wenn die 57-Jährige zu spät in der Cafeteria erscheint, darf sie nicht arbeiten. So sind die Regeln.
An diesem Morgen reicht die Zeit gut. Um Punkt 8.30 Uhr bringt eine Betreuungsperson die zehn Anwesenden gemeinsam zum Lift, der sie ins Untergeschoss fährt.
Dort teilt sie der zuständige Schreiner für die Arbeit ein. Isabelles Aufgabe ist es, Bienenkästen für einen Imkerladen in der Länggasse zusammenzubauen.
Holzleiste anzeichnen, Löcher vorstechen, Nägel einschlagen, nächste Kiste.
Immer wieder grüsst sie vorbeilaufende Kollegen. Manche sind jung, andere alt, viele haben Tattoos. Ihnen allen sieht man das Leben an, das sie geführt haben.
«Was würden wir machen, wenn es dieses Angebot nicht gäbe?», fragt Isabelle plötzlich. Und sie gibt die Antwort gleich selber:
«Wir wären auf der Strasse, im Elend.»
Von der Abstinenz zur Schadenminderung
Irgendwann in ihrem Leben waren die meisten bereits dort. Sie haben Drogen konsumiert, haben sich prostituiert, haben gestohlen und gedealt. Heute aber haben sie ihr Leben im Griff.
Manche mehr, manche weniger.
Geholfen hat ihnen dabei die Stiftung Contact, die dieses Jahr ihr 50-jähriges Bestehen feiert. Sie hat die Drogenpolitik in der Schweiz massgeblich mitgeprägt.
Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben in den 1970er-Jahren die ersten Beratungsstellen eröffnet, sie haben in den 1980er-Jahren den Drogenabhängigen im Kocherpark und auf der Kleinen Schanze saubere Spritzen verteilt, und sie führen bis heute die Anlaufstelle an der Hodlerstrasse.
Im Zentrum der Arbeit steht nicht die Abstinenz, sondern, einen möglichst risikoarmen Konsum zu ermöglichen, um die gesundheitliche und soziale Situation von Personen wie Isabelle zu verbessern.
In Frankreich nahm sie das erste Mal Heroin
Isabelle hat vor dreissig Jahren das erste Mal Heroin geschnupft, seit zwanzig Jahren nimmt sie das Opioid-Ersatzmedikament Subutex, sie geht in die Psychotherapie und arbeitet an ein paar Morgen jede Woche in der Schreinerei von Contact.
«Die Arbeit gibt mir Stabilität, sie hilft mir, eine Tagesstruktur zu haben», sagt sie und schlägt den nächsten Nagel in eine Bienenkiste ein. Geld bekommt sie nicht viel dafür. 18 Franken pro Halbtag. Dies wird von der Sozialhilfe abgezogen, die sie bezieht.
Isabelle gehört zu jenen Drogensüchtigen, die bei allem Elend Glück gehabt haben. Ihr geht es auch mit bald 60 Jahren körperlich einigermassen gut, während andere physisch und psychisch am Ende sind.
Aufgewachsen ist Isabelle in Freiburg. Der Stiefvater war ein Trinker, und wenn er betrunken war, wurde er aggressiv. Deshalb ist sie mit 16 Jahren von zu Hause weggezogen. Irgendwann hielt es auch die Mutter nicht mehr aus. Sie beging Suizid.
Isabelle, damals 21, wurde zur Ersatzmutter für ihre drei Brüder. Erst als diese älter waren, wurde sie von der Vergangenheit eingeholt. Der Tod der Mutter, der aggressive Stiefvater – Isabelle fiel in eine Depression.
Eine Arbeitskollegin bot ihr in den Ferien in Frankreich einen Ausweg an. Ein Pulver zum Schnupfen. «Ich dachte, es sei Kokain. Aber es war Heroin.» Isabelle merkte, wie es wirkt. «Es war leider ideal. Ich fühlte mich wie in Watte eingepackt. Der Schmerz war plötzlich erträglich.»
