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+++SCHWEIZ
NZZ am Sonntag 11.06.2023
Ein ganzes Flugzeug für einen einzigen abgewiesenen Asylbewerber. Wie kann das sein?
Der Bund chartert für Ausschaffungen grosse Passagierflugzeuge mit über hundert Sitzen. Die allermeisten Plätze bleiben aber leer. Das zeigen neue Zahlen des Bundes, die der «NZZ am Sonntag» vorliegen.
Georg Humbel
Die Szenerie mutet absurd an: Auf dem Flughafen Zürich steht im Morgengrauen ein Passagierjet bereit. Die Maschine parkiert abseits, in einer schlecht einsehbaren Ecke. Das Charterflugzeug transportiert sonst Pauschaltouristen. Doch heute soll es abgewiesene Asylbewerber zurück in ihr Herkunftsland bringen. Der Bund hat den Jet extra dafür gemietet. Ein Arzt, ein Rettungssanitäter sowie Menschrechtsbeobachter sind aufgeboten. Mehrere Polizisten fliegen ebenfalls mit. Doch als das Flugzeug an den Start rollt, ist nur ein einziger Auszuschaffender an Bord. Er sitzt alleine zwischen den vielen Begleitern – vor ihm und hinter ihm: reihenweise leere Sitzplätze.
Ein ganzes Flugzeug für eine einzige Person: Das ist kein Einzelfall. Gestützt auf das Öffentlichkeitsprinzip hat diese Zeitung vom Staatssekretariat für Migration SEM erstmals detaillierte Zahlen zu den Sonderflügen erhalten. Sie zeigen, dass die Flüge schlecht ausgelastet sind und die Maschinen oft praktisch leer abheben. Auch für weite Strecken: So hat die Schweiz letzten Februar zwei abgewiesene Personen ins südliche Afrika geflogen. Auch für diesen Flug musste der Bund ein ganzes Flugzeug bereitstellen. Gleich fünfmal starteten Sonderflüge letztes Jahr mit nur einer einzigen Person an Bord.
Das empört bürgerliche Asylpolitiker: «Das ist eine Ausschaffung quasi im Privatjet mit VIP-Rundumbetreuung», sagt der FDP-Migrationspolitiker Damian Müller. «Aufwand und Ertrag stehen in keinem Verhältnis.» Für Marco Romano (Mitte) ist es «störend», wenn nur eine einzige Person im Flugzeug sitzt. Und die SVP-Migrationspolitikerin Martina Bircher sagt: «Ich bin für konsequente Ausschaffungen. Aber der eigenen Bevölkerung will man das Fliegen massiv verteuern oder sogar ganz verbieten. Und abgewiesene Asylbewerber befördert man per Privatjet.» Für alle drei ist unverständlich, dass der Bund die Flugzeuge nicht besser auslastet.
Umstrittene Zwangsausschaffungen mit Sonderflügen
Zwangsausschaffungen mit Sonderflügen sind seit Jahren politisch hoch umstritten. Menschenrechtsgruppen kritisieren, dass die abgewiesenen Personen notfalls mit Ganzkörperfesselung auf den Flieger gebracht werden. Solche zwangsweisen Rückführungen betreffen aber nur einen kleinen Teil der abgewiesenen Asylbewerber. Die meisten reisen auf normalen Linienflügen aus. Doch es gibt auch Personen, die sich jahrelang und immer wieder weigern, das Land zu verlassen. Für diese Fälle organisiert der Bund Sonderflüge. Insgesamt hat die Schweiz letztes Jahr 24 solcher Flüge organisiert – zurückgeschafft hat die Schweiz so allerdings nur 115 Personen. Das ergibt eine durchschnittliche Belegung von 4,8 Personen. Und diese war im Vergleich zu anderen Jahren sogar noch hoch. Im Jahr 2021 lag der Wert mit 3,8 Personen noch tiefer.
Flugzeug mit über hundert Sitzplätzen
«Ich kann verstehen, dass man sich fragt, weshalb in einzelnen Fällen nur ein oder zwei Personen an Bord sind», sagt die Staatssekretärin und SEM-Chefin Christine Schraner Burgener im Gespräch mit der «NZZ am Sonntag». Dafür gebe es aber Gründe. Für die Flüge seien immer mehrere weggewiesene Personen eingeplant. «Doch es kommt immer wieder zu kurzfristigen Annullationen», so Schraner Burgener. Wie das SEM dieser Zeitung schreibt, können zum Beispiel medizinische Probleme eine Rückführung kurzfristig stoppen. Auch ein Gericht kann den Vollzug aussetzen. Und immer wieder gelingt es weggewiesenen Asylbewerbern, vor dem Flug unterzutauchen.
«Es kann doch nicht sein, dass jemand untertauchen kann, wenn das Flugzeug schon gechartert ist», so kritisiert Marco Romano. Er ist Präsident der Staatspolitischen Kommission des Nationalrats. Für Romano stehen vor allem die Kantone in der Pflicht. Sie sind es, die Personen beim Bund anmelden und dann auch an den Flughafen bringen. «Einige Kantone sind hier viel zu wenig konsequent und setzen die nötigen Rechtsmittel nicht ein», kritisiert Romano. Mit dem Ergebnis, dass die Sonderflüge mit leeren Plätzen abheben.
Denn die Schweiz setzt dafür grosse Maschinen ein. Fünf Flüge hat der Bund letztes Jahr mit bundeseigenem Gerät gemacht. Die Eidgenossenschaft hat 2018 der Rettungsflugwacht (Rega) zwei gebrauchte Maschinen abgekauft. Diese 19-Plätzer sind die kleinsten Flugzeuge. Für alle anderen Sonderflüge charterte der Bund grössere Maschinen: Wie das SEM schreibt, werden Typen mit 30 bis 80 Sitzplätzen oder «mittelgrosse Maschinen» mit 110 bis 190 Sitzplätzen eingesetzt. Das alles, um durchschnittlich drei bis fünf Personen ausser Landes zu schaffen.
Dem Bund geht es ums Prinzip
Für linke Migrationspolitikerinnen ist die tiefe Auslastung selbstverschuldet. «Die Bürgerlichen fordern maximales Tempo bei Ausschaffungen», sagt die SP-Nationalrätin Samira Marti. «Dann starten die Flugzeuge eben mit sehr wenigen Personen.» Sich darüber aufzuregen, sei «heuchlerisch». Doch auch linke Politikerinnen ärgern sich: «Es ist aus Kosten- und Umweltsicht ein völliger Blödsinn, mit ein oder zwei Personen um die halbe Welt zu fliegen», sagt die Grüne Greta Gysin. Aus Sicht von Gysin könnte man die abgewiesenen Personen auch ein wenig länger in der Schweiz tolerieren und dafür die Flieger besser auslasten. Gysin betont, dass eine Zwangsausschaffung auch ein menschliches Drama sei und die Schweiz noch viel mehr versuchen solle, freiwillige Ausreisen zu fördern. Dann wären auch weniger Sonderflüge nötig.
Doch in der Praxis ist die Schweiz eines der Länder, die Wegweisungen am konsequentesten vollziehen. Die SEM-Direktorin Schraner Burgener verteidigt diese Politik. «Wir müssen alles tun, was rechtlich möglich ist», so Schraner Burgener. Das sei Teil der beschleunigten Asylverfahren und einer glaubwürdigen Asylpolitik. «Es ist wichtig, dass Asylsuchende, die keine Aussicht auf den Schutz der Schweiz haben, wissen, dass sie unser Land rasch wieder verlassen müssen.» Aus diesen Gründen sei es richtig, zur Not auch Sonderflüge mit wenigen Passagieren an Bord durchzuführen. Diese Konsequenz kostet. Das SEM rechnet mit Flugkosten von 13 000 Franken für eine Ausschaffung per Sonderflug. Nicht eingerechnet sind da die Sicherheitskosten sowie die Begleitung durch Ärzte und Beobachter, die ebenfalls mit einigen tausend Franken zu Buche schlagen dürften.
Auch wenn Bürgerliche sich über die tiefe Auslastung empören. Im Kern stützen sie die Praxis. Eine teure und höchst aufwendige Ausschaffung ist ihnen immer noch lieber als keine. «Abgewiesene Asylbewerber haben kein Bleiberecht in der Schweiz. Es ist richtig, dass wir den Rechtsstaat durchsetzen», sagt Damian Müller. Für Müller wäre es ein falsches Zeichen, ein Flugzeug aus Kostengründen am Boden zu behalten. Genau gleich sieht es Martina Bircher. Sie ärgert sich über die fast leeren Flugzeuge. Doch für sie sind sie immer noch das kleinere Übel: «Es kostet uns viel mehr, wenn diese Leute länger hier bleiben und Sozialhilfe beziehen.»
