Medienspiegel 22. Juni 2023

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+++BERN
derbund.ch 22.07.2023

Streit ums Asylheim Wolfisberg: Die Rechte macht sich Frust und Widerstand zunutze

Freiheitstrychler, Reichsbürger, junge Tat: Im Umfeld der aufgebrachten Niederbipper und Wolfisbergerinnen tummeln sich problematische Gruppierungen.

Stephan Künzi

Der Herr, der aus lauter Protest mit dem Schweizer Verfassungsbüchlein wedelt, ist wieder da. Die Freiheitstrychler lärmen wieder, was das Zeug hält. Das Publikum strömt wieder herbei. Auch der zweite Infoabend zur Asylunterkunft in Wolfisberg mobilisiert.

Bis zu 120 Flüchtlinge sollen ab August im 180-Seelen-Dorf am Jurahang ob Niederbipp unterkommen, das plant der Kanton auch gegen den ausdrücklichen Willen der Gemeindebehörden. Die Vertreter aus Bern haben sich schon bei der ersten Auflage am Abend zuvor harsche Kritik anhören müssen. Mehr als einmal ging ungläubiges Raunen, brandeten Buhrufe durch den Saal, als sie sich im Schulhaus Wolfisberg den Fragen der Anwohnerschaft stellten.

Wütende Statements

Doch wer glaubt, die Gemüter hätten sich einen Tag später bereits ein Stück weit beruhigt, irrt gewaltig. Auch wenn die Wiederholung in Niederbipp stattfindet, dem sich Wolfisberg vor drei Jahren angeschlossen hat. Und auch wenn die Leute am Fuss des Jurahangs von den Plänen des Kantons nicht so direkt betroffen sind wie jene oben am Berg – die Stimmung im Räberhus Niederbipp ist viel gehässiger.

Regelmässig fallen erzürnte Votantinnen und Votanten den Kantonsvertretern ins Wort, teils kommen diese gar nicht mehr dazu, ihre Argumente vorzubringen. Es werden auch viel weniger Fragen gestellt als am Abend zuvor, viele nutzen die Bühne vor versammelter Menge, um mit ein paar wütenden Statements Dampf abzulassen. Von Asylanten ist in der Diskussion die Rede, einer nimmt gar das Wort Asylindustrie in den Mund und peilt damit jene an, die die Bewohnerinnen und Bewohner der künftigen Unterkunft betreuen werden.

Rot-weisses Transparent

Es sind Ausdrücke, die zum rechtsbürgerlichen Wortschatz gehören, sie passen zu den jungen Rechten, die an diesem Abend Präsenz markieren. Zu den extremen Rechten, wie linke Aktivisten sagen würden – antifaschistische Kreise haben die Männer, die sich in Niederbipp unauffällig unters Publikum gemischt haben, schon glattweg als Nazis bezeichnet.

Nach der Veranstaltung geben sie sich als Mitglieder der Jungen Tat zu erkennen. Vor dem Räberhus rollen sie ein rotes Transparent aus, auf dem über ihrem Namenszug in weisser Schrift «Nein zum Asylheim» zu lesen ist. Gleich nebenan verteilen sie Flugblätter, unter dem Titel «Setz dich zur Wehr» ermuntern sie die Leute, «in die Bewegung» einzutreten.

Traditionelle Werte

Rot auf Weiss. Die Farben weisen darauf hin, und der Wortführer des Trupps vor Ort bestätigt es: Die Junge Tat verstehe sich als patriotische Vereinigung. Den Verdacht, rechtsextrem zu sein, weist er aber weit von sich. Das seien Vorwürfe der Linken, die ihrerseits nicht vor Gewalt zurückschreckten. Sie dagegen seien friedlich unterwegs  – ob das im letzten Herbst auch bei der Störaktion auf eine Dragqueen-Vorlesestunde für Kinder so war? Alles falsch, so der Wortführer, die Fakten seien von der Linken verdreht worden.

Doch so einfach ist es nicht. Europol jedenfalls berichtet im jüngsten Terrorismusbericht von einer Meldung der Schweizer Behörden über «die neue rechtsextreme Gruppe Junge Tat» und deren Kommunikation via soziale Medien. Die professionell gedrehten Videoclips, so der Report, betonten althergebrachte Werte wie Bildung, Sport, Tradition, Gemeinschaft oder Verteidigung von Heimat und Natur.

Petition an Schnegg

Im Saal hat Gemeindepräsidentin Sibylle Schönmann (SVP) den Anwesenden nochmals versichert, dass die Gemeinde alle – politischen – Hebel in Bewegung gesetzt habe, um die Asylunterkunft doch noch verhindern zu können. Mithelfen soll eine Petition an den zuständigen Regierungsrat Pierre-Alain Schnegg (SVP), für die neben dem Gemeinderat auch die beiden einheimischen Grossräte Beat Bösiger (SVP) und Peter Haudenschild (FDP) verantwortlich zeichnen. Sie liegt am Ausgang auf und wird eifrig unterschrieben.

Noch eine Frage, Sibylle Schönmann: Müsste die Gemeinde als Hausherrin nicht einschreiten, wenn problematische Gruppierungen Anlässe in öffentlichen Liegenschaften zu vereinnahmen versuchen? Immerhin hat sich tags zuvor in Wolfisberg auch die Reichsbürgerszene gezeigt, die sich ähnlich staatsfeindlich gesinnt zeigt wie die Freiheitstrychler. Doch die Gemeindepräsidentin schüttelt den Kopf. Solange sich alle an die Regeln hielten, gelte die Versammlungs- und Meinungsfreiheit, sagt sie.
(https://www.derbund.ch/die-rechte-macht-sich-frust-und-widerstand-zunutze-612354297156)
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/fluechtlingskrise-freiheitstrychler-laermen-wolfisberg-wehrt-sich-gegen-asylzentrum



„Im (in allen Belangen) unterirdischen Asylzentrum Brünnen gibts kein Tageslicht. @Bern_Stadt forderte vom @kanton_bern einen oberirdischen Aufenthaltsraum. Regierungsrat Müller sagt @derbund, diesen gebe es „im nahen Quartierzentrum“. Nun zeigt sich, der Raum ist 2 Km entfernt!“
(https://twitter.com/SolinetzBE/status/1671820742416056320)


+++UNGARN
Europäischer Gerichtshof: Ungarn verletzt mit Asylregel EU-Recht
Ein weiteres Mal hat der Europäische Gerichtshof festgestellt, dass Ungarn gegen EU-Recht verstößt. Die Beantragung von Asyl werde in dem Land übermäßig erschwert.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-06/europaeischer-gerichtshof-ungarn-verletzt-eu-recht-mit-asylregel
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eugh-ungarn-asylregeln-100.html