Zuerst nahm sie den Stoff nur am Wochenende, dann wurde es zur täglichen Routine. «Ich veränderte mich, kam zu spät zur Arbeit.» Die Depression und das Heroin führten schliesslich dazu, dass sie ihren Job aufgab.
«Ich schämte mich so sehr. Also floh ich nach Zürich. In den Sumpf.»
Die grössten offenen Drogenszenen Europas
Welche grausamen Folgen Heroin haben kann, wurde der Öffentlichkeit in den 1980er- und 1990er-Jahren bewusst. In Bern und Zürich vegetierten Tausende Drogensüchtige in Parks vor sich hin, die Kriminalitätsrate stieg, das Elend war für alle sichtbar.
Der Staat reagierte mit Repression. Gleichzeitig versuchten junge Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter jeden Tag Leben zu retten. «Damals wurden die Grundsteine der heutigen Schadenminderung gelegt. Nur nannten wir es Überlebenshilfe», sagt Rahel Gall, Geschäftsleiterin von Contact.
Das neue Gleichgewicht von Repression, Therapie, Prävention und Schadenminderung zeigte Wirkung. Die offene Drogenszene verschwand bis Mitte 1990 fast vollständig. Für Contact blieb das nicht ohne Folgen.
«Wir wurden Opfer unseres eigenen Erfolgs. Weil die Süchtigen nicht mehr so sichtbar sind, müssen wir heute darum kämpfen, genug Geld vom Kanton zu erhalten, um unsere Angebote zu finanzieren», sagt Gall.
Dabei sei eine Suchthilfe ohne Schadenminderung wie Autofahren ohne Bremsen.
Dank Subutex weg vom Heroin
Mittlerweile ist es Mittag und Isabelle mit der Arbeit fertig. Es ist der erste Montag des Monats. An diesem Tag geht sie bei der Suchtberatung ihr Substitutionsmedikament für die nächsten zwei Wochen abholen. Ohne dieses wäre sie aufgeschmissen.
«Ich bin auch heute abhängig, jetzt einfach von Subutex», sagt sie vor dem Gebäude an der Zieglerstrasse, wieder mit einer Zigarette im Mund.
Dank Medikamenten wie Subutex oder Methadon haben Tausende den Absprung vom Heroin geschafft. Insbesondere in den 1990er-Jahren nahm die Anzahl Personen in Substitutionsprogrammen massiv zu. Bei Isabelle war es 2001, als sie den Schritt versuchte.
Im Gebäude drinnen muss sie warten, bis über der Tür ein grünes Licht aufleuchtet. Dann darf sie eintreten. «Sie sind heute aber schick angezogen», sagt die Mitarbeiterin hinter dem Schalter.
Isabelle freut sich sichtlich über das Kompliment und setzt sich auf den Stuhl, während ihre Medikamente abgezählt werden. Vierzehn Tabletten bekommt sie. Eine nimmt sie gleich vor Ort ein, den Rest packt sie in ihre schwarze Bauchtasche. «Das ist mein Apothekersäcklein», sagt Isabelle und lacht.
Dann muss sie noch auf die Waage. 65 Kilogramm.
Rein ins Gefängnis, raus aus dem Gefängnis
Als sie in Zürich 1997 das erste Mal ins Gefängnis kam, wog die 1,63 Meter grosse Frau 45 Kilo. «Ich sah aus wie ein Geist. Meine Haut war nicht mehr braun, sondern grau-grün», erinnert sie sich.
Drei Jahre lang lebte sie in verlassenen Wohnungen, schlug sich mit Diebstählen durch, finanzierte ihre Sucht mit Dealen. Immer wieder musste sie ins Gefängnis, immer wieder kam sie raus und besorgte sich sofort wieder Heroin.
An ein paar wenige Grundsätze habe sie sich aber auch damals halten können: «Ich habe immer gesnifft, nie gespritzt. Ich habe mich nie prostituiert, und ich habe meinem privaten Umfeld keinen Schaden zugefügt.»