Es geht der Politik also auch darum, ein Zeichen zu setzen. Und asylpolitische Härte zu demonstrieren. Deshalb werden auch dieses Jahr wieder ganze Passagierflugzeuge abheben – mit wenigen oder sogar nur einer abgewiesenen Person an Bord. Und so Tausende Kilometer weit fliegen.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/ein-ganzes-flugzeug-fuer-einen-abgewiesenen-asylbewerber-warum-ld.1741516)
-> https://www.blick.ch/politik/absurde-ausschaffungen-ganzes-flugzeug-fuer-einzelnen-abgewiesenen-asylbewerber-id18655444.html
-> https://www.20min.ch/story/flugzeug-fuer-eine-person-so-ineffizient-schafft-der-bund-asylsuchende-aus-775939958313
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/sonderfluge-zur-ausschaffung-sind-schlecht-ausgelastet-66516352
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/abgewiesene-asylsuchende-ausschaffungen-bei-sonderfluegen-bleiben-grosse-jets-fast-leer
-> https://www.derbund.ch/sonderfluege-zur-ausschaffung-sind-schlecht-ausgelastet-991622371226
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Sonntagszeitung 11.06.2023
Personen mit Schutzstatus S: Immer mehr Ukrainer kehren in ihre Heimat zurück
Die Zahl der Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz wird kleiner. Statt Personen mit S-Status erwartet der Bund künftig wieder mehr Asylgesuche.
Cyrill Pinto
Der Trend hält seit dem Frühling an: Die Zahl der Ukrainerinnen und Ukrainer, die in der Schweiz den Schutzstatus S beantragen, geht stetig zurück. Weil auch immer mehr Geflüchtete in ihre Heimat zurückkehren, sinkt die Zahl der Personen mit S-Status. Ende Februar befanden sich 66’319 Personen mit S-Status in der Schweiz, Ende März waren es noch 65’744. Am Freitag veröffentlichte Zahlen des Staatssekretariats für Migration (SEM) zeigen nun, dass diese Zahl nochmals zurückgegangen ist: auf 65’334 Personen.
Prognosen des Bundes bestätigen sich nicht
Der Trend widerspricht den Planungen des Bundes. Er rechnet in seinem Budget mit durchschnittlich 100’000 Schutzsuchenden und veranschlagte dafür Ausgaben von insgesamt 2,1 Milliarden Franken. Eine Prognose, die wohl nicht eintreffen wird. Dafür geht der Bund in diesem Jahr von einer Zunahme der ordentlichen Gesuche aus. Dafür braucht der Bund dringend zusätzliche Unterkunftsplätze. Konkret rechnet er mit einem Bedarf von 3000 Plätzen. «Wir müssen uns vorbereiten, um weiterhin allen Asylsuchenden vom ersten Tag an ein Bett und ein Dach über dem Kopf anbieten zu können», heisst es beim SEM. Erklärtes Ziel des Bundes ist es, die Kantone nicht zusätzlich belasten zu müssen, wie das Ende 2022 vorübergehend der Fall war, weil die Bundesasylzentren sehr stark ausgelastet waren. Im Gegensatz zu Asylsuchenden bleiben Personen mit S-Status nur wenige Tage in der Obhut des SEM, bevor sie den Kantonen zugewiesen werden.
(https://www.derbund.ch/immer-mehr-ukrainer-kehren-in-ihre-heimat-zurueck-875732838966)
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Sonntagszeitung 11.06.2023
Ukrainisch-russischer Doppelbürger in der Schweiz: Die Ausschaffung zwingt ihn, auf die eigenen Landsleute zu schiessen
Der Ukrainer Artem Voitkov soll nach Russland ausgeschafft werden – weil er auch einen russischen Pass hat. Dort warten der Militärdienst und Krieg gegen seine eigene Heimat auf ihn. Sein Anwalt fordert den Bundesrat auf, einzugreifen.
Mischa Aebi
Artem Voitkov sitzt leicht eingefallen am Tisch in der Kanzlei seines Anwalts in Basel. «Ich werde gezwungen, auf meine eigenen Landsleute zu schiessen», sagt er erstaunlich gefasst. Voitkov gibt sich Mühe, ein paar Sätze Deutsch zu reden, obwohl er eigentlich nur Ukrainisch und Russisch spricht. «Die Schweiz war meine Hoffnung», sagt er. Doch es sieht schlecht aus für ihn, Voitkov soll ausgeschafft werden.
Seine Mutter und sein Bruder haben den Schutzstatus für Ukrainer bekommen. Beide leben in Basel. Im Moment wohnt auch Artem noch bei ihnen. Doch ihm verweigern die Behörden das Bleiberecht. Das hat das Staatssekretariat für Migration entschieden und das Bundesverwaltungsgericht jetzt bestätigt.
Die Begründung: Der 37-Jährige habe bei Ausbruch des Krieges im Februar 2022 in Russland gelebt. Deshalb müsse man den gebürtigen Ukrainer nun dorthin zurückschaffen, ins Land des Feindes also, wo der Militärdienst auf ihn wartet – und der Krieg gegen seine eigene Heimat.
«Dieses Urteil ist menschenverachtend», sagt sein Anwalt Stefan Suter. Doch es ist rechtskräftig. Suter fordert den Bundesrat auf, einzugreifen.
Als 28-Jähriger der Misere entflohen
Artem Voitkov ist in Perwomaisk aufgewachsen, einer kleinen Provinzstadt in der Region Luhansk im Osten der Ukraine. Er ist wie seine Eltern ukrainischer Staatsangehöriger. Nach der Schule studierte er Geologie im Westen des Landes und kehrte dann zurück nach Luhansk.
2014 begannen die Unruhen in der Ostukraine. Prorussische Rebellen setzten mit Waffengewalt die Unabhängigkeit von Kiew durch, unterstützt von Putin. Die in der Ostukraine wichtige Kohleindustrie brach zusammen. Arbeitslosigkeit grassierte. Die prorussischen Besetzer verhinderten aber eine Ausreise in die Westukraine.
Voitkov war damals 28-jährig. Er sagt heute: «Um der Misere damals zu entkommen, ist mir wie vielen anderen in Luhansk nur der Weg nach Russland offen gestanden.» Voitkov ging. Er jobbte in Bergwerken und später auf dem Bau, mal in Moskau, mal in Sibirien. «Hauptsache, ich konnte arbeiten», sagt er. Um eine Stelle zu bekommen, brauchte er den russischen Pass. Den bekam er geschenkt, weil Putin Luhansk schon damals als sein Territorium betrachtete. Voitkov wurde Doppelbürger aus wirtschaftlichen Gründen, zumindest auf dem Papier. «Doch im Herzen war ich immer Ukrainer», sagt er.
Der Brief von Putins Beamten
Dann kam die Hiobsbotschaft: Als er Ende letzten Jahres von einem Arbeitseinsatz in Sibirien in seine Wohnung in Moskau zurückkehrte, lag ein Aufgebot der russischen Rekrutierungsbehörden im Briefkasten. Man suchte ihn. Er wusste, sie werden wiederkommen, wenn er sich nicht selbst meldet.
Das Aufgebot sei zwar noch kein Marschbefehl gewesen, sagt Voitkov. Aber die Registrierung bedeute, dass er bei der nächsten Mobilisierung als Soldat für den Krieg gegen die Ukraine eingezogen werde. «Für mich war klar: Niemals im Leben würde ich mithelfen, meine eigene Heimat zu zerstören und gegen meine Landsleute kämpfen.» Deshalb verliess er Russland, illegal. Er floh in die Schweiz zu Mutter und Bruder.
Der Buchstabe des Gesetzes
Das Migrationsamt und das Gericht kennen Voitkovs Geschichte. Er hat sie den Behörden bei seiner Ankunft in der Schweiz erzählt. Sie stellten seine Schilderung und die beigelegten Beweise zwar nicht infrage.
Doch die Migrationsbeamten halten sich bei ihrem Ausschaffungsentscheid strikt an einen Paragrafen, der ihrer Meinung nach auf Voitkov anzuwenden ist. Demnach haben Ukrainer kein Anrecht auf den Schutzstatus, wenn sie am Tag des Kriegsausbruches in einem anderen Land lebten, in welches sie «in Sicherheit und dauerhaft» zurückkehren können.
In den Augen der Behörden ist Putins Russland für den Ukrainer Voitkov tatsächlich ein sicherer Drittstaat. Für das Gesetz und die Beamten spielt es keine Rolle, ob die zweite Heimat eines Ukrainers Frankreich, Polen, Spanien, Tunesien – oder Russland ist. Gemäss Urteil sehen sie bei ihrem Entscheid keinen Spielraum. Sein Anwalt sagt: «Mein Mandant ist 2014 Opfer der russischen Besetzung der ukrainischen Provinz Luhansk geworden. Und nun soll er ausgerechnet nach Russland ausgeschafft werden.»
Keine menschenrechtswidrige Strafe in Russland?