+++MITTELMEER
Retten verboten
Aktivist*innen, die schiffbrüchige Menschen auf der Flucht nach Europa aus dem Mittelmeer zu retten versuchen, werden häufig mit Gerichtsverfahren überzogen. Zu den Anklagepunkten zählen etwa Beihilfe zur illegalen Einreise oder Leitung einer kriminellen Vereinigung. Betroffene berichten.
https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-journal/europa-migration-seenotrettung-aktivismus-resqship-iuventa-crew-emergency-response-center-el-hiblu-3-retten-verboten


Bootsunglück mit vielen Toten: Aufklärung unerwünscht
Mehr als 600 Menschen könnten vor Pylos ertrunken sein. Welche Rolle spielte die griechische Küstenwache? Was Zweiflern vorgeworfen wird.
https://www.telepolis.de/features/Bootsunglueck-mit-vielen-Toten-Aufklaerung-unerwuenscht-9194602.html


+++ATLANTIK
Bootsunglück vor den Kanaren: 39 Menschen ertrunken
Vor der spanischen Inselgruppe sind laut einer NGO 39 Menschen ums Leben gekommen. Die spanische Küstenwache bestätigt den Tod eines Minderjährigen.
https://taz.de/Bootsunglueck-vor-den-Kanaren/!5942578/


+++TUNESIEN
«Wieviel verlangt Tunesien, um für die EU die Grenzen zu Schliessen?»
In Nordafrika käme es zu einem Bevölkerungsaustausch: Schwarze Menschen aus der Subsahararegion würden Tunesierinnen und Tunesier vertreiben. Mit diesen rassistischen Verschwörungen befeuerte der tunesische Präsident Kais Saied in den letzten Monaten den Hass gegen Migrant:innen. Seither überschlagen sich die Berichte über Angriffe gegen migrierte Personen in Tunesien.
Genau mit diesem Präsidenten will die EU nun einen Deal abschliessen: 100 Millionen soll Tunesien für das sogenannte «Grenzmanagement» kriegen und damit zur Türsteherin Europas werden.
https://rabe.ch/2023/06/21/wieviel-verlangt-tunesien-um-fuer-die-eu-die-grenzen-zu-schliessen/


+++SEXWORK
Kleinstbetriebe im Prostitutionsgewerbe sind künftig von der Bewilligungspflicht befreit
Der Regierungsrat hat die Verordnung über das Prostitutionsgewerbe angepasst. Künftig sind Kleinstbetriebe mit bis zu zwei Arbeitsplätzen generell von der Bewilligungspflicht befreit. Der Zusammenschluss von einzelnen Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern soll dadurch erleichtert werden, da er in der Regel einen besseren Schutz vor Ausbeutung als grössere Etablissements bietet. Durch eine Meldepflicht soll das Sexgewerbe für die Behörden jedoch weiterhin sichtbar bleiben. Wer mehrere Kleinstbetriebe führt, muss weiterhin eine Bewilligung einholen.
Der Kanton Bern war der erste Kanton der Deutschschweiz, der ein umfassendes gesetzliches Regelungswerk zum Sexgewerbe erlassen hat. Das Prostitutionsgewerbegesetz (PGG) trat am 1. April 2013 in Kraft. Die Wirksamkeit der Regelungen wird seither laufend analysiert. Zu diesem Zweck führte der Regierungsrat auch eine unabhängige Evaluation durch. Diese Verordnungsanpassung setzt einen in diesem Rahmen identifizierten Optimierungsvorschlag um.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=fc3c3741-ddf2-42cf-97c9-98659bc0ce38#27626b25-0be1-4b87-b00b-146158bcc61b
-> https://www.derbund.ch/lockerung-der-regeln-fuer-kleinstbetriebe-im-sexgewerbe-968721810644
-> https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/kleinstbetriebe-im-berner-sexgewerbe-neu-ohne-bewilligung-152140751
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/stadt-bern-schafft-elf-neue-begegnungszonen-mit-tempo-20?id=12408856 (ab 02:08)
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/211121/


Problem Strassenstrich: Der Stadtluzerner Strassenstrich im Ibach kämpft bezüglich Standort und Sicherheit mit Reputationsproblemen
Das älteste Gewerbe der Welt steht unter Druck – zumindest in der Stadt Luzern. Der Strassenstrich im Ibach wird immer wieder mit Drohungen, Rasern, Verschleppungen, Vergewaltigungen und Tötungsdeliken in Verbindung gebracht. Der Verein LISA setzt sich für Sexarbeiterinnen ein und spricht anlässlich seines 10-Jahr-Jubiläums über die ungeliebte Sackgasse im Industriegebiet.
https://luzerner-rundschau.ch/stadt/detail/problem-strassenstrich


+++DEMO/AKTION/REPRESSION (ab 02:50)
Stadtzürcher Polizeieinsatz am Frauenstreiktag vom 14. Juni hat ein politisches Nachspiel.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/zustupf-fuer-zuhause-lebende-stadtzuercher-rentnerinnen-und-rentner?id=12408754


Zürcher Gemeinderat will Demo-Bewilligung streichen
In der Stadt Zürich sollen für Demonstrationen keine Bewilligungen mehr eingeholt werden müssen. Ein blosses Meldeverfahren soll ausreichen. So will es der Zürcher Gemeinderat – und macht damit dem Stadtrat Druck.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/zuercher-gemeinderat-will-demo-bewilligung-streichen-00215058/


«Klima-Chaoten» im Zürcher Gemeinderat: SVP will Klimakleber hart bestrafen – und scheitert
Die Stadtpolizei soll mit aller Härte des Rechtsstaates gegen «Klima-Chaoten» wie Renovate Switzerland vorgehen, fordert die Zürcher SVP – in gleich drei Postulaten. Sie scheiterten am Mittwochabend im Stadtparlament deutlich.
https://www.tagesanzeiger.ch/vorstoesse-der-stadtzuercher-svp-gegen-klimakleber-haben-keine-chance-850719228135


+++REPRESSION FRA
Klimaproteste in Frankreich: Als »Ökoterroristen« verboten
Frankreich verfügt Auflösung von Umweltbewegung
Die Aktionen der Letzten Generation konzentrieren sich zurzeit auf jene, die vom Verfeuern fossiler Energieträger profitieren. Juristen warnen unterdessen vor der Schaffung von »Ausnahmegerichten« für das Vorgehen gegen Klimaaktivisten.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174183.klimaaktivismus-klimaproteste-in-frankreich-als-oekoterroristen-verboten.html


+++REPRESSION EU
Abolish Frontex: Kritik an Europols »Trendbericht« zu Terrorismus
EU-Polizeiagentur kriminalisiert Anti-Frontex-Kampagne und No-Border-Bewegung
In einem Jahresbericht sammelt Europol Vorfälle zu Terrorismus in der EU, Meldungen dazu stammen aus den Mitgliedstaaten. 132 Gruppen und Organisationen aus der Migrationssolidarität werden darin pauschal kriminalisiert.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1174175.eu-abolish-frontex-kritik-an-europols-trendbericht-zu-terrorismus.html