Sonst aber lief nichts rund. Alle Versuche, von Heroin wegzukommen, scheiterten. Sie zog zurück nach Freiburg, sie zog nach Bern, überall wiederholte sich das Muster.
2001 raffte sich Isabelle ein letztes Mal auf und ging zur Drogenberatung von Contact. «Ich wusste, wenn ich keinen Ersatz bekomme, dann werde ich irgendwann sterben», sagt sie.
Von da an ging es langsam aufwärts. Dank Contact meldete sie sich beim Sozialdienst, erhielt Subutex, suchte sich Arbeit in diversen geschützten Programmen und manchmal auch im freien Markt.
«Leider sind die guten Phasen ohne Depressionen aber bis heute nicht lange genug, als dass ich einen regulären Job annehmen könnte.»
Neue Angebote für den Freizeitkonsum
Contact hat sich in dieser Zeit weiterentwickelt. Die Heroinsüchtigen werden älter und sterben langsam weg, neue Klientinnen und Klienten mit anderen Problemen kamen dazu. So betreut Contact heute mit insgesamt 3000 leicht mehr Personen als noch vor fünf Jahren.
Der Freizeitkonsum von Drogen wie Kokain und Amphetaminen wird für die Stiftung immer wichtiger, und Angebote wie das Drug-Checking wurden lanciert. Neben der Finanzierung seien diese ständigen Veränderungen im Konsum eine der grossen Herausforderungen. «Wir müssen unsere Angebote rasch anpassen und immer die Unterstützung anbieten, die gerade am meisten gefragt ist», sagt Rahel Gall.
Und dann ist da noch die Unterteilung der Substanzen in legal und illegal. «Diese Kategorien sind willkürlich und haben nichts mit dem Gefährdungspotenzial zu tun.»
Deshalb kämpft Gall für eine Entkriminalisierung aller Drogen und einen kontrollierten Verkauf. Entsprechend unterstützt sie auch die Forderung nach einem Pilotprojekt für den legalen Verkauf von Kokain in der Stadt Bern.
Isabelles Ziel ist Abstinenz
Isabelle wohnt heute in einer kleinen 2-Zimmer-Wohnung in Bümpliz. Es ist nichts Spezielles, aber sie fühlt sich wohl hier. Momentan ist sie gerade damit beschäftigt, die Wände im Wohnzimmer neu zu streichen.
Wenn Isabelle auf ihr Leben zurückblickt, sagt sie, dass sie vieles bereue. «Manchmal stelle ich mir vor, was ich in diesen drei Jahrzehnten alles hätte tun können. Das tut weh.» Trotzdem seien auch Dinge geschehen, aus denen sie etwas Positives ziehen könne.
Einfach sei das nicht. «Sich verabschieden von dieser Scheiss-Drogenszene ist schwer. Sie hat trotz allem etwas Anziehendes.» Aber ihr Ziel ist klar: Sie will irgendwann auch von Subutex loskommen.
Angst vor einem Rückfall hat sie nicht.
Isabelle: «Ich weiss, wann ich so weit bin, und es wird gut werden.»
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Contact in Zahlen
Im Jahr 2022 war Contact an sieben Standorten im ganzen Kanton Bern aktiv – darunter Bern, Biel, Langenthal oder Thun. Die Stiftung beschäftigt rund 185 Mitarbeitende und hat ein Budget von 24 Millionen Franken. 8,5 Millionen werden vom Kanton bezahlt, der Rest selbst erwirtschaftet. Insgesamt wurden 2022 im Bereich Arbeit 113’200 Stunden durch Klientinnen und Klienten erbracht, etwa in der Schreinerei oder in den Lola-Läden. 1060 Personen besuchten die vier Anlaufstellen (2016 waren es noch 1190 Personen), eine halbe Million Spritzen und Nadeln wurden abgegeben, getauscht oder verkauft und 1175 Proben von Substanzen beim Drug-Checking überprüft. (mab)
(https://www.derbund.ch/diese-scheiss-drogenszene-hat-trotz-allem-etwas-anziehendes-887089918173)