Die Schweizer Behörden hätten noch eine zweite Möglichkeit, Voitkovs Ausschaffung nach Russland zu verhindern. Denn das Gesetz schreibt vor, dass selbst wenn eine Person kein Anrecht auf den Schutzstatus hat, nicht ausgeschafft werden darf, wenn die Ausschaffung gegen Völkerrecht verstösst. Das ist zum Beispiel dann der Fall, wenn die betroffene Person im Ausschaffungsland um ihr Leben fürchten müsste, ihr Folter oder unmenschliche Bestrafung drohten.
Doch weder die Migrationsbeamten noch das Gericht sehen im Fall Voitkov einen Grund, den Vollzug der Ausschaffung auszusetzen. Es bestehe für ihn in Russland kein «reales Risiko», unmenschlich bestraft zu werden, hält das Gericht fest. Die Richter befanden, Voitkov habe «nicht hinreichend konkret» darlegen können, «dass er im Falle einer zukünftigen Militärdienstverweigerung mit menschenrechtswidrigen militärstrafrechtlichen Sanktionen» rechnen müsse. Deshalb sei seine Ausschaffung nach Russland zumutbar.
Theoretisch kann Voitkov noch ein reguläres Asylgesuch stellen. Dann beurteilen ihn die Behörden als russischen Staatsangehörigen. Die Chancen auf Erfolg sind gering: Laut dem Staatssekretariat für Migration reichten dieses Jahr 135 Menschen aus Russland ein Asylgesuch ein, vier bekamen Asyl. Kriegsdienstverweigerung anerkennt das Amt grundsätzlich nicht als Asylgrund.
Eine Rückkehr in die Ukraine ist für Voitkov momentan ausgeschlossen, wie für die anderen Tausenden Ukrainer, die den Schutzstatus beantragten. Dazu kommt bei ihm: Seine Heimat Luhansk ist derzeit russisch beherrscht. Und wenn er in die Westukraine ginge, müsste er ebenfalls in den Krieg. Er sagt: «Ich habe keine militärische Ausbildung, ich will nicht kämpfen, auf keiner Seite. Ich kann das nicht.»
Anwalt: «Wenn er nicht auf eigene Leute schiesst, wird er selber getötet»
Voitkovs Anwalt Suter sagt: «Die Behörden betreiben in diesem Fall überspitzten Formalismus.» Man nehme in Kauf, dass sein Mandant als «Ukrainer gegen die Ukraine kämpfen muss».
Die Annahme des Gerichts, dass ihm bei einer Ausschaffung nach Russland keine menschenrechtswidrige Behandlung drohe, sei unhaltbar. «Denn wenn er in den Krieg muss, wird er gezwungen, auf Leute aus seiner eigenen Heimat zu schiessen», sagt Suter. «Und wenn er das nicht tut, wird er selber getötet.»
(https://www.derbund.ch/die-ausschaffung-zwingt-ihn-auf-die-eigenen-landsleute-zu-schiessen-212894652910)
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NZZ am Sonntag 11.06.2023
Delinquente Asylsuchende: Bund auf Schlichtungstour
Um die Delikte rund um die Bundesasylzentren einzudämmen, finden noch in diesem Sommer landesweit runde Tische statt. Aber die Herausforderungen im Asylwesen bleiben hoch.
Simon Marti
Es war kein einfacher Gang, den Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider Ende April antrat. Die Justizministerin der SP besuchte das grösste Asylzentrum des Bundes in Boudry im Kanton Neuenburg. Dort hatte sich in den Monaten zuvor einiges aufgestaut. Zeitweise war das Zentrum massiv überbelegt, zugleich mehrten sich die Presseberichte über die Zunahme von Straftaten – begangen von Asylsuchenden.
Baume-Schneider lobte im Anschluss an die Visite das Vertrauen und den guten Dialog zwischen Bund, den lokalen und kantonalen Behörden. Der Neuenburger Sicherheitsdirektor Alain Ribaux allerdings, der Baume-Schneider an diesem Tag begleitete, nutzte den gemeinsamen Auftritt, um gehörig Dampf abzulassen. «Wir waren in der Gemeinde Boudry und der Stadt Neuenburg mit einem inakzeptablen Tsunami von Kleinkriminalität konfrontiert», sagte der Freisinnige. «Für die Polizei ist dieses Zentrum zu einer Priorität geworden.»
Zwar räumte Ribaux ein, dass die Delikte seit Jahresbeginn zurückgegangen seien. Heute sind in Boudry deutlich weniger Asylsuchende untergebracht, und die Polizei hat ihre Patrouillen verstärkt.
Aber den zuständigen Stellen in Bern ist nicht entgangen, wie fragil die Stimmung in den Gegenden ist, in denen der Bund seine Zentren betreibt. Just am gleichen Tag, als Baume-Schneider nach Boudry reiste, trafen sich die Spezialisten der Verwaltung zu einer Sitzung. Thema des Treffens der Arbeitsgruppe Sicherheit des Sonderstabes Asyl: das «Problemfeld delinquente Asylsuchende». Dies geht aus Unterlagen hervor, welche die «NZZ am Sonntag» mithilfe des Öffentlichkeitsgesetzes (BGÖ) einsehen konnte. Den Sonderstab Asyl hatte im März 2022 noch Baume-Schneiders freisinnige Vorgängerin Karin Keller-Sutter eingesetzt, um die Unterbringung und Betreuung der Flüchtlinge aus der Ukraine zu organisieren. Geleitet wird das Organ von SEM-Chefin und Staatssekretärin Christine Schraner Burgener.
Die Beamten des Sonderstabes kamen Ende April zum Schluss, eine ähnliche Strategie vorzuschlagen, wie sie Baume-Schneider im Fall Boudry gewählt hat: Sie plädieren dafür, den Dialog mit den zuständigen Behörden in den Kantonen zu stärken. In allen sechs Regionen des Landes, über die der Bund seine 20 Asylzentren verteilt hat, sollen Treffen angesetzt werden.
Inzwischen ist der Plan genehmigt. Die Gespräche starten bereits nach den Sommerferien. Das jedenfalls sei der «Zeithorizont», erklärt Daniel Bach, Kommunikationschef des Staatssekretariats für Migration. An den runden Tischen sind Vertreter der kantonalen Sicherheits- und Migrationsbehörden und für den Bund Verantwortliche des jeweiligen Asylzentrums mit von der Partie. Etwas wolkig umschreibt das SEM die Absicht dahinter, so «den Informationsaustausch zu verbessern und eine engere Zusammenarbeit der involvierten Behörden» zu fördern. «Wie viele Treffen es pro Asylregion geben wird, hängt von den lokalen Gegebenheiten ab und wird von den Involvierten je nach Bedarf entschieden», so Bach.
Denn Boudry ist nicht das einzige Zentrum, das in die Schlagzeilen geraten ist. Im vergangenen Herbst häuften sich in Bern und Köniz die Diebstähle aus Autos. Ein Grossteil der Verdächtigen lebe im Bundesasylzentrum in Bern, befand die Kantonspolizei damals.
«Die grosse Mehrheit der Asylsuchenden verhält sich korrekt und unauffällig», betont SEM-Kommunikationschef Bach. «Leider gibt es Einzelpersonen, welche Delikte nicht nur rund um die Bundesasylzentren, sondern im ganzen Kantonsgebiet und teilweise über die Kantonsgrenzen ausüben.» Das SEM habe grosse Anstrengungen in diesem Bereich unternommen, so Bach. Unter anderem im Bereich der Gewaltprävention oder beim Einsatz von Fachpersonen zur Konfliktprävention.
Und doch sieht sich der Bund nun gezwungen, die Bemühungen zu verstärken. «Der Sonderstab Asyl kümmert sich neben der Herausforderung des Ukraine-Krieges für die Aufnahme von Schutzbedürftigen auch um die aktuell schwierige Lage im Asylbereich», erklärt Bach. «Beide Situationen beeinflussen sich gegenseitig und können auch Auswirkungen auf die Sicherheitslage in der Schweiz haben.» Bach erwähnt ebenfalls, dass es im Winter «vermehrte Sicherheitsvorfälle rund um die Bundesasylzentren» gegeben habe. «Dies verunsicherte die betroffene Quartierbevölkerung, das lokale Gewerbe und führte zu diversen Interventionen durch die Politik, inklusive verschiedene Presseartikel.» In der Folge habe der Sonderstab entschieden, Massnahmen vorzuschlagen.
Die runden Tische sind denn auch als Versuch von Baume-Schneiders Departement zu sehen, aktiv zu werden, bevor die Situation lokal aus dem Ruder läuft und der politische Druck zusätzlich steigt. Das Asyl-Dossier ist immer heikel, umso mehr, wenn in wenigen Monaten Wahlen anstehen. Die SVP hat schon einmal klargemacht, dass sie die Migration ins Zentrum ihrer Kampagne stellen wird. Auch das Parlament schlägt eigenartige Volten. So weigert sich der Ständerat, in dem Elisabeth Baume-Schneider bis zu ihrer Wahl im Dezember politisierte, 133 Millionen Franken für zusätzliche Container-Unterkünfte für Asylsuchende zu sprechen, trotz Zustimmung der Kantone. Ob die kleine Kammer kommende Woche einem abgespeckten Kompromissvorschlag zustimmt, ist offen.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/kriminelle-asylsuchende-bund-schreitet-ein-ld.1741798)
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NZZ am Sonntag 11.06.2023
Heks beurlaubt Leiterin
Das Hilfswerk bekundet grosse Probleme bei der Rechtsvertretung von Asylsuchenden. Nun zieht es erste Konsequenzen.