+++POLICE VD
Urteil im Fall Mike Ben Peter: Sechs Polizisten von fahrlässiger Tötung freigesprochen
Das Bezirksgericht Lausanne hat geurteilt, dass die Stadtpolizisten bei der Festnahme des Nigerianers Mike Ben Peter verhältnismässig gehandelt hatten.
https://www.derbund.ch/freispruch-fuer-die-sechs-polizisten-457408161871
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/fall-mike-in-lausanne-lausanner-gericht-spricht-sechs-angeklagte-polizisten-frei
-> https://renverse.co/infos-locales/article/suivi-du-proces-des-policiers-qui-ont-assassine-mike-renens-12-14-juin-2023-4064
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/sechs-lausanner-polizisten-von-fahrlassiger-totung-freigesprochen-66526252
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/fall-mike-lausanner-gericht-spricht-angeklagte-polizisten-frei?partId=12409459
-> https://frapp.ch/de/articles/stories/polizisten-im-fall-mike-freigesprochen
-> https://www.baerntoday.ch/schweiz/fall-mike-lausanner-gericht-spricht-6-polizisten-frei-152145901
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/urteil-im-fall-mike-ben-peter-freispruch-fuer-sechs-polizisten?urn=urn:srf:video:376fb63d-be42-413f-8bcc-29fb346dc27c
-> https://www.rts.ch/info/regions/vaud/14123386-mort-de-mike-ben-peter-les-six-policiers-lausannois-sont-acquittes.html
-> 19.30: https://www.rts.ch/play/tv/19h30/video/a-lausanne-les-six-policiers-prevenus-dhomicide-par-negligence-pour-la-mort-de-mike-ben-peter-sont-acquittes?urn=urn:rts:video:14124312
-> https://www.watson.ch/schweiz/waadt/729778310-fall-mike-lausanner-polizisten-von-fahrlaessiger-toetung-freigesprochen
-> https://www.blick.ch/schweiz/westschweiz/waadt/tod-von-mike-ben-peter-39-in-lausanne-sechs-polizisten-von-fahrlaessiger-toetung-freigesprochen-id18689543.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/fall-mike-in-lausanne-lausanner-gericht-spricht-sechs-polizisten-frei
-> https://www.lematin.ch/story/les-six-policiers-accuses-dhomicide-recoivent-leur-jugement-921520963462
-> https://www.woz.ch/taeglich/2023/06/22/mike-ben-peter-zur-naechsten-instanz



„Wenn ihr übrigens wissen wollt, was Polizist*innen in ihrer Ausbildung über den sogenannten „lagebedingten Erstickungstod“ lernen, hier die relevanten acht Seiten aus dem entsprechenden Lehrmittel“
(https://twitter.com/basil_schoeni/status/1671900694738001921)


„Dieses Bild teilten Lausanner Polizist*innen kürzlich in einer gemeinsamen Whatsapp-Chatgruppe. #MikeBenPeter #Polizeiproblem“
(https://twitter.com/bwg_bern/status/1671920959190712327)



derbund.ch 22.06.2023

Fälle von Polizeigewalt vor Gericht: Geniessen Polizisten vor dem Richter Privilegien?

Die sechs Lausanner Polizisten tragen gemäss Gericht keine Schuld am Tod von Mike Ben Peter. Strafrechtler meinen, ein Muster zu erkennen: Gegen Gesetzeshüter werde oft zu wenig gezielt ermittelt.

Philippe Reichenaus Renens

«Mörder», schreien Anhänger von Mike Ben Peter den Lausanner Stadtpolizisten vor dem Gerichtssaal ins Gesicht. Die Polizisten und ihre Anwälte müssen das Gebäude über einen Hinterausgang verlassen. Zu aufgeheizt ist die Stimmung, zu aufgebracht sind die über fünfzig Aktivisten vor dem Gerichtssaal in Lausanne.

«Schande», «Skandal», «Komplizenjustiz»: Zwischenrufe hat es zuvor bereits im Saal gegeben, als Gerichtspräsident Pierre Bruttin das 50 Seiten lange Urteil Seite für Seite vorlas, über eineinhalb Stunden lang. Bereits zur Hälfte zeichnete sich das Verdikt ab: ein Freispruch für die sechs angeklagten Stadtpolizisten.

Die sechs Polizisten hätten verhältnismässig gehandelt und das Gericht spreche sie vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei, befand Bruttin. Es gebe keinen Beweis, dass Mike Ben Peter in der Nacht vom 28. Februar 2018 aufgrund der Polizeiaktion einen Herzstillstand erlitt.

Gericht von Unschuld überzeugt

Die rechtsmedizinischen Gutachten zeigten übereinstimmend, dass der 39-jährige Nigerianer an diversen Pathologien gelitten habe, vor allem am Herzen, so der Gerichtspräsident. Am Ende hätten mehrere Faktoren zu seinem Tod geführt, wobei die Mediziner keine bestimmte Todesursache hätten erkennen können, führte Bruttin aus. Das Gericht schliesse deshalb auch aus, dass die Bauchlage auf der Strasse, in der die angeklagten Polizisten Mike Ben Peter mehrere Minuten lang festhielten, zu seinem Tod geführt habe.

Gerichtspräsident Bruttin kritisierte die Polizisten lediglich in dem Punkt, dass sie bei der Verhaftung vorsichtiger und umsichtiger hätten vorgehen können. Sorgfaltspflichten hätten sie aber nicht verletzt, zumal 2018 noch gar nicht alle Angeschuldigten jenes Polizeihandbuch gehabt hätten, das auf die Gefahren der Bauchlage hinweise. Bruttin ging sogar so weit, dass er über jenen Polizisten, der Mike Ben Peter als erster kontrollierte, sagte: «Dieser Prozess hat seine Persönlichkeitsrechte ganz besonders verletzt.»

Der Waadtländer Staatsanwalt Laurent Maye war bei der Urteilseröffnung nicht mehr zugegen. Er, der im Strafprozess eine Kontroverse ausgelöst hatte, liess sich von einem Kollegen vertreten. Maye betonte während des Prozesses: Ja, die Polizisten hätten im Februar 2018 bei der Verhaftung von Mike Ben Peter Fehler begangen. Und nein, es gebe keinen Beweis dafür, dass sie für den Tod des 39-Jährigen verantwortlich seien. Am Ende plädierte der Ankläger auf Freispruch. Die Anklageschrift war wertlos. Das Gericht folgte ihm vollumfänglich.