Ladina Triaca
Beim Heks brodelt es. Etliche Mitarbeitende haben in den vergangenen Monaten gekündigt, Hunderte Asylsuchende wurden vom Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche nicht an wichtige Gespräche begleitet.
Nun ist der öffentliche Druck zu gross geworden: Vergangenen Sonntag hat das Heks eine interne Untersuchung eingeleitet und die Leiterin des Heks-Rechtsschutzes der Bundesasylzentren in der Nordwestschweiz beurlaubt.
Das Hilfswerk reagiert damit auf einen Artikel der «NZZ am Sonntag». Darin wurde publik gemacht, dass das Hilfswerk seine Rechtsvertretung in der Nordwestschweiz stark reduziert hat. Konkret hat das Heks in diesem Jahr rund 450 von 500 Asylsuchenden nicht an sogenannte Dublin-Gespräche begleitet. Das heisst: Neun von zehn Asylsuchenden mussten alleine an das Gespräch gehen, in dem geprüft wird, welches Land für ein Asylgesuch zuständig ist.
Bereits im August 2022 hatte das Heks dem Bund mitgeteilt, keine sogenannten «Gratisanwälte» mehr an Dublin-Gespräche zu schicken – hauptsächlich wegen der hohen Asylzahlen. Trotzdem wurde das Hilfswerk vom Bund entschädigt. Für die rund 450 zugewiesenen Asylsuchenden kassierte es eine Pauschale von rund 875 000 Franken. Damit abgegolten werden auch Vor- und Nachgespräche sowie die Übersetzung.
Das Ziel der nun eingeleiteten Untersuchung sei es, «die Hintergründe von Management- und Führungsfehlern auf allen Ebenen» aufzuarbeiten, die im Umgang mit den vielen Asylsuchenden und der hohen Fluktuation gemacht worden seien, sagt der Heks-Sprecher Lorenz Kummer.
Die Beurlaubung der Leiterin des Heks-Rechtsschutzes sei jedoch «keinesfalls als Schuldzuweisung zu verstehen». Vielmehr gehe es darum, «die betroffene Person zu schützen und die Unvoreingenommenheit der Untersuchung zu gewährleisten». Ein externer Konsulent soll die Untersuchung durchführen.
Wann das Heks die Asylsuchenden wieder an alle Dublin-Gespräche begleiten wird, ist unklar. Die Frage der Teilnahme an den Gesprächen werde aber «selbstverständlich Teil der Untersuchung sein», sagt Kummer. Erste Ergebnisse sollen Ende Juni 2023 vorliegen.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/nach-nzzas-recherche-heks-beurlaubt-leiterin-ld.1741801)
+++DEUTSCHLAND
Grüne zur EU-Asylreform: „Es geht um etwas Existentielles“
Die Grünen-Politikerin Astrid Rothe-Beinlich kritisiert die geplante EU-Asylrechtsreform harsch. An ihre Partei hat sie klare Erwartungen.
https://taz.de/Gruene-zur-EU-Asylreform/!5939707/
-> https://taz.de/Deutsche-Debatte-um-EU-Asylreform/!5939769/
+++MITTELMEER
Vor der griechischen Insel Kythera: Rund 100 Menschen im Mittelmeer aus Seenot gerettet
Sie wussten nicht, wo sie sind und sendeten ein Notsignal: Die griechische Küstenwache hat ein Segelboot mit zahlreichen Migranten in Sicherheit gebracht.
https://www.spiegel.de/ausland/griechenland-kuestenwache-rettet-rund-100-menschen-aus-seenot-a-847ad87b-7e39-4a3c-b849-b08848b56b8f
++++EUROPA
Gespräche über Migration in Tunis: Tunesien lehnt Rolle als Grenzpolizei ab
Auf der Suche nach Lösungen im Kampf gegen die zunehmende Migration führen europäische Spitzenpolitiker Gespräche in Tunesien. Präsident Saied sagte im Vorfeld, sein Land werde keine Grenzpolizei für Europa sein.
https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/tunesien-eu-migration-100.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173900.festung-europa-eu-macht-migrationsdruck-auf-tunesien.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173893.ursula-von-der-leyen-migrationsabwehr-in-tunesien-pogrome-von-der-eu-bezahlt.html
-> https://www.srf.ch/news/international/migration-ueber-das-mittelmeer-kooperation-mit-tunis-eu-will-haerteres-vorgehen-gegen-schlepper
-> https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/tunesien-eu-migration-102.html
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/giorgia-meloni-will-tunesien-fuer-die-eu-asylpolitik-gewinnen?partId=12402310
-> https://taz.de/Reform-des-EU-Asylrechts/!5937362/
-> https://taz.de/Unwort-Asylreform/!5937348/
-> https://www.jungewelt.de/artikel/452448.repressive-migrationsgesetze-eu-wird-asylrechtsfreie-zone.html
-> https://www.zeit.de/politik/2023-06/eu-tunesien-milliardenhilfe-migration
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/gespraeche-ueber-migrationsabkommen-der-eu-mit-tunesien?urn=urn:srf:video:dd714d96-cfc4-45c3-9a67-24f156f7a896
-> https://taz.de/Gruene-zur-EU-Asylreform/!5939707/
Neue Asylregelung: Die EU rückt nach rechts
Durch die neue EU-Asylregelung wird sich das Leben von vielen Annkommenden künftig an Orten abspielen, die Hochsicherheitsgefängnissen gleichen.
https://taz.de/Neue-Asylregelung/!5937359/
-> https://www.fr.de/meinung/kommentare/asyl-plan-eu-kompromiss-europa-flucht-menschenrechte-kommentar-92332825.html
„Wer wissen will, warum die #GEAS-Einigung im Rat dazu führen kann, dass kaum noch jemand Schutz in Europa bekommt, habe ich das hier aufgeschrieben. Zentraler Punkt der Reform ist die Ausweitung “sicherer Drittstaaten”:
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Sichere Drittstaaten in der Ratsposition zum neuen EU-AsylsystemOder: Das Ende des Zugangs zu Asylverfahren in Europa
https://www.dropbox.com/s/dv5kx2ss0qcel7r/230611%20Sichere%20Drittstaaten%20im%20neuen%20GEAS%20EM.pdf?dl=0
(https://twitter.com/ErikMarquardt/status/1667913095929266176)
„Die EU-Mitgliedstaaten haben sich übrigens darauf geeinigt, dass das #Kirchenasyl quasi abgeschafft werden soll. Mit dieser Regelungen drohen bei vielen Schutzsuchenden jahrelange Illegalität statt Integration und die deutschen Gesetze dazu sind dann ungültig. Die Dublin-Überstellungsfristen werden erstmal verdoppelt, aber wenn jemand krank ist oder z.B. im Kirchenasyl (intentionally making himself or herself unfit for the transfer), kann immer 3 Monate nach dem Wegfall des Grundes noch zurückgeführt werden. #GEAS #Kirchentag“
(https://twitter.com/ErikMarquardt/status/1667822336186241025)
+++FREIRÄUME
Lagerhalle an Sägestrasse: Besetzung in Köniz ist beendet
Nach einem Ultimatum der Gemeinde Köniz hat das Besetzerkollektiv die Lagerhalle an der Sägestrasse geräumt.
https://www.derbund.ch/koenizer-besetzerkollektiv-erhaelt-raeumungsbefehl-885677509827
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Winterthur: Helsana angreifen!
Wir haben im Zeichen des 14. Juni in der Nacht vom Donnerstag auf Freitag bei der Helsana in Winterthur unsere klirrenden Grüsse hinterlassen.
https://barrikade.info/article/5999
Frauenstreik 2023: Bürgerliche Frauen kritisieren Inhalt – Tagesschau
In der Schweiz findet am 14. Juni der dritte landesweite Frauenstreik statt. Doch die Meinungen, was politische Forderungen und Aufmachung der Veranstaltung angeht, gehen auseinander: Der Frauenstreik sei zu einer linken Sache geworden, sagen bürgerliche Frauen.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/frauenstreik-2023-buergerliche-frauen-kritisieren-inhalt?urn=urn:srf:video:45a83073-06bb-4fce-9f1d-94ebce30fcea
-> https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/feministischer-streik-2023-wir-haben-genug-gewartet-frauenverbaende-rufen-zum-streik-auf-ld.2471031
+++KNAST
Persönliche Geschichte: «Sie haben meinem Vater Handschellen angelegt»
Wenn Eltern im Gefängnis sind, leiden auch die Kinder. Lukas (27) hat als Jugendlicher seinen Vater im Gefängnis besucht. Er erzählt, wie es war.
https://www.20min.ch/story/sie-haben-meinem-vater-handschellen-angelegt-840718640807?version=1686506598951
Politische Forderungen: Familienzimmer im Gefängnis, Verhaftung nicht vor den Kindern
Eine Studie empfiehlt «dringende Massnahmen» für Kinder, deren Eltern im Gefängnis sind.
https://www.20min.ch/story/familienzimmer-im-gefaengnis-verhaftung-nicht-vor-den-kindern-222952031199?version=1686507341473
+++RECHTSPOPULISMUS
Thomas Fuchs: «Ich wurde kürzlich von einem Radfahrer bespuckt.»
Thomas Fuchs hat genug. Der SVP-Politiker verlässt den Berner Stadtrat vor dem Ablauf seines Mandats. Es liegen weder gesundheitliche Probleme noch eine Überlastung vor, dem 56-Jährigen gibt der immer «aggressivere» Kurs seitens links-grüner Politiker zu denken, wie er im Interview mit dieser Zeitung erklärt.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/210678/
+++RECHTSEXTREMISMUS
Einsatz in Wildegg AG: Polizei stoppt unbewilligte Demo gegen Asylunterkunft
Um gegen die Asylunterkunft in Wildegg AG zu protestieren, kamen 100 Personen für eine unbewilligte Demo zusammen. Die Polizei musste eingreifen.
https://www.blick.ch/schweiz/mittelland/aargau/einsatz-in-wildegg-ag-polizei-stoppt-unbewilligte-demo-gegen-asylunterkunft-id18656158.html
-> https://www.watson.ch/schweiz/armee/601460151-schweizer-wird-auf-dem-papier-zur-frau-damit-er-nicht-ins-militaer-muss
+++HISTORY
Flüchtlingshelferin statt Antisemit – St. Galler Raiffeisenplatz soll umbenannt werden
Eine Gruppe fordert, den «Roten Platz» als Wahrzeichen der St. Galler Innenstadt umzubenennen – in «Recha-Sternbuch-Platz». Anlass ist die aufgearbeitete antisemitische Vergangenheit des Bankgründers und Namensgebers Friedrich Wilhelm Raiffeisen.
https://www.beobachter.ch/politik/fluchtlingshelferin-statt-antisemit-st-galler-raiffeisenplatz-soll-wegen-antisemitischer-vergangenheit-umbenannt-werden-609697
+++FLUCHT
zeit.de 10.06.2023
Geflüchtete in Niger: Tod bei 45 Grad
Tausende Migranten durchqueren jedes Jahr die Sahara. Hinter Agadez versucht die EU sie zu stoppen. Und verwandelt die Wüste dabei in eine Falle.
Eine Reportage von Franziska Grillmeier, Agadez • Fotografie: Vincent Haiges
In jeder Stunde, in der ein Mensch bei extremer Hitze nichts trinkt, verliert er bis zu einen Liter Wasser. Wenn er durch die Wüste geht, verdunsten mit jedem Schritt ein paar Milliliter mehr. Körperzellen schrumpfen, die Organe ziehen sich zusammen, es fließt immer weniger Blut durch das Gehirn. Die ersten Symptome ähneln denen einer Gehirnerschütterung. Der Kopf beginnt zu schmerzen. Die Sonne erscheint unerträglich hell. Schwindel kommt dazu, bis man kaum noch gerade gehen kann. Die Welt wird unscharf. Irgendwann macht der Körper dicht. Manche Menschen erblinden, andere halluzinieren. Das Bewußtsein flickert noch einige Zeit. Dann wird alles dunkel.
In einer Wüste wie der Sahara, wo es bis zu 45 Grad im Schatten hat, kommt man in zwei Tagen an den Punkt, an dem ein Mensch stirbt. Die Körpertemperatur steigt an. Die Zellen sterben. Die Niere versagt. Das Herz setzt aus. Ein paar Tage mehr, und die Sonne beginnt mit der Mumifizierung des Körpers. Er verschwindet in der Wüste sehr schnell. Wenn ein Sandsturm ihn vergräbt, ist es manchmal nach wenigen Tagen so, als wäre er nie da gewesen.
Zwei große Hindernisse gibt es für Menschen aus West- und Zentralafrika, wenn sie nach Europa wollen. Das eine ist das Mittelmeer. Und das andere ist die Wüste. Und wer die Wüste durchqueren will, der kommt wahrscheinlich durch die Gegend um Agadez hindurch, die große Oasenstadt im Niger, das Nadelohr auf dem Weg nach Norden. Die Stadt ist ein Labyrinth aus rötlichem Sandgestein, das sich aus der kargen Landschaft der Ténéré-Wüste erhebt. Es ist eine karge, weite Landschaft. Die einzigen Pflanzen, die hier überleben, sind kleine Büsche und struppige Akazien. Durch den ständigen Wind, den Harmattan, sammelt sich der Sand schon nach wenigen Minuten in den Mundwinkeln und auf den Wimpern, er gelangt durch die Löcher der Schnürsenkel in Turnschuhe. Hier beginnt der Versuch, Migranten fernzuhalten, lange bevor sie an italienischen und spanischen Stränden auftauchen. Hier beginnt Europas südlichste Grenze. Diese Politik nahm ihren Anfang Jahre vor der Verschärfung des EU-Asylrechts am vergangenen Donnerstag. Hunderttausende Menschen sind in den letzten Jahren durch diese Wüstenstadt gekommen, um weiter in Richtung Norden zu ziehen. Aber seit einigen Jahren wird ihnen das Weitergekommen hier so schwer gemacht, dass viele es nicht schaffen.
Einige kehren um, einige bleiben stecken und einige verschwinden auf Wegen fernab der befestigten Straßen, ohne Spur. Niemand weiß wie viele Menschen in dieser Wüste sterben. Vielleicht sind es Hunderte, vielleicht auch mehr, die jedes Jahr auf diese Weise auf der Fluchtroute in der Sahara verschwinden, ohne dass es jemand mitbekommt.
“Hast du denn keine Angst zu sterben?”, fragt Adu Ama.
Der alte Mann im braunen Cordsakko bläst Zigarettenrauch über den Kopf eines jungen Mannes, der sich über ein blau-weißes Spielbrett gebückt hat, um ihn herum stehen etwa zehn andere Jungen. Sie spielen Dame. Der Junge scheint zu frösteln, es ist spät, und nachts wird es auch in der Wüste kalt. “Das Schicksal wird es entscheiden”, antwortet der 21-jährige Mann ohne aufzuschauen. Vor einem halben Jahr ist er aus der Demokratischen Republik Kongo aufgebrochen, auf seine lange, gefährliche Reise. An diesem Abend erzählt er dem Alten, dass er weiter nach Europa will.
Da lächelt Adu Ama. Schicksal. Mit diesem Wunsch hat er früher, vor 2016, viel Geld verdient. Die Fahrten über Agadez waren damals auch schon riskant. Aber so gefährlich wie heute waren sie nicht. Ama schüttelt den Kopf. “Nicht das Schicksal, sondern du entscheidest dich”, sagt er schließlich. “Kannst du nicht einfach hier bleiben und heiraten?”
Der junge Mann schüttelt nur den Kopf. Und sagt wieder und wieder: “Nein, nein, ich versuch es.”
Adu Ama hat die Wüste einst selbst überquert. Er arbeitete als Taxifahrer in der libyschen Hauptstadt Tripolis, dann kehrte er zurück in seine Heimatstadt Agadez. Er wurde dort zu einem kleinen Glied in der langen Kette, die Migranten von West- und Zentralafrika Richtung Europa bringt. Er nahm die Menschen am Bahnhof in Empfang. Er notierte ihre Namen. So gab es eine Spur, dass sie hier gewesen waren, wenn später etwas schiefging. Er vermittelte sie an die Wüstenfahrer, die sie nach Norden bringen sollten. Er half dabei, sie an die Fahrer mit ihren Pickup-Trucks zu vermitteln.
Es war damals ein “normales Geschäft”, sagt Adu Ama. Die Mehrheit wollte nach Libyen oder Algerien, um dort zu arbeiten. Einige von ihnen weiter nach Europa. Auch damals habe es zwar schon Fahrer gegeben, die ihre Toyota-Helux-Pick-ups mit Menschen überluden, zu schnell fuhren und den Leuten mehr Geld abknöpften als nötig oder sie auf halber Strecke zurückließen. Auch damals starben Menschen auf dem Weg durch die Wüste. Aber es sei nicht so schlimm gewesen wie heute. “Niemals war die Wüste so tödlich”, sagt Ama.
Agadez ist seit Jahrhunderten ein Wegekreuz der Salzkarawanen und Menschen, die entlang der Wasseroasen ziehen, durch das Herz der Sahara hinauf zum Aïr-Gebirge und weiter Richtung Norden. Bis Anfang der Neunzigerjahre galt die Stadt als Touristenziel, als eine der schönsten Wüstenoasen der Welt, mit einer jahrhundertealten Moschee aus Lehm und flachen ockerfarbenen Häusern. Charterflüge gingen von Paris nach Agadez. Dann rebellierten die Tuareg Mitte der Neunzigerjahre. Die Touristen blieben weg. Kriminelle Banden und Terrorgruppen machten die Gegend unsicher.