Auch in der Deutschschweiz hat man den Prozess gegen die Stadtpolizisten aufmerksam verfolgt. Mehrere Strafrechtler betonen in Gesprächen, dass Fälle von Polizeigewalt oft einem eigenen Muster folgen: Wenn Staatsanwälte gegen Polizisten ermitteln, würden Verfahren weniger hart und gezielt geführt. Zudem seien Gerichte gegenüber Polizisten oft milde gestimmt.

Diese Praxis zeige sich vor Gericht immer wieder. So im Fall des Kurden Cemal G., den Berner Stadtpolizisten im Juli 2001 in seiner Wohnung während zehn Minuten bäuchlings auf den Boden pressten und mit einem Polizeimehrzweckstock auf den Kopf schlugen und der einen sogenannten lagebedingten Erstickungstod erlitt. Cemal G. hatte eine Familie bedroht, die beim Polizeieinsatz aber bereits in Sicherheit war.

Ein Einzelrichter sprach die Berner Polizisten 2003 vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung frei. Sie bekamen darüber hinaus eine Genugtuung von 2000 Franken. Der Gerichtsreporter des «Tages-Anzeigers» kommentierte das damalige Urteil so: «Die Art, wie die Polizisten befragt wurden, (..) wirft Fragen nach der richterlichen Unabhängigkeit auf. (…) Wenn der Richter findet, die Justiz habe hier Polizisten unnötig an den Pranger gestellt, wirds problematisch. (…) Staatliches Handeln bedarf öffentlicher Kontrolle.»

Das Bundesgericht greift ein

Ein anderer Polizeieinsatz betrifft die Stadtpolizei Zürich. 2003 verwechselte ein Zürcher Polizist den Bürger Kurt von Allmen mit einem Einbrecher und rammte ihn mit seinem Polizeiauto gegen eine Mauer. Von Allmen verlor ein Bein. Nur weil sich von Allmen bis vor Bundesgericht gegen eine Einstellung der Strafuntersuchung wehrte, eröffnete die Staatsanwaltschaft gegen den Polizisten ein Verfahren wegen Körperverletzung und kam es schliesslich auch zu einer Anklage und einer Verurteilung. Das Zürcher Obergericht verurteilte den Polizisten zu einer bedingten Geldstrafe, nachdem ihn die Vorinstanz noch zu einem mehrmonatigen Freiheitsentzug verurteilt hatte.

Der Fall von Mike Ben Peter in Lausanne erinnert den Zürcher Anwalt Viktor Györffy an einen eigenen Fall. Im März 2010 starb der nigerianische Staatsangehörige Joseph Chiakwa vor einem Ausschaffungsflug am Zürcher Flughafen. Der Mann sei als Zwangsmassnahme auf einem Rollstuhl fixiert worden und plötzlich in sich zusammengesackt. Man habe Chiakwa danach zu reanimieren versucht, jedoch erfolglos, so der Anwalt.

Die Zürcher Staatsanwaltschaft eröffnete ein Strafverfahren. Viktor Györffy vertrat im Verfahren die Opferfamilie und sah, wie schwer es der Justiz fiel, die Todesursache zu ermitteln und Verantwortliche zu benennen. Er sagt: «Ein Gutachten des rechtsmedizinischen Instituts in Zürich nannte einen natürlichen Herzfehler als Todesursache. Doch mithilfe eines Kardiologen konnte ich aufzeigen, dass dieser Befund nicht die Todesursache gewesen sein dürfte.» Also habe die Staatsanwaltschaft ein zweites Gutachten eingeholt, diesmal in Deutschland. Und wieder habe der Befund «Herzfehler» geheissen, auch wenn die Deutschen ihn an einem anderen Ort entdeckt hätten, so Györffy. Doch mit der Herzfehlerdiagnose war die Möglichkeit für ein strafbares Handeln in den Hintergrund gerückt.

Weil der Nigerianer vor seiner Ausschaffung in einen Hungerstreik getreten war, drängte Györffy die Staatsanwaltschaft dazu, zu eruieren, ob man den abgewiesenen Asylsuchenden in diesem Zustand überhaupt hätte ausschaffen dürfen und ob allenfalls medizinische Sorgfaltspflichten verletzt wurden. Gemäss dem Anwalt stellte sich heraus, dass wichtige medizinische Informationen über den Gesundheitszustand, zum Beispiel den Hungerstreik, nicht weitergegeben worden waren. Auch war ein Pfleger nicht zur Stelle, der hätte da sein müssen, als der Mann am Flughafen zusammensackte.

«2018 hätte die Staatsanwaltschaft wohl gegen eine Polizistin und eine Pflegedienstleiterin Anklage erheben können», sagt Györffy. «Gemäss dem juristischen Grundsatz, dass im Zweifel Anklage zu erheben ist, hätte sie sogar müssen.» Doch verantwortlich schienen plötzlich alle und niemand. Also wurde das Verfahren eingestellt. 2012 hatte Györffy gegen einen ersten Einstellungsentscheid noch erfolgreich beim Obergericht rekurriert. Das Verfahren wurde wieder eröffnet. 2018 verzichtete er auf eine nochmalige Beschwerde.

Zu wenig Selbstkritik

Diese Zeitung hat mit einem anderen Zürcher Anwalt gesprochen, der vor Bundesgericht Verurteilungen gegen Polizisten erwirkt hat. Da er derzeit einen Klienten in einem prominenten Fall von Polizeigewalt vor Gericht vertritt, will er aus Rücksicht auf dieses Verfahren nicht mit Namen genannt werden. Der Anwalt vermisst bei der Polizei die Selbstkritik. «Ich habe Polizisten erlebt, die selbst bei Schuldsprüchen von ihrer Unschuld überzeugt waren», sagt er.

Der Jurist spricht von einer «systematischen Dysfunktionalität», wenn Polizisten strafrechtliche Verfehlungen nachgewiesen werden sollen. Bei beschuldigten Polizisten würden kaum je Zwangsmassnahmen angeordnet. Selbst bei offenkundiger Verdunkelungsgefahr komme es nie zur Untersuchungshaft. Polizei und Staatsanwaltschaft seien Hüter des staatlichen Gewaltmonopols. Werde gegen sie ein Strafverfahren geführt, komme es «regelmässig zum Schulterschluss der Justiz mit den Beschuldigten».

Bridget Ben Peter, die Witwe des verstorbenen Mike Ben Peter, zittert nach dem Urteil in Lausanne am ganzen Körper. «Dieser Prozess war nicht fair. Ich bin eine Löwin, und ich werde nach dem Tod meines Ehemanns bis zum Ende für Gerechtigkeit kämpfen», ruft sie vor dem Gerichtssaal unter dem Applaus der Aktivisten. Simon Ntah, der Anwalt der Opferfamilie, will das Urteil nicht kommentieren. Er verlässt das Gelände wortlos.