Die einzige Einnahmequelle, die nicht versiegte, waren die Migranten, die gen Norden wollten. Die Marktstände im Zentrum boten Wasserflaschen und Snackpakete. Dort kauften die Menschen das Nötigste für ihre Weiterreise. Sie schliefen oft noch ein paar Nächte in der Stadt, um sich auszuruhen, bevor es auf einem Pickup oder Lkw über eine der zwei Routen durch die Wüste nach Libyen oder Algerien ging. Vermittler wie Adu Ama und seine Fahrer zahlten ganz regulär Steuern.
Die Stadt war das Nadelöhr, durch das alle hindurch mussten, die durch die nigrische Wüste nach Norden wollten, in Richtung Libyen und Algerien. Ein Großteil der Migranten, die schließlich an italienischen Stränden landeten, war irgendwann durch Agadez gekommen. Auf dem Höhepunkt im Jahr 2015 sollen zwischen 80.000 und 150.000 Menschen durch die Stadt gekommen sein, auf dem Weg nach Europa. Und genau deshalb wurde die Stadt zum Ziel für die EU: Wer schon in der Wüste stecken bleibt, der schafft es nicht bis ans Mittelmeer. Wer hier nicht weiterkommt, der landet nie in Lampedusa.
Die EU handelte mit der Regierung des Niger einen Deal aus, der in Agadez alles verändern sollte. Die EU bot großzügige Hilfsgelder an. Dafür erließ die nigrische Regierung 2015 ein Gesetz, das eine virtuelle Linie mitten durch das Land zog: Fortan war es verboten, Migranten nördlich von Agadez zu transportieren. Die Unterbringung von Migranten war nun ebenfalls illegal. Die Strafen waren drakonisch: Wer den Migranten trotzdem half, sollte von nun an mehrere Jahre ins Gefängnis wandern. Das Gesetz hatte die Nummer: 2015-036. Aber die Umsetzung begann schleppend. Zunächst änderte sich nicht viel in Agadez.
Dann kam Angela Merkel zu Besuch, im Oktober 2016. Sie war die erste deutsche Bundeskanzlerin, die zum Staatsbesuch in die Hauptstadt Niamey flog. Sie kam in einem rosa Blazer, hörte sich eine etwas schiefe Militärkapelle an, schaute einer Schulklasse beim Unterricht zu und versprach fast 80 Millionen Euro Unterstützung, wenn die nigrische Regierung Ernst mache mit der Verfolgung von “Schmugglernetzwerken”. Kurz nach Merkels Besuch gingen in Agadez die Verhaftungen los.
“Viele kommen nicht mehr zurück”
Der Transport von Migranten war vorher ein geduldetes Geschäft gewesen. Nun war es plötzlich kriminell. Viele Fahrer hörten auf. Die Transporte rutschten ins Verborgene. Wer immer noch Migranten durch die Wüste transportiert, muss seither Schleichwege nehmen, abseits der Wasserstellen, mitten hindurch durch die Hitze, wo keine Hilfe kommt, wenn Autos liegen bleiben, und wenig Hoffnung, wenn die Schmuggler die Orientierung verlieren.
“Schwierig”, sei die Situation in Agadez sagt Aziz Chechou, “verdammt schwierig”. Sein Büro liegt in einem der Randregionen der Stadt. Chechou, 56, sitzt da in einem schwarzen Anzug, während durch die verhangenen Fenster Staub hereinweht. Draußen, auf einem Vorplatz, warten etwa 30 Männer auf die Essensausgabe von der Hilfsorganisation, die er leitet. Sie heißt Alarmphone Sahara. Sie stellt eine Notrufnummer bereit, die Menschen anrufen können, die in der Wüste in Not geraten – vorausgesetzt, sie haben ein Satellitentelefon dabei. Chechou und sein Team notieren sich dann die Koordinaten und versuchen Hilfe zu holen. Aber oft ist das ein schwieriges Unterfangen. Zu groß ist das Wüstengebiet hinter Agadez. Es hat in etwa die Größe Frankreichs. Chechou gibt die Koordinaten an die nigrischen Behörden weiter. Ob sie danach rechtzeitig zur Hilfe kommen, kann er meistens nicht prüfen.
Keiner wisse, wie viele Menschen in der Wüste sterben, sagt Chechou. Und so genau wolle das auch niemand wissen, vermutet er. “Geht den Fahrern in der Wüste das Benzin aus oder wird das Wasser knapp, lassen sie die Menschen oft in der Wüste zurück, um nicht mit ihnen erwischt zu werden”, erklärt Chechou. “Viele kommen nicht mehr zurück.”
Viermal im Jahr, sagt Chechou, organisiere Alarmphone Sahara eine zivile Patrouille. Sie fahren Wasserstellen ab, die auf dem Weg in den Norden liegen. Hier sei die Aussicht größer, wenigstens ein paar Menschen auf der Suche nach Wasser zu treffen. Immer wieder finden sie Körper oder ein Skelett auf ihren Fahrten. Sie versuchen sie dann so würdevoll wie möglich zu begraben. Sie sammeln Steine und markieren ein Grab. Die Gegenstände, wie Telefone oder Dokumente, die sie bei ihnen finden, geben sie bei der Polizei ab und leiten die Daten an das Missing Migrants Project der Internationalen Organisation für Migration weiter, einer UN-Organisation, die Ländern bei der Bewältigung von Migration helfen soll. In diesem Jahr hat Alarmphone Sahara bereits mehr als 40 tote Menschen in der Wüste dokumentiert. Wenige haben sie selbst gefunden. Die Zahlen basieren meist auf Zeugenaussagen von Migranten, die überlebt haben, oder von Fahrern, die entlang der nicht regulären Routen fahren und die Toten am Wegesrand sehen.
Im vergangenen Jahr hat das Missing Migrants Project 212 Todesfälle dokumentiert, ein Teil davon wurde auch von Alarmphone Sahara gefunden. Aber wenn ganze Gruppen verdursten, ohne Überlebende, bleiben keine Zeugen. Auch deshalb, sagen Mitarbeiter des Projekts, sei die Zahl von 212 Toten nur ein Bruchteil, der wirklichen Opfer. Wie schon das Meer wird die Wüste hier zum Ende Tausender Lebenslinien. Nur verschwinden sie noch spurloser. Die Wüste verschluckt die Menschen einfach. Es spült sie nirgendwo mehr an.
Einige der Fahrer, die Migranten in die lebensgefährliche Wüste brachten, sitzen heute im Gefängnis von Agadez. Es ist ein streng bewachter Ort, außerhalb des Stadtzentrums, in einem flachen Sandbau. Davor liegt eine ausgedörrte Parkfläche, die von einem Wachturm überblickt wird. Im Innenhof sitzen ein paar Soldaten unter einer Sonnenplane und strecken ihre Stiefel aus. Einer der Insassen kommt hinaus in den Hof und setzt sich auf einen kleinen Hocker. Seinen richtigen Namen möchte er nicht in der Zeitung lesen. In diesem Text heißt er: Sade Yaya. Er ist ein kleiner, schmächtiger Mann. Von seiner Oberlippe stehen kleine Bartbüschel ab. Seit neun Monaten sitzt er im Gefängnis, weitere neun Monate hat er noch vor sich. Yaya ist einer von etwa 30 Insassen, die wegen Menschenschmuggel hier einsetzen. Er setzt sich, fixiert einen Punkt an der bröckeligen Wand und beginnt zu erzählen von seiner Zeit als Fahrer. Mehrere Jahre lang fuhr er jede Woche in die Wüste, an die libysche Grenze und zurück.
“Klar”, sagt Yaya, “gibt es nicht nur gute Fahrer.” Er sitzt nach vorn gebückt, spricht leise und schnell. Ein bisschen so, als müsste er in der Schule ein Vortrag geben, den er auswendig gelernt hat.
Er selbst habe einen guten Job gemacht. Er habe die Menschen, die er fuhr, nie ausgenutzt. Schnell sei er auch gewesen: Zwei Tage habe er bis Libyen gebraucht, wo andere eine Woche benötigten. In dem Toyota-Pick-up, den er fuhr, brachte er dicht gedrängt 25 Personen unter. 230 Euro kostete die Fahrt pro Person. Andere Fahrer, sagt er, hätten weitaus mehr genommen. Er habe sich irgendwann auch ein GPS angeschafft, um Wasserstellen zu finden. Die Wasserstellen waren Verheißung und Gefahr zugleich. Sie wurden oft von Patrouillen kontrolliert. Meistens sei es daher sicherer gewesen, nicht in ihre Nähe zu fahren. Nachdem das Antischmuggelgesetz in Kraft getreten war, sei er immer tiefer in die Wüsten hineingefahren, auf abgelegenen Pisten.