Ntah hat bereits angekündigt, Mängel bei der Strafuntersuchung bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg einzuklagen. So kam die Suche nach Zeugen schleppend voran. Ein Zeuge musste ein Jahr warten, bis er Aussagen konnte. Am Ende verzichtete das Gericht darauf, Zeugen im Prozess zu befragen. Für Gerichtspräsident Pierre Bruttin alles kein Problem. Er sagte in seinem Urteil: «Der Staatsanwalt hat die Untersuchung mit grösster Sorgfalt geführt. Ich sehe keine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention.»
(https://www.derbund.ch/geniessen-polizisten-vor-dem-richter-privilegien-618965990830)



nzz.ch 22.06.2023

Der Freispruch für sechs Waadtländer Polizisten führt zu Szenen, wie sie die Schweizer Justiz nicht kennt

Fürs Gericht trifft die Beamten, die den Nigerianer Mike Ben Peter am Boden festhielten, keine Schuld an dessen Tod. Nach dem Urteil hinderten Aktivisten den Polizeichef am Verlassen des Gebäudes.

Antonio Fumagalli, Renens

Noch hat der vorsitzende Richter das Urteil nicht fertig gelesen, da steht im rappelvollen Gerichtssaal ein Mann auf, schreit «Schande» und verlässt den Raum schäumend. Es sollte der Auftakt sein für Szenen, wie man sie in der Schweizer Justiz kaum je gesehen hat: Dutzende Aktivisten besetzen den Eingangsbereich des Gerichtsgebäudes von Renens, rufen nicht zitierfähige Slogans und benutzen Mobiliar als «Trommeln».

Als der Chef der Stadtpolizei Lausanne durch die Menschenmenge nach draussen gehen will, wird er physisch daran gehindert und muss von Kollegen zurück in den Gerichtssaal eskortiert werden. Mehrere Minuten lang scheint es, dass die Situation komplett aus dem Ruder laufen könnte – doch die Aktivisten beenden ihre Aktion schliesslich mit einem stummen Sit-in. Angesichts der Tatsache, dass die politische Brisanz des Falles längst bekannt war und schon vor Eröffnung des Urteils eine grössere Protestveranstaltung stattgefunden hatte, stellt sich auch die Frage, ob das – kaum sichtbare – Polizeiaufgebot nicht zu knapp bemessen war.

Grund für die unbändige Wut der Demonstranten ist das Verdikt des erstinstanzlichen Waadtländer Strafgerichts: Dieses hat sechs Kantonspolizisten von jeder Schuld in Zusammenhang mit dem Tod des 39-jährigen Nigerianers Mike Ben Peter im Februar 2018 freigesprochen. Bei der Festnahme des Mannes, der mit Kokain gehandelt hat, hätten sie verhältnismässig gehandelt, urteilt das Gericht.

Das Verdikt kommt nicht allzu überraschend, hat die Waadtländer Staatsanwaltschaft am Montag doch eine reichlich ungewöhnliche Kehrtwende vollzogen und nunmehr einen Freispruch gefordert. In der Anklageschrift wollte sie die Beamten noch wegen fahrlässiger Tötung verurteilt sehen.

Keinen Druck auf Brustkorb

Wie der vorsitzende Richter in seiner fast zweistündigen Urteilsverkündung sagte, seien «mehrere Faktoren» für Ben Peters Tod ursächlich gewesen. Er stützte sich dabei auf zwei medizinische Gutachten. Zu diesen Faktoren gehören eine bereits bestehende Herzschwäche des Verstorbenen, Stress, Übergewicht und die Bauchposition während der Kontrolle.

Jedenfalls sei nicht erwiesen, dass die Bauchlage des Nigerianers das Herz-Kreislauf-Versagen ausgelöst habe, so das Gericht. Auch gibt es keine Hinweise darauf, dass einer oder mehrere der Polizisten massiven Druck auf seinen Brustkorb ausgelöst hätten, was zum Tod durch Ersticken führen kann. «Es ist davon auszugehen, dass er unabhängig von der Art, wie er festgehalten worden ist, verstorben wäre. Die Bauchlage alleine erklärt es jedenfalls nicht», so der Richter.

Dies heisst jedoch nicht, dass Ben Peter auch ohne jeglichen Kontakt mit der Polizei an jenem Abend einen Herzstillstand erlitten hätte. Schliesslich hat die Kontrolle überhaupt erst seinen Stresszustand – eine der massgeblichen Ursachen – ausgelöst. Zu welchem Anteil die verschiedenen Faktoren mitspielten, sei «unmöglich festzulegen», so der Richter. Im Jahr vor dem Vorfall begab sich der stark übergewichtige Familienvater wegen seiner Herzprobleme in medizinische Behandlung. Die Ärzte hätten ihm dabei empfohlen, sich an spezialisierte Kardiologen zu wenden. Es gebe keine Hinweise darauf, dass er dies in der Folge auch getan habe, so der Richter.

Kokainkügelchen im Mund

Kein Zweifel besteht an der Tatsache, dass es für die Polizei legitim war, den Mann, der über keine gültige Aufenthaltsbewilligung verfügte, zu kontrollieren. Er hatte sich in einem für den Drogenhandel berüchtigten Quartier verdächtig verhalten und wehrte sich in der Folge heftig gegen die Versuche der Beamten, ihm Handschellen anzulegen. Noch während der Auseinandersetzung entdeckten sie Kokainkügelchen in seinem Mund, später kamen weitere zum Vorschein. In seinem Blut wurden keine Rückstände des weissen Pulvers gefunden.

Das Gericht befasste sich auch mit den Schreien, die Ben Peter während der Intervention von sich gegeben hatte. Mehrere Zeugen hatten sie gehört, allerdings waren die Schilderungen nicht einheitlich. Video- oder Tonaufnahmen gibt es nicht. Manche Zeugen berichteten von einer gleichbleibenden, andere von einer zunehmenden Intensität.

Ob der Nigerianer im Todeskampf geschrien hat oder vielmehr die Nachbarschaft aufmerksam machen wollte – wie es der Eindruck der Polizisten war –, ist nicht gesichert. Der Richter schliesst, dass man «praktisch keine Deutung der Schreie» machen könne. Auch sei es «normal», dass Zeugen einer Polizeikontrolle von deren Heftigkeit überrascht sein können.

Der leitende Staatsanwalt hatte in seinem Plädoyer vom Montag zwar den nun erfolgten Freispruch verlangt. Er hatte aber auch gesagt, dass die Polizisten ihre Sorgfaltspflicht verletzt hätten, indem sie Ben Peter länger als nötig in der Bauchlage hielten. Davon distanzierte sich das Gericht. Angesicht einer Aktion, die «in jeder Hinsicht aussergewöhnlich» gewesen sei, könne man den Beamten keine Verletzung ihrer Pflichten vorwerfen.