Er fährt mit seinem Zeigefinger über den blauen Holztisch, als könne er die Route noch vor sich sehen. Immer wieder hätten sich die Fahrer auf ihren Umwegen verkalkuliert. Dann sei das Benzin ausgegangen oder das Wasser, und sie hätten die Menschen in der Wüste zurückgelassen, um allein zu den Wasserstellen zu fahren. Er selbst habe nie Menschen in der Wüste ausgesetzt.
Yaya erzählt auf unheimliche Art und Weise konzentriert. Mitten im Gespräch versucht ein anderer Häftling wegzurennen. Er wird von den Wachen zurückgezerrt, getreten, mit dem Kopf in Wasser eines Brunnens gehalten. Aber der ehemalige Schmuggler dreht sich nicht einmal um.
Hin und wieder habe er auf seinen Fahrten in der Wüste aber umherirrende Menschen gesehen, sagt Yaya. “Keine Ahnung, wie sie es dorthin geschafft haben.” Hätte er angehalten, um sie mitzunehmen und in eine nahegelegene Stadt zu bringen, hätte er riskiert, dort festgenommen zu werden. “Du musst Kurs halten”, sagt er. Also sei er weitergefahren.
Er habe auch oft Tote gesehen, sagt er etwas zögerlich. Es scheint ihm unangenehm zu sein, weil diese Toten von der Schattenseite der Schleuser erzählen. Wie viele, das könne er nicht beziffern. Dann klopft Yaya den Sand von seiner Cargohose und steht auf. Dann wird er von den Wachen wieder weggeführt.
“Wir wurden im Sand ausgesetzt”
In der Gegend um Agadez gibt es zwei Arten von Migranten. Jene, die mit der Hoffnung in die Wüste hineinfahren, auf der anderen Seite ein neues Leben zu beginnen. Und jene, die aus ihr desillusioniert und gebrochen zurückkehren.
Lavinnah und Hannah aus Freetown, in Sierra Leone, sitzen hinter einer Metalltür, auf einer Bastdecke im Innenhof eines Hauses. Ihre Nachnamen wollen sie aus Angst vor Repressalien geheim halten. Auf der Straße vor dem Haus schleppen zwei Jungen ein Huhn vorbei. Der Sand weht vor der rotbraunen Hausmauer. Es ist eine Wohnsiedlung am Rand der Stadt. Gleich hinter den Häusern beginnt die Wüste.
Die zwei Freundinnen sind vor drei Tagen in diesem Haus untergekommen. Sie sind noch nicht lange zurück. Die Erinnerung an das, was sie dort erlebt haben, ist noch frisch. “Die Nächte sind kalt in der Wüste”, sagt Lavinnah, “wir wurden alle krank.” Sie sitzt auf einer Bastdecke neben ihrer Freundin, ihre Beine sind angewinkelt. Sie sind beide erkältet und putzen sich ununterbrochen die Nase. Auf der Decke vor ihnen liegt ein Brettspiel. Hinter ihr öffnet ein Mann in rotem T-Shirt und breitem Lächeln die Tür – “er hat uns gefunden”, erklärt Hannah knapp. Der Mann beherberge immer wieder Menschen, die obdachlos geworden sind. Eigentlich nehme er dafür ein wenig Geld. Doch die Frauen habend keines mehr. Der Mann kann schon dafür, dass er sie bei sich schlafen lässt, belangt werden. Das Antischmuggelgesetz 2015-036 verbietet es, dass er sie bei sich unterbringt. Wieso hat er ihnen trotzdem einen Schlafplatz angeboten? “Als ich sie ausgesetzt am Flughafen sah, musste ich sie einfach mitnehmen”, sagt der Mann. Als er sich dazusetzen will, verstummen die Frauen. Er versteht und geht wieder.
Lavinnah und Hannah erzählen so leise von ihrer langen, schmerzhaften Reise, dass sie fast flüstern. Als hätten sie Angst, dass jemand, der hinter der Mauer des Innenhofes steht, zuhören könnte. Die zwei Frauen hatten sich zusammen mit einer weiteren Freundin auf den Weg gemacht, die auch ihren vierjährigen Sohn mitnahm. Sie fuhren durch Burkina Faso und Mali in den Niger. Ihr Ziel war Libyen. Dort, sagten sie, wollten sie Arbeit finden. In der Wüste hinter Agadez sei der Wagen stecken geblieben. Die Freundin sei danach mit dem Fahrer in der Wüste verschwunden. Ihr kleiner Junge blieb zurück. Sie nahmen ihn mit. Er sitzt heute ruhig und mit verrotzter Nase zwischen den beiden Frauen. Wo seine Mutter geblieben ist, wissen sie nicht.
“Wir wurden im Sand ausgesetzt”, sagt Hannah. Wo genau das war, können sie nicht mehr sagen. Die beiden Frauen erzählen ihren Weg hinein in die Wüste und wieder heraus wie in Fragmenten. Es ist oft schwer zu verstehen, wie die unterschiedlichen Teile ihrer Geschichte zusammenhängen. Der Grund dafür, dass das Auto nicht mehr weiterfahren konnte, wird nie ganz klar. Nach ein paar Stunden sei ein Mann vorbeigekommen und habe sie zu sich nach Hause genommen. In den Tagen danach habe er Hannah wieder und wieder vergewaltigt. Monatelang hielt er sie dort fest.
“Ich hörte sie in der Nacht schreien”, sagt Lavinnah. “Aber wenn sie es nicht gemacht hätte, hätte er uns kein Essen gegeben.”
Dann deutet Hannah auf ihren Bauch und sagt: “Drei Monate ist es alt.” Sie weint, während sie das erzählt, leise, kaum hörbar. Als hätte sie selbst jetzt Angst, dass jemand es hören könnte.
Einige Zeit verging, bis sie es schafften zu entkommen und sich bis zum Flughafen von Agadez durchschlugen. An Lavinnah nackten Füßen sieht man Narben, genau dort, wo sonst Schuhe sitzen. Tagelang seien sie gelaufen, ohne anzuhalten. Dort habe Hannah sofort ihr Telefon verkauft, für etwas Essen und Wasser. Hätte sie der Besitzer dieses Hauses nicht mitgenommen, würden sie dort immer noch sitzen, sagt Lavinnah. “Er ist gut zu uns”, sagt Hannah. Doch sie habe auch Angst. Eine Lektion, die sie in der Wüste gelernt habe: “Alles hier hat seinen Preis.”
Die EU und Deutschland haben der Regierung des Niger viel Geld zur Verfügung gestellt, für die Polizei, die Armee, für den Unterhalt von Flüchtlingslagern, zur Wirtschaftsförderung. Es gibt eine EU-Delegation im Land sowie eine Zweigstelle der europäischen Grenzagentur Frontex, die hier Migrationsdaten sammelt, und eine europäische Polizeieinheit, die die nigrische Polizei unterstützt. Eigentlich müsste jemand etwas von den Vermissten in der Wüste bemerkt haben. Aber wenn man nachfragt, trifft man entweder auf Schweigen oder Ahnungslosigkeit. Die EU-Delegation verweigert jeden Kommentar, die EU-Kommission schreibt, sie sei nicht zuständig. Frontex sammelt zwar jede Menge Daten im Niger, aber nicht, wie viele vermisste Migranten es gibt. Die europäische Polizeimission erklärt, es habe seit 2017 in der Wüste keine “bedeutenden Entdeckungen” von Toten mehr gegeben, trotz mehrerer Meldungen jedes Jahr über Leichenfunde in der Wüste. Die Internationale Organisation für Migration hat zwischen 2014 und 2021 1.092 Tote in der nigrischen Wüste dokumentiert – eine Zahl, die nur einen Bruchteil der wahren Opfer abbilden soll. Das nigrische Innenministerium behauptet, es habe letztes Jahr 52 Tote in der Wüste gegeben und dieses Jahr noch keinen einzigen.
Die einzigen verlässlichen Spuren, die etwas von der Verzweiflung in der Wüste verraten, sind Satellitenbilder. Sie zeigen von weit oben die Spuren der Autoreifen durch die Wüste. Die Wüste mag leer wirken. Aber wenn man von oben auf sie schaut, sieht man, wie ein feines Wegenetz sie wie kleine Adern durchzieht. Die Nichtregierungsorganisation Border Forensics aus Genf hat sie ausgewertet. Seit 2016 sind vor allem die gefährlichsten Linien dicker geworden, jene Routen, die abseits von Siedlungen und Wasser durch abgelegene Gegenden führen. Hier kommen die Menschen nun durch. Und dort sterben sie auch, wenn etwas schiefgeht.
Wenn man mit den Vertretern der EU im Niger Kontakt aufnimmt, werden all diese Hinweise ignoriert, weggeschoben, kleingeredet. Oft hat man das Gefühl, dass sie das Sterben draußen in der Wüste vor allem deshalb nicht sehen, weil sie es nicht sehen wollen. Dass sie nicht bereit sind, Energie und Mittel aufwenden, um es sichtbar zu machen.