Der Vergleich mit George Floyd

Dass das Urteil sogleich zu Protestkundgebungen geführt, kommt nicht sonderlich überraschend. Nach Ben Peters Tod und anderen Polizeiinterventionen gegen Schwarze mit tödlichem Ausgang gab es in Lausanne mehrfach Demonstrationen mit Hunderten von Teilnehmern.

    Lautstarke Kundgebung noch im Gerichtsgebäude – nach dem Freispruch für die sechs Waadtländer Polizisten im Fall Mike Ben Peter. https://t.co/JWXM4LW7Nx pic.twitter.com/rmQQFyAXWt
    — Antonio Fumagalli (@Fumagalli_A) June 22, 2023

Tenor: Die Waadtländer Polizei habe rassistische Tendenzen, ja Ben Peter sei der Schweizer George Floyd – der Afroamerikaner also, der in Minneapolis von einem Polizisten getötet worden war. In juristischer Hinsicht will das Strafgericht nun gar nichts von dieser Lesart wissen. Der Vorsitzende hat allerdings gleich zu Beginn der Urteilseröffnung klargemacht, dass das Gremium einzig und allein den vorliegenden Fall beurteilt habe und keinesfalls der Frage nachgegangen sei, ob innerhalb der Polizei allenfalls systemischer Rassismus vorhanden sei.

Das letzte Wort ist im Fall Mike Ben Peter noch längst nicht gesprochen. Der Anwalt der Opferfamilie hat bereits im Vorfeld angekündigt, man werde «so lange kämpfen, bis Gerechtigkeit hergestellt ist». Aufgrund der Tumulte war er nach dem Urteil nicht zu sprechen. Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass das Urteil an die nächste Instanz weitergezogen wird.
(https://www.nzz.ch/schweiz/mike-ben-peter-freispruch-fuer-sechs-waadtlaender-polizisten-ld.1743875)



tagblatt.ch 22.06.2023

Sechs Polizisten vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen – danach eskaliert die Situation

Der Nigerianer Mike Ben Peter ist 2018 bei einer Verhaftung verstorben. Laut dem Lausanner Strafgericht tragen die sechs involvierten Beamten keine Schuld. Aktivisten stiegen nach der Urteilsverkündung auf die Barrikaden.

Julian Spörri, Renens

Der Strafprozess rund um den Tod von Mike Ben Peter könnte politisch aufgeladener nicht sein. Der nigerianische Dealer erlitt 2018 bei einer polizeilichen Verhaftung in Lausanne einen Herzstillstand. Wiederholt fanden in Lausanne Demonstrationen statt, die «Gerechtigkeit für Mike» forderten und den Fall mit dem Schicksal des Afroamerikaners George Floyd in den USA verglichen, der 2020 die Black-Lives-Matter-Bewegung befeuerte.

Zahlreiche Aktivistinnen und Aktivisten verfolgten die insgesamt vier Prozesstage vor Ort mit – und waren auch am Tag der Urteilsverkündung mit Plakaten vor dem Gerichtsgebäude positioniert. Dabei sollte es indes nicht bleiben. Doch dazu später mehr.

Den Richterinnen und Richtern oblag es, die aufgeladene Stimmung auszublenden. Im Fall Mike musste das Strafgericht des Bezirks Lausanne einzig und allein die Frage beantworten: Trifft die sechs beschuldigten Polizisten eine Schuld am Tod von Mike Ben Peter oder nicht?

Am Donnerstagnachmittag gab das Gericht sein Urteil bekannt: Alle Polizisten werden vom Vorwurf der fahrlässigen Tötung freigesprochen.

Kausaler Zusammenhang nicht bewiesen

Der Gerichtsvorsitzende sprach von einer «Ausnahmesituation», die sich an jenem Februarabend nahe des Lausanner Bahnhofs abgespielt habe. Man könne von den Beamten nicht verlangen, dass sie sich anders verhalten hätten.

Dies wegen des Widerstands, welchen Mike Ben Peter an den Tag gelegt habe. Der damals 39-jährige Mann, der zwar Kokainkügelchen in seinem Mund versteckte, aber kein Kokain im Blut aufwies, setzte sich im Rahmen der Anti-Drogen-Aktion gegen seine Verhaftung zur Wehr. Zuerst gegenüber einem Polizisten und auch später noch, als fünf weitere Beamte als Verstärkung hinzugestossen waren. Zu sechst legten die Polizisten Mike Ben Peter in Handschellen und fixierten ihn in Bauchlage auf dem Boden. Wie viele Minuten genau, ist unklar. Klar ist nur, dass der dunkelhäutige Mann in dieser Position einen Herzstillstand erlitten hat.

Die Zeitspanne markiert die entscheidende Phase zur Beurteilung des Falls. Der Gerichtsvorsitzende betonte, dass eine Person in Bauchlage, die in Handschellen gefesselt sei, so schnell wie möglich in eine andere Position gebracht werden müsse. So werde es von den Polizeien gelernt, um den «lagebedingten Erstickungstod» zu verhindern. Ausnahmen seien nur möglich, wenn es die Situation erfordere – etwa, weil sich die verdächtige Person weiter zur Wehr setze und dadurch sich oder Dritte verletzen könnte. Nach Ansicht des Gerichts war dies bei Mike Ben Peter gegeben.

Die Richter und die Richterin verneinten jedoch nicht nur aus diesem Grund das Vorliegen einer fahrlässigen Tötung. Für eine Verurteilung müsste auch ein eindeutiger kausaler Zusammenhang zwischen Versäumnissen vonseiten der Polizisten und dem Todesfall vorliegen. Das Gericht betonte, dass zwei gerichtsmedizinische Gutachten von «renommierten» Fachpersonen diesen Nachweis nicht erbringen würden. Laut diesen ist der Herzstillstand auf verschiedene Faktoren zurückzuführen, darunter die Stresssituation, Herzrhythmusstörungen und das Übergewicht des Mannes.

Aktivisten kapern Gerichtsgebäude

Bereits der Staatsanwalt Laurent Maye hatte Anfang Woche auf diese Weise argumentiert: Es sei nicht zu beweisen, dass die Fixierung des Mannes in Bauchlage den Herzstillstand verursacht habe. Der Staatsanwalt liess die Anklage wegen fahrlässiger Tötung fallen und forderte Freisprüche – wie die Verteidigung der sechs Polizisten. Sie hatten unisono beteuert, keinen Druck auf den Brustkorb des Mannes ausgeübt zu haben.

Der Anwalt der Opferfamilie bezeichnete die Wende des Staatsanwaltes am Montag als «Schande». Simon Ntah vermisste einen Blick auf die Gesamtheit der Polizeiintervention. Die Stresssituation sei dadurch verursacht worden, dass Mike Ben Peter Tritte in die Rippen und in den Genitalbereich erhalten habe und Pfefferspray angewandt worden sei. Den Einsatz dieser Mittel stellte der verantwortliche Polizist nicht in Abrede.

Simon Ntah hatte bereits im Vorfeld angekündigt, im Fall von Freisprüchen Berufung einzulegen. Aktivistinnen und Aktivisten gingen nach der Urteilsverkündung auf die Barrikaden – wie es die Schweiz nach einem richterlichen Verdikt wohl kaum je gesehenen hat. Über 50 Unterstützende der Opferfamilie kaperten den Vorraum des Gerichtssaals, skandierten Parolen gegen die Polizei, pfiffen und nutzten das Inventar als Trommeln. Der Chef der Lausanner Stadtpolizei wurde gar physisch am Verlassen des Gebäudes gehindert. Fazit: Die aufgeladene Stimmung hat sich nach dem erstinstanzlichen Urteil nicht gelegt – im Gegenteil.

    Lautstarke Kundgebung noch im Gerichtsgebäude – nach dem Freispruch für die sechs Waadtländer Polizisten im Fall Mike Ben Peter. https://t.co/JWXM4LW7Nx pic.twitter.com/rmQQFyAXWt
    — Antonio Fumagalli (@Fumagalli_A) June 22, 2023
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/urteil-im-fall-mike-sechs-polizisten-vom-vorwurf-der-fahrlaessigen-toetung-freigesprochen-danach-eskaliert-die-situation-ld.2478439)



nzz.ch 22.06.2023

Trotz Anklage will der Staatsanwalt im Fall Mike Ben Peter einen Freispruch: weshalb bei Polizeigewalt eine Nähe zwischen Anklägern und Beschuldigten heikel ist

Zuerst waren sechs Waadtländer Polizisten wegen fahrlässiger Tötung angeklagt, nun sollen sie freigesprochen werden. Kritiker sehen in der Wende einen Hinweis auf fehlende Unabhängigkeit zwischen Polizei und Staatsanwaltschaft.

Antonio Fumagalli, Daniel Gerny

Exzessive Polizeigewalt oder tragisches Schicksal? Heute Donnerstag fällt das Lausanner Bezirksgericht das mit Spannung erwartete Urteil in einem Fall, der nicht zuletzt wegen des Vergleichs mit dem Mord an George Floyd weit über die Kantonsgrenzen Wellen geschlagen hat. Der nigerianische Drogendealer Mike Ben Peter verstarb am 1. März 2018, nachdem ihn sechs Polizisten am Abend zuvor in der Nähe des Bahnhofs Lausanne kontrolliert und minutenlang am Boden festgehalten hatten. Ob die Beamten für seinen Tod verantwortlich sind, ist die strafrechtliche Frage, mit der sich das Gericht derzeit zu befassen hat.

Während des Prozesses und schon beim jahrelangen Vorverfahren schwelte im Hintergrund jedoch noch eine andere, prozedurale Problematik: Kann eine Staatsanwaltschaft – wie im vorliegenden Fall geschehen – gegenüber Polizisten des eigenen Kantons überhaupt unabhängig ermitteln und gegebenenfalls Anklage erheben? Schliesslich arbeiten diese beiden Instanzen eng zusammen und hängen voneinander ab.

Für Simon Ntah, Anwalt der Opferfamilie, ist die Antwort klar: Nein. Und das, was diesen Montag im Gerichtssaal von Lausanne geschehen ist, bestärkt ihn in seiner Einschätzung. In einer spektakulären und reichlich ungewöhnlichen Kehrtwende plädierte der leitende Staatsanwalt gegen die sechs Polizisten plötzlich auf Freispruch. Er sehe «keinen kausalen Zusammenhang» zwischen der handfesten Polizeiintervention und Ben Peters Tod, sagte er. In der Anklageschrift hatte er noch eine Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung verlangt.

Absprache unter Polizisten?

Ntah interpretiert das Manöver als (späten) Beleg dafür, dass die Staatsanwaltschaft «von allem Anfang an gar nie daran interessiert war, ein seriöses Verfahren zu führen». Bereits in den ersten Stunden nach dem Vorfall habe sie schwerwiegende Fehler begangen, indem die Involvierten nicht voneinander getrennt worden seien und sie damit eine «gemeinsame Verteidigungsstrategie» hätten erarbeiten können, die sie bis zum Prozess durchgezogen hätten – nämlich, dass keiner der Polizisten genau gesehen haben will, was der andere getan hat.

Um den Verdacht der Befangenheit präventiv aus dem Weg zu räumen, müssten schwerwiegende Fälle eines Verdachts gegen Polizisten an hierarchisch systematisch unabhängige Einheiten der Staatsanwaltschaft und – noch besser – an eine ausserkantonale Einheit vergeben werden, findet Ntah. «Sogar die Bundesanwaltschaft käme für mich infrage. Sie hätte die Kompetenz und die notwendige Unabhängigkeit.»

«Sehr ernsthaft und ergebnisoffen»

Die NZZ hat bei mehr als einem Dutzend Strafverfolgungsbehörden der grössten Kantone der Schweiz nachgefragt. Ergebnis: Grundsätzlich ermitteln die Staatsanwaltschaften überall gegen die Polizei des eigenen Kantons. Anzeigen und Strafanträge würden selbstverständlich «sehr ernsthaft und ergebnisoffen» geprüft, schreibt etwa die baselstädtische Staatsanwaltschaft stellvertretend.

Es gibt allerdings Nuancen: Mehrere Kantone melden, dass man je nach Konstellation durchaus einen ausserordentlichen (sprich: ausserkantonalen) Staatsanwalt einsetze. Luzern etwa verfuhr in den vergangenen Jahren bei Verfahren gegen das obere Polizeikader so. St. Gallen lagert bei Verdachtsfällen gegen Beamte die Ermittlungen an ein ausserkantonales Polizeikorps aus. Dieses rapportiert dann jedoch wiederum an die St. Galler Staatsanwaltschaft.

Die Staatsanwaltschaften grösserer Kantone unterhalten oftmals eigenständige Einheiten für polizeirelevante Fälle – seit 2020 übrigens auch die Waadt. Genf kennt eine solche Struktur bereits seit dem Jahr 2000, wobei der Generalstaatsanwalt die Dossiers persönlich betreut. In Bern ist in der Regel die «Staatsanwaltschaft für besondere Aufgaben» zuständig. In Zürich ist es die «Staatsanwaltschaft II, Abteilung A», wobei je nach Sachlage auch die Einsetzung eines ausserkantonalen Staatsanwalts möglich ist. Trotzdem hat die Frage der Unabhängigkeit bereits mehrfach zu politischen Irritationen geführt.