Die Zusammenarbeit mit dem Niger gilt heute als großer Erfolg. Nachdem 2016 die Verhaftungen der Transporteure begannen, sank die Zahl der Menschen, die die Wüste des Niger nach Norden durchquerten, dramatisch. 2016 zählte die Internationalen Organisation für Migration knapp 300.000 Menschen in der nigrischen Sahara, die sich auf dem Weg nach Libyen befanden. Im Jahr 2017 waren es dann angeblich nur noch etwa 69.000, wobei unklar ist, wie viel unentdeckte Migration darüber hinaus stattgefunden hat. Niger erhält heute mehr EU-Gelder als jedes andere Land der Region.
Aber die Menschen verschwinden nicht einfach. Einige nehmen andere Routen. Aber viele bleiben auch unterwegs stecken. In Agadez findet man sie heute meist nur mehr im Verborgenen. Laut dem Bürgermeister sollte die Bevölkerungszahl 2022 bei etwa 166.000 Menschen liegen. Trotzdem geht er heute davon aus, dass Agadez auf das Doppelte angeschwollen ist. Hunderte verharren Monate, manchmal gar Jahre in der Stadt. Einige von ihnen schlafen einfach unter freiem Himmel.
Für gestrandete Migranten gibt es nur einen sicheren Weg heraus
Im Schatten eines kargen Baums im Zentrum von Agadez, gleich neben der Asylbehörde, sitzt Nassim Amanda. Der Baum ist sein Zuhause. Seit neun Monaten lebt Amanda unter seinen Ästen. Amanda verlässt seinen Schatten kaum noch. Er steht nur hin und wieder auf, um sein Handy aufzuladen, etwas Wasser und Essen zu holen oder um eine Runde Fußball zu spielen. Er isst, so erzählt er es, kaum mehr als Zwiebeln mit gekochten Tomaten. Mehr kann er sich nicht leisten.
Vor mehr als einem Jahr ist Amanda aus Eritrea geflohen, vor dem brutalen Militärdienst, bei dem Rekruten oft misshandelt werden und mit kaum etwas zu Essen schwere Arbeit leisten müssen. Einige werden von der eritreischen Armee jahrzehntelang nicht entlassen. Mehrere Zehntausend junge Menschen haben das Land deshalb verlassen.
Amanda schlug sich bis nach Algerien durch. Von dort wollte er weiter nach Spanien. Die algerische Polizei aber griff ihn auf. Und sie fuhr ihn an die Grenze. Sie setzten ihn, so erzählt er es, zusammen mit einigen anderen mitten in der Nacht in der Wüste aus. Erst später erfuhr er, dass er im Niger gelandet war. Er kannte das Land nicht. Er war dort vorher nie gewesen.
In seiner Erinnerung sagten die algerischen Polizisten ihm und den anderen: “Geht zum Licht.” In der Ferne sah Amanda die Lichter der 15 Kilometer entfernten Grenzstadt Assamaka. Bald ging die Sonne auf. Es wurde heiß. Um ihn herum seien Menschen zusammengebrochen, sagt er. Von Assamaka aus wurde er nach Süden, nach Agadez gebracht.
Mit 50 anderen, Männern, Frauen und Kindern, fand er dort Schutz unter dem Baum. Heute sind von der großen Gruppe, die hier campte, noch sieben Männer übriggeblieben. Amanda deutet auf ein Mückennetz, das wie ein gefallener Geist auf dem sandigen Boden liegt. “Darunter schliefen vier Frauen”, sagt er, “sie gingen vor einigen Wochen zurück in die Wüste, nach Libyen.” Ob sie es durch die Wüste geschafft hätten, wisse er nicht. “Irgendwann bricht bei allen der Kontakt ab.” Amanda aber ist geblieben und weiß jetzt nicht, wohin. Für den erneuten Weg durch die Wüste hat er nicht die Kraft. Zurück in Eritrea warten auf ihn womöglich Folter, Arbeitslager oder Tod. Also bleibt er, gefangen in einem kleinen Niemandsland, unter kargen Ästen, und wird von Tag zu Tag schwächer und schwächer.
Aus Agadez gibt es für gestrandete Migranten nur einen einfachen, sicheren Weg heraus. Er beginnt hinter einer blauen Stahltür mit einem Logo der IOM, der Internationalen Organisation für Migration. Hier in Agadez bietet sie den Migranten vor allem Hilfe bei einer Sache an: Dorthin zurückzukommen, wo sie herkamen. Hinter der Tür kann man sich für kostenlose Flüge registrieren: nach Burkina Faso, nach Nigeria, in den Sudan.
2.000 Menschen warten in Agadez im Moment auf Maschinen, die sie zurück in ihre Heimat bringen werden. Es sind Flüge, die ein endgültiges Scheitern markieren. Diejenigen, die hier an Bord gehen, haben es nicht geschafft, die Wüste zu durchqueren. Allein im letzten Jahr flogen von Agadez aus 15.000 Menschen in alle möglichen Länder Afrikas. Im Schnitt heben in Agadez in der Woche etwa zwei Maschinen mit Migranten ab. Die Kosten dafür übernimmt die EU: 180 Millionen Euro zahlt sie für Flüge. Es ist das weltweit größte freiwillige Rückkehrprogramm.
Es ist neun Uhr morgens, als eine kleine Gruppe von Männern vor das Gatter des Transitzentrums tritt. 149 Personen sollen heute von Agadez nach Bamako fliegen. Das Tor geht auf. Ein Bus fährt vor. Dutzende Neugierige aus der Nachbarschaft kommen dazu. “Freedom”, ruft einer der Gruppe zu. Keiner erwidert. Einige tragen neue Turnschuhe, der Sand hat sie noch nicht rot verfärbt. Andere kommen in Flipflops. Kaum jemand hat mehr als einen kleinen Sportsack mit sich. Mit einem Stapel Klarsichtfolien in der Hand ruft ein IOM-Mitarbeiter mit blauer Weste einen Mann nach dem anderen auf.
Im Bus ist es still. Einer der Männer schaut auf die Sandstraße hinunter und fängt leise an zu summen. Auf seiner Sonnenbrille klebt noch ein kleines UV-Schild. Im Innenhof eines Hauses sieht er zwei Kinder, die versuchen, in einem Flip-Flop zu laufen, hinfallen und lachend am Boden liegen.
Der Bus hupt zweimal und fährt los, vorbei an eingezäunten Bäumen und meterlangen Müllhaufen. Vorbei an einem staubigen Feld, auf dem Dutzende Zelte aus farbigen Stofffetzen stehen, in denen Klimaflüchtlinge aus Zinder, dem Süden des Niger, ohne Strom oder Toiletten campieren. Der Bus biegt um eine Kurve, da blitzt kurz die Große Moschee auf, ein Unesco-Weltkulturerbe, schließlich öffnet sich der Blick zur Wüstenlandschaft.
Im Bus greift eine IOM-Mitarbeiterin zum Klarsichtfolienstapel, darin stecken jeweils ein neuer Pass und ein Ausreiseformular. Es ist in jeder Folie gleich ausgefüllt. Ankunftsort: “Bamako”. Beruf: “Migrant.” Noch einmal werden alle Anwesenden kontrolliert. “Bekar Moussa?”, ruft die Mitarbeiterin durch das Quietschen der Busfederung. “Bekar Moussa!”, wiederholt ein Mann in der Mitte des Busses etwas lauter. Der Bus steuert schon geradlinig auf den Flughafen zu. Eine Hand erhebt sich.
Das Charterflugzeug von Sky Mali ist an diesem Mittag das Einzige auf dem Rollfeld. In der Wartehalle steht ein Junge, er blickt auf das Flugzeug. Als er sich wieder auf den Wartesessel setzt, sagt er: “Zum ersten Mal in meinem Leben darf ich fliegen.”
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Dieser Artikel ist Teil unseres Schwerpunkts “Weltland” über Migration und stammt aus unserem Ressort X. Alle Texte und Schwerpunkte des Ressorts finden Sie hier: https://www.zeit.de/x/index
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Text, Recherche: Franziska Grillmeier, Vincent Haiges
Recherche: Katy Fallon
Mitarbeit im Niger: Moctar Amadou Dan Yaye
Hinter der Geschichte: Die Recherche begann an einer Ampel in Berlin, wo die Autorin Azizou Chehou auf dem Weg zu einer Konferenz traf. Er sagte dabei, dass niemand genau sagen könne, wie viele in der Wüste sterben. Ein halbes Jahr später reiste Franziska Grillmeier zusammen mit dem Fotografen Vincent Haiges nach Niger. Katy Fallon fing zur gleichen Zeit an, Presseanfragen in Brüssel zu stellen. Sowohl die Recherchen im Niger als auch in Brüssel wurden durch die Unterstützung des Journalismfund Europe ermöglicht.
(https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/niger-gefluechtete-wueste-sahara-route/komplettansicht)