Das Recht auf Leben

Vor zwei Jahren erklärte der Regierungsrat im Kantonsparlament auf eine Anfrage zum Thema Polizeigewalt, dass jede Strafanzeige gegen Mitarbeitende der Strafverfolgungsbehörde der Oberstaatsanwaltschaft vorgelegt werde. Diese nehme dann «die sachgerechte Zuteilung an eine geeignete Staatsanwaltschaft» vor. Damit könne «eine nur schon denkbare fehlende Unabhängigkeit vermieden werden». Schliesslich könne die Nichtanhandnahme eines Verfahrens gerichtlich überprüft werden. Das gelte auch für Fragen der Befangenheit.

Dennoch beurteilt Marc Thommen, Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht an der Uni Zürich, die Praxis der Kantone kritisch. Einerseits komme es auf die organisatorische und rechtliche Trennung an. Rechtlich sehe die Strafprozessordnung vor, dass die Polizei der Aufsicht und den Weisungen der Staatsanwaltschaft unterstehe. Zudem sei etwa in Basel-Stadt die Kriminalpolizei organisatorisch der Staatsanwaltschaft unterstellt. Und andererseits komme es nicht nur auf die rechtliche, sondern auch auf die faktische Unabhängigkeit an. Darauf also, wie eng Polizei und Staatsanwaltschaft im Alltag zusammenarbeiten und wie oft sie aufeinandertreffen.

Bei tödlicher Polizeigewalt habe eine Untersuchung durch eine unabhängige Behörde stattzufinden, erklärt Thommen. Diese Forderung leiten sowohl das Bundesgericht als auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aus dem Recht auf Leben ab. Das bedeute, dass die untersuchenden Personen von den an der Tötung beteiligten Personen rechtlich und faktisch unabhängig sein müssen.

Man begegnet sich in der Kantine

Dass der Kanton Zürich ausgerechnet die für Polizeiuntersuchungen zuständige Staatsanwaltschaft II zusammen mit der Kantonspolizei im neuen Justizzentrum unterbringe, sei mit Blick auf die faktische Unabhängigkeit bedenklich, sagt Thommen: «So begegnet man sich täglich in der Kantine.» Der Eindruck von zu grosser Nähe sei dadurch praktisch kaum mehr zu verhindern.

Der Anschein der Unvoreingenommenheit kann nur schon dadurch getrübt sein, dass man von aussen den Eindruck hat, für Polizisten gälten andere Massstäbe – und Verfahren würden deshalb anders geführt oder gar eingestellt. In solchen Fällen würde die Entscheidfindung auch durch ganz praktische Überlegungen geprägt: Eine kantonale Behörde will ihre eigene Polizei, mit der sie täglich zusammenarbeitet, nicht «in die Pfanne hauen». Werde eine Verfahrenseinstellung dann angefochten, so müsse die Behörde nicht aus eigener Überzeugung, sondern auf Weisung des Gerichts führen, argumentiert Thommen.

Beinamputation wegen Polizeieinsatz

Der Strafrechtler erinnert sich an einen Fall in Zürich, den er vor über 15 Jahren als Gerichtsschreiber am Bundesgericht bearbeitet hatte: Bei der Jagd nach einem Einbrecher hatte eine Patrouille einen rennenden Mann entdeckt. Um ihn am Entkommen zu hindern, schnitt ihm ein Polizeiwagen den Weg ab und drückte ihn dabei mit dem Auto gegen eine Hauswand. Das Bein des Opfers, bei dem es sich übrigens nicht um den Einbrecher handelte, musste amputiert werden.

Gegen den Polizisten am Steuer wurde zwar pflichtgemäss eine Untersuchung wegen schwerer Körperverletzung eingeleitet, kurz darauf aber wieder eingestellt. Die Untersuchungsbehörde hielt es für ausgeschlossen, nachzuweisen, dass der Polizeibeamte bei seiner Aktion eine Körperverletzung des Verdächtigen in Kauf genommen und damit eventualvorsätzlich gehandelt hatte. Gegen diese Einstellung wehrte sich das Opfer erfolglos durch alle Instanzen.

Das Zürcher Beispiel erinnert an die Kehrtwende im Fall Mike Ben Peter: Die Staatsanwaltschaft hat durch die Anklage ihre «Pflicht erfüllt». Doch das Gericht bleibt auch nach dem Antrag auf Freispruch bei der Urteilsfindung und bei der Strafbemessung frei, so Thommen. Wenn es nun zu einer Bestrafung kommen sollte, sei die Staatsanwaltschaft dafür «nicht verantwortlich» – und der Friede bleibt gewahrt.
(https://www.nzz.ch/schweiz/mike-ben-peter-zu-viel-naehe-zwischen-ermittlern-und-anklaegern-ld.1743618)


+++FRAUEN/QUEER
Anti-Abtreibungs-Initiativen sind gescheitert
Ein breite Allianz von Menschenrechtsorganisationen, Frauenverbänden und Politiker*innen ist erfreut über das Scheitern von zwei Volksinitiativen, die das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche einschränken wollten.
https://www.amnesty.ch/de/themen/frauenrechte/schwangerschaftsabbruch/anti-abtreibungs-initiativen-sind-gescheitert


+++RECHTSEXTREMISMUS
Stadt Zürich sagt Konzert von weiterem ukrainischem Sänger ab
Das Kulturhaus Dynamo, das der Stadt Zürich gehört, hat ein weiteres Konzert eines ukrainischen Sängers abgesagt. Nach Artem Pivovarov Anfang Juni darf nun auch Oleg Skripka nicht auftreten.
https://www.watson.ch/schweiz/z%C3%BCrich/606890438-stadt-zuerich-sagt-konzert-von-weiterem-ukrainischem-saenger-ab
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/stadt-zurich-sagt-konzert-von-weiterem-ukrainischem-sanger-ab-66525806


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Meiringen BE: Die Ärztin glaubte, neun Frauen seien «satanistisch programmiert»
Nach Münsingen nun auch Meiringen: In der Berner Oberländer Privatklinik wurden Patientinnen mit der Verschwörungstheorie therapiert.
https://www.20min.ch/story/die-aerztin-glaubte-neun-frauen-seien-satanistisch-programmiert-596933973044


+++HISTORY
Irma Frei bricht das Schweigen über Zwangsarbeit in der Schweiz
Irma Frei wurde als Scheidungskind in verschiedenen Heimen platziert. Als Jugendliche wurde sie 1958 zur Arbeit in Emil Bührles Spinnerei in Dietfurt verpflichtet und in sein Fabrikheim eingewiesen. Mit über 80 bricht sie ihr Schweigen und erzählt ihre Geschichte als Zwangsarbeiterin in der Schweiz.
https://www.srf.ch/audio/kontext/irma-frei-bricht-das-schweigen-ueber-zwangsarbeit-in-der-schweiz?id=12